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Ein sonderbarer Vogel

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Die Nacht verging und der folgende Tag. Und es wurde Mittag des übernächsten Tages, als die dichte Wolkendecke endlich aufriß. Nur die Bergspitzen blieben grau umhüllt. Nebelschleier schwebten über der Wildbachschlucht, trieben durch die Kronen der Arven und Lärchen.

Plötzlich brach die Sonne durchs Gewölk; ihre heißen Strahlen ließen die Wiesen dampfen. Ein Apollofalter gaukelte zu einem Alpenrosenstrauch. Und ein Kolkrabenpaar zog mit dumpfem Ruf von seinem Horst bergwärts.

Vorsichtig lugte der alte Murmelbär aus dem Röhrenausgang über die Auswurfhügel hinweg. Er roch das Wetter. Und es roch gut. Die Kolkraben verschwanden hinter einer Bergnase. Ein Tannenhäher strich vorbei; er kam schon zurück mit seiner Beute von Arvennüssen. Und das Hämmern des Dreizehenspechts klang aus dem Schluchtwald herauf.

Die Murmelkolonie war gut gewählt. Hier unter dem Ausgang eines hohen, kahlen Trogtals wucherte über altem Moränenschutt und verwittertem Lawinengeröll von den Steilhängen eine üppige Pflanzendecke auf trockenem Kalkgrund, der sich bis zur Bergmatte erstreckte. Gräser, Kräuter und Alpenblumen wuchsen im Überfluß. Latschen krallten sich ins Gestein. Und an den Hängen zur Wildbachschlucht, wo es feuchter und lehmig wurde, standen einige zerzauste Arven, Lärchen, Bergföhren und ein paarvereinzelte Ebereschen. Diese Vielfalt war ein idealer Lebensraum für Murmeltiere. Hier fanden sie alles, was sie zur Nahrung und zum Bau ihrer Höhlen brauchten. Schon die Vorfahren des alten Murmelbären hatten hier gewohnt. Jede Generation hatte an dem verzweigten Röhrennetz weitergebaut. Und es war still hier oben auf der einsamen Bergmatte.

Die einzige Straße verlief weit unten im Flußtal; ihr Lärm drang nur selten und sehr schwach herauf, wenn der Wind ungünstig stand. Nur ein schmaler Weg führte am Ende der Wildbachschlucht über eine morsche Holzbrücke. Bergaufwärts wand sich ein holpriger Pfad, auf dem manchmal Kühe zur Alm aufstiegen. Und kaum je verirrte sich ein Mensch in die abgelegene Gegend. Es war zu rauh hier und zu unwegsam.

Der alte Murmelbär kannte die Kühe; sie waren groß, aber harmlos und mitunter ein wenig lästig, wenn eine mal vom Pfad abkam und unbeholfen über die Bergmatte trampelte. Er pfiff dann noch nicht einmal. Und er kannte die Menschen. Auch sie waren meist harmlos.

Das war nicht immer so gewesen. Früher hatten sie die Murmeltiere massenweise gejagt und in manchen Gegenden völlig ausgerottet: wegen ihres Fells, wegen ihres Fleisches, vor allem aber wegen ihres Murmelfetts, das sie als vermeintliches Mittel gegen Rheuma und andere Krankheiten teuer verkauften. Oft hatten sie die Murmel während des Winterschlafs einfach aus ihren Bauen gegraben und die wehrlosen Schläfer totgeschlagen. Das kam heute nur noch selten vor. Und hier auf der Bergmatte jenseits des Wildbachs durfte nicht mehr gejagt werden. Der alte Murmelbär wußte das. Trotzdem pfiff er, wenn Menschen kamen: vorsichtshalber.

Im Augenblick hatte er keinen Grund zum Pfeifen. Er stand hoch aufgerichtet auf einem der Auswurfhügel und sicherte, nahm einige Lippen voll saftige Kräuter und lief dann quer hangaufwärts zu seinem Beobachtungsfelsen.

Inzwischen waren einige Murmel aus dem Bau gekommen. Genießerisch schnupperten sie die würzige Luft nach dem Regen. Auch Murru schnupperte neugierig. Er hatte jetzt genug vom Dunkel im Bau, vom Schlafen und vom Haschenspielen in finsteren Gängen. Die bunte, duftende Welt hier draußen fand er viel interessanter. Und kaum schob Mangi ihr stumpfes Näschen aus dem Erdloch, sauste Murru auf sie zu und jagte sie quer über den Hang hinab zu den Arven. Und Lura tollte übermütig hinter ihnen her.

Erschrocken flüchtete eine Schneemaus in ihren Unterschlupf. Murru stutzte einen Moment: Solch ein winziges flinkes Tier hatte er noch nie gesehen. Doch als die Schneemaus verschwunden blieb, lief er weiter. Er hatte plötzlich Hunger auf saftige Kräuter. Und die gab es hier genug. Vergnügt begann er zu knabbern.

So näherte er sich allmählich einer kleinen Gruppe von Lärchen und Arven. Mit einemmal ertönte über ihm ein eigenartiges Geräusch. Es klang wie ein energisches Hämmern. Das hatte er mitunter schon aus der Ferne gehört, irgendwo vom Wald her, aber noch nie so nah.

Verwundert blickte er nach oben zwischen die Baumwipfel. Da sah er an einem der borkigen Stämme einen ziemlich großen Vogel, der mit seinem kräftigen spitzen Schnabel emsig in den Stamm hackte.

Murru erschrak. Vor großen Vögeln hatte er Angst, vor allem wenn sie lauernd über der Bergmatte kreisten: Dann erklang auch meist der Warnruf eines älteren Murmels. Dieser seltsame schwarzweißgefiederte Vogel aber kreiste nicht. Im Gegenteil, er hämmerte unentwegt weiter. Und er kümmerte sich auch nicht um das kleine Murmeltier. Nur manchmal unterbrach er sein rhythmisches Getrommel, um an der rauhen Borke ein Stück weiterzuklettern. Dabei turnte er geschickt um die Zweige herum, hing zeitweise rücklings sogar direkt unter einem Ast und hackte heftig nach etwas, das Murru nicht erkennen konnte.

Eine Weile beobachtete Murru das sonderbare Treiben des Vogels, der jetzt unmittelbar über seinem Kopf auf einen Ast loshämmerte. Plötzlich zuckte Murru zusammen: Ihm war etwas auf die Nase gefallen. Verblüfft sprang er zur Seite, blickte sich um und sicherte vorsichtig nach oben. Aber es war nichts Gefährliches, nur ein paar Holzspäne vom Schnabel des Spechtes.

Doch jetzt hatte Murru genug. Der emsig weiterhämmernde Dreizehenspecht interessierte ihn nicht mehr. Er wollte spielen. Und er schaute suchend aus nach Mangi und Lura. Nur waren die beiden inzwischen außer Sichtweite hinter einem großen Felsblock verschwunden. Aber vom Hang her sah er seine Mutter herunterkommen. Und sie beendete sehr energisch Murrus eigenwilligen Ausflug.

Murru, das Murmeltier

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