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6 Schon von den Aufgewachten gehört?
ОглавлениеIm Café Rondo in Schierstein war inzwischen ein weiterer Kaffee bei den Herren Spyridakis und Born angekommen. Volker Born schlurfte genüsslich an seiner Tasse, während Vlassi die seine vorsichtig an die Lippen hielt und ihm durch den Kopf ging, dass er eventuell schon zu viel von dem schwarzen Bohnensaft zu sich genommen hatte. Oder half ihm der eventuell sogar weiter, löste er seine Erinnerungsblockade?
Born räusperte sich: „Ich sagte, dass wir ins zeitgenössische Leben eintauchen müssen. Ich sagte, dass ich Sie aufklären will. Wohlan! Sind Sie bereit?“
„Auf jeden Fall. Wenn Sie mein Aufklärer sind, bin ich immer bereit“, erwiderte Vlassi und setzte seine Tasse ab, nachdem er einen winzigen Schluck getrunken hatte.
„Haben Sie schon von den Aufgewachten gehört?“, fragte Born.
„Die Aufgewachten“, sinnierte Vlassi und dachte: Das wäre was für mich, ich müsste auch aufwachen und mich an alles erinnern. Er sah sein Gegenüber an und schüttelte den Kopf: „Nö.“
„Die Aufgewachten gelten in gewissen Kreisen lediglich als Coronaleugner. Sie werden verwechselt mit den Querdenkern …“
Vlassi murmelte: „Querdenker kenne ich auch nicht. Oder meinen Sie mich?“
Born, der bisher entspannt dagesessen hatte, richtete sich auf und wirkte nun wie ein Lehrer, der einem störrischen Schüler das Pensum erklären muss: „Ich bitte Sie! Leben Sie denn gar nicht in der Gegenwart? Wer im Hier und Heute sein Dasein fristet, muss doch von Querdenkern und Aufgewachten gehört haben!“
Vlassi gestand: „Ich lebe wohl nicht so richtig im Hier und Heute. Vielleicht bin ich aus der Zeit gefallen.“
„Es ist ein großes Glück für Sie, dass Sie mich getroffen haben“, teilte ihm Volker Born mit.
Davon war Vlassi nicht überzeugt, denn was sollten ihm Querdenker und Aufgewachte, er kämpfte mit einem ganz anderen Problem.
Schon sprach Born weiter: „Die Querdenker lassen wir jetzt mal beiseite, das sind überwiegend Verschwörungsmystiker und Leute, die dem rechten Gedankengut zugetan sind …“
„Rechtsradikale?“, flocht Vlassi ein.
Born ging nicht auf seine Frage ein. „Aber wissen Sie, wie sich die Aufgewachten verstehen?“
Unser Kommissar schüttelte ratlos den Kopf.
„Die Aufgewachten“, erklärte Born, „haben erkannt, was in Deutschland und der Welt vor sich geht, nämlich …“
Vlassi fiel ihm ins Wort: „Mord und Totschlag.“
„Nein“, korrigierte Born, „Lüge und Verdummung sind an der Tagesordnung. So denken sie jedenfalls. Die Medien verdummen und verwirren uns angeblich. Und all jene, die das nicht glauben, nennen die Aufgewachten Schlafschafe.“
„Was wäre ich dann?“, fragte Vlassi nachdenklich, „bin ich vielleicht ein doppeltes Schlafschaf? Wo mir doch noch nicht mal die Aufgewachten geläufig waren, ich meine, ich kannte das Wort gar nicht.“
Born musterte ihn skeptisch, als würde ihm durch den Kopf gehen, dass Vlassi möglicherweise zu den Doppel-Schlafschafen gehörte. Dann sagte er: „Ich registriere Sie als Ausnahme. Als Ausnahme von der Regel. Sie sind höchstens ein Schlafschaf besonderer Art. Na ja, kein Wunder, Sie müssen sich ja fortwährend mit irgendwelchen Gräueltaten beschäftigen.“
„Eben!“, stimmte Vlassi zu, „mir fehlt die Zeit, um aufzuwachen.“
Und er dachte: Dabei würd’ ich nur zu gern aufwachen – aufwachen aus meiner Gedächtnisstarre.
Volker Born nahm einen Schluck Kaffee, dann sagte er: „Wissen Sie, was die Aufgewachten behaupten?“
Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach sofort weiter: „Das Coronavirus halten sie für eine Erfindung. Die ganze Pandemie gilt ihnen als sorgfältig ausgetüftelter Plan von Bill Gates …“
„Gates, ist das nicht …?“, warf Vlassi ein.
„Ja, der Microsoft-Gründer. Er will mit Corona angeblich Geld verdienen.“
„Verdient er damit Geld?“, fragte Vlassi.
„Natürlich verdient er Geld, aber nicht damit. Er verdient Geld durch seine Computer, das sollten Sie doch wissen.“
„Richtig. Eben fällt’s mir auch ein.“
Born sandte ihm einen kritischen Blick: „Herr Spyridakis, mir scheint, dass Sie ein bisschen vergesslich werden.“
Der hat mein Problem erkannt, ging es Vlassi durch den Kopf, ob ich ihm vielleicht …
Volker Born redete weiter: „Wissen Sie, was die Aufgewachten auch behaupten? Dass es nur um die Frage geht, ob die Menschheit ausgerottet wird oder die Eliten hängen.“
„Das passt doch gar nicht zusammen“, entgegnete Vlassi und dachte: Das passt so wenig zusammen wie Mord oder Absicht – oder gibt es hier doch einen Zusammenhang?
„So könnte man meinen“, hörte er von seinem Kaffeegenossen.
„Soll das heißen, dass die Eliten gar nicht aus Menschen bestehen, sondern aus Maulwürfen?“, fragte Vlassi.
„Verquere Idee! Nein, es soll eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschworen werden. Entweder werden die Menschen ausgerottet oder, das ist die Alternative, man hängt die Eliten. Verstehen Sie?“
Vlassi nickte, obwohl er kaum verstand: „Das erinnert mich an die alte DDR. Dort hat man allerdings vergessen, die Eliten rechtzeitig aufzuhängen.“
„Nicht gleich so brachial werden“, schob der Theologe ein, „aber im Prinzip haben Sie recht. Sie sind offenbar wieder auf dem Damm, Sie scheinen zu verstehen.“
Vlassi war beruhigt, er hatte sich erinnert, wenn auch an einen Staat, der lange perdu war. Aber das wusste er ja schon, sein Gedächtnis funktionierte bei lang Zurückliegendem – aber vielleicht könnte er sich allmählich auch in die jüngste Vergangenheit zurücktasten.
„Eines muss ich Ihnen noch erzählen“, sprach Born, „die Aufgewachten behaupten auch, dass durch den neuen Mobilfunkstandard, man nennt ihn 5G, Nanopartikel in unsere Zellkerne vordringen und Krankheiten auslösen. Wir würden bald als Zombies durch die Welt gehen und außerdem unfruchtbar sein.“
Vlassi fiel ein, dass er vielleicht zu viel mit seinem Handy telefoniert hatte – könnte daher die Gedächtnisschwäche rühren? Aber sein Handy war vorsintflutlich, wie Julia Wunder öfter schon festgestellt hatte. Das sonderte bestimmt keine Nanopartikel ab – was auch immer das war. Außerdem lehnte er es ab, als Zombie durch die Welt zu gehen. Er war höchstens ein Toter ohne Kurzzeitgedächtnis.
„Stimmt denn das?“, wollte er wissen.
Volker Born spreizte beide Arme nach oben: „Natürlich nicht! Das ist Unsinn. Wie auch das, was die Aufgewachten über den bundesweiten Sirenen-Tag publizieren. Er findet, soviel ich weiß, am 10. September statt …“
Vlassi hob die Schultern, um sein Nichtwissen anzudeuten.
„Angeblich dient dieser Tag dazu, um die Schwingungen und das Erwachen zu blockieren“, fuhr Born fort und zog ein Gesicht, als habe er in eine furchtbar saure Pampelmuse gebissen.
„Was für Schwingungen?“, wollte Vlassi wissen.
Born beugte sich vor: „Endlich mal eine kluge Anmerkung. Eben! Was für Schwingungen? Das sind Hirngespinste, das ist alles nur Blabla von Verschwörungsanhängern.“
Vlassi nickte, dachte jedoch: Aber dass das Erwachen blockiert wird – könnte das nicht auf mich zutreffen? Was habe ich am 10. September gemacht? Vielleicht hat mich ein Sirenenton aus dem Gleichgewicht gebracht, als ich ahnungslos durch den Kurpark gelaufen bin?
„Es hat keinen Sinn“, brach Volker Born in seinen Gedankenstrom ein, „sich länger mit diesen verqueren Gedanken zu beschäftigen. Ich bin eigentlich nur darauf eingegangen, weil ich gemerkt habe, dass Sie keine Ahnung haben.“
„Sie wollten mich aufklären.“
„Genau! Wie Sie schon sagten, ich bin Ihr Aufklärer“, bestätigte Born, „mein Begehr ist, Sie zum Zeitgenossen zu machen.“
Vlassi erwiderte ernst: „Das hab’ ich dringend nötig. Zeitgenossenschaft und Vergangenheit, die gerade vergangen ist.“
„Die Vergangenheit vergeht nie“, teilte Born grinsend mit, „auch wenn uns mitunter das Gegenteil erklärt wird.“ Er machte eine kleine Pause: „Aber sich mit der üblen Gegenwart zu beschäftigen ist dringend nötig. Na ja, haben wir soeben getan.“
Vlassi nickte und griff zu seiner Tasse, einen Schluck könnte er sich noch gönnen, auch wenn der Kaffee inzwischen bestimmt kalt geworden war. Oder tot, wie sein Tischnachbar gesagt hatte.
„Es gibt aber auch Erfreuliches in der Gegenwart“, fuhr Born fort und machte ein geheimnisvolles Gesicht.
„Tatsächlich, gibt es das?“, murmelte Vlassi, der seine Tasse zurückgestellt hatte. Sein Kaffee war nicht nur tot, für ihn hatte er geradezu Leichengeruch angenommen.
„Ja, ja, das gibt es“, erklärte Born, „es gibt Erfreuliches. Man darf die Welt nicht nur mit den Augen des Pessimisten sehen. Was ist Pessimismus?“
„Ja … also …“, wollte Vlassi ansetzen.
„Ich sag’s Ihnen. Wenn man im Glück das Unglück erkennt, im Sieg die Niederlage sieht, im Schönen den Verfall wittert.“
Volker Born hielt inne: „Machen wir uns nichts vor. Pessimismus ist eine deutsche Grundtugend.“
Da bin ich inzwischen sehr deutsch geworden, ging es Vlassi durch den Kopf, sehe ich nicht in meinem schönen Geist auch bereits den hässlichen Verfall?
„Optimisten dagegen“, fuhr Born fort, „sehen im Unglück eine glückliche Fügung, in der Niederlage einen Sieg, und in Aschenputtel erkennen sie eine Prinzessin. Mit anderen Worten: Optimisten leben gesünder, glücklicher und länger.“
Vlassi horchte auf und wusste sofort: Er musste optimistischer werden. Der Zustand, in dem er sich befand, war ja äußerst ungesund. Wenn sich die Erinnerung sträubt, zu mir zurückzufinden, dachte er, konnte das nur in Siechtum und Hinfälligkeit enden, von Glück und langem Leben gar nicht zu reden. Wahrscheinlich breiten sich sogar schon allerlei Krankheiten in mir aus, Krankheiten, die mich dem ungesunden Grab entgegenschieben.
„Ja!“, stöhnte er, „ich möchte unbedingt dem Optimismus nähertreten.“
„Sie sind es bereits“, sagte Born gravitätisch, „denn Sie kennen mich.“
„Sie sind ein Optimist?“ In Vlassis Frage steckte ein Unterton von Zweifel.
„Aber natürlich! Alle pessimistischen Gedanken, die mich mitunter anfallen, verbanne ich sofort in den Orkus.“ Born machte eine kleine Pause: „Jetzt zum Beispiel fällt mir ein, dass wir ein Stück Kuchen essen könnten. Ein Gedanke, der meinem Optimismus entspringt, denn ich hoffe, nein, ich glaube, dass der Kuchen hier mundet.“
„Ah ja“, murmelte Vlassi, „dann lassen Sie uns mit Optimismus bestellen.“
Born drehte sich herum und winkte der Kellnerin. Als sie an den Tisch kam, sagte er: „Sie haben doch einen wunderbaren Schlupfkuchen, wie ich hörte.“
Die Kellnerin bestätigte.
„Bringen Sie uns bitte je ein Stück.“
Volker Born drehte sich zu Vlassi: „Ich lade Sie ein. Lassen Sie sich überraschen.“
Ich werde mir optimistisch den ersten Bissen in den Mund schieben, ging es Vlassi durch den Kopf, bestimmt schmeckt’s mir dann.
Born lehnte sich zurück: „Wir haben über die Aufgewachten geredet. Ich bin sehr kritisch, wie Sie wissen, aber man darf sie nicht über einen Kamm scheren.“
Vlassi nickte nachdenklich, sagte aber nichts.
„Es gibt da einen Mann, der ist wahrlich aufgewacht“, sprach Born weiter.
„Tatsächlich?“, flocht Vlassi ein.
„Ja, ja, ich habe ein Seminar von ihm besucht, es war hochinteressant.“
Vlassi sandte Born einen neugierigen Blick.
„Er sprach über die Banken und ihre unlauteren, ja verbrecherischen Methoden“, fuhr Born fort, „Sie werden diesen Mann nicht kennen. Aber Sie sollten ihn kennenlernen, er ist eine Bereicherung für uns alle.“
Eine Bereicherung, dachte Vlassi, in dem Wort Bereicherung steckt reich, ist das vielleicht einer, der mich reicher macht? Es muss ja nicht unbedingt in Penunze sein, neue Erkenntnisse sind auch was Schönes.
„Wenn Sie ihn sehen würden“, sprach Volker Born weiter, „würden Sie nicht denken, dass der so ungewöhnliche Gedanken hervorbringt. Er sieht ganz unscheinbar aus.“
„Ein Typ wie Albert Einstein?“, wollte Vlassi wissen.
„Na ja, nicht ganz, sein Haar ist nicht weiß und flattert nicht durch die Gegend, er ist relativ jung, etwa Mitte vierzig, sein Haupt ist kurz geschoren, und er trägt einen Vollbart, der seinem Gesicht einen schwarzen Rahmen gibt.“
In Vlassis Oberstübchen klickte es: „Trägt er eine Brille, eine randlose Brille?“
„Ja, genau, so eine Intellektuellen-Brille, wie wir früher sagten.“
In dem Moment kam die Kellnerin mit dem bestellten Schlupfkuchen. Sie stellte die Teller auf den Tisch und wünschte guten Appetit. Doch genau der schien Vlassi vergangen. Er rutschte auf seinem Stuhl zusammen, wirkte auf einmal wie ein Zwerg, und sein Gesicht verfärbte sich ins Weißliche.
„Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte Born mit besorgter Stimme, „macht Sie der Anblick des Kuchens krank?“
Vlassi antwortete nicht, es schien geradezu, als wollte er überhaupt nicht mehr reden. Doch nach einer Weile bewegte er den Kopf verneinend hin und her.
„Was ist denn?“, wiederholte Volker Born, dessen Neugier erwacht war.
Es dauerte einen weiteren langen Moment, bis Vlassi stockend mitteilte: „Ich bin … aufgewacht …“
„Aufgewacht, was soll das heißen?“, unterbrach ihn Born.
Vlassis Gesicht sah nun nicht mehr nur weiß aus, es wirkte geradezu tot.
„Ich bin aufgewacht“, wiederholte er, „ich habe … mich erinnert … dieser Mann heißt Reinhardt …“
„Sehr richtig. Frederick Reinhardt heißt er“, bestätigte Volker Born, „kennen Sie ihn?“
Vlassi ließ einen Ton hören, der sich nach Verzweiflung anhörte: „Ja … meine Erinnerung … ist wieder da … ich weiß … wieder alles …“
Er machte eine Pause, um dann mit bitterer Miene zu erklären: „Ich habe diesen Mann ermordet.“