Читать книгу Murru, das Murmeltier - Lothar Streblow - Страница 7
Gefahr aus der Luft
ОглавлениеAm nächsten Morgen kam Murru als erster aus dem Bau. Diesmal brauchte ihn niemand zu scheuchen. Er wußte schon, was ihn draußen erwartete.
Vorwitzig tappelte er mit seinen kleinen Pfoten über den Erdwall, setzte sich aufrecht auf die Hinterbeine und schnupperte. Es duftete nach feuchtem Gras, der Himmel leuchtete blau über den weißen Gipfeln. Von den Arven am Wildbach hämmerte ein Dreizehenspecht. Und der alte Murmelbär stand schon auf seinem Felsbrocken und hielt Wache.
Nur etwas war anders heute. An den schroffen Felsgraten über der Bergmatte bewegten sich Gestalten, schlanke Gestalten: mit langen Beinen und gebogenen Hörnern. Aber sie waren weit weg, jenseits des Gletscherbachs in schwindelnder Höhe. Und den wachsamen Murmelbär schienen die fremden Gestalten nicht zu stören.
Trotzdem zögerte Murru. Alles Unbekannte machte ihm angst. Erst als seine Mutter kurz darauf mit seinen beiden Schwestern aus dem Höhleneingang auftauchte, wagte er sich ein Stückchen weiter.
Das Murmelweibchen warf einen sichernden Blick in die Runde, sah die kletternden Gemsen und den Murmelbär auf dem Fels. Es drohte keine Gefahr. Und beruhigt begann sie, an den frischen Grasspitzen zu knabbern.
Murru sah ihr eine Zeitlang zu. Er hatte noch keinen Appetit auf Grünzeug; außerdem war er satt, hatte eben erst seine Morgenmilch bekommen. Er schnupperte nur ein wenig an ein paar Steinbrechblüten auf Felsgestein.
Das schien auch Lura zu interessieren. Sie kam mit ihrem drolligen Watschelgang auf Murru zu. Und Mangi watschelte hinter ihr her. Nur wollte Mangi gar nicht schnuppern. Sie suchte Spielgefährten.
Übermütig stupste sie Murru in die Flanke. Und von der anderen Seite stupste Lura. Das war zuviel für Murru. Er krabbelte über den Fels hinweg. Doch er war jenseits noch gar nicht wieder ganz unten, da kam Mangi ihm nach. Und Lura rannte um den Fels herum, ihm entgegen.
Jetzt wagte Murru einen kühnen Sprung. Wohlbehalten landete er auf seinen kleinen Pfoten im Gras. Und als sei das ein Signal, jagten die beiden Murmelmädchen hinter ihm her. Nur hatte Murru inzwischen einiges dazugelernt. So leicht ließ er sich nicht mehr erwischen. Behende flitzte er hangabwärts davon.
Gunno und seine ältere Schwester Lanni trieben sich hier zwischen den Felsbrocken herum, boxten sich aufrecht stehend vor die behaarte Brust, spielten Haschen und mümmelten zwischendurch immer mal einen Grashalm. Das fand Murru beruhigend. Wo andere Murmel so sorglos spielten, war es wohl nicht gefährlich.
Doch er irrte sich. Die Gefahr kam von oben, lautlos und unaufhaltsam. Über den steilen Berggrat hinweg warfen zwei mächtige Schwingen ihren Schatten auf das sonnendurchglühte Gestein. Ruhig zog der Steinadler seine Kreise, ließ sich allmählich tiefer sinken und verschwand hinter einer Felsnase.
Noch hatte keines der Murmel etwas bemerkt, auch der alte Murmelbär nicht, der gerade den Eingang zum nahen Fuchsbau beobachtete. Der Adler aber hatte genug gesehen. Seinem scharfen Greifvogelblick entging keine Bewegung. Und die ahnungslosen Murmel tollten weiter.
Plötzlich glitt der Adler dicht über dem Boden unter der Felsnase hervor, nutzte jede Unebenheit als Deckung und pirschte sich näher, immer näher. Seine Schwingen schlugen, seine dolchartigen Greifkrallen stießen vor.
Nur wenige Handbreit trennten ihn noch von seinem Opfer.
In diesem Augenblick ertönte ein gellender Pfiff. Der wachsame Murmelbär hatte die Gefahr erkannt. Und seine Warnung kam nicht zu spät.
So gemächlich Murmeltiere sich sonst bewegten, bei einem Warnpfiff verschwanden sie mit ungeahnter Geschwindigkeit im nächsten Loch.
Die Krallen des Steinadlers stießen ins Leere. Nur ein paar Gräser blieben in seinen Fängen. Und er drehte ab zu seinem Horst in der Steilwand.
Nichts rührte sich mehr auf der Bergmatte. Es war still, fast unheimlich still.
Auch die Gemsen hoch oben am Fels hatten den Warnpfiff des Murmelbärs gehört und waren jenseits des Berggrats über ein Geröllfeld geflüchtet. Selbst der Specht bei den Arven am Steilufer war verstummt. Nur der Gletscherbach rauschte monoton wie immer.
Murru hatte nur einen Moment gezögert, sah die überall flüchtenden Murmel und war dann davongerannt, suchend nach einem Schlupfloch. Und er hatte ein Loch gefunden. Wie gehetzt flitzte er durch die Öffnung.
Doch er kam nicht weit. Schon nach wenigen Metern endete der Gang. Vor ihm lag Erde, nichts als Erde.
In der Aufregung stieß er mit seiner kleinen Nase dagegen, zuckte schmerzlich zurück. Das Loch war das falsche, war nur eine kurze Fluchtröhre, die nicht in den Bau führte. Das wußte Murru noch nicht. Aber die Röhre hatte ihn gerettet.
Verwirrt hockte Murru im Dunkel. Er vermißte seine Mutter, den vertrauten Geruch der Wohnhöhle. Ermochte nicht allein sein. Und seine Nase tat weh.
Angstvoll starrte er nach dem schwachen Lichtschimmer am Ausgang.
Aber da vorn war nicht viel zu sehen. Ein pelziges Etwas versperrte die Sicht. Und es bewegte sich. Murru erschrak. Sein kleines Herz hämmerte aufgeregt. Doch es gab keine Flucht. Er war gefangen: zwischen Erde und einem unbekannten Pelztier.
Vorsichtig schnupperte er in die Richtung des fremden Wesens. Und er atmete auf: Das war Murmelgeruch.
Eilig tappelte er darauf zu. Und er erkannte Gunno, der nach ihm in die Röhre geflüchtet war. Gunno wußte Bescheid. Er kannte alle Löcher im Murmelrevier. Und er war gar nicht erst weitergelaufen, als er die Sicherheit der Fluchtröhre erreicht hatte. Jetzt wandte Gunno sich zu seinem kleinen Bruder um.
Murru fand das sehr tröstlich. Geduldig wartete er hinter ihm, während Gunno aufmerksam die Bergmatte draußen beobachtete.
Gunno würde wissen, wann die Luft rein war. Und Gunno wußte es; er hatte schon seine Erfahrungen. Er sah den Steinadler abstreichen, sah die Dohlen vom Arvenwäldchen herüberflattern. Die Gefahr war vorüber. Und Murru folgte seinem großen Bruder hinaus ins Freie.