Читать книгу Sehnsucht.. - Lothar Jakob Christ - Страница 9
ОглавлениеDie Rodungsarbeiten waren nach nur zwei Tagen abgeschlossen. Die professionellen Landschaftsgestalter waren aber auch mit schwerem Gerät zugange. Mit mehreren Lastwagen schaffte man die Berge von grünem Efeu und entlaubten Blauregen sofort weg von der Baustelle. Die Bausubstanz des Haupthauses war unter dem Grünzeug wirklich geschützt und in gutem Zustand. Wasserleitungen und Stromkabel wurden im Hauptgebäude und im Gesindehaus erneuert und ein neuer Abwasserkanal wurde vom Haus bis zur Hauptstraße verlegt und an das öffentliche Abwassernetz angeschlossen.
Die Bibliothek im ersten Stock wurde vom Staub der Jahrzehnte befreit und soweit gereinigt, dass man nun warten konnte bis endgültige Restaurationen dort stattfinden konnten. Im Erdgeschoss wurde der große Kachelofen funktionsfähig gemacht. Eine Zentralheizung wurde installiert und ein kleines Duschbad installiert. Zudem ließ sich Sebastian Van der Velden ein Zimmer im Erdgeschoss herrichten. Provisorisch ließ er dort eine Kochnische installieren, auch eine gemütliche Sofaecke, Schreibtisch und Raumteiler machten diesen Bereich des Hauses zu einer gemütlichen Ecke. Hinter dem Raumteiler versteckte Sebastian sein Bett.
Erstaunlich, was man in den wenigen Wochen bereits bewerkstelligt hatte und Sebastian zog nun Mitte November ein, in seine neue Einzimmerwohnung in diesem für eine Person bestimmt zu groß dimensionierten Gutshaus.
„Ohne dich hätte ich das nicht geschafft, Boje.“
„Vielen Dank für die Blumen, ich selbst habe vor ein paar Wochen auch nicht geglaubt, dass ich dir Mitte November Brot und Salz bringen kann. Jetzt kannst du wirklich in Ruhe daran arbeiten, um Hofgut Lachnitz wieder in altem Glanz erstrahlen zu lassen.“
Boje und Sebastian erzählten noch einige Zeit über die anstrengenden letzten Wochen. Darüber, wie sie die Liste, die sie im Grünen Baum erstellt hatten, abarbeiteten. Über die Probleme mit dem einen oder anderen Handwerker. Aber auch darüber, wie kooperativ diese letztendlich waren. Plötzlich wurde Sebastian ganz ruhig.
„He Seb, was ist denn los? Hat es Dir die Sprache verschlagen?“
„Boje, hör einmal. Hast du das Knacken auch gehört.“
„Welches knacken, ich höre nichts. Das ist ein altes Haus, da knackt es halt hin und wieder.“
„Eben schon wieder, du musst das doch auch hören? Kannst du dich an unseren ersten Besuch im Grünen Baum erinnern?“
„Ja, seitdem sind nun fast acht Wochen vergangen. Ich glaube, ich habe einen von den Rechten in der Tagesschau in einem Bericht über die Querdenker wieder erkannt.“
„Das kann schon sein, aber das meine ich nicht. Ich erinnere mich, dass der Wirt davon gesprochen hat, dass Hofgut Lachnitz ein Spuck Schloss wäre.“
„Aberglaube, Geschichten, welche sich die Leute erzählen. Das ist doch alles Humbug, ich lach mich kaputt, der Herr Van der Velden hat Angst vor Geistern. Na, dann viel Spaß heute Nacht oder willst du vielleicht doch lieber im Grünen Baum übernachten.“
„Nein, nein! Natürlich hast du recht. Das Holz arbeitet auch nach Jahrhunderten noch. Vielleicht sollte ich auch ein paar Mausefallen aufstellen. Ich werde mich an die Geräusche in meinem neuen zu Hause gewöhnen müssen.“
„Ja, mein Guter, das ist die richtige Einstellung. Ich werde Dich nun auch alleine lassen. Ich habe noch ca. 2 und eine halbe Stunden zu fahren, bis ich zu Hause an der Ostsee bin.“
Draußen war es schon dunkel. Boje drückte seine Gehhilfe neben den Fahrersitz seines Ur 911er. Er schlug die Tür zu und wünschte Sebastian Van der Velden durch das heruntergekurbelte Fenster alles Gute. Danach ließ Boje den Porsche Motor aufbrüllen und driftete den Sportwagen auf dem losen Schotter 180 Grad, um röhrend durch die Allee hinunter zur Hauptstraße zu fahren. Dort drückte Boje noch einmal auf die Hupe, bevor er links abbiegend in der Dunkelheit verschwand.
Sebastian ging nun zurück in das Haus und war nun zum ersten Mal ganz alleine in seinem neuen Zuhause.
Es war kurz vor sechs und nun Ende November Rabennacht draußen. Auch der Mond hatte sich hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Nebel stieg aus den nassen Wiesen.
Sebastian konnte nicht aufhören, durch das Fenster in die dunkle Nacht zu schauen.
Immer wieder glaubte er in den Nebelschwaden dunkle Gestalten zu erkennen.
Dann glaubte er jemanden hinter dem dritten rechten Allee-Baum. Er fühlte sich beobachtet. Immer wieder schaute er in die Allee, immer noch stand der Typ dort an den Baum gelehnt. Sebastian löschte das Licht. So konnte er gewiss sein, dass man ihn nicht am Fenster stehen sah. Ganz eindeutig wurde er beobachtet.
Der Beobachter schien aber wie angewurzelt.
Dann hörte Sebastian abermals einen Knacks im Haus, was ihn veranlasste, das Licht wieder einzuschalten. Daraufhin begab er sich in das neu gestaltete Duschbad, er musste auf die Toilette.
Nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, kippte er das Milchglas verglaste Fenster und schaute durch den Spalt hinaus wieder in die Allee. Noch immer lehnte der Beobachter dort am dritten Alleen-Baum.
Sebastian zog sich seine Jacke über und nahm das kleine Holzbeil, welches im Flur an der Wand lehnte. Mit schlotternden Knien, das Beil in der rechten Hand ging Sebastian, aus Sicht des Beobachters, auf der gegenüberliegenden Seite der Allee. Der Typ bewegte sich nicht. Sebastian, als er auf der Höhe des dritten Baumes war, rief:
„Was machen sie hier?“
Aber auch jetzt keine Bewegung. Geschweige denn eine Antwort auf Sebastians Frage.
Langsam bewegte sich Sebastian auf den Spion zu.
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, war er es doch selbst, der den Laubrechen an den Baum gelehnt und seinen Hut darauf abgelegt hatte.
Sebastian nahm Hut und Rechen und legte diese am Haus neben die Treppe. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihm, dass dort in der Allee keiner war.
Der Nebel wurde dichter und Sebastian setzte sich auf seine Couch und schaute die Tagesschau im Fernsehen.
SPD, die Grünen und die FDP haben sich auf eine Ampelkoalition geeinigt. Die Coronaneuinfektionen lagen noch immer bei über 50.000 täglich. Die Krankenhäuser waren überlastet und es wurden Intensivpatienten auf freie Intensivplätze irgendwo in der Republik verlegt.
Als wäre das nicht genug. An der Ostgrenze Polens versuchten noch immer Tausende Menschen die Flucht in die Freiheit. Weißrussland holte die Menschen aus den Krisengebieten im Nahen Osten und versuchte diese nun nach Europa zu schleusen. Dreckige Politik, ausgetragen auf dem Rücken der Ärmsten. Die Bilder von frierenden Kindern in den weißrussischen verschneiten Wäldern waren unerträglich.
Sebastian wurde bewusst, dass er keine Autostunde von der polnischen Grenze entfernt war. Und nach Grono in Weißrussland waren es auch nur einmal 10 Stunden.
Sebastian konnte die Bilder nicht länger ertragen. Er stellte sich leise Musik ein und setzte sich mit dem Buch „Abenteuer Schnäppchen-Haus“ in seine gemütliche Couchecke.
Nachdem nun alles ruhig war im Haus und aus der Streaming-Box nur leise Töne summten, da knackte es plötzlich wieder und Sebastian schreckte aus seiner Couchecke auf. Ganz deutlich hörte man Fußtritte. Da wieder, ganz deutlich von oben.
Sebastian ging in die Eingangshalle. Es muss jemand in der alten Bibliothek sein. Ja, ganz deutlich, da läuft jemand durch die Bibliothek.
„Hallo, --- hallo, ist da jemand? Hallo.“
Keine Antwort!
Was sagte Boje?
„Das ist ein altes Haus, da knackt es eben hin und wieder.“
Recht hatte er wohl und Sebastian ging zurück auf seine gemütliche Couch.
Schon wieder! Irgendetwas, irgendjemand läuft dort oben in der Bibliothek herum.
Sebastian spürte eine Angst, wie er sie noch nie zuvor verspürte.
Angst vor einer Prüfung, Angst er könne von einer schönen Frau einen Korb auf die Einladung zum Abendessen bekommen. Angst, dass die Polizei hinter ihm mitbekommen hat, dass er an der vorletzten Kreuzung bei dunkelgelb über die Ampel fuhr.
Das waren Ängste, die Sebastian kannte.
Aber nun, unwissend, was dort oben in der Bibliothek war, diese Angst war neu. Es kam Sebastian auch nicht in den Sinn, dass es ein Einbrecher sein könnte. Auch das hätte ihm wahrscheinlich Angst gemacht, aber es wäre die Angst vor einem bekannten Gegner gewesen.
Die Angst, die Sebastian nun verspürte, das war die Angst vor dem Unbekannten. Aber auch ein Gefühl, gepaart mit großer Neugierde. Eine Neugierde vor dem Unbekannten. Die Angst eben vor einem Geist, dem er hier vielleicht leibhaftig begegnen konnte.
Eine so banale Begegnung wie die mit einem Einbrecher würde ihn, Sebastian, so sehr enttäuschen, wie ihn heute Nachmittag der Laubrechen in der Allee enttäuscht hat.
Und wieder Schritte in der Bibliothek. Ganz deutlich, dann ein Knarren. So als würde eine schwere Tür zugezogen werden, die nicht genug Luft zwischen sich und Fußboden hat.
Ein äußerst flaues Gefühl war das, was Sebastian in der Magengrube verspürte. An den Schläfen spürte er den Puls seines Blutes. Eine heftige Diskussion zwischen Verstand und Bauch schien im Gange zu sein. Sebastian bewegte sich wie ferngesteuert.
In der Halle, auf der Garderobenablage, stand die große Stablampe.
Warum er diese Griff? Keine Ahnung: War doch die Elektrik im gesamten Haus auf dem Neuesten.
Sebastian stand in der Eingangshalle, die großzügige Treppe lud ein, darüber nach oben zu gehen. Das Licht war nach unten gedimmt, eigentlich eine gemütliche Stimmung, wäre da nicht die Furcht vor dem Ungewissen, dort oben in der Bibliothek.
Uhuuhuuhuuu! Ein lauter Schrei und immer kräftiger klingendes Krächzen ließ Sebastian zusammenzucken und kurz in eine Angststarre verfallen.
Verdammt, dachte er, bin ich denn von allen guten Geistern verlassen.
Dann meldete sich Sebastians Verstand, der sich gegen den Bauch durchsetzte und mitteilte, dass das Schreien draußen von der Schleiereule herrief. Die gleiche Eule, die Sebastian in den letzten Tagen immer wieder mit Bewunderung beim Jagen beobachtet hatte. Geschickt griff sie sich in der Dunkelheit immer wieder Mäuse und machte dabei dieses Spektakel. Wahrscheinlich Freudenschreie über den großartigen Jagderfolg.
Im ersten Stock schien es auch wieder ruhig zu sein.
Sebastian hatte das kleine Beil, nachdem er den Laubrechen zur Strecke gebracht hatte, wieder auf die zweite Treppenstufe an die Wand gelehnt. Die Stablampe in der Rechten griff er das Beil im Vorbeigehen mit der Linken. Die Treppenstufen knarrten unter seinen Schritten.
Oben an der Empore angekommen, blieb Sebastian einen Moment stehen.
Er schaltete das Licht ein. Eine nur schwaches Licht illuminierte den Bereich der Empore. Die Wände waren von den alten Tapeten befreit und wirkten mit den Resten von angetrocknetem Tapetenlöser und einigen Stellen an denen der Putz porös war geradezu verletzt. Die Türen waren alle ausgehängt und es sah aus wie in einem Rohbau, der darum bittet, dass man ihm die nackten Wände bekleidet. Nur die Tür zur Bibliothek, stolz und aus Eichenholz, signalisierte fast überheblich:
„Schau, ich habe hier schon viel gesehen und geradezu majestätisch die Zeit wie unsterblich überlebt.“
Hinter genau dieser Tür mussten die Schritte gewesen sein. Doch, nun? Alles ruhig! Das gesamte Haus schien zu schlafen. Kein Knacken, kein Krächzen, nichts. Nur Stille, die so wie sie von Sebastian wahrgenommen wurde, auf eine ganz eigene Art schon wieder Angst machte.
Sebastians Neugierde war nun das stärkste Gefühl, stärker als alles andere in ihm.
Die Stablampe in der Hand, und das Beil fest umschlossen, drückte Sebastian auf den Griff dieser alten und stolzen Tür. Langsam öffnete er diese in den Raum hinein.
Friedlich lag die Bibliothek vor ihm. Wie immer, wenn Sebastian diesen Raum betrat, beschlich ihn ein Gefühls-Cocktail aus Bewunderung, Erstaunen und Ehrfurcht vor diesem Raum. Auf der hinteren Seite die bodentiefen Fenster hinaus auf einen halbrunden Balkon. Die Brüstung kunstvoll aus Sandstein gefertigt. An der gegenüberliegenden Wand die Sitzgruppe aus vier großen braunen ledernen Sesseln. Das Leder, obwohl schon alt, noch immer geschmeidig. Als ob man es über die vielen Jahrzehnte regelmäßig gepflegt hätte. Die Wände an den Seiten bis zur Decke hinauf mit Bücherregalen verkleidet. Eine Schrankbar war links neben dem Schreibtisch in das Buchregal eingelassen. Sebastian hatte sich fest vorgenommen, diese zu gegebener Zeit wieder zu reaktivieren.
Der Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes so, dass man mit dem Rücken zum Garten saß und in Richtung der Sitzgruppe schaute. Auf der grünen ledernen Ablage des Schreibtisches lag einer der vielen Atlanten, aufgeschlagen, das östliche Europa.
Sebastian konnte sich nicht erinnern, den Atlas dort hingelegt zu haben.
Schenkte dem Umstand jedoch keine weitere Beachtung.
Im nächsten Moment schepperte es gewaltig auf dem Balkon.
Sebastian zu Tote erschrocken, leuchtete mit der Stablampe durch die Scheiben der Bibliothekstüren hinaus in die Nacht.
Ganz offensichtlich hat sich dort die Eule auf dem Balkon eine Maus geschlagen. Fest in den Krallen der Eule gefangen hat die Maus eben noch gezappelt, jedoch ein gezielter Stoß mit dem scharfen Schnabel erlöste die Maus von ihrer Pein und im nächsten Moment labte sich die Eule an den Innereien der wohl noch lebenswarmen Maus.
War es eventuell diese Maus, welche die Geräusche verursachte, die aus der Bibliothek zu kommen schienen. War es wirklich eine abermalige Täuschung?
Heute Nachmittag der Laubrechen. Heute Abend eine Maus.
Sebastian setzte sich in der dunklen Bibliothek in einen der Ledersessel und musste ein wenig über sich selbst lachen. Das Beil legte er auf den kleinen Beistelltisch. Die Lampe hielt er in der Hand und er konnte beobachten, wie die Eule die kleine Maus genüsslich verschlang. Offensichtlich satt, schwang sich die Eule zunächst auf die sandsteinene Brüstung des Balkons, um von dort auf leisen Schwingen in die Nacht zu verschwinden.