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7 Da erfreut sich jemand eines
üblen Rufs

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Während Vlassi auf ungewöhnliche Art seine Erinnerung wiederfand, saßen in Eltville im Café Schwab zwei Männer zusammen und unterhielten sich angeregt bei Kaffee und Kuchen. Sie hatten sich gerade über den Mord in Frankreich ausgetauscht, jene Enthauptung, begangen von einem Islam-Anhänger, und einer der beiden nicht mehr ganz jungen Männer im Café sagte gerade: „Die Ablehnung unserer Werte, der Meinungsfreiheit vor allem, ist bei den Islamisten doch gang und gäbe.“

Der andere stimmte ihm zu: „Nicht nur bei den Islamisten. In Frankfurt haben sich muslimische Mütter beschwert. Ihre Kinder seien durch den Besuch eines Klosters beschmutzt worden.“

„Tatsächlich? Da sieht man mal, dass diese Leute in unserer Gesellschaft nicht angekommen sind und vermutlich auch gar nicht ankommen wollen.“

Die beiden Männer schienen sich einig in der Beurteilung der Lage. Nachdem sie unisono von ihrem Kaffee getrunken hatten, sagte der eine: „Übrigens, der Bursche, den du mir geschickt hast, hat sich als Hallodri entpuppt.“

Sein Tischnachbar wusste sofort Bescheid: „Hallodri würde ich ihn nicht gerade nennen, obwohl mir das Wort gefällt.“

„Wie würdest du ihn denn nennen?“

„Also Kommissar Spyridakis ist doch eher ein schusselig-verträumter Typ.“

„Verträumt? Mein lieber Wolfgang, der Mann wollte mir weismachen, dass er seit Jahren unter Gedächtnisschwund leidet.“

Der Angesprochene nickte: „Ich habe mich schon oft gefragt, wie dieser Mensch in den Polizeidienst geraten konnte, aber Gedächtnisschwund …“

Sein Gegenüber trumpfte auf: „Gedächtnisschwund zieht sich nicht über Jahre hin. Das ist unmöglich. Obwohl ihm schließlich doch etwas einfiel. Mit dir will er vor langer Zeit mal Kaffee getrunken haben …“

„Vor langer Zeit? Seltsam“, überlegte der andere. „Du weißt ja, er ist ein Kollege meiner Tochter, und es ist noch gar nicht so lange her, dass wir hier in diesem Café zusammengesessen haben.“

Bei den beiden Männern handelte es sich um Wolfgang Hillberger und Dr. Niebergall, die sich mal wieder zu einem Kaffeeplausch getroffen hatten.

„Ich musste ihn hinauswerfen“, sagte Niebergall, „ich hatte das Gefühl, dass er sich einen Spaß machen wollte. Und ich habe ihm den Teufel empfohlen, mit dem er offenbar auf gutem Fuß steht.“

Hillberger ließ ein leises Lachen hören: „Etwas rabiate Methode, mein lieber Ernst, aber das wird er verkraften.“

„Durch Alkohol meinst du?“, fragte Dr. Niebergall.

„Nein, nein, der Spyridakis ist so gut wie abstinent, der trinkt doch meist nur diese scheußlichen Gesundheits­tees.“

Niebergall legte den Kopf leicht nach hinten: „Da liegt er eigentlich richtig. Bloß keinen Alkohol.“

Hillberger streckte den Kopf vor: „Du wirst mir doch jetzt nicht mit deiner Familiengeschichte kommen?“

Dr. Niebergall nahm mit der Gabel den Rest seiner Schwarzwälder Torte und führte ihn zum Mund, um ihn sich genüsslich auf der Zunge zergehen zu lassen. Dann sagte er: „Die Familiengeschichte ist immer sehr wichtig, ich weiß, wovon ich rede. Sie verfolgt uns bis ins fünfte Glied.“

Wolfgang Hillberger konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Bis ins Glied, noch dazu ins fünfte?“

Niebergall verstand die Ironie in seinen Worten: „Ich spreche als Psychiater, lieber Wolfgang. Psychiater wissen über diese Dinge mehr als Schulmeister.“

„Aber natürlich, mein lieber Ernst, und ich weiß ja auch, dass du familiär … wie soll ich sagen …“

„Du kannst es ruhig aussprechen“, nahm ihm Niebergall das Wort, „ich bin vorbelastet.“

„Und diese Vorbelastung gereicht dir zur Ehre“, erwiderte Hillberger und griff zu seiner Tasse.

„Ich heiße aus gutem Grund Ernst Niebergall, mein Vorfahr, auf den du anspielst, dagegen Ernst Elias Niebergall. Der zweite Vorname ist mir erspart geblieben. Elias war ein Trinker vor dem Herrn und mit Sicherheit auch ein Schnorrer.“

„Mag sein, Ernst. Aber du vergisst das Wichtigste. Er war ein Dichter. Er hat den Datterich geschrieben! Ein Schauspiel, das ich zu meiner aktiven Zeit in der Schule mit Vorliebe durchgenommen habe.“

„Was gibt es am Datterich durchzunehmen?“

„Ich bitte dich!“, entgegnete Hillberger, es ist ein wunderbares Theaterstück, das immer wieder ansehenswert ist.“

„Es ist ein Stück, das einen Trinker und Schnorrer darstellt. Soll das für Schüler vorbildhaft sein?“

„Mein lieber Ernst“, sagte Hillberger, „du siehst das zu eng. Wenn wir literarische Werke nur unter dem Gesichtspunkt beurteilen, welche Figuren im Mittelpunkt stehen und welche Schwächen …“

„Nenn’ mir andere Gesichtspunkte!“, rief Niebergall aus.

„Na ja, man könnte zum Beispiel fragen, wie der Datterich in diese Situation gekommen ist …“

Wieder unterbrach Dr. Niebergall seinen Freund: „In diese Situation? Durch eigenes Verschulden natürlich.“

Hillberger blieb gelassen: „Der Datterich ist unter die Spießbürger in Darmstadt verschlagen worden, wo er doch die Freiheit und das ungebundene Leben liebt. Der Wein ist ihm nicht nur Trost in dieser Umgebung, er ist ihm Heimat.“

„So also kann man seinen Alkoholismus rechtfertigen“, stellte der Psychiater sarkastisch fest.

„Ich will dich überhaupt nicht überzeugen, Ernst, aber wenn wir die Kunst unter dem Fallbeil der Moral beurteilen – da müssen wir uns von vielen großen Werken verabschieden.“

„Ja, soll denn die Kunst ohne Moral daherkommen?“, fragte der Ururur-Enkel des Datterich-Erfinders.

„Die Kunst soll nicht moralisieren“, erwiderte Wolfgang Hillberger, „das überlassen wir den Pfaffen. Die Kunst soll darstellen, was ist, und die Genießer dieser Kunst dürfen es beurteilen.“

Niebergall richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ist das nicht ein bisschen wenig? Darstellen, was ist.“

„Das ist überhaupt nicht wenig. Warum ist Shakespeare so gut?“

„Das frage ich mich auch“, erwiderte Niebergall.

„Bitte werd’ nicht banal, Ernst. Du gehst schließlich hin und wieder auch mal ins Theater.“ Hillberger machte eine kleine Pause, um dann weiterzusprechen: „Shakespeare ist so gut, weil er nicht moralisiert. Er hat Falstaff und Othello und viele andere Figuren lediglich dargestellt, wie sie sind. Natürlich mit seiner wunderbaren Fantasie. Und Falstaff ist eine Figur, die man zu Beginn höchst unsympathisch findet, doch zum Schluss beinahe ins Herz schließt.“

„Ja, ja“, murmelte Dr. Niebergall widerwillig, „aber mein Vorfahr Elias ist kein Shakespeare.“

„Recht hast du. Der Ernst Elias Niebergall ist kein Shakespeare, aber ein Dichter eigener Art. Er hat den Leuten klargemacht, dass sie reden dürfen, wie man nicht reden soll. Tun sie’s, kommen sie ins Paradies.“

„Also jetzt übertreibst du maßlos“, entgegnete der Psychiater und hob seine Knollennase, „für mich ist mein Vorfahr lediglich ein Mundartdichter.“

„Ja, aber was hat er aus der Mundart herausgekitzelt“, erklärte Hillberger und fuhr in reinstem Darmstädter Dialekt fort: „Soviel mir bekannt is, Herr Niebergall, genieße Sie in de hiesiche Stadt und de umliegende Ortschafte net des best Renomeeh, sondern erfreie sich eines iwwele Rufs.“

Der Angesprochene senkte leicht den Kopf: „Ich ahnte es schon immer, dass du von meiner Tätigkeit und meinem Beruf nicht viel hältst.“

„Falsch, Ernst. Das war ein Zitat aus dem Stück deines Vorfahren, ich habe nur den Namen Datterich gegen deinen ausgetauscht. Der Herr Datterich erfreut sich eines üblen Rufs …“

„Das galt für seinen Autor wohl ebenfalls“, warf Dr. Niebergall ein.

„Ernst, hast du denn gar kein Sprachgefühl? Ist es nicht köstlich, dass sich jemand eines üblen Rufs erfreuen darf?“

Der Nachfahr des Darmstädter Autors schien nicht überzeugt, er sah betrübt auf seinen leeren Kuchenteller, als habe der ihn in dieses Gespräch reingeritten.

„Im Datterich, dem Stück“, fuhr Hillberger fort, „wird auch eine Schmeißfliege zum Schutzengel. Wunderbar, so ein Einfall.“

Dr. Niebergall kratzte von seinem Kuchenteller die letzten Krümel auf, offenbar konnte ihn auch dieser Einfall seines Urahns nicht beeindrucken.

Wolfgang Hillberger warf ihm einen bedauernden Blick zu: „Na, ich sehe, du bist und bleibst ein Psychiater, der allenfalls den Ernst, doch nicht den Witz in der Kunst erkennt.“

„Hältst du mich für beschränkt?“, fuhr Niebergall jetzt auf.

„Dich doch nicht. Aber viele deiner Kollegen sind es mit Sicherheit.“

Einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden so ungleichen Männern, bis Hillberger schließlich sagte: „Weißt du, was man aus dem Datterich-Stück auch lernen kann?“

Dr. Niebergall murrte: „Na was?“

„Dass man sich nicht durch Misserfolge entmutigen lassen darf, dass man seiner Fantasie vertrauen soll und dass man anderen Leuten auf witzige Weise die Meinung sagen kann.“

„Das mach ich doch!“, erwiderte Niebergall, „ich sag’ den Leuten die Meinung, ganz ungeschminkt. Diesen Spyridakis habe ich sogar, wie ich dir schon erzählte, rausgeworfen.“

„Hast du es auch gewitzt getan?“, wollte Hillberger schmunzelnd wissen.

Die Antwort blieb aus, denn in dem Moment öffnete sich die Tür im Café Schwab und Julia Wunder kam herein. Wolfgang Hillberger sah sie sofort und winkte sie heran.

„Julchen, was machst du denn hier?“

„Ich weiß doch, wo ich dich antreffe, wenn du nicht daheim bist. Darf ich mich setzen?“

„Aber natürlich“, sagte ihr Vater. „Ich möchte dir Doktor Niebergall vorstellen, meinen neuen Kaffeebruder.“

Der Psychiater stand förmlich auf, um Julia die Hand zu reichen: „Niebergall. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

„Ich kenne Sie bereits, wenn auch nur vom Namen her“, erwiderte Julia, legte ihren Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe, die nur zwei Schritte entfernt war. Als sie zum Tisch zurückkam, erklärte sie: „Ich bin Julia Wunder, die Tochter von Herrn Hillberger.“

„Hauptkommissarin Wunder“, präzisierte Hillberger nicht ohne Stolz in Richtung seines Kaffeebruders.

Dr. Niebergall hatte wieder Platz genommen und fragte: „Dann haben Sie mir Ihren Kollegen geschickt, diesen Spyridakis?

„Ja, mein Vater hat Sie empfohlen.“ Julia räusperte sich: „Er hält große Stücke auf Sie.“

Wolfgang Hillberger nickte Ernst Niebergall von der Seite aus zu, als wolle er ihm bedeuten, dass seine Kritik an ihm zu relativieren sei. Große Stücke hielt er auf ihn, große Stücke waren schließlich keine Kleinigkeiten. Doch leider bemerkte der Psychiater seinen anerkennenden Blick nicht.

Die Kellnerin kam, und Julia bestellte lediglich einen Kaffee.

„Kein Kuchen?“, fragte ihr Vater, „du bist schließlich nicht nur unter Kaffee-, sondern auch unter Kuchenbrüdern.“

„Mir ist nicht danach. Außerdem wäre ich eine Schwester, eine Kuchenschwester, und die verschmähen meist Kuchen“, erwiderte Julia lächelnd.

Dr. Niebergall nickte anerkennend, der kleine Dialog schien ihm zu gefallen, was Hillberger nicht entging.

„Siehst du, lieber Ernst, meine Tochter und ich, wir sind theatererfahren und sprachbewusst, ich möchte sogar sagen Datterich-bewusst.“

„Datterich?“, wiederholte Julia fragend und wandte sich zu Niebergall: „Sind Sie ein Nachfahr des Darmstädter Autors?“

Hillberger nahm dem Psychiater die Antwort ab: „Ja, ja, das ist er, aber er gibt’s ungern zu.“

„Warum denn das?“, wollte Julia wissen.

Wieder antwortete ihr Vater: „Weil er seinen Vorfahren lediglich für einen Trinker und Schnorrer hält.“

„Hmm“, machte Julia. Sie wollte keinen weiteren Kommentar geben, da sie sich dachte, dass ihr Vater den Dr. Niebergall sicher schon aufgeklärt hatte.

Der Psychiater jedoch missverstand ihr Hmm und sagte: „Sie halten wohl auch nicht viel von Autoren, die ihre Trunksucht zum Inhalt ihrer Arbeit machen?“

Julia bewegte leicht den Kopf von rechts nach links: „Das sehen Sie falsch. Ich bin nur überzeugt, dass mein Vater Sie bereits über die Qualitäten Ihres Urahns unterrichtet hat.“

„Ein Dichter war er, ein wunderbarer Dichter“, stimmte Wolfgang Hillberger ein, „leider erkennt das meist erst die Nachwelt.“ Er warf einen schnellen Blick zu seinem Tischnachbarn Niebergall: „Und mancher gar nicht.“

Um dann hinzuzufügen: „Immerhin weiß das Darmstädter Theater, was sich gehört. Man feiert ihn dort jedes Jahr aufs Neue.“

„Ein Pflichttermin wohl“, konnte sich Dr. Niebergall nicht verkneifen anzumerken.

Hillberger sah ihn empört an: „Kein Pflichttermin, ein Freudentermin!“

Die Kellnerin brachte der Hauptkommissarin ihren Kaffee, und Julia nutzte die Gelegenheit, um zu dem zu kommen, was ihr am wichtigsten schien.

„Sagen Sie, Herr Doktor Niebergall, was haben Sie denn bei Herrn Spyridakis ausrichten können?“

Der Psychiater hatte sich längst von seiner Idee verabschiedet, dass die Tochter seines Kaffeebruders zu einer Mitstreiterin in Sachen Vorfahr für ihn werden könnte, jetzt räusperte er sich: „Ich habe Ihrem Vater schon gesagt, dass ich diesen Menschen, also Ihren Kollegen, als Hallodri einschätze.“

„Hallodri“, murmelte Julia, „Sie meinen, er ist ein Bruder Leichtfuß?“

Niebergall war angetan von Julia Wunders Äußerung: „Sehen Sie, Sie verstehen mich – im Gegensatz zu Ihrem Vater.“

Julia ging auf seine Bemerkung nicht ein: „Haben Sie ihm denn helfen können? Er leidet doch unter Gedächtnisschwund.“

„Ja, ja, das brachte er vor, er sagte sogar, dass er ein Toter ohne Gedächtnis sei. Aber ich habe ihm zu erklären versucht, dass es keinen Gedächtnisschwund gibt, der sich über Jahre hinzieht.“

„Und tot?“, flocht Wolfgang Hillberger ein, „kann man sich nicht tot fühlen bei lebendigem Leibe? Das ist doch ein Gebrechen, unter dem heute so mancher leidet.“

Der Psychiater spürte, dass er sich rechtfertigen musste, und kramte in seinem Wissensschatz: „Natürlich kommt so etwas vor. Die Lehrbücher berichten von sehr seltenen Fällen …“

„Vielleicht ist er so ein seltener Fall“, schob Hillberger ein.

Der Nachfahr des Dichters Niebergall kratzte sich an seiner Knollennase: „Sehr unwahrscheinlich, mein Lieber, das hätte ich gemerkt.“

„Was haben Sie denn überhaupt gemerkt?“, fragte Julia in energischem Ton.

„Ich glaube, dass Ihr Mitarbeiter generell gefährdet ist“, säuselte der Psychiater, „und nicht merkt, wenn er in Gefahr ist.“

Dabei dachte Niebergall an den Stuhl, seinen Teststuhl, auf dem Vlassi schwankend gesessen hatte und sich am Schreibtisch festhalten musste. Doch das wollte er nicht mitteilen, schließlich war es eine Art Berufsgeheimnis.

Zu seiner Überraschung stimmte ihm sein Kaffeebruder Hillberger zu: „Ja, das glaube ich auch, der Spyridakis ist generell gefährdet und weiß es nicht mal.“

Julia Wunder wusste, dass ihr Assistent Vlassopolous Spyridakis durchweg auf ungewöhnliche Weise ermittelte und sich mitunter in gefährliche Situationen brachte. Sie konnte jedoch nicht wissen, dass zu seinen Ermittlungsmethoden neuerdings auch ein Mord gehörte.

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und sagte nun voller Überzeugung: „Nein, nein, er weiß, dass er verwegen lebt, geht aber so damit um, wie ihr es euch nicht vorstellen könnt.“

Mord oder Absicht?

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