Читать книгу Sehnsucht.. - Lothar Jakob Christ - Страница 10
ОглавлениеSebastian saß zeit- und gedankenverloren im Ledersessel und blickte verträumt in die Bibliothek, über den Schreibtisch hinweg und hinaus in den Garten und in die Nacht.
Wie lange er bereits so verharrte? Man weiß es nicht.
Dann ein leises Knarren, was Sebastian aus seiner Lethargie holte. Er vernahm das Knarren an der von ihm aus gesehenen rechten Regal-Seite. In der düsteren Bibliothek glaubte Sebastian zu erkennen, dass sich ein Teil der Regalwand in den Raum verschob. Er drückte auf die Stablampe und im Lichtkegel der Lampe glaubte Sebastian zu erkennen, wie sich die Wand wieder pass schloss.
Der Puls seiner Halsschlagader signalisierte Sebastians Gemütszustand. Wie in Zeitlupe bewegte er sich in Richtung Buchwand. Die Stablampe illuminierte das Regal wie der Spott einer Lampe, die Zirkuskuppel erleuchtet kurz vor dem Salto Mortale.
Warum Sebastian das Deckenlicht nicht anknipste, das war sicherlich seiner Erregtheit geschuldet. Sebastian tastete sich im Spot der Stablampe von Regal-Element zu Regal-Element. Er verspürte so etwas wie eine Vertiefung und darin eingelassen eine Wippe, ein Griff, der nachgab, als Sebastian darauf drückte. Die Regalwand sprang ihm nach Drücken des Griffes ein kleines aber merkliches Stück entgegen und er konnte ein Wandelement so groß wie eine Tür zu sich hin bewegen. Langsam zog Sebastian das Regal-Element zu sich, bis sich ein Spalt öffnete und Sebastian mit der Lampe hineinleuchten konnte.
Hinter der Wand war ganz offensichtlich ein kleiner Raum, eine geheime Nische versteckt.
Sebastian leuchtete in Richtung Sesselgruppe, wo weit weg von ihm die blanke Beilschneide von dem kleinen Beistelltische reflektierte. Sebastian zog die geheime Tür nun so weit in den Raum hinein, dass er bequem in das Versteck hinein gehen konnte. Er leuchtete in die Nische, um im nächsten Moment erschrocken zurückzuweichen.
Stille, nichts als Stille. Sebastian spürte seinen Herzschlag im Halse und Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Aber wieder war es die Neugierde, welche die Angst zumindest teilweise besiegte.
Sebastian ging abermals zwei Schritte nach vorne und leuchtete in den Raum.
Da saß jemand auf dem Boden, die Hände schützend vor das Gesicht gekreuzt, auch um die Augen vor dem grellen Licht der Stablampe zu schützen. Sebastian richtete den Lichtkegel nun gegen die Decke und forderte seinen auf dem Boden kauernden Gegenüber auf, die Hände hochzunehmen.
Sebastian sah in ängstliche schwarze Augen, ein ebenso schwarzer Lockenkopf und ein schwarzer Bart verbargen mehr oder weniger das Antlitz eines ebenfalls sehr erschrockenen Mannes.
„Keine Polizei, bitte, bitte keine Polizei.“ stammelte der auf dem Boden kauernde Eindringling.
„Was machen sie hier, wie kommen sie hier herein, was suchen sie? Ich habe gesagt, sie sollen die Hände hochnehmen. Legen sie sich auf Rücken, strecken sie alle viere von sich und bewegen sie sich nicht.“
Sebastian ging zurück in die Bibliothek, um das Beil auf dem Beistelltisch zu holen.
Aus dem kleinen bis jetzt verborgenen Raum hörte er fast weinerlich:
„Bitte, bitte holen Sie keine Polizei. Ich bitte sie, bitte nicht zurück in die Hölle.“
Sebastian, nun mit seinem Beil bewaffnet, ging zurück in das Versteck hinter der Wand. Er stellte sich hinter den Eindringling und befahl ihm, aufzustehen.
„Nun gehen Sie bitte ganz langsam in die Bibliothek und setzen Sie sich in einen der Sessel. Und nehmen sie die Hände hoch, haben sie verstanden.“
„Ja, ich habe verstanden, sie müssen keine Angst vor mir haben. Glauben Sie mir bitte, ich habe keine schlechten Absichten. Aber bitte rufen Sie nicht die Polizei.“
Sebastian war verglichen mit der aktuellen Situation sehr ruhig. Irgendwie schien er auch zu spüren, dass von dem Eindringlich nicht wirklich eine Gefahr ausging.
Nachdem dieser in einem der Sessel Platz genommen hatte, knipste Sebastian das Licht in der Bibliothek an und konnte nun sein Gegenüber richtig erkennen.
Ein Mann mittleren Alters, er trug Jeans und Winterboots und hatte einen braunen Nike Kapuzen Pullover an. Das Haar trug er mittellang, es war schwarz gelockt und nach einer Dusche wahrscheinlich viel prachtvoller als jetzt. Ob er im normalen Leben einen Bart trägt, konnte man nicht sehen. Aktuell konnte er sich wohl seit geraumer Zeit nicht rasieren. Auch eine tägliche Hygiene war ihm wohl in letzter Zeit nicht möglich.
„So nun noch einmal, wie kommen sie hierher, woher kommen sie, wer überhaupt sind sie?“
Sebastian überlud den Eindringling mit Fragen. So viele Fragen, dass es schwer war einen sinnvollen Start zur Beantwortung zu finden.
„Ich bin Adil und komme aus Aleppo in Syrien.“
„Mit dem Fahrrad oder wie, warum ausgerechnet hier nach Hofgut Lachnitz?
Und überhaupt, warum sprichst du so gut Deutsch. Das hast du doch weiß Gott nicht in Syrien gelernt.“
„Auch mit dem Fahrrad bin ich gefahren, aber auch geschwommen bin ich und fast ertrunken, zu Fuß bin ich vor Bomben geflüchtet, ich bin auch geflogen und glaubte in Minsk mein Glück zu machen, ich bin durch Sümpfe gewatet und habe in Wäldern gefroren. Dann brachte man mich über Polen nach Deutschland und ich dachte, ich wäre frei und könnte endlich beginnen ein wenig zu leben.
Aber nun soll ich mich verstecken, hat man mir gesagt, sonst würde man mich wieder zurückschicken.
Zurück nach Minsk und von dort nach Damaskus oder Aleppo, vielleicht noch schlimmer nach Kabul oder in den Iran oder in den Irak, wohin eben gerade ein Flieger fliegt, ungeachtet meiner Heimat, meiner Herkunft, einfach nur weg von hier, wo ich vielleicht einem der ein Haus, ein Auto, Arbeit, geregeltes Einkommen, im Winter warm und Sommer kühl hat, weil ich vielleicht jemandem, der täglich drei Mahlzeiten sicher bekommt, weil ich eventuell so jemandem ein Krume Brot streitig machen könnte.“
„Ich heiße Sebastian, gerne darfst auch Seb zu mir sagen. Ein alter Freund sagt Seb zu mir.
Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen. Bitte entschuldige meine Reaktion. Ich war eben erschrocken und wusste ja nicht, wer hier eingedrungen ist. Ich weiß es im Grunde noch immer nicht. Aber ich spüre, dass ich mich vor dir nicht zu fürchten habe.
Ich schlage vor, du gönnst dir jetzt zuerst einmal eine Dusche. Ich gebe dir frische Kleider. Wir haben glaube ich die gleiche Statur.
Unterdessen mache ich uns etwas zu essen und brühe einen Tee. Während dem Essen und danach kannst du mir dann deine Geschichte erzählen. Ich decke hier in der Bibliothek. Sollte wider Erwarten hier jemand auftauchen, dann könntest du dich leicht verstecken.“
Sebastian begleitete Adil zur Dusche, gab ihm frische Handtücher und Kleider und ging in sein Zimmer, um in der kleinen Kitchenette ein Abendbrot zu richten.
„Seb!“, rief Adil aus dem Duschbad.
„Ja bitte, was ist? Kann ich dir noch etwas bringen?“ antwortete Sebastian.
„Nein, nein, alles in Ordnung.“
„Na, dann ist ja gut. Bis gleich. Wie zuvor besprochen, ich decke in der Bibliothek.“
„Seb!“
„Ja, was ist. Dann sag doch, was dir fehlt. Nur keine Angst!“
„Seb, vielen Dank! Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so geborgen gefühlt habe, vielen Dank dafür.“
„Wenn es weiter nichts ist. Mach hin. Soll ich uns ein Ei braten?“