Читать книгу Auslaufgebiet - Lotte Bromberg - Страница 10
III
ОглавлениеSeine Schwester biß ihn in den Rücken. Knurrend machte er eine Rolle rückwärts auf sie zu. Hell bellend hopste sie zur Seite. Gemeinsam jagten sie über die Wiese, schnell hatte er sie eingeholt, mit weit geöffnetem Maul stürzte er sich auf ihren Nacken, zog an ihrem Fell und rüttelte. Er hatte Haare im Hals, hustete und würgte. Seine Schwester fiepte unterwürfig, drehte sich auf den Rücken und streckte ihm die Beine entgegen.
Er verlor das Interesse, sah über die Wiese und trollte sich zu den Erwachsenen. Seine Mutter schlief, die anderen dösten. Sie hatten ein Reh erlegt, erst gestern, und waren alle satt und blutbesudelt. Nur der alte Rüde putzte sich, leckte sorgsam mit geschlossenen Augen seine Vorderläufe.
Er zupfte Gras, setzte sich hin, hob den Hinterlauf unentschlossen zum Ohr und kratzte sich. Ging über zur Lefze, dem Hals. Eine Fliege kam ihn zu ärgern. Er schnappte nach ihr, sprang auf, schlug Haken, hielt plötzlich inne und legte sich ins Gras.
In ihm zog es wieder. Er fiepte und legte den Kopf auf die Pfoten. Sein Herz schlug um das Ziehen herum, kreiste es ein. Er fraß etwas Gras, ein paar Gänseblümchen, kaute ausgiebig, die Blütenblättchen kitzelten ihn, das Ziehen blieb. Er stand auf und pinkelte an die nächstbeste Kiefer, neuerdings hob er das Bein. Er blickte auf seinen dampfenden Urin, kontrollierte den Geruch, bellte auffordernd, aber seine Geschwister beachteten ihn nicht.
Die sich senkende Sonne wärmte seine Nase, er nieste. Von dort rief ihn etwas. Er witterte und ließ den Kopf kreisen. Scharf, kühl und fremd schien ihm die Witterung. Er folgte ihr bis an den Rand der Wiese, bis zur Anhöhe vor dem Wald. Blieb stehen, witterte erneut, sah zurück. Seine Mutter gähnte. Sein Bruder schlug Purzelbäume, bellend verfolgt von seiner Schwester. Ein Schlag ging durch seinen Körper, er tollte den Abhang hinunter und stürzte sich auf seinen Bruder. Gemeinsam rollten sie durch das Gras.
Jakob Hagedorn sah in den Motorraum eines antiquarischen Bullis und fragte sich, wohin mit dem Schraubenzieher.
»Find’ste wenigstens den Keilriemen, Schatzi?« Grete gackerte.
Jakob grunzte und überlegte, ob er sich von einer 80jährigen in Faltenrock, Strumpfhose und Wanderstiefeln auf einem Brandenburger Waldparkplatz beleidigen ließe. »Hat der überhaupt TÜV?«
»Noch vier Wochen, kein Grund, nervös zu werden.«
Jakob tauchte aus dem Motorraum auf. »Wir brauchen eine Werkstatt.«
»Blödsinn. Seit zwanzig Jahren repariere ich dieses Auto selbst.« Sie nahm ihm den Schraubenzieher aus der Hand.
Diese verschrumpelte Schachtel mit ihren himmlisch blauen Augen machte Jakob völlig wehrlos. Erstmals begegnet waren sie sich im vergangenen Jahr, als er nachts um drei aus der Wohnung seiner frisch aufblühenden Liebe Hanna in den Hausflur gestürmt war und die heimkehrende Grete beinahe umgerannt hatte.
Am folgenden Tag war er dann während einer Geiselnahme auf den Fußboden eines Weddinger Lehrerzimmers gekracht, hatte gezappelt und gesabbelt und sein Bewußtsein erst in einem Krankenhausbett wiedergefunden. Ungute Voraussetzungen für das Werben um eine so lange wie bildschöne Ärztin. Gewisse Meinungsverschiedenheiten Hannas mit ihrem Arbeitgeber und eine Mordanklage hatten die Verhältnisse allerdings wieder gerade gerückt.
Bei einer Flasche Single Malt, die Grete, mit dem fürsorglichen Hinweis auf die von Alkohol ausgehende Gesundheitsgefahr für verpurzelte Hirne, nahezu allein geleert hatte, erfuhr Jakob später den Grund für Gretes nächtliche Heimkehr. Sie hatte in der Wohnung eines ehemaligen Schülers und Hobbycannabisgärtners der mit Durchsuchungsbeschluß anrückenden Polizei die demente Oma vorgespielt: kreischend stand sie in der Wohnungstür und forderte, man solle den Weg in den Luftschutzkeller freigeben, sie riefe sonst den Blockwart. Die peinlich berührten Polizisten ergriffen die Flucht.
Da sie, vermutlich mit Zwangsjacke und Krankenwagen für Oma, wiederkommen würden, mußte die Cannabis-Plantage weichen. Grete klingelte die nachbarschaftliche Kundschaft zusammen und verteilte Zubehör und Technik über das ganze Mietshaus. Die meisten Pflanzen landeten in der Komposttonne eines neuerbauten Townhouses zwei Straßen weiter.
Der dankbare Gärtner versprach Grete für ihre Hilfe lebenslangen Nachschub auf Kosten des Hauses, was die Alte bis zum letzten Atemzug auskosten wollte. Jakob gab etwas acht, daß sie es nicht übertrieb. Während ihre Pflegetochter Hanna bis zur Gerichtsverhandlung durch die Welt reiste, hatte er sich angeboten, für Grete zu sorgen. Hanna erzählte es der Alten, die senkte ihre blauen Augen in Jakobs, kniff ihn in die Wange und sagte, ich hab Dich auch lieb.
Mit Schraubenzieher und Stablampe bewaffnet sah sie Jakob an. »Du mußt mich hochheben und leuchten.«
Jakob seufzte, hob das Fliegengewicht auf die Stoßstange und hielt sie in der Taille fest. Er sah auf den grauen Lockenkopf und hörte es professionell klappern, als sein Handy klingelte.
»Wenn Du jetzt rangehst, bin ich verloren.« Gretes Stimme klang hohl.
Jakob löste vorsichtig die Hand von der alten Hüfte und fingerte nach seinem Handy.
»Mann, hat das lange gedauert. Liegst Du im Koma?«
»Grüß Dich, Oskar. Ich bin in Brandenburg im Wald.«
»Wie romantisch.«
»Mit Grete.«
»Sucht Ihr einen neuen Standort für ihre Kifferplantage?«
»Ich soll Dich auch lieb grüßen. Warum rufst Du an?«
»Ich habe hier eine Leiche.«
»Was geht mich das an?«
»Sei nicht gleich beleidigt, nur, weil Du suspendiert bist.«
Jakob hatte außer der Gesundheit auch seinen Beruf eingebüßt, Beamtenrecht und Corpsgeist sich, bisher erfolgreich, gegen ihn verbündet. Er war suspendiert und stand vor Gericht. Eine Serienmörderin und seine große Liebe hatte er allerdings in diesem Seuchenjahr auch gefunden, als mit den Gliedern rappelnder, kopfkranker Geisterseher nicht schlecht.
Und es war ja nicht so, daß er nichts zu tun hatte. Montag bis Freitag entstaubte er seine Bücherregale, schlich sich zwischen Schulklassen durch Museen, besuchte die neuesten Berliner Baustellen, fuhr auf dem S-Bahn-Ring im Kreis und ging jeden zweiten Tag einkaufen. Am Wochenende, wenn auch Nicht-Suspendierte Zeit hatten, pflegte er rostige Freundschaften. Und abends, wenn ihn zielloser Tatendrang ansprang, verhinderte die Geisterrunde von Martinas Opfern naturtrübe Gedanken.
Die schienen sich bestens zu verstehen, er kam sich zwischenzeitlich in seiner eigenen Wohnung wie ein Zimmerwirt vor. Hübsche junge Frauen, die Platten auflegten und sich auf Sesseln und Sofa räkelten, als sei das ein Geisterzuhause. Jakob fand das unhöflich. Er hatte ihre Geschichte aufgeklärt und verstreute Körperteile aus einer Berliner Tiefkühltruhe in ländlich idyllische Gräber verfrachtet. Na gut, nicht alle in die passenden, was konnte er für hartherzige Eltern.
Vermutlich mußte er nur endlich wieder arbeiten, dann fände er zurück in die Realität oder neue Mordopfer vertrieben die alten. Letzte Woche hatte er mit seinen Geistern ernsthaft geredet, sie sollten zu ihren Angehörigen zurückkehren, mal bei Penta und Sohn in der Mark vorbeischauen, oder ihre vermutlich schlecht gelaunte Mörderin in der Zelle besuchen. Aber sie hatten ihn nur mitfühlend angesehen. Als könnten sie ihn nicht allein lassen in seinem arbeitslosen, nutzlosen Freizeitdasein.
Mitleid von toten Frauen, denen einzelne Körperteile fehlten, hervorragend. Die kaugummilangen Tage und geistergefüllten Nächte machten ihn zu einer jammernden Mimose. Gute Voraussetzungen für eine Umschulung zum Haremseunuchen, aber schlechte für den rauhbeinigen Alltag als Kriminaler auf Berliner Straßen. Den er so vermißte, daß es ihm das Zwerchfell zusammenkrempelte, wenn er nur daran dachte. Bekäme er die Chance zurückzukehren, er schwiege über endlose Überstunden, kaputte Mitmenschen und mißgünstige Kollegen.
»Mir geht es vorzüglich ohne Arbeit, Oskar.«
»Aber sicher, deshalb turnst Du auch mit Deiner alten Kifferschachtel durch die Pampa.«
Jakob schwieg.
»Sie liegt im Auslaufgebiet.«
»Armer Oskar.«
In Gegenden ohne Straßenschilder war sein Freund verloren. Das Hundeauslaufgebiet im Grunewald war zwar nicht Nord-Kanada, aber immerhin. Ein paar Hundert Hektar Wald, Wasser am einen Ende, die S-Bahn am anderen. Ganz zu schweigen von den vielen freilaufenden Hunden und ihren landschaftserfahrenen, selbstbewußten Begleitern. Oskar mußte sich fühlen wie auf dem Mond.
»Ich kann das nicht, hier sind überall Bäume.«
Oskar schlug genau den Ton an, bei dem er alles stehen und fallen ließ. Keine Frau konnte das. Jakob seufzte. »Hat Deine Franzosenkutsche ein Abschleppseil?«
»Warum?«
»Du holst uns hier ab, und ich sehe mir Deine Leiche an.«
»Du bist ein Schatz, Alter. Und wo seid Ihr?«
»Burg Rabenstein, Gretes Bulli hat die Steigung nicht geschafft.«
»Das finde ich nie.«
»Fahr bis Belzig. Du weißt schon, Autobahn, der Spargel …«
»Und wenn die Häuser aufhören?«
»Rufst Du mich an.«
»Was Du bloß an Gegend findest.«
»Komm her, dann erkläre ich es Dir.«
Er lag auf der Anhöhe, den Wald im Rücken. Seit er nicht mit zur Jagd gedurft hatte, war das sein Platz. Als die Erwachsenen aufbrachen, wollte er sie erstmals begleiten, hatte sich mit angelegten Ohren, Kopf und Rute gesentk, zwischen sie gestellt und gebettelt. Er war doch so gut wie erwachsen. Aber die Rüden knurrten, scheuchten den Halbstarken zurück zu seinen Geschwistern.
Sie waren mit fetter Beute zurückgekehrt. Ein Frischling, genug für alle. Aber er wartete schmollend abseits. Erst, als alle satt schliefen, war er zu den Resten gegangen, hatte Knochen abgenagt und geknackt. Sein Magen war voll, aber das Ziehen blieb.
Er schlief jetzt auch am Waldrand, den Blick auf das Rudel. Ging in den Wald, um sich zu lösen und der Witterung hinzugeben. Der Wald war klein, er konnte am anderen Ende die Sonne untergehen sehen. Glutrot und dick senkte sie sich in die warme Erde, in seine Brust, füllte ihn aus.
Dieses Mal gab er nach. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er in das Rot, immer weiter, bis es verschwand, die Nacht sich senkte, der Mond stieg, die Sterne auf seinem Weg blinkten. Er spürte Sand unter den Pfoten, die kühler werdende Luft in seiner Brust, horchte auf das Wispern und Knispern der Nacht. Tau senkte sich in sein Fell, aber ihm war warm und wohl. Er lief und lief, trank aus Pfützen, ruhte aus unter Bäumen, und lief, bis die Sonne wieder stieg. Erst als sie steil über ihm stand, suchte er Schutz vor ihrer Hitze unter einer weit ausgreifenden Fichte, grub sich eine Mulde und rollte sich ein. Steckte die lange schmale Schnauze tief unter seine Flanke, horchte auf die Geräusche des fremden Waldes, das ferne Pfeifen des Bussards, das Keckern der Elstern, den Warnruf des Eichelhähers. Sein Herzschlag wurde ruhiger und er schlief ein.
Seine Schwester war zum Waldrand hinaufgelaufen, hatte die Witterung des Bruders aufgenommen, war durch den Wald, die Nase tief am Boden, seiner Spur gefolgt. Auf der anderen Seite des Waldes sah sie über die Ebene und hielt inne. Sah sich um, fiepte ratlos. Legte den Kopf in den Nacken und heulte.
Es antwortete ihr Rudel im Rücken, der ferne Bruder schwieg. Da drehte sie um. Durchmaß mit hüpfenden Zwischenschritten das Wäldchen, fand den früheren Schlafplatz ihres verlorenen Bruders, kratzte mit den Hinterpfoten etwas Sand in seine Mulde, löste sich darauf, lief den Hang hinab zu ihrem Rudel und vergaß ihn.
Die Sonne hatte sich vor ihm gesenkt, ein zweites, drittes Mal. Jetzt, am vierten Tag, hatte sie die Landschaft noch nicht in rotes Licht getaucht, noch blendete sie den auf sie zulaufenden jungen Rüden. Vor ihm lag ein breiter Fluß. Das Licht tanzte auf seinen trägen Wellen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer bewegte sich etwas, das er nicht kannte. Er witterte fremde, schwere Gerüche, die der Wind herübertrug. Verwirrende Geräusche füllten seine großen, feinen Ohren. Seine Stirn zog sich zusammen.
Er blieb in Deckung, wartete. Mit der Dämmerung wurde es ruhiger am anderen Ufer. Nur ab und an bewegte sich ein großes Wesen langsam, stinkend und röhrend von einer Seite zur anderen. Er folgte mit dem Kopf seinen zwei großen Augen, die über den Uferweg tanzten, dem kleinen Licht, das über den Fluß streifte und schließlich den zwei roten Augen an seinem Ende.
Als die Dunkelheit überall war, schlich er sich zum Fluß und trank. In ihn grub sich nagende Leere ein. Sie sprach mit dem Ziehen. Er sicherte nach allen Seiten. Außer ein paar Fledermäusen war alles leer. Er stieg in den Fluß, setzte vorsichtig Pfote für Pfote und wurde mitgerissen. Die Strömung war stark, weit zog sie ihn hinaus. Er bewegte die Beine im Wasser. Kraftvoll schwamm er durch den Strom. Nur die graue Rute und sein schmaler Kopf waren zu sehen, dicht angelegt die Ohren. Er fühlte seine Kraft, die das Wasser durchteilte. Sah Bäume am Ufer vorüberziehen, Sterne über sich.
Die Fledermäuse begleiteten ihn, stürzten auf den Schwimmenden nieder, bogen kurz vor ihm ab in den Nachthimmel. Das Wasser war kalt, unter ihm wirbelte es. Seine Beine wurden schwer, seine Züge langsamer. Der Fluß war breit und stärker als der unerfahrene Wolf auf dem Weg in ein neues Leben. Seine Rute sog sich voll Wasser, wehrlos schleuderte sie hin und her. In seine Ohren lief der Strom, er fror trotz der Anstrengung. Sein Atem ging keuchend. Immer schneller wirbelte das Ufer vorbei, immer härter attackieren ihn die Fledermäuse.
Endlich spürte er Sand. Wirbelnden, weichen Sand. Noch ein, zwei Züge mit den lahmen Beinen, dann stand er, schwankend. Stieg auf zum Ufer, zog sich mit den zitternden Vorderbeinen die Böschung empor. Das Wasser lief in Strömen an ihm hinab. Er schüttelte sich, der Nachthimmel zerstob vor Wasserfunken. Er trabte hoch auf einen grasbewachsenen Deich und sicherte ringsum. Die Fledermäuse hatten ihn verlassen. Ein Fuchs war vorbeigekommen am Abend, unter sich hörte er Nager in ihren Bauen trappeln, in der Ferne einen Kauz. Er drehte sich um und sah zurück auf den Strom. Hob den Kopf, immer höher, legte ihn in den Nacken und heulte. Er bekam keine Antwort.