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9 Meinen Sie, der Born ist ein Mörder?

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Als Vlassi über die Schiersteiner Brücke zurück nach Wiesbaden fuhr, fühlte er sich nicht ganz wohl, und der Pegel seiner Zufriedenheit ankerte in unteren Regionen. Dabei war sein Besuch bei Reinhardt doch eigentlich erfolgreich – wenn man es denn als Erfolg verzeichnen kann herauszufinden, dass ein Toter sich eines meckernd-lachenden Lebens erfreuen kann.

Volker Borns Anruf bei Reinhardt war gar nicht verkehrt, und mein Besuch bei ihm ein nahezu genialer Einfall, überlegte Vlassi. Der Mann lebte. Er lebte und – lachte, was durchaus als Steigerung von Leben zu verstehen ist. Weshalb bin ich nicht so richtig zufrieden mit meiner Aktion? Komme ich nicht los von dem Gedanken, dass ich vielleicht doch mit einem Schauspieler gesprochen habe? Und in Wirklichkeit der echte Reinhardt schon längst im Jenseits siedelt. Und warum habe ich das Gefühl, mich an etwas Bestimmtes nicht zu erinnern? Was war das? Hat der mir was andrehen wollen, und ich hab’s in die Vergessens-Schublade gelegt?

Im nächsten Moment fiel Vlassi ein: Weshalb sollte es eigentlich ein Double geben? Natürlich – weil der echte Reinhardt nicht mehr lebt, weil man ihn ermordet hat. Aber warum? Wenn es so sein sollte, war ich es doch am Ende? Nicht ich bin tot, das habe ich mir nur eingebildet, nicht ich bin ins Jenseits befördert worden, sondern ich habe umgebracht. Diesen Reinhardt? Nein, nein, er lebt ja, wenn er es denn wirklich war … ach, ich komme mit meinen scharfsinnigen Überlegungen nicht weiter, ich drehe mich im Kreis. Da sieht man mal wieder, wie schwach das menschliche Gehirn ist, wie es mich, seinen standhaften Vlassi, im Stich lässt. Das Hirn wird ja völlig überschätzt. Gerade dann, wenn ich es dringend brauche, dreht es eine Pirouette nach der andern. Und was meinte dieser Reinhardt eigentlich, als er mich als neuen Kandidaten bezeichnete? Kandidat wofür? Für einen Mord? Soll ich Täter werden? Oder Opfer?

Vlassi war längst in Wiesbaden angekommen und hätte beinahe eine rote Ampel überfahren, als er sich sagte: Ich muss zu meiner Chefin, sie wird Licht in diese verquere Angelegenheit bringen, sie ist eine Frau, und Frauen wie Frau Wunder sind mitunter klüger als ein gepeinigter Vlassopolous, das muss ich mir leider eingestehen.

Wenig später eilte er in den ersten Stock des Polizeipräsidiums, um zum Dienstzimmer zu gelangen. Unterwegs begegnete ihm Kriminalrat Feuer, der ihm zurief: „Na, schönen Spaziergang gemacht, Lücken aufgefüllt?“

Vlassi nickte kurz angebunden, er wollte sich nicht auf ein längeres und unfruchtbares Gespräch mit Feuer einlassen, der es allerdings nicht unterlassen konnte, ihm nachzurufen: „Habe ich doch gesagt, ein Gang im Kurpark wirkt Wunder. Sogar Tote werden da wieder lebendig.“

Na ja, dachte Vlassi, so übel ist der Feuer eigentlich nicht, ich bin ja wieder einigermaßen lebendig. Mit seinen Ratschlägen übertrifft Feuer jedenfalls den Dr. Niebergall bei Weitem. Als er die Tür zum Dienstzimmer öffnete, schaute Julia Wunder sofort von ihrem Schreibtisch auf.

„Da sind Sie ja endlich!“, rief sie aus.

„Haben Sie mich vermisst?“

„Vermisst – ich habe mir Gedanken gemacht. Der Niebergall hat Ihnen ja nicht helfen können.“

„Woher wissen Sie …?“, fragte Vlassi.

„Ich weiß einiges, aber das tut jetzt nichts zur Sache.“

Kommissar Spyridakis setzte sich ihr gegenüber an seinen Schreibtisch: „Ja, also dieser Doktor Niebergall hat mir den Teufel empfohlen. Bei dem habe ich aber nicht angeklopft, wer weiß, in welchem Kochtopf ich da gelandet wäre.“

Julia schmunzelte: „Und er hält Sie für einen Hallodri, Ihr Gedächtnisschwund sei eine Vorgaukelei.“

Vlassi verzog das Gesicht: „Vorgaukelei, was ist denn das für ein Wort?“

„Ein schönes altes Wort, das viel zu selten benutzt wird“, erklärte Julia, „ständig wird uns doch was vorgegaukelt.“

„Richtig“, stimmte Vlassi zu, „ich hab’s ja am eigenen Leib erfahren.“

Julia legte ihren Stift zur Seite: „Zur Sache! Einen Gedächtnisschwund, wie Sie ihn vorgeben, gibt es nicht. So habe ich es vom Psychotherapeuten Niebergall erfahren.“

„Obwohl Ihr Vater ihn empfohlen hat“, erwiderte Vlassi, „kann ich für diesen Doktor Niebergall keine Reklame machen. Und das nicht nur, weil er mich hinausgeworfen und den Teufel empfohlen hat.“

Julia verstand ihren Vlassi nur zu gut. Auch sie war von dem Psychiater ja nicht besonders angetan gewesen beim Gespräch im Eltviller Café.

„Eine Koryphäe ist er sicher nicht“, bemerkte sie, „aber immerhin hat er erkannt, dass Sie gefährdet sind und es nicht einmal merken würden.“

Vlassi schaute Julia an und murmelte: „Gefährdet? Vielleicht hat er da gar nicht so unrecht.“

Er dachte dabei lediglich an seinen wirren Gedankenstrom auf der Herfahrt im Auto.

„Sie finden selbst, dass Sie gefährdet sind?“, fragte Julia verwundert.

Vlassi zog sich an den Schreibtisch heran und teilte offenherzig mit: „Na ja, so ein bisschen plemplem schien ich ja gewesen zu sein. Ich war sogar ein Toter ohne Erinnerung …“

Julia fiel ihm ins Wort: „Wollen Sie sagen, dass Sie jetzt ein Toter mit Erinnerung sind?“

„Da kann ich vollinhaltlich zustimmen! Erinnert … also … habe ich mich … wenigstens ein bisschen.“

Julia fuhr mit ihrer rechten Hand durch die Luft: „Lassen wir Ihr Tot-Sein mal beiseite. Wenn man Tote fragt, können die sich ja durchweg nicht erinnern, Sie aber schon …“

„Das ist ja das Problem mit den Ermordeten, diesen Leichen“, fügte Vlassi ein.

„Ja, ja, wir haben also ein Problem weniger. Wie sind Sie denn wiederauferstanden, wie sind Sie vollwertig geworden, ich meine, wie haben Sie Ihr Gedächtnis wiedergefunden?“

„Dem Doktor Niebergall habe ich das nicht zu verdanken, der konnte mir ja nur den Mann mit den Hörnern empfehlen.“

„Weiß ich, weiß ich“, drängte Julia, „wem haben Sie es denn zu verdanken?“

Vlassi zog ein nachdenkliches Gesicht: „Ja … also, ich ging so für mich hin, als mich ein Ruf von der anderen Straßenseite ereilte, ein plötzlicher Anruf …“

„Werden Sie doch nicht episch“, unterbrach ihn seine Chefin, „kommen Sie auf den Punkt.“

„Ich muss es so erzählen, damit Sie es verstehen.“

„Ich verstehe Sie am besten, wenn Sie schneller werden“, sagte Julia mit ernstem Gesicht.

„Die Schnelligkeit ist ein Leiden unserer Zeit“, murmelte Vlassi, „vielleicht ist das die eigentliche Ursache meiner Gedächtnisschwäche …“

„Und Ihres Tot-Seins“, ergänzte Julia mit sarkastischer Miene, „bitte weiter in angemessener Geschwindigkeit.“

„Ich erhielt also diesen Ruf, und es stellte sich heraus, dass ein alter Bekannter, vielleicht könnte ich ihn sogar als Freund bezeichnen, mir ein Zeichen gab.“

„Denken Sie daran“, gab Julia Wunder, der es wieder zu lang wurde, ihrem Vlassi zu verstehen, „dass wir nicht das ganze Leben für Ihre Geschichte drangeben wollen. Außerdem könnte jeden Moment Kriminalrat Feuer erscheinen.“

Das Stichwort Feuer machte Vlassi Beine: „Sie haben recht, wenn der kommt, muss ich vom Epischen ins Theatralische wechseln. Und ich bin ja abgekommen von meinen Theater-Ambitionen.“

„Ein Glück“, stöhnte Julia auf, „ein Glück, dass wir den letzten Fall hatten, wo Sie zur Besinnung gekommen sind. Vielleicht erreichen wir das auch diesmal.“

Vlassi wurde jetzt tatsächlicher schneller: „Also dieser Freund, Sie kennen ihn nicht, der hat von den Aufgewachten gesprochen und hat mir einen Mann geschildert, an den ich mich erinnert habe, ich habe mich auch daran erinnert, dass ich ihn umgebracht habe …“

Julia zuckte zurück: „Das wird ja immer doller mit Ihnen. Sie haben jemanden umgebracht?“

„Ja, das glaubte ich, ich war sogar fest davon überzeugt, aber mein Freund …“

„Wie heißt dieser Freund denn eigentlich, ich will seinen Namen erfahren“, sagte Julia.

„Meinen Sie, der ist ein Mörder?“

„Erzählen Sie weiter.“

„Also der Freund heißt Born, Volker Born, er ist Theologe …“

„Das macht nichts, auch Theologen sind vor Untaten nicht gefeit“, erwiderte Julia, „weiter, weiter.“

„Sie haben recht“, teilte Vlassi nachdenklich mit, „auch Theologen können morden, der Mord ist schließlich eine menschliche Errungenschaft.“

Julia verdrehte die Augen, gab aber keinen Kommentar zu Vlassis Feststellung.

„Also“, fuhr Vlassi fort, „nachdem ich Volker Born von meinem Tatverdacht mich selbst betreffend berichtet hatte, rief der den von mir Ermordeten an …“

„Sie machen’s so kompliziert“, unterbrach ihn Julia.

„Ich rede dienstlich und korrekt“, rechtfertigte sich Vlassi, „ich hielt mich schließlich für einen mordenden Kommissar.“

„Und? Waren Sie’s?“

„Seltsamerweise nicht. Denn der von mir Ermordete lebte, wie Herr Born durch ein Telefonat feststellte.“

„Da sind Sie ja noch mal gut weggekommen“, stellte Julia fest.

„Ich bin mir da nicht so sicher“, murmelte Vlassi, „und wissen Sie warum?“

„Weil Sie unbedingt den Mörder spielen wollen“, sagte Julia.

„Falsch!“, rief Vlassi aus, „ich habe weiter gedacht. Wie Sie wissen, ist mein Horizont enorm. Ich habe daran gedacht, dass Born mit einer Fälschung gesprochen hat.“

Jetzt schlich sich in die Gesichtszüge von Kommissar Spyridakis ein gewisser Triumph: „Der Mann, mit dem Born telefoniert hat, war nicht echt …“

„War er vielleicht auch tot?“, fragte Julia grinsend.

„So glauben Sie mir doch. Der Angerufene konnte doch ein Double sein. Das kennt man doch von Film und Fernsehen, da laufen doch lauter Doubles rum, die plappernd ihre Rolle spielen und gar nichts vom Ganzen verstehen.“

„Meinetwegen“, nickte Julia, „aber eigentlich ist Ihr tragischer Fall doch abgeschlossen, Sie haben Ihr Gedächtnis wieder und sind nicht tot, was wollen Sie denn noch mehr?“

Vlassi richtete sich in seinem Stuhl auf: „Aber Frau Wunder, Sie enttäuschen mich! Ich muss doch die Ursache für mein Tot-Sein herausfinden.“

„Sie sind doch gar nicht tot, Sie waren es auch nie.“

„Ja, das ist es ja“, erwiderte Vlassi mit zorniger Stimme, „ich bin zwar nicht tot, aber ich habe mich so gefühlt. Das muss doch Gründe haben.“

„Viele Menschen sind nicht tot, fühlen sich aber so“, teilte Julia ihrem Assistenten mit, „ein Gebrechen unserer Zeit.“

„Ich aber gehöre zu denen, die sich nicht mit ihrem Tot-Gefühl abfinden können! Und dass mir das Gedächtnis abhandenkam, gefällt mir auch nicht.“

Vlassi machte eine kleine Pause, um dann nachdenklich nachzuschieben: „Wer weiß, wann es wieder passiert und ich auf einmal denke, dass ich Kriminalrat Feuer bin …“

„Na wunderbar“, sagte Julia, „dann wären Sie aufgestiegen und hätten es gar nicht mitgekriegt.“

„Meine Identität!“, rief Vlassi aus, „sie ist das Wichtigste. Und sie wäre verloren!“

„Ach, Ihre Identität“, murmelte Julia, „machen Sie sich um die keine Sorgen, die wird immer weiter bestehen, sogar nach Ihren Tod.“

„Tod! Sehen Sie, Sie sprechen aus, was mir zu schaffen macht.“

„Das weiß ich doch. Tod und Krankheiten sind Ihre Lieblingsthemen. Aber jetzt sind Sie geheilt, wenn auch dieser Doktor Niebergall nur ein geringes Verdienst daran hat.“

„Überhaupt keins hat er“, widersprach Vlassi und schaute dabei seine Chefin mit einer gewissen Dankbarkeit an, obwohl die ihn doch zu diesem Stümper geschickt hatte.

Ihre Worte machten ihn deshalb dankbar, weil sie davon sprach, dass er geheilt war. Vlassi hätte sie küssen können für diese wunderbare Aussage, wobei ihm einfiel, dass eigentlich Volker Born Ziel seiner Kussattacke hätte sein müssen, was ihm allerdings zuwider gewesen wäre. Aber der hatte ihm letzten Endes zu seiner Genesung verholfen.

Dennoch misstraute er seiner unerwarteten Heilung, und ihm fiel wieder ein, dass Reinhardt ihn Kandidat genannt hatte. Wahrscheinlich bin ich das nächste Opfer, dachte er, man wird mich aus dem Hinterhalt meucheln, und ich werde nichts dagegen tun können, werde dem Herrn Tod begegnen, der mir die Hand reicht und mich endgültig ins Jenseits zieht.

Mord oder Absicht?

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