Читать книгу Auslaufgebiet - Lotte Bromberg - Страница 12
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ОглавлениеIrgendjemand schoß. Jakob nahm Hektor an seine alberne Leine und durchbrach den Wald in Richtung der Schüsse.
Iris war als Leiche in seine nächtlichen Träume gezogen. Er sah sie wehrlos auf dem Waldboden liegen. Hörte Wildschweine grunzen, Ratten schmatzen, sah einen Marder über ihre Schulter springen und einen Fuchs den erbeuteten Unterarm aus der Gefechtsmitte schleifen.
Aus diesen Träumen erwachte Jakob schweißgebadet, tapste zum Wasserhahn und spülte sich den üblen Geschmack aus dem Mund. Wer immer das getan hatte, Iris das angetan hatte, dieser jungen Frau in Mini und auf Pumps, sie dort liegen gelassen hatte, ausgeliefert ihren Leichnam an die Bewohner des Grunewaldes, bekäme es ab sofort mit ihm zu tun.
Auch ohne daß Iris sich bisher zu seinen Geisterfrauen gesellt hatte, hatte ihre Geschichte ihn am Haken. Niemand durfte ungesühnt auf diese Weise ein Leben auslöschen, ein Menschenjunges bloßstellen, preisgeben an die Natur. Und wenn das sein letzter Fall wäre, fallsüchtig, suspendiert, weggestoßen vom Beamtenschoß, diesen Mörder würde Jakob Hagedorn noch finden, a. D. hin oder her.
Seit dem Gespräch mit Thies träumte er auch von wilden Jagden durchs Unterholz, Balgereien und Schnuppereien. Allerdings war er kein gutbezahlter zweibeiniger Rudelführer, sondern zupfte mit den Zähnen Bordercollies am Halsfell, legte auffordernd eine Vorderpfote auf Boxers Schultern, hechelte und hampelte, hob das Bein und stob mit der Nase durch altes Laub.
Jakob seufzte. Es ging schon wieder los, er nahm auch diesen Fall viel zu persönlich. Nicht nur war die entstellte Leiche ihm auf den Rücken geknüpft, sein unerzogenes Gehirn pfiff wie üblich auf die Ich-Welt-Grenze und ließ dieses Mal Berliner Hunde alle Schranken passieren.
Seine Sinne nahmen Fahrt auf. Uringeruch zog ihn wie an einer Schnur. Kaum zu glauben, wo überall Rüden hinpinkelten. Neulich wollte er ein Pöttchen für Gretes Fensterbank kaufen, hob die auf dem Bürgersteig ausgestellte Pflanze hoch, senkte die Nase in die Blütenpracht und roch einen alten Rüden mit Prostataproblem.
Bei einem mitternächtlichen Telefonat mit Hanna konnte er hören, wie sie sich ihr Frühstückstoast bestrich. Nein, nicht nur das Kratzen des Messers auf der Butter, er hörte auch den von der Messerspitze ins Glas zurücktropfenden Honig.
Als sie sich beschwerte, er habe nicht zugehört, erwähnte er seine neuen Canidenlauscher. Er verstand ja, daß sie ihm kein Wort glaubte und Verwünschungen ausstieß, daß ihr Herz sie an so einen Spinner kettete. Als er sich kleinlaut entschuldigte, erklärte sie ihn spöttisch zur neuen Jesusfigur und sich zu seinem Gott bekehrt.
Aber letzte Nacht hatte sie nicht angerufen. Er war ein epileptischer Exkriminaler und Neucanide. Ausgestoßen und unverstanden. Sogar von Hanna, die gerade ihre Berliner Sammlung an Schrullen in den USA ergänzte. Jakob haderte mit Bildern gutaussehender Amerikaner. Aber die waren ja alle übergewichtig.
Hanna, die Toten, ihre Geister, Iris’ Leichnam, die Hunde jetzt, jeder trampelte in seinem Hirn herum, ohne ihn zu fragen. In Berlin, der Stadt mit dem wurschtigsten Verhältnis zu Müll, Rotz und Pisse, die Sinne eines Hundes zu entwickeln, grenzte an Körperverletzung. Da wurde jeder Aufenthalt im Wald, trotz Wildschwein- und Mäusearoma, zur reinsten Erholung, selbst wenn geschossen wurde und er einen Mörder suchte.
Jakob und Hektor kamen zu einer kleinen Lichtung, an deren Rand ein Pickup stand, auf der Pritsche breitbeinig ein Mann in grüner Kleidung, der tatsächlich auf Amseln schoß.
»Was tun Sie da, zum Teufel?«, fragte Jakob.
Waldarbeiter Hacke drehte sich um, ohne die Waffe zu senken. Er zielte abwechselnd auf den großen Mann und seinen kleinen Hund. Sein Hosenlatz stand offen. So jemand könnte eine Leiche nachts im Wald zurücklassen, damit Tiere sie zerfleischen. »Geht Sie das was an?«, blaffte er.
»Sie haben kein Recht, Amseln zu töten.«
Hacke sprang vom Pickup. »Ich bin vom Forstamt, ich darf hier alles.« Dicht vor Jakob blieb er stehen und sah verächtlich auf Hektor hinab. »Und wer sind Sie?«
Vorsicht Jakob, wenn Du zurück willst zur Kripo. »Zu Besuch. Ich führe den Hund einer Freundin aus.« Das Gesicht des Mannes wurde dunkler. Zu viel Alkohol, Sonne, Druck im Blut. Oder alles zusammen. Frischluft schien nicht jedem gut zu tun.
»Dann mischen Sie sich nicht in Berliner Angelegenheiten und gehen Sie zurück auf die ausgewiesenen Wanderwege.«
»Würden sich mehr Leute einmischen, geschähe nicht so viel Schlimmes.« Jakob versuchte einen kullerigen Blick.
»Wovon reden Sie?«
»Na, die Leiche. Wenn nicht alle so abgestumpft wären, hätte man den Mord vielleicht verhindern können«, sagte Jakob so treuherzig auswärts, wie er konnte.
»Jetzt ist sie also schon ermordet worden, sieh an. Da wissen Sie mehr als ich. Und immerhin ist das mein Wald.«
Typisches Mißverständnis des Berliner Öffentlichen Dienstes. »Und warum schießen Sie auf Amseln?«
»Ratten, sonst nix.« Hacke warf sein Gewehr durch das offene Beifahrerfenster in den Pickup.
»Wenn Sie es sagen.«
»Woll’n Se Ärger? Dabei sind schon ganz andere auf die Fresse geflogen.« Er schnaubte den Inhalt eines Nasenlochs auf den Waldboden. Hektor sah dem Rotz hinterher, als sinniere er über eine Hundeschule für Forstangestellte. »Bewirtschaften Sie mal einen Wald, der von tausenden Hunden vollgekackt wird.«
»Sieht doch alles ganz hübsch und gesund aus.«
»Das glaubt auch nur ein Trottel. Die Viecher buddeln mir die Wege auf, graben die Bäume an, zerkauen die Schößlinge. Neulich hat mir ein militanter Tierfreund in den Hochsitz geschissen.«
»Freiheit für die Wildschweine.«
»Aber wenn ein Keiler mal wieder einen großkotzigen Köter aufschlitzt, ist das Geschrei groß.«
»Hartes Los.«
»Wollen Sie sich über mich lustig machen, Sie Provinzler?«
Charmebolzen, dachte Jakob. »Aber nein. Ist schon weltweit ein einzigartiger Job.«
»Wem sagen Sie das.«
»Und die Berliner wollen einfach ins Grüne.«
»Ihren Müll abladen, die Gewässer vollpissen, das Ufer mit Sonnencreme versauen und im Wald ihre Kippen fallen lassen.«
»Aber doch nicht die Hundeausführer.«
»Die nutzen den Wald, um Gewinne zu erzielen.«
»Na, das werden tolle Gewinne sein.«
»Haben Sie gesehen, wie groß deren Meuten sind? Latschen ein bißchen rum und kassieren dafür Unsummen. Daran können sie ihr Forstamt ruhig beteiligen, das die Wege hegt.«
»Und die Jogger?«
Hacke lachte. »Deren Gewinn sind kaputte Knie.«
»Ich meine, machen die auch Ärger?«
»Die Wege sind ihnen nicht plan genug, der Waldboden müßte federn wie in Brandenburg, wir Forstarbeiter stören mit der unangenehmen Geräuschkulisse, meine Karre stinkt. Noch mehr?«
»Und die Leiche, hat die auch gemeckert?«
»Keine Ahnung, sie war ja längst weg.«
»Sie hatte ohnehin kein Gesicht mehr.«
Er lachte wieder. »Seh’n Se, gibt zu viele Ratten.«
Jakob zog sein Photo aus der Tasche. »So sah sie aus.«
Hacke sah ihn prüfend an. »Woher haben Sie das?«
»Hat die Kripo verteilt«, log Jakob lässig.
Hacke gab ihm das Bild zurück, der Latz stand immer noch offen. »Kenn’ ich nicht. Im Wald sehe ich nur Bäume.«
»Was für eine unglaubliche Schweinerei. Ihr solltet Euch schämen.« Bernd Cumloosen, Leiter der Rechtsmedizin der Berliner Charité, sah richtig beleidigt aus. »Schließlich bin ich kein Gärtner.« Mit spitzen Fingern zog er Reste eines braunen Blattes aus dem Bauch der Leiche. Der Nabel war mit Brillanten gepierct.
»Buche«, sagte Oskar.
Strafend sah Cumloosen ihn an. »Das ist ein Eichenblatt aus dem letzten Jahr, Herr Hauptkommissar.«
Oskar seufzte. »Sagen Sie das Hagedorn, der kennt sicher sogar seinen Stammbaum.«
»Und bringt es zurück nach Hause, ich weiß. Hat die sensible Seele sich denn endlich der Suspendierung entledigt?«
Oskar schüttelte den Kopf und sah auf das wohlsortierte Puzzle in Cumloosens Stahlwanne. Alles an passender Stelle, Arme neben dem Rumpf, rotlackierte Handreste darunter. Umso deutlicher schmerzte, was fehlte. Armes Ding, so jung und ein solches Ende, zernagt und verdaut. Was nützten teures Geschmeide und scharfer Mini unter Cumloosens Händen.
Iris Gerber war ein hübsches Mädchen gewesen, hätte man die Teile wieder annähen können. Schmal, guter Trainingszustand, gesunde Haut, sorgfältig rasiert, zumindest an den wenigen unversehrten Hautstellen. Appetitlich irgendwie, die Waldviecher waren zu verstehen. Gepflegte weiche Hände, keine Schwielen, keine Zeichen körperlicher Arbeit. Die Weddinger Hinterhofopfer waren nie so jung gewesen, dafür lagen sie aber auch nahezu vollständig in der Rechtsmedizin.
Oskar sah ihr prüfend ins Gesicht. Erinnerte sich an das Jugendweihephoto. Kniestrümpfe im Arbeiter-und-Bauern-Staat, ein weißer Dollar-Roadster und mit halber Nase in den Sarg.
»Woran ist sie denn gestorben?«
Cumloosen hob die Hände. »Woher soll ich das wissen? Ganze Körperteile fehlen. Allein, um Ihnen zu sagen, wer da alles zum Buffet geladen war, brauche ich Wochen.«
Jakob hätte jetzt Cumloosens Hinterkopf getätschelt, über die Choräle der Toten mit ihm geplauscht und der Rechtsmediziner hätte das Essen eingestellt, nur um Hauptkommissar Hagedorn schnelle Ergebnisse liefern zu können. Zwei schräge Vögel krähen miteinander auf krummer Stange. Wie im letzten Jahr, als Cumloosen eine Mordserie entdeckte. Ohne ihn wären Jakob und Tanja nie auf die bekloppte Schlachterin gekommen. Oskar hatte sich derweil mit bulgarischen Mafiosi herumgeschlagen. Oder waren es Rumänen?
Ein ausgewachsener Spinner war Cumloosen trotz der guten Arbeit. Ein Wachmann tratschte, er hätte ihn bei seiner bevorzugten nächtlichen Arbeitszeit Entschuldigungen murmeln hören. Schlaf weiter, guter Schrank, muß mal stören, liebe Leichen, so was. War vermutlich auch so eine Geisternummer. Wenn Oskar es recht bedachte, war er bald der letzte Normale in diesem Irrenhaus. Irgendeiner mußte ja den Schlüssel beaufsichtigen.
Aber eigentlich war ihm scheißegal, was für Lieder die alle sangen, mit welchen Astralleibchen sie redeten und wie sie ihre Nächte rund bekamen. Sei es mit Maden, Geistern oder Gott bewahre, Hunden. Jeder, wie er mag, und für Oskar den Rest. Hauptsache, gute Arbeit und ihm nicht im Weg.
Um sich nicht als geistlose Vertretung Jakobs zu blamieren, grub Oskar in tiefen Regionen seines Neuköllner Currywursthirns nach abgelegtem Wissen. Die Leiche war angeknabbert, Cumloosen brauchte, um festzustellen, wer da am Werk war, einen Zahnarzt.
»Hinterlassen die Viecher nicht ihre Zahnreihen?«
»Die sich überlagern, in der Tat. Außerdem reißen einige Tiere, andere nagen, beißen, zerren.«
Oskar hob abwehrend die Arme.
»Wir machen DNA-Proben, dann geht es schneller. Speichelreste, Haare, Fraßspuren, das alles bringen wir in die richtige Reihenfolge und haben den bösen Buben, der zuunterst angefangen hat.«
»Das heißt, auch Wildtiere könnten sie getötet haben?«
»Kaum. Es sei denn, sie verfügen über eine Tiefkühltruhe und ein Transportmittel.«
»Bitte?«
»Die inneren Organe unseres Opfers waren noch nicht ganz aufgetaut, als ich sie auf den Tisch bekam. Deshalb scheint mir eine natürliche Todesursache sehr unwahrscheinlich. Ich neige sogar dazu, unter diesen Umständen einen Suizid auszuschließen.«
Aus einem Grund, den er lieber nicht hinterfragen wollte, sah Oskar seine Mutter ihm als Kind Fischstäbchen auftischen. Aus der Pfanne mit dem braunen Plastikheber direkt auf Klein-Oskars Teller. Nur zu Festtagen natürlich, viel zu teuer.
»Jemand hat sie vermutlich getötet, eingefroren und zu gegebener Zeit an den Auffindort gebracht.«
Nicht mal gesundes Waldpanorama beim Sterben. Ein Kellerloch, Hinterhof, Hotelzimmer, ein Auto? Es gab unendlich viele Orte in Berlin, einen Menschen ins Jenseits zu befördern, grüne Idylle war nicht gerade die Regel. »Also waren es keine Hunde oder Leute aus dem Wald?«
»Warum nicht? Ich habe nur gesagt, sie war gefroren. Woran sie starb und wo, weiß ich noch nicht. Mit dem genauen Todeszeitpunkt wird es übrigens auch schwer.«
»Nun mal langsam, Doktor, für Deppen. Es kann also sein, ein Hund hat sie zerfleischt, sagen wir, vor einer Woche, Herrchen schleppt sie in eine tiefgekühlte Truhe, bringt sie zurück in den Wald und beim Auftauen schlägt sich der Rest des Waldes den Bauch voll?«
»Klingt aufwendig, aber warum nicht. Vielleicht ist der Kerl Zoologe und wollte erst sein Zubehör zusammenbringen, um das kalte Buffet zu dokumentieren.«
»Sie sind echt eine große Hilfe, Doktor.«
»Danke, ich gebe mir auch wirklich Mühe, Herr Kommissar.«
Es war ungewöhnlich, daß einfach jemand klingelte. Zwar wies ein Schild am Hauseingang Dao als Privatdetektivin aus, aber normalerweise bestellte sie ihre Kundschaft ein. Sie sah sich um, ob alles an seinem Platz sei, freute sich an der Sorgfalt ihrer Putzfrau, drückte den Summer und sah zum Fahrstuhl.
Eine, wenn auch winzige, Detektei zehn Stockwerke über dem Potsdamer Platz mit Blick auf die von der Sonne vergoldete Philharmonie war Dao nicht in die Wiege gelegt. Als erstes Kind überglücklicher Eltern wurde sie in Saigon geboren. Die chinesischstämmige Familie gehörte zur Elite des Landes und richtete ihr Leben nach den bewunderten französischen Kolonisatoren aus. Über Daos Wiege hing eine mit bordeauxrotem Samt bezogene Kugel, die, zog man sie auf, französische Kinderlieder abspielte. Morgens gab es Croissants zur Nudelsuppe Pho, das Kindermädchen sprach Französisch mit dem Säugling, der Vater träumte von einer Anwaltskanzlei in Paris.
Daos Eltern hielten es für ausgeschlossen, Kommunisten aus dem Norden könnten dieses Idyll zerstören. Sie arbeiteten für die Amerikaner, sahen über ihre schlechten Manieren hinweg, und waren völlig überrascht, als diese mit gewaltigen Hubschraubern flüchteten.
Den vietnamesischen Angestellten blieb nur der Weg übers offene Meer. In einer löchrigen, unter der Last von zwölf Familien stöhnenden Nußschale ruderten sie in die Finsternis. Der Wellengang wurde stärker, Daos Mutter ging als eine der ersten von Bord. Ihr Mann drückte der nächstbesten Frau sein Kind in den Arm und stürzte sich hinterher. Beide gingen lautlos unter.
Die fremde Frau sah das teure Mäntelchen, den fremdartigen Spitzenbesatz um die Kapuze, in ihrer Mitte die langen Wimpern über geschlossenen Augen und drückte das Kind an sich.
Sie wurden von der Cap Anamur gerettet, dreizehn Erwachsene und fünf Kinder. Die kinderlosen Nguyens gaben das Mädchen als ihr eigenes aus und nannten sie Dao Thi. Mit Scharen anderer verängstigter Landsleute erreichten sie ein fremdes Land. Wie eine Handvoll Bauklötze warf man die Heimatlosen über Deutschland aus. Die kleine Familie Nguyen wurde vom niedersächsischem Ministerpräsidenten mit Blaskapelle und Butterkeksen begrüßt und für Oldenburg eingeteilt.
Dort wuchs Dao behütet auf. Ihre neuen Eltern waren gläubige Christen, besuchten regelmäßig den Gottesdienst, übernahmen Ehrenämter zuhauf, arbeiteten hart und lebten unauffällig. Sie hielten Dao zum Beten und Lernen an, erzählten ihr erfundene Geschichten von den unbekannten Eltern, den Düften, Klängen und Bräuchen der Heimat und sprachen niemals Vietnamesisch mit ihr.
Dao wurde eine gute Schülerin. Sauste durch das Gymnasium, lächelte höflich in alle Richtungen und schloß als Jahrgangsbeste ab. Sie landete mit Photo im Lokalblatt, alle tätschelten ihre hohen Wangen, ihr seidenschwarzes Haar, mehr stolz auf sich als die norddeutsche Asiatin. Dao hatte es satt. Wollte nicht mehr Exotin sein, gefragt werden, wie man korrekt Reisnudeln zubereitet, ob ihr deutsches Essen nicht zu schwer und Schützenfestkorn bekömmlich seien, wollte sich nicht mehr ducken, schleichen, fehlerlos leben.
Sie wollte zu den Guten gehören, für Recht, etwas Ordnung sorgen, helfen, schützen. Sich verstecken hinter einer Aufgabe, in einer Uniform, einer großen Stadt, vielleicht sogar dazugehören zu Corps oder struppiger Einwohnerschar, irgendwann. Sie nahm eine Deutschlandkarte, sah die Flecken Hamburg, Köln und München, umkreiste den dicken Flatschen Berlin und blieb hängen. Ihre Eltern bettelten, schimpften, die Mutter weinte, der Vater argumentierte. Sie hatte doch Abitur, sollte studieren, Ingenieurin werden, Brücken bauen, zurückkehren nach Saigon, erfolgreich, europäisch gebildet. Aber Dao wollte Polizistin sein, von dort zur Kripo.
Natürlich wurde sie genommen. Machte die Ausbildung im Schnelldurchlauf, landete als Streifenpolizistin und einzige Frau auf einem Ostberliner Revier. Nichts von dem, was sie in Oldenburg gelernt hatte, half ihr dort. Sie wurde zur verachteten Fidschi, im Einsatzfahrzeug neben die Besoffenen gesetzt, deren Erbrochenes in ihrem Schoß, deren wütende Fäuste in ihrem Gesicht landeten. Die Kollegen bedrängten sie in der Umkleide und schickten sie unter brüllendem Gelächter Zigaretten holen. Anders als Oskar war sie allein, konnte nicht berlinern und hätte sich nie an den Polizeipräsidenten herangetraut. Sie hatte keine Chance auf die Kripo.
Bei einer Polizeikontrolle lernte sie Jakob kennen. Oskar hatte mal wieder etliche Verkehrsregeln mißachtet, seine Kutsche keinen TÜV, er glaubte, als Kriminaler könne man das anders regeln. Dao belehrte ihn in oldenburgischem Hochdeutsch, daß er sich irre. Daos Streifenkollege erkannte den Kripokommissar, grüßte devot und stauchte die junge Asiatin mit einer Kaskade sexistischer und rassistischer Beleidigungen zusammen.
Jetzt zeigte Jakob, was er von seinem Neuköllner Freund gelernt hatte, schredderte den großmäuligen Uniformierten mit Altberliner Schimpfwörtern, daß Oskar zufrieden grunzte. Dann sah Jakob Dao in die Augen. Sie reckte das Kinn hoch, er gab ihr seine Telefonnummer.
Dao dachte, sie hatte einen Einstieg zur Kripo gefunden. Ein echter Kommissar als Fürsprecher, sie war euphorisch. Aber sie traf auf den Geisterseher. Der lud sie in seine Wohnung, hörte ihren sprudelnden Geschichten zu, wartete, bis sie sich leergeredet hatte, holte eine Flasche Wein, sagte, da ist noch was, und nahm auch die Sintflut an Tränen in Empfang. Als sie damit fertig war, füllte er zwei große Gläser und sagte, Du solltest kündigen.
Sie hatte sich gewehrt. Wütende Argumente aufgehäuft, die Beine in den Treibsand von Jakobs Augen gestemmt. Wer ändert schon gern die Richtung?
Eine Woche später kündigte sie. Jakob gab ihr Schlafplatz und Freundschaft. Sie wurde Privatdetektivin. Nach einem halben Jahr konnte sie sich ein Büro in einem Schöneberger Souterrain leisten, nach weiteren drei Monaten die kleine Wohnung darüber. Sie zog unter Tränen und Dankesreden aus Jakobs Besenkammer aus.
Jetzt schwebte sie in ihrer winzigen Detektei über dem Potsdamer Platz und besaß ein Zwergen-Penthouse drei Straßen weiter. Die stolzen Eltern hatte ihr Wohlstand versöhnt, nur selten sprachen sie vom Studium, umso häufiger von Enkeln. Aber Dao hatte keine Zeit für Familie. Sie arbeitet hart und ließ sich teuer dafür bezahlen.
Aus dem Fahrstuhl stieg ein Mann um die Vierzig. Unter seinem teuren Anzug appetitlich muskulös, ohne aufdringlich kraftstrotzend zu sein. Markantes Kinn, selbstbewußte Bräune, ein Aktenkoffer in der Linken. Er sah ihr direkt in die Augen. »Mrs Nguyen?«
Dao nickte und trat zurück.
Der Mann setzte sich vor ihren Schreibtisch.
»Hatten wir einen Termin?«, fragte Dao.
»Mein Auftraggeber möchte Ihnen ein Angebot machen.«
»Weiß er, daß ich teuer bin?« Dao stellte das Finanzielle gern an den Anfang, erst recht im Angesicht eines Maßanzugs.
»Hätten Sie denn Zeit?«
»Das hängt davon ab, worum es geht.«
»Einen Mord.«
Dao zog eine Augenbraue hoch.
»Sie sind uns von der Londoner Anwaltskanzlei Noble & Timber empfohlen worden.«
Eine Erbschaft war geringer ausgefallen als gedacht und der Berliner Kunde vermutete einen langfingrigen Treuhänder. Dao hatte recherchiert, ein Anwesen in Cornwall, rassige Gäule und Nobelkarossen auf Erbschaftskosten entdeckt. Erfolglos hatte Noble & Timber versucht, den Treuhänder rauszuwinden.
»Ihr Auftraggeber ist kein Deutscher?«
»Der Mord wurde hier verübt.«
»Die Berliner Kriminalpolizei hat eine exorbitant hohe Aufklärungsquote. Sparen Sie sich das Geld für teure Ermittlungen.«
»Mein Auftraggeber ist es nicht gewohnt, passiv zu sein. Er bestimmt gern selbst über die Qualität der Abläufe.«
Dao setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. »Ich soll also der Kripo auf die Finger sehen?«
»Sie sollen vor allem schneller ermitteln.« Der Mann öffnete seinen Aktenkoffer und entnahm ihm einen großen und einen kleinen Umschlag. »Mein Auftraggeber wartet ungern.« Er legte eine behaarte und manikürte Hand flach auf den kleinen Umschlag. »Das hier sind zehntausend Dollar zu ihrer freien Verfügung. Zusätzlich sind soeben fünfzigtausend Dollar auf ihrem Konto eingegangen.«
»Und wenn ich den Auftrag ablehne?«
Der Mann lächelte, öffnete den zweiten Umschlag und schob ihn auf den Schreibtisch. »Unsere Juristen haben einen Vertrag aufgesetzt. Sie müßten auf der letzten Zeile unterschreiben.« Er zog einen Kugelschreiber aus dem Jackett und legte ihn auf den Umschlag.
Dao schob beides zurück. »Sind Sie fertig?«
Er zog einen wattierten Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. »Im Erfolgsfall erhalten Sie einen Bonus. Das heißt, wenn Sie den Täter vor der Polizei finden und meinem Auftraggeber seinen Namen nennen.«
»Und dann? Will er selbst die Gerechtigkeit wiederherstellen, bevor das Recht dazwischenfunkt? Kann es sein, daß Ihr Auftraggeber Russe ist?«
Der Mann lachte knarrend. »Er ist Kanadier und Philanthrop.«
»Reich und ein guter Mensch? Das gibt es nicht«, antwortete Dao.
»In der Reihenfolge schon. Erst kommt das Geld …«
»Und dann die Moral. Altes vietnamesisches Sprichwort.« Dao lehnte sich zurück. »Warum habe ich das Gefühl, daß das alles nicht ganz koscher ist?«
»Seien Sie unbesorgt. Mein Auftraggeber geht nur den direkten Weg und bleibt dabei selbst verborgen.«
»Er will mich mit Geld zunebeln.«
Der Mann schwieg.
»Ich will wissen, auf wen ich mich einlasse und warum er so viel Geld in etwas Vorsprung zu investieren bereit ist.«
»Ich erhöhe auf 100.000 Dollar.«
Dao wies auf die Tür.
Der Mann zog sein Handy hervor, tippte und wischte geduldig und wandte sich schließlich wieder Dao zu. »Wenn Sie ein paar Sachen packen könnten. Unser Chauffeur fährt sie dann zum Flughafen.«
»Wie lange werde ich fort sein?«
»Achtundvierzig Stunden. Es sei denn, Sie möchten den Aufenthalt verlängern. Der Ort, an dem mein Auftraggeber lebt, ist beeindruckend. Wildnis, so weit das Auge reicht. Können Sie reiten?«
»Mit Natur bin ich nicht zu bestechen. Sagen Sie dem Chauffeur, ich erwarte ihn in zwei Stunden.«
Jakob saß in einem Schlachtenseer Biergarten und sah fasziniert auf das schuftende Gebiß von Marie, die einem Berg von Spare rips, nachdem sie sie in farbenfrohe Soßen getunkt hatte, den Garaus machte. Ihre Finger trieften vor Fett, sie schmatzte. Zu ihrer Linken dösten ein hünenhafter Ridgeback, ein bulliger Rottweiler und ein putziger Terrier in der sich senkenden Vorfrühlingssonne.
Er hatte Hektor zwischen Hauben abgeliefert, der tat MMs Untersuchungen auf körperliche Unversehrtheit als unmännlich ab, stieg auf seinen Leopardenimitatsessel und fiel nach Sekunden ins Koma. Bei Jakobs Verabschiedung bellte und zuckte er im Schlaf.
»Kenn ick«, sagte Marie mit vollem Mund, als Jakob ihr das Photo von Iris Gerber zeigte. »Joggt in den teuersten Markenklamotten, die gerade auf dem Markt sind, durch mein Rudel und als der eine oder andere sie beschnuppern will, keift sie los wie ein Waschweib. Hundehasserin Marke Ost. Streit gesucht hat sie.« Sie leckte die Finger geduldig einzeln ab. »Konnte froh sein, daß keiner sie angegriffen hat. Mittendurch, manche Leute haben wirklich eine Vollmeise.« Sie tippte sich eine Fettspur auf die Stirn.
»Und was hast Du gemacht?«, fragte Jakob.
Stirnrunzelnd sah sie ihn an. »Zurückgekeift natürlich, was denkst Du. Grober Klotz, grober Keil. Ich persönlich bin ja hinterhofgeschult. Kindheitsmäßig gesehen. Aber die Zehlendorfer Pfeifen versuchen es. Triebabfuhr, sagt ein Kunde immer. Sieht die Ein-Euro-Jobber-Hundetussi aus wie ein ungewaschenes Opfer und dann wehrt die sich.« Sie lachte mit entblößten Zähnen, ebenmäßig weiß mit Fleischresten garniert. »Die Welt war früher einfacher.«
»Hat sie klein beigegeben?«
»Mit ’nem Anwalt gedroht.« Sie winkte ab. »Aber ich pöbele nicht justinabel. Habe ich von einem Kunden. Schneckchen und Hohlwand kost nix, Schlampe ist teuer.«
»Vorderhaus hilft Hinterhof.«
»Bei gemeinsamen Interessen.« Der Ridgeback stand auf und kratzte sich umständlich. Seine Hoden baumelten im Takt. Er riskierte einen Blick auf den Rippenteller, unauffällig.
»Und gab es ein Nachspiel mit der Frau?«, fragte Jakob.
»Jede Woche haben wir uns getroffen. Wollte keine andere Strecke laufen, und so weit kommt’s noch, daß ich mein Revier aufgebe.«
»Finstere Blicke, böse Worte, oder mehr?«
»Nee, Meister, abgemurkst habe ich sie nicht. Brust raus und den längeren Atem, sonst nüscht. Diese neureichen Tussen halten nicht durch. Aber den Förster hat sie mir auf den Hals gehetzt. Und der hat das Hacke übergeben, seinem Pitbull. Schlimme Sitten, statt ’ne Niederlage hinzunehmen, klimpert man mit den teuren Wimpern und ruft nach männlichem Schutz. Den Pitbull solltet Ihr Euch übrigens mal angucken.«
Waldarbeiter Hacke hatte ihn angelogen, sieh an. Von wegen, kenn’ ich nich’. »Habe schon erlebt, daß der etwas speziell ist.«
Sie lachte wieder und tunkte die letzte Rippe in den Ketchup. »Besonders für knackige Frauenärsche im Auslaufgebiet.«
»Und für pazifistische Amseln.«
Dao haßte es zu fliegen. Aber es ging um einhunderttausend Dollar. Also schob sie das unendliche Meer unter sich in die Obhut von zwei Valium. Daß sie nach fünf Stunden schon wieder die Augen öffnete, zeigte, wie stark ihe Angst war. Immerhin erfuhr sie so, daß der Privatjet, dessen einziger Gast sie war, gen Westen flog. Als sie unter sich das Meer durch eine Wolkenlücke blinzeln sah, griff sie sofort nach der Valiumpackung und nahm drei auf einmal.
Sie war zu klein gewesen, um sich an die Nußschale zu erinnern. Aber immer wieder hatten Nguyens von den Schrecken des Südchinesischen Meeres gesprochen, von ihrer in die Fluten stürzenden Mutter und dem hinterherspringenden Vater. Jeden Sonntag hatte Dao in den kargen Kirchen Oldenburgs Kerzen entzündet und Vaterunser gebetet für ihre ersoffenen Eltern. Inzwischen erschien es ihr, als hätte sie all das gesehen bei geschlossenen Lidern.
Als Dao sich später weigerte, im örtlichen Freibad schwimmen zu lernen, hatte ihr Vater gedroht, sie ende wie ihre leiblichen Eltern. Auf ihre Frage, ob die nicht hätten schwimmen können, antwortete er, keiner von uns. Dao wurde still und verkündete am nächsten Morgen, wenn er ihr erklären könne, warum der Vater dann gesprungen sei, mache sie das Seepferdchen.
Sie blieb Nichtschwimmerin, mied sogar den Beckenrand und jede Badewanne und haßte das Meer. Für seine unendliche Größe, kalte Tiefe und weil es das Grab ihrer Eltern war.
Taumelnd verließ sie schließlich den Jet, um in eine Propellermaschine umzusteigen. Sie erkannte weder das Land noch den Flughafen. Direkt nach dem Start der zugigen Maschine fiel sie erneut in tiefen Schlaf. Irgendwann wurde sie so sanft wie nachdrücklich geweckt, man bot ihr etwas zu essen an. Sie lehnte ab, bat, als sie nicht enden wollende Waldflächen unter sich sah, um eine Flasche Wasser, und versuchte, die Macht des Valiums zurückzudrängen. Immer wieder nickte sie ein, aber als man sie schließlich in einen Hubschrauber umsteigen ließ, ging sie bereits einigermaßen sicher.
Der überflog bis zum Horizont reichende Weiden, Hänge mit Wäldern und zahllose Wasserflächen. Dao hatte keine Ahnung, wo sie gelandet war. Keine Dörfer, keine Autos, nicht einmal Straßen oder Pisten. Keine Reklametafeln, nirgendwo Sprache, nichts, woran man hätte festmachen können, wo sie war.
Der Helikopter setzte schließlich auf einer Landefläche im grünen Nichts auf, ein staubiger Jeep erwartete sie. Es ging über Sand- und Steinpisten, zwei Mal durch Wasserläufe bis an den Rand einer Ranch. Sie durchfuhren ein geöffnetes Tor, auf beiden Seiten erstreckten sich Zäune bis zum Horizont, Pferde und Rinder streiften durch die Weite. Schließlich erschien vor ihnen ein so flaches wie ausuferndes Blockhaus aus mächtigen Rotzedernstämmen. Sein Dach war mit Gräsern bewachsen, große Bäume, die Dao nicht kannte, schützten es nach Norden. Auf die weitläufige Terrasse trat ein Mann mit graumeliertem Haar, muskulös, drahtig und braungebrannt sah er dem Jeep entgegen.
Sie war am Ende der Welt, in den Fängen irgendeines Magnaten. Dao, auch wenn der Kerl schon sehr sexy aussah inmitten seiner roten Stämme und auch für einhunderttausend Euro, Du hast sie nicht alle. Der Jeep hielt, sie stieg aus und ging auf wackeligen Beinen auf den Mann zu.