Читать книгу Mord oder Absicht? - Lothar Schöne - Страница 8
3 Sind Sie außer Gefahr?
ОглавлениеVlassi saß in seinem opulenten Dienstwagen, dem Opel Corsa, und fuhr eben durch Eltville. Da er kein Navi besaß, hatte er sich vorher auf der Karte kundig gemacht, wo er hinsollte. Irgendwie, überlegte er, während er an der MM-Sektmanufaktur vorbeifuhr, hatte Julia Wunder vielleicht doch recht. Er musste seine Gedächtnisschwäche überwinden, und sei es mit Hilfe eines Seelenklempners.
Er fuhr am Rhein entlang, kam nach Erbach und Hattenheim, ließ Oestrich-Winkel hinter sich, und jetzt musste Geisenheim doch bald auftauchen. Tatsächlich sah er ein Hinweisschild, der Ort lag nicht direkt am Rhein, entbehrte also gewissermaßen der Schifffahrt und frischen Brise des Flusses – aber das sollte ihn nicht stören.
Vlassi parkte seinen Corsa am Eingang des Ortes, anderes war auch nicht möglich, da Geisenheim offenbar Durchgangsverkehr verschmähte. Zu Fuß machte er sich auf zur Haasenstraße und war überrascht. Nämlich von der Schönheit des Ortes. Einen wunderbaren Marktplatz besaß Geisenheim und sogar einen Dom, wie er feststellte. Und die vielen Cafés und Restaurants hatte er auch nicht erwartet. Hier herrschte ja geradezu griechische Atmosphäre. Aber das Beste, stellte er fest, war wohl eine Buchhandlung namens Untiedt. Die war opulenter als jene, die er so gern aufsuchte, nämlich die von Andreas Dieterle in Schierstein. Es ist nicht verkehrt, ging es ihm durch den Kopf, dass ich diesem Niebergall einen Besuch abstatte, vermutlich wäre ich sonst nie in diesem Geisenheim gelandet, das ist ja ein wahres Kleinod des Rheingaus. Eigentlich bin ich ja ein Wiesbaden-Fan, aber hier könnte ich auch Mördern nachjagen. Und ein weiterer edler Gedanke strich ihm durchs Hirn: Sollte ich nicht mal mit Carola nach Geisenheim fahren und sie eventuell zum Essen einladen?
Er überlegte, ob er der Buchhandlung Untiedt einen Besuch abstatten und vielleicht sogar in ein Café einkehren sollte, es war für die Jahreszeit warm, sogar die Sonne zeigte sich, er könnte draußen einen Gartenplatz finden, den Nachmittag genießen und über sein erinnerungsloses Dasein grübeln.
Vlassi riss sich am Riemen. Nein, nein, nein! Dieser Niebergall ging vor. Nicht, weil er seiner Chefin einen Gefallen tun wollte, er musste sich selbst diesen Gefallen tun. Sollte er denn ewig ohne Gedächtnis vor sich hinvegetieren? Carola eventuell beichten, dass er nicht mehr ganz unter den Lebenden weilte? Er musste sein Tot-Sein überwinden, und dieser Dr. Niebergall war vermutlich die richtige Adresse dafür.
Die Haasenstraße hatte er bald gefunden. Allerdings praktizierte Dr. Niebergall nicht in der Nummer 24, sondern 27. Schon nach dem ersten Klingeln öffnete ihm ein kleiner glatzköpfiger Mann die Tür. Er war korpulent, aber nicht dick und wirkte wie ein ehemaliger Preisringer. Auf die siebzig musste er zugehen, schätzte Vlassi, was ihm gefiel. Junge Ärzte konnte er seit dem Pharma-Fall, wo er mit Vergiftungssymptomen in eine Mainzer Klinik eingeliefert wurde, nicht ausstehen. Dieser Niebergall schien Erfahrung zu besitzen.
„Sie sind Herr Spyridakis?“, begrüßte ihn der korpulente Herr.
„In Person“, bejahte Vlassi.
„Kommen Sie herein, ich bin Doktor Niebergall, und Ihr Besuch wurde mir von meinem alten Freund Hillberger angekündigt.“
„Er hat Sie mir dringend empfohlen“, teilte Vlassi mit.
Dr. Niebergall führte ihn in sein Behandlungszimmer, einen Raum mit einem großen Schreibtisch, hinter dem ein opulenter Ledersessel stand, einer Bücherwand bis zur Decke und einem Besuchersessel. Nun ja, vielleicht sollte man eher von einem Sesselchen sprechen.
„Nehmen Sie Platz“, forderte ihn der Psychotherapeut auf.
Vlassi setzte sich zögernd, das Sesselchen wippte auf und nieder und schien nicht sehr stabil zu sein.
„Fühlen Sie sich wohl?“, eröffnete Dr. Niebergall das Gespräch.
„Ja … eigentlich schon.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Niebergall und sah ihn ernst an.
„Warum denn?“, wollte Vlassi wissen.
„Sie sagen nicht die Wahrheit“, teilte der Psychiater mit und ließ sich in seinen schweren Sessel fallen.
„Sollte ich mich bei Ihnen eher elend fühlen?“, fragte Vlassi.
„Sie sollen sich bei mir wohl und wohler fühlen. Aber das tun Sie doch im Moment gar nicht.“
Vlassi sah den Mann an, der im Sitzen viel größer wirkte. Seine Glatze schimmerte auf einmal rosa, und seine Knollennase schien jedes Geruchsmolekül einzusaugen. Roch Dr. Niebergall etwa Angst bei ihm?
„Ich habe keine Angst“, erklärte Vlassi.
„Das rieche ich, und das meinte ich auch nicht“, teilte ihm der Psychiater mit.
„Was meinten Sie denn?“, wagte sich Vlassi vor.
„Sind Sie außer Gefahr?“
„Bin ich außer Gefahr?“, wiederholte der Kommissar.
Sein Gegenüber nickte und wiederholte drängend: „Sind Sie außer Gefahr?“
Vlassi griff wegen seines schwankenden Sesselchens zur Schreibtischkante: „Also … ich weiß nicht … ich führe ja generell ein gefahrvolles Leben, im letzten Fall wäre mir beinahe eine Theatertruppe zum Verhängnis …“
Dr. Niebergall unterbrach ihn: „Schon gut, schon gut. Sind Sie im Moment außer Gefahr?“
„Ich glaube schon … oder sind Sie die Gefahr?“
Der Psychotherapeut beugte sich vor: „Glauben Sie, ich wollte Sie umbringen?“
„Ich hoffe doch nicht, Sie wirken nicht wie ein Umbringer. Ich verspreche mir stattdessen etwas von Ihnen, also ich will sagen, ich glaube ans Heil von Ihnen.“
Dr. Niebergall lehnte sich wieder zurück und sagte enttäuscht: „Heil ist ein theologischer Begriff. Den können Sie bei mir weglassen.“ Er machte eine kurze Pause: „Natürlich sind Sie in Gefahr! Haben Sie das nicht gemerkt?“
„Ehrlich gesagt: nein“, teilte Vlassi mit unschuldigem Augenaufschlag mit, „könnten Sie mir sagen, woher mir Gefahr droht?“
Dr. Niebergall wippte wieder nach vorn und sagte mit unheilvoller Stimme: „Ihnen droht Gefahr von dem kleinen Sessel, auf dem Sie sitzen.“
„Von dem?“, erwiderte Vlassi und erhob sich sofort, „ist der vergiftet und dringt das Gift schon in mein Zeugungsorgan und meinen ganzen Unterleib? Wird es mich dahinraffen?“
Auf dem Gesicht des Psychiaters zeigte sich kein noch so winziges Schmunzeln. Mit ernstem Gesicht teilte er mit: „Sie denken viel zu verquer. Von Gift kann keine Rede sein. Aber der Sessel, auf dem Sie sitzen, ist doch wahrlich nicht bequem, Sie müssen sich doch schon am Schreibtisch festhalten.“
Vlassi ächzte beruhigt auf und ließ sich wieder nieder: „Da haben Sie recht, es ist eine unbequeme Sitzgelegenheit, die einen zu Fall bringen könnte.“
„Sie sagen es. Zu Fall bringen! Wer sich auf so einen Stuhl setzt, ist auch generell gefährdet.“ Der psychologische Psychotherapeut sah unseren Kommissar von oben an: „Es ist mein Testsessel. Er sagt mir viel über meine Patienten.“
Vlassi gab ein leises Stöhnen von sich. Es handelte sich natürlich um ein theatralisches Stöhnen, schließlich hatte ihn der letzte Fall gelehrt, dass man mit schauspielerischen Fähigkeiten weit kommen konnte. Dann sagte er mit trostloser Stimme: „Also bin ich generell gefährdet?“
„Der Sessel, auf dem Sie sitzen, sagt es mir.“ Dr. Niebergall stützte sich mit seinen Ellbogen auf den Schreibtisch und legte seine Hände aufs Gesicht, sodass nur noch die Knollennase hervorlugte. Schließlich sprach er: „Darf ich Ihnen noch etwas mitteilen?“
„Unbedingt. Ich bin offen für alles.“
„Dann muss ich Ihnen sagen, Herr Spyridakis, Sie sind etwas begriffsstutzig.“
„Tatsächlich?“, fragte Vlassi neugierig.
Niebergall nahm die Hände von seinem Gesicht: „Wie lange Sie gebraucht haben, die Funktion des Sessels unter Ihnen zu erkennen!“
Vlassi stimmte dem Psychiater zu dessen Erstaunen zu: „Da haben Sie irgendwie recht. Ich würde allerdings nicht von begriffsstutzig sprechen, sondern von intuitiver Vorsicht. Ich wollte Sie zuerst kommen lassen.“
Der Doktor sah ihn verdutzt an. Jetzt lächelte er. Offenbar gefiel ihm die Reprise seines Patienten.
„Ich merke“, sagte er anerkennend, „dass Ihre Fähigkeiten versteckt gehalten werden …“
„Ja, ja“, nickte Vlassi, „und wissen Sie auch, von wem?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern gab dem Psychiater sogleich Aufklärung: „Von meinem unterirdischen Ich! Da werden sie unter Verschluss gehalten bis zu ihrem Ausbruch.“
„Aha, intuitive Vorsicht.“, beugte sich Dr. Niebergall vor.
Vlassi lehnte sich auf seinem schwankenden Sesselchen zurück und bewegte sein Haupt bejahend von oben nach unten.
Der Psychotherapeut schmunzelte, legte seine Hände auf die Brust und wollte mit entspannter Stimme wissen: „Was ist denn nun der Grund Ihres Besuchs?“
„Ja also … ich bin tot, ich fühle mich mausetot …“
Dr. Niebergall fiel ihm ins Wort: „Das Leben besteht aus Momentaufnahmen. Klick – und schon vorbei. Noch ein Klick, und wir sind tot. Im Grunde sind wir alle tot, wissen es nur nicht.“
Vlassi ließ sich nicht beirren: „Außerdem habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich bin ein Toter ohne Gedächtnis …“
„Ohne Gedächtnis sind Sie“, unterbrach ihn Niebergall.
„Ja, furchtbar“, stimmte Vlassi zu.
Der Therapeut lehnte sich zurück und erklärte dann dozierend: „Gedächtnisschwund kann die Folge einer frühkindlichen Konstellation sein.“
„Frühkindlich?“, fragte Vlassi erstaunt, „das wäre ja dann schon lange her.“
Niebergall legte den rechten Zeigefinger auf sein Kinn: „Die Zeit spielt keine Rolle für die Psyche. Auch nach vielen Jahren kann eine frühkindliche traumatische Situation wieder aufbrechen. Gewissermaßen sich aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein schieben.“
„Tatsächlich? Das wusste ich nicht“, murmelte Vlassi.
„Man kann nicht alles wissen, deshalb gibt es mich ja“, belehrte ihn der Psychiater.
„Aber wieso schiebt sich das jetzt vor, dieser Schwund meines Gedächtnisses?“
„Darauf kann ich Ihnen eine eindeutige Antwort geben. Schuld an dem frühkindlichen Trauma sind durchweg die Eltern.“ Dr. Niebergall hob seine Hände in Kopfhöhe und spreizte die Finger. Es sah aus, als wolle er sich mit ihnen gleich auf Vlassi stürzen, um ihn mit seinen Fingerklauen erwürgen.
Der erwiderte gelassen: „Da müsste ich ja direkt in meine Kindheit zurück und meine Eltern knallhart befragen. Was habt ihr mir angetan, dass ich jetzt als Toter ohne Gedächtnis herumlaufe?“
Der Psychotherapeut ließ die Hände sinken: „Nicht befragen, schon gar nicht knallhart. Die Eltern wissen ja nichts von ihrem Fehlverhalten, von ihrer Fehlbildung, möchte ich sagen …“
„Aber doofe Eltern habe ich nicht“, fiel ihm Vlassi ins Wort, „vielleicht nur ein wenig ungebildete.“
Dr. Niebergall ging auf seinen Einwand nicht ein, sondern tremolierte: „Plötzlich weiß man nicht mehr, wer man ist. Plötzlich glaubt man, tot zu sein. Plötzlich ist alles sinnlos. Das sind Symptome …“
Wieder fiel ihm Vlassi ins Wort: „Sie meinen, ich bin … geistesgestört.“
„Lieber Herr Spyridakis“, sagte der psychologische Psychotherapeut, „Geistesgestörtheit ist ein Rechtsbegriff, mit dem arbeitet unsereiner nicht.“
„Vielleicht habe ich auch etwas Böses getan?“, murmelte Vlassi.
„Böse und gut sind wiederum theologische Begriffe, damit kommen wir auch nicht weiter.“
„Aber ich komme häufig damit weiter“, widersprach Vlassi zaghaft.
„In Ihrem Beruf vielleicht“, brummte Dr. Niebergall, „womit beschäftigen Sie sich gleich noch mal?“
„Ich bin Kommissar bei der Kriminalpolizei.“
„Kommissar sind Sie, und Sie haben etwas Böses getan?“
„Ich weiß es eben nicht.“
„Das Gedächtnis, richtig, es ist Ihnen abhandengekommen“, stellte der Therapeut fest. Er machte eine kleine Pause, sah einen Moment an die Decke und teilte dann mit: „Das Einzige, was für unsereinen zählt, ist die Verhaltensweise. Können Sie mir ein Beispiel sagen, das Sie an Ihrer Vernunft zweifeln lässt?“
Oh, da könnte ich mit vielen Beispielen aufwarten, ging es Vlassi durch den Kopf. Von den Enten im Kurpark, die mir keine Antwort gaben, darf ich überhaupt nichts erzählen, da ruft dieser Niebergall gleich den Notdienst an.
Der Psychotherapeut warf einen lauernden Blick zu ihm: „Sagen Sie, nehmen Sie Drogen?“
„Auf keinen Fall!“, rief Vlassi aus, „Drogen halte ich von mir fern.“
„Und Alkohol?“, wollte Dr. Niebergall wissen.
„Ich bin abstinent, ich trinke nur Moringa-Tee.“
„Was ist denn das?“, fragte Dr. Niebergall, wartete aber nicht die Antwort ab, da er sich gleich dachte, dass es sich um ein Gesundheitsgebräu handeln musste.
Er wollte stattdessen wissen: „Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal diesen Tee getrunken haben?“
Vlassi legte den Kopf nach hinten, um schließlich mitzuteilen: „Das ist mir auch entfallen. Ich weiß aber, dass ich mit Herrn Hillberger in Eltville einen Kaffee getrunken habe.“
„Wann war das?“
„Vielleicht vor Jahren …“, sinnierte Vlassi.
Nun wurde es dem Therapeuten zu bunt: „Was? Vor Jahren? Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?“
Vlassi räusperte sich: „Auch das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber Sie haben wohl recht.“
Dr. Niebergall erhob sich mit einem Ruck von seinem Sessel: „Hinaus mit Ihnen!“
Vlassi ergriff wieder die Kante des Schreibtischs, da der kleine Sessel unter ihm die Aufforderung des Arztes wohl auf sich bezogen hatte und so bedenklich schwankte, als wolle er höchstselbst forteilen.
„Aber warum denn?“, fragte er den aufgebrachten Dr. Niebergall.
Der legte die Hände auf seinen Schreibtisch und teilte mit: „Es gibt keinen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht.“
„Bei mir vielleicht doch“, widersprach Kommissar Spyridakis. „Ich bin vermutlich eine medizinische Ausnahme, gewissermaßen ein Fall für die Lehrbücher.“
„Sie wollen mich wohl vergackeiern! Scheren Sie sich zum Teufel.“
Vlassi erhob sich von seinem wackeligen Sitz: „Ja, meinen Sie denn, der könnte mir helfen?“
„Ich hoffe es!“, rief der Psychiater und wies mit der Hand zur Tür, „bei dem sind Sie in den besten Händen, der wird Sie kurieren.“