Читать книгу Ostfriesisches Komplott - Lothar Englert - Страница 6
Prolog
ОглавлениеEr kennt die Strecke genau, ist sie mehrmals in Ruhe abgegangen. Es gibt hier viele Stellen, die für seinen Zweck geeignet sind. Er braucht eine, die verwinkelt liegt und schwer einsehbar ist. Ein langer, gerader Abschnitt kommt nicht infrage, die Gefahr, beobachtet zu werden, ist zu groß. Eine doppelte Kurve, ein Stück, in dem sich der Weg zweimal windet und der Bewuchs am Rand recht hoch ist, erscheint ideal und er findet sie ohne Schwierigkeiten.
Er weiß auch, wann sein Opfer dort läuft. Jeden Dienstag und jeden Freitag am späten Vormittag ist der Mann unterwegs. Er ist nicht mehr jung, joggt gemütlich, es wird keine Schwierigkeiten machen, ihn zum Stehen zu bringen. Und der Rest wäre nur noch Überwindung, kein Kinderspiel, aber versüßt durch den Nervenkitzel der Tat, die er schon oft in seiner Fantasie durchgespielt hat. Die Vorstellung fasziniert ihn jedes Mal, er spürt dann ein leichtes Brennen in seiner Kehle, ein Gefühl, das er als Kind immer empfunden hat, wenn er mit Soda versetzte Limonade trank. Über die Berechtigung hegt er keinerlei Zweifel; der Mann hat den Tod verdient. Er erfüllt dafür alle Voraussetzungen: Er ist reich, hat Einfluss in der Stadt und ist ein arrogantes Schwein, einer, der seinesgleichen kaum ansieht, geschweige denn das Wort an ihn richtet. Außerdem lautet sein Auftrag, den Ukena kaltzumachen. Umzulegen. Möglichst geräuschlos, unauffällig, und das ist kein Hindernis. Nicht das geringste. Im Gegenteil. Gerne macht er das.
Als der Tag kommt, ist er ruhig. Er hat gut geschlafen, steht zeitig auf und frühstückt ausgiebig. Dann bereitet er sich vor, achtet auf dunkle und derbe Kleidung und festes Schuhwerk mit glatter Sohle. Auf den Kopf setzt er eine dunkle Sportmütze. Das graue Klebetape schiebt er in eine innere Brusttasche, die lange Klinge steckt in einer Lederscheide unter der Jacke. Am frühen Vormittag macht er sich mit dem Fahrrad auf den Weg. Er nähert sich der ausgewählten Stelle von einem Stichweg. Dazu muss er das Fahrrad ein Stück durch den Wald tragen. Die Bäume stehen hier nicht besonders dicht, es gelingt ohne Mühe. Er lässt das Fahrrad ein paar Schritte abseits im Gesträuch liegen. Dann streift er die Handschuhe über, hockt sich hin und wartet. Irgendwann ist es so weit. Er hört das Schnaufen und die Schritte seines Opfers schon von Weitem. Der Waldweg ist mit Splitt und Schotter belegt. Die Steine knirschen und spritzen von den Füßen. Er passt den Moment perfekt ab, genau im richtigen Augenblick tritt er auf den Weg. Das Opfer stutzt, verhält seinen Schritt, will ausweichen. Er folgt der Bewegung des Mannes, bis der stehen bleiben muss. Dann zieht er das Stilett. Der Mann wankt und glotzt, er atmet schwer. »Was …?«
Als er ihm das Messer in die Brust stößt, ist nur ein schmatzendes Geräusch zu hören, ein seltsames Fauchen und Seufzen, er muss noch lange darüber lächeln. Dann zieht er sein Opfer ins Gebüsch und wundert sich, wie leicht der Mann ist. Er hockt sich hin und wartet eine ganze Weile. Die Leiche stinkt ein wenig, ihm scheint, nach Schweiß, aber er glaubt auch Fäkalgeruch zu erschnuppern. Es macht ihm nichts aus. Er kauert und lauscht, alles ist ganz friedlich. Vögel zwitschern, Bienen summen, plötzlich hat er den zarten Geruch von wilden Veilchen in der Nase. Er liebt Blumen, ihren Duft kennt er durch seine Arbeit. Ein Gefühl tiefer Harmonie erfüllt ihn. Der Tote im Gras stört dabei nicht. Er wirft einen zufriedenen Blick auf die Leiche, die gebrochenen Augen, das Gesicht ist erstarrt in einer grotesken Mischung aus Staunen, Schreck und Schmerz. Es ist gut, er hat alles richtig gemacht. Seine Spannung löst sich rasch, der Puls geht ruhig. Nun hat er Muße, seine Tat zu vollenden. Die Schnitte setzt er mit sicherer Hand an, er wundert sich selbst, wie geübt sie erscheinen. Dann zieht er das graue Tape aus der Tasche. Endlich richtet er sich auf und betrachtet sein Werk. Perfekt. Es ist alles genau so, wie er es sich vorgestellt hat. Er spielt mit dem Gedanken, sein Opfer unter Zweigen zu verbergen, doch dann lässt er es. Ukena soll ja gefunden werden – nicht sofort zwar, aber er will, dass man ihn zeitig genug findet. Man soll das Schwein noch erkennen können, auf den ersten Blick.
Auf dem Rückweg trifft er keinen Menschen. Erst später, auf dem Dünenweg, kommt ihm eine Fußgängerin entgegen. Er grüßt sie freundlich und überlegt später, dass das vielleicht ein Fehler gewesen ist. Aber wirkliche Sorgen macht er sich nicht. Zu Hause stopft er Jacke und Hose in die Waschmaschine und wählt das Kochprogramm. Später wird er sie in die Graue Tonne entsorgen. Vorher wird er die Bekleidung chemisch reinigen lassen. Er weiß nicht, ob das wirklich nötig gewesen ist, aber er findet es professionell. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist eben zwölf. Zeit genug für ein ausführliches Mittagessen, bevor er zur Arbeit geht. Seine Schicht beginnt um zwei.