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II

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Hauptkommissar Oskar Blum saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz seines Citroën. Die ausgestreckten Beine hatte er auf dem Lenkrad untergebracht, die Schulter an die Tür gelehnt. Neben der geöffneten Fahrertür kniete ein uniformierter Kollege und redete vernünftig auf ihn ein.

Oskar hielt die Augen geschlossen. Nicht mit ihm. Er war die Kripo, verdammt noch mal, er ließ Absperrbändern ziehen und blieb nicht vor ihnen stehen.

Er hatte nach dem Einsatz die zwei verbliebenen Hunde in die Obhut eines Tierheimmitarbeiters gegeben und sich den Verdächtigen gewidmet. Der Älteste hatte sich nach dem Verbleib der Hunde erkundigt und fortan geschwiegen. Bis sechs Uhr früh hatte Oskar in der Keithstraße die immer gleichen Fragen in drei starr schweigende Gesichter versenkt. Nicht einmal Angaben zur Person entlockte er ihnen. Sie hatten keine Ausweispapiere gefunden, aber zwei Schnellfeuergewehre, vier Revolver, neun Handgranaten, vier Kilo Kokain, drei Kilo Crack und zwölfeinhalb Kilo synthetischer Partydrogen. Ein schöner Fang für Drogenfahndung und Organisierte Kriminalität, aber nichts für Oskars Doppelmord. Sah aus, als hätte der anonyme Anrufer die Kripo mißbraucht, um den Drogenmarkt von einem lästigen Konkurrenten zu bereinigen.

Der Mann an der Shisha hatte im Verlauf der Stunden das Glasige aus seinem Blick verloren und mit Blick Richtung Kommissar auf das Linoleum gerotzt. Oskar war auf Berliner Bordsteinen sozialisiert, solches Ziegenhirtengebaren entlockte ihm nur ein halbseitiges Grinsen. Um sechs Uhr vier beendete er die einseitige Kommunikation, ordnete zur Feststellung der Personalien die zwangsweise Abnahme von Fingerabdrücken an, was sofort Leben in die Bude brachte. Er hätte schon um drei darauf kommen können.

Um kurz nach sieben waren die ihn mit fremdsprachigen Flüchen überschüttenden Männer in drei Einzelzellen verstaut und Oskar wankte nach Hause. Er plumpste angezogen in sein Bett, eine halbe Stunde später klingelte ihn die Zentrale aus beginnendem Tiefschlaf, klagte, wer alles mit Grippe abgemeldet oder an unlöschbarem Burnout erkrankt war. Bevor Oskar erfuhr, wie gut es Kollegin Bettina auf einem dänischen Campingplatz und Kollege Ritter im Grill von Antalya ging, legte er auf. Er war eindeutig zu gesund und zu selten verreist.

Oskar versprach seinem Federbett, er käme bald zurück, begoß den bleiernen Kopf mit eiskaltem Wasser und fuhr quer durch die Stadt zum Leichenfundort im Grunewald. Und das alles, um sich jetzt von Zehlendorfer Befindlichkeiten gängeln zu lassen und auf den amtlichen Hausherrn der Bäume zu warten, bevor er mit seinem Auto dessen Revier befuhr, um eine Leiche in Augenschein zu nehmen.

»Det kann ewig dauern, bis der Förster kommt«, seufzte der Uniformierte.

»Eben«, sagte Oskar, »kurz vor ewig durchbreche ich das Hindernis.« Er zog die Beine vom Lenkrad. Wenn er sich erinnerte, wie er früher brünftig die Sitze abgescheuert hatte, kamen keine knarzenden Glieder vor. Nicht nur sein Auto alterte.

»Es ist wirklich nicht weit«, quengelte der Uniformierte. »Höchstens zwanzig Minuten zu Fuß.«

»Neunzehn zu viel. Ich zeig’ Dir, daß meine Kutsche viel besser zum Wandern geeignet ist als meine Großstadtfüße.«

Oskar Blum war gebürtiger Neuköllner. Sein Kinderbettchen hatte in der Tempelhofer Einflugschneise geschaukelt, seinen nuckelnden Schlaf die blinkenden Lichter westalliierter Flieger behütet. Mamas Streusel dazu, ab und zu Kloppe von Papa.

Schritt für Schritt hatte er sich eingelaufen in die puckernden Adern seiner Heimatstadt. Lauscher aufgestellt, Nase im verrußten Wind, große Klappe sowieso. Immer det letzte Wort. Nüscht vapassen, jetzt komm’ ikke.

Ging zur Oberschule, schrieb von schlauen Mädchen ab und machte im dritten Anlauf als erster im Block Abitur. Landete bei der Berliner Polizei, das Richtige tun, zu den Guten gehören. Papa war stolz, Mama bügelte die Uniform.

Er zog weg aus Neukölln, traute sich immer mehr, linste zu den Kollegen von der Kripo. Das wär was. Ganz andere Liga. Sperrte wieder alle Sinne auf, wurde verlacht, keiner war jemals von den Uniformierten gewechselt. Oskar Blum wollte der erste sein. Schob sich in wichtige Vorzimmer, schenkte Sektretärinnen Zeit und Pralinen, füllte sorgfältig Anträge aus. Trank Bier mit Kriminalern, berlinerte und baggerte. Den Polizeipräsidenten rührte sein Aufsteigereifer, er bekam die Ausnahmegenehmigung. Is ’n Netter, aber schafft der soundso nich’.

Er büffelte und sein ganzes uniformiertes Revier half. Hörte ab, schob Dienste zur Seite und saß daumendrückend im Flur, als es so weit war. Oskar trickste, quatschte, riß mitten in der Prüfung Neuköllner Witze, legte seine Straßenkindheit auf die ächzende Waagschale und schaffte es. Der Flur jubelte, verteilte Selbstgebrannten, klopfte Schultern, stolz, daß es einer von ihnen geschafft hatte, sicher, daß Blum sie alle nie vergessen würde.

Oskar landete bei der Kripo und grub sich wieder ein. Lernte Geburtstage, kommentierte Ehesorgen und Kindernöte und machte sich unersetzlich. Wurde in Fußballmannschaften gewählt, zu Besäufnissen und auf Schrebergartenpartys geladen und paddelte in seinem Element. Kannte jeden, grüßte jeden, war einer der ihren.

Und dann kam ein Akademiker zu ihnen in die Keithstraße. Jakob Hagedorn. Lange Latte, schluffiger Gang, den er auch noch stundenlang durch menschlich ausgebombte Gegenden lenkte. Wald und Flur, so was. Und wenn er nicht latschte, dann las er. Hatte zuhause Altbauwände hoch bis zum Stuck voller Bücher.

Dazu verträumt wie ’ne Jungfrau, aber einen Blick, der wie eine Schußfahrt durch Deine Seele donnert. Bis in den allerletzten Winkel. Seine blauen Augen zogen Oskar aus, betrachteten ihn von allen Seiten und reichten ihm eine flauschige Decke. Oskar hatte nix zu verbergen, zumindest nicht vor diesem Blick, fand die Decke wohlig und hatte zum ersten Mal im Leben einen richtigen Freund. Erfuhr dann alles über ihn. Von der umtriebigen Kindheit mit den bösen Zwillingen Manie und Depression seines bildhauernden Vaters und eines späten Abends vom langen Trauerflor über der toten Mutter.

Oskar schob seinen neuen Freund durch eingetretene Türen und übergab ihm lamentierende Mörder zusammen mit deren neunmalklugen Anwälten. Der Neuköllner übernahm das Geplauder mit Uniformierten, kotzende Säufer und den Abtransport der Leichen. Seinem Freund legte er heulende Witwen und rotzende Waisen in den Arm und überließ ihm jene Fragen nach dem großen Ganzen, die Oskar in Alkohol einlegte.

Das Arbeiterkind bestaunte Jakobs lässige Größe, noch mehr aber seine Arbeit. Während Oskar mühsam den Hauptweg aus Fakten freiharkte, stieg sein Freund im Kopf um zwölf Ecken, fand mitten im Geröllfeld Wege und knöpfte Verdächtigen durch seinen Grubenblick das Herz auf. Selbst mieseste Killer gierten nach seinem Verständnis. Als Jakob dann auch noch Geister von Mordopfern sah, die ihm den Weg zum Täter wiesen, war es zu spät für Oskars treue Neuköllner Seele.

Natürlich überforderte ihn das. Er war Bulle, hatte das Abitur mit Petting gewonnen, schnarchte bei jedem Buch ab Seite fünf, hatte keinen Bock, irgendwelchen Arschlöchern in die Seele zu gucken und war froh, wenn ihn Geister, die es natürlich ohnehin nicht gab, in Ruhe ließen. Aber wen interessierte das schon. Irgendwer da oben hatte ihm diesen langen Spinner auf den Schoß gesetzt, da half kein Jammern. Oskar hob also die Fäuste hoch und verteidigte den Paradiesvogel gegen jeden, der auch nur zischend Luft holte.

Und Luft geholt wurde reichlich. Erst fand man die Geisternummer kleidsam und verdrehte in Jakobs Rücken die Augen. Aber dann entdeckte die akademische Wunderlatte, daß der altgediente Kollege Pommerenke seine Geliebte ermordet und einen Unschuldigen an seiner statt hinter Gittern versenkt hatte. Die Reihen schlossen sich. Nicht hinter Jakob, dem Aufdecker und Moralisten, sondern rings um die mordende Kumpelseele Pommerenke.

Oskar wich mit seinem Franzosen fluchend einem auf dem Weg liegenden Ast aus. Achsbruch im Wald, das fehlte ihm noch. Ruf mal eine Pannenhilfe in die Berliner Forsten.

Das wäre ein Fall für Jakob, überall Gegend, Bäume bis zum Horizont. Oskar gehörte auf Asphalt. Baumscheiben für die Fiffis, der Rest für ihn. Als er acht war, fand der Vater seinen Sohn zu fipsig und verordnete sonntäglich frische Luft. Oskar schlug das gerade anlaufende deutsch-amerikanische Volksfest vor. Stattdessen nahmen sie U-Bahn und Bus, um auf irgendeiner Ausflugswiese zu landen, meist am Wasser. Dann gab es rote Weiße, die Sonne brannte, Oskar langweilte sich und zählte Bäume.

Er brauchte das alles nicht. Sicher war Berlin quietschgrün. Spree und Havel, die Seen, der Tegeler Forst, die Müggelberge, der Grunewald. Und dazu der Kleinkram der Proletenstadt. Kein Kiez ohne Park, alle grillten auf löchrigem Rasen, fläzten sich auf Bänken, rauchten Tabak und Shit, tanzten zu orientalisch jaulenden Radios, sangen sozialistische Kampflieder unter klapprigen Bäumen, führten scheißende Hunde und Pflanzen rausreißende Kinder in Wald und Flur, einzigartig. Zum Protzen in der weiten Welt war das super, aber nüscht für Oskars Freizeit.

Die letzten zweihundert Meter bis zum Tatort mußten sie doch zu Fuß gehen, Oskars Schuhe sahen aus wie die eines Bauern, er war sauer. Auf einer kleinen Lichtung abseits des schmalen Waldweges tummelten sich die Kollegen. Oskar sah kein einziges Auto, nur zwei an einen Baum gelehnte Fahrräder. Wollten die die Leiche auf den Gepäckträger nehmen?

»Morgen, Hanno«, sagte er zum Rücken des Spurensicherers. Hanno trat einen Schritt zurück, in Oskars Magen schaukelte das hastige Frühstück. Er zählte auf die Schnelle sieben Einzelteile einer Frau. Knapp vor ihm lag eine Hand, der kleine Finger fehlte zu zwei Dritteln, die übriggelassenen Nachbarn leuchteten rot lackiert. Teure Klunker, scharfer Mini, abseits lagen schicke Pumps. Völlig deplaziert, mal abgesehen vom zerfledderten Zustand des Körpers.

»Unsere Schlachtermeisterin aus Baden-Württemberg wäre beleidigt«, sagte Hanno. »Kein Handwerk, eine Riesenschweinerei.«

Oskar schluckte. »Der fehlt ja ein Ohr.«

»Das nehmen sie gern zu Anfang.«

»Wer, zum Teufel?«

»Die Wildtiere«, sagte Hanno. »Ratten, Füchse, so’n Zeugs. Genauer kenn’ ich mich nicht aus, Wald ist nicht so mein Ding.«

»Was Du nicht sagst.«

Hanno lachte. »Deins auch nicht, soweit ich weiß.«

»Aber eine Frau ist das schon?« Oskar sah sich um.

»Einen Schwanz brauchen wir gar nicht erst zu suchen.«

»Der kommt noch vor den Ohren?«

»Sie hatte keinen. Eine Brust ist übrigens auch weg. Sieht man bloß nicht durch das viele Blut und den dunklen Pullover.«

Oskar wurde grau.

»Jetzt kotz’ mir hier nicht hin, Hauptkommissar.« Hanno klopfte ihm auf die Schulter. »Die nächste Leiche finden wir sicher wieder in geschlossenen Räumen.«

»Wenigstens ein versiffter Hinterhof dürfte es sein.« Oskar sah zu den Bäumen hoch und auf den knallblau zuversichtlichen Berliner Himmel dahinter. »Wißt Ihr schon was über die Todesursache?«

»Nee, das dauert. Außerdem war noch kein Rechtsmediziner da. Aber wenn Du mich fragst, wir sind hier im Hundeauslaufgebiet.«

»Was soll das heißen?«

»Hunde stammen von Wölfen ab, Du weißt schon.«

»Berliner Fiffis sollen eine Frau zerfleischen?«

Hanno beugte sich vertraulich zu Oskar vor. »Mich hat mal ein Pudel gebissen. Mußte mit vier Stichen genäht werden.«

»Der wollte an Deine Eier, wetten?« Oskar lachte und zog sein Handy aus der Tasche. »Das heißt, ich soll hier ermitteln. Kein harmloser Suizid, kein Herzinfarkt durch Sauerstoffüberschuß?« Er deutete auf den Wald ringsum. »Oskar Blum unter Eichen.«

»Das sind Buchen, Du Depp«, sagte Hanno.

Oskar seufzte. »Das habe ich schon befürchtet.« Er tippte die Kurzwahl Null in sein Handy. Das war eindeutig etwas für kopfkranke Geisterseher.

Auslaufgebiet

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