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München-Manhattan-Emy-was dann?

Louis Franzky

Kapitel 1

Wenn es am Weihnachtsabend in Manhattan ist, ist es der Bonus für die New Yorker, die den größten Teil des Jahres in der Stadt aushalten müssen. Emy lehnte mit ihrem Gesicht an der Scheibe des Autos und hört mit halber Kraft ihres Vaters zu. Der erklärte Marschplan der Familie Laurent für die Weihnachtsfeiertage. Emy verspürte eine Welle Gemütlichkeit über sich herziehen. Abends nach Brooklyn, um die Großeltern zu besuchen. Der erste Weihnachtsfeiertag nach Europa, mit dem in Paris lebenden Teil der Familie das Fest zu verbringen. Sie sehen den Riverside Drive als Emy etwas Erstaunliches sehen, es ist wahrnahm, aber nicht weiter nachdachte. Ein Junge fuhr auf der kleinen Eisbahn Schlittschuh. An diesem Tag, um diese Zeit? Vielleicht ein Muslim oder Jude, mit den weihnachtlichen Sitten und Gebräuchen.

»Wie lange werden wir heute bei Grandma und Grandpa bleiben«, fragte Mathis, der Bruder von Emy.

»Warum? Willst du dein Hosenrätsel heute noch zum NYPD bringen «, ärgerte Dr. Laurent seinen Sohn mit der Frage.

Mathis hatte sich die Adresse eines neuen Bekannten auf seine Jeans geschrieben.

»Ich werde heute Abend noch Fotos bearbeiten.«

Fotografieren war Mathis Können. Redete ihm ein, er solle doch genau das studieren. Hobby nicht zum Beruf gehört, da er dann ja kein Hobby mehr hätte.

»Wir werden nicht länger als neun Uhr bleiben«, antwortete Frau Laurent und beugte sich dabei etwas zu ihrem Sohn vor. »Sie fliegen morgen früh und da sollten sie zeitig schlafen.«

»Gut, das ist gut«, klang es begeistert aus Mathis.

Ein Krieg in Gedanken immer bei der Eisbahn. Wer fährt an diesem Tag und um diese Zeit allein? Sie glauben, die Jungen aus der Schule kennen zu lernen.

»Auch Ihr Lieben.« Dr. Laurent parkte das Auto vor dem Haus seiner Eltern. »Dann lasst uns den französischen Teil der Weihnachtsfeiern begehen. Vielleicht gibt es ja Froschschenkel. «

» Papa «, kam es aus Emys und Mathis Mund.

Schon als Kinder hatte Dr. Laurent ihnen mit diesem Satz Angst und Schrecken eingeflößt. Das Essen bei den Großeltern war für Emy eine Mischung aus gemütlicher, wärmerer und unbedingter Familientradition. Emy bekam von ihrer Großmutter beim Verlassen des Hauses, wie ihr Bruder, ein Couvert überreicht, in der Sicherheit. Sie wollen sich mit einem extra langen Kuss und wünschte den Großeltern eine gute Reise nach Europa wünschen.

»Darf ich vorne sitzen?« Fragte Emy ihren Bruder, ahnend, auch ein Nein von ihm kommen würden. Er blieb kurz stehen, schaute über seine Schulter und sagte:

»Ja, kannst du.«

Emy wunderte sich und stieg neben ihrem Vater in das Auto. Es schneite immer noch. Die Stadt war wirklich etwas ruhiger als sonst um diese Zeit. Dr. Laurent fuhr auch etwas langsamer. Es lag entweder am Schnee oder an Weihnachten.

»Daad, Dad, halt an«, rief Emy plötzlich, aus dem Fenster schauend, als die Laurents gerade auf dem Riverside Drive an der Eisbahn vorbeifuhren. »Halt an!«

»Was ist?« Ihr Vater fuhr sofort rechts ran. »Ist dir der Weihnachtsbraten nicht bekommen? Es gab doch gar keine Frösche. «

Emy drehte sich zu ihrer Mutter um. »Mama, ich kenne ihn.«

»Ja, Emy, ich auch. Er ist dein Vater. «

» Nein, Mama, der Junge auf dem Eis. «

» Der Junge auf dem Eis? «Trotz ihrer blitzgescheiten Auffassungsgabe nicht einmal ahnen, was ihre Tochter meinte.

Der Junge, ich habe ihn schon vorhin gesehen. «

» Emy, alles gut? «

Die Frage ihrer Mutter klang besorgt. Emy hatte sich vom Gurt befreit und die Tür geöffnet. »Mama, ich bin gleich wieder da.«

Emy stieg aus dem Wagen und lief dem Auto in Richtung Eisbahn. Der Klang ihrer Schritte war das Einzige, war zu hören. Diese Ruhe in dieser Stadt war ungewöhnlich. Dr. lehnte sich zurück und auf dem Palm seine Termine zu checken. Mathis betrachtete immer noch seine Hose und erklärt, dass alle in Frage kommenden Nummern angezeigt werden. Der kleine Mann über die Straße und die Straße der Eisbahn ankam:

»Er, Junge!«

Da ist Ethan, der jemand am Rand der Bahn steht. Er drehte sich um. »Er, Mädchen.«

»Was machst du hier?« Sie fragte leise.

»Naja, auch ich fahre Schlittschuh«, stammelte Ethan.

»Das sehe ich, aber am Heiligen Abend und so lange? Trainieren Sie für Olympia oder haben Sie Angst vor dem Essen, das ist bei euch gibt? «

» Nein, ich werde hier bloß Schlittschuh laufen. «

Emy zeigt ihren Kopf leicht zur Seite. »Ich habe dich schon vor drei Stunden gesehen. Ich kenne dich irgendwoher? «

» Wow, du überwachst mich? «Emy lächelte. »Ich kenne dich von der High School«, beantwortete sie ihre Frage selber. Emys Mutter war auf dem Weg zur Eisbahn, um zu fragen, ob das hier länger dauern würde. Sie war nur wenige Schritte von den beiden entfernt, auch Ethan zu ihr umdrehte. Frau Laurent sah dem Jungen ins Gesicht und sagte ohne nachzudenken:

»Wow, das jüdische Christkind auf Eis.« Ethan erschrak, da er nicht wissen konnte, dass diese Frau zu Emy gehörte. »Keine Angst, wir wollen dich nicht entführen. Ich bin die Mutter und wollte nur, ob ich den Rest der Familie holen kann. Er wunderte sich, dass plötzlich Leute an der Eisbahn waren. Er trug eine rote Strickmütze. Ethan begann, die Mütze nervös zurecht zu ziehen. Von weitem konnte man glauben, er sei ein Mädchen. Er trug einen Ski-Anorak, wie man sie in den Alpen trug. Frau Laurent empfand sofort Sympathie für Ethan, aber ahnte augenblicklich, dass für dieses Gefühlsleben seiner Tochter ausging. Wie sehr sie rechthatte, ahnte sie allerdings nicht.

"Mama, ich könnte doch noch etwas bleiben und dann später nach Hause kommen."

"Emy!" Frau Laurent machte eine nickende Kopfbewegung nach vorne. »Es ist 21 Uhr, es ist Weihnachten und kalt ist es außerdem. Kannst du deinen Schlittschuhläufer nicht am Tag und in geschlossenen Räumen wieder treffen? «

» Mum, eine halbe Stunde? «, Fragte Emy, ihre Frage aber schon selber selber beantwortend. Frau Laurent drehte sich zum Auto um, wo ihr Mann und Mathis warteten und sicher auch gleich zur Eisbahn kommen würden.

»Kennt ihr euch?«, Wollte Emys Mutter von den beiden wissen.

»Ja«, kam es aus Emys und zeitgleich »Nein« aus dem Mund von Ethan.

»Oh!« Frau Laurent konnte, ohne viel zu sagen, wahrlich sarkastisch sein. Sie sind eine der einflussreichsten Fachanwältinnen für Medienrecht in New York. Sie können mit drei Sätzen so viel Verwirrung oder Klarheit schaffen, dass viele ihrer Zuhörer nicht schnell genug hören, denken und verarbeiten können.

»Die Antworten habt ihr aber nicht abgesprochen, oder?« Ethan fing an, zu reden.

»Also, ich meine, also ja.«

Mrs. Laurent schaute ihn an und sagte langsam, ganz langsam: »Jaaa, weiter.«

Ethan begann von vorne.

»Also, ich bin erst seit einem Monat wieder hier. Eigentlich bin ich schon aus New York, aber erst seit einem Monat wieder in der Stadt.«

»Ahh.« Mrs. Laurent verfiel immer schneller in den Sarkasmusmodus. »Warst du auf einer Welttournee mit Holiday on ice, oder hattest du anderweitig, beruflich, im Ausland zu tun?«

»Mum!« Emy unterbrach das Verhör ihrer Mutter, da sie bemerkte, wie unsicher der Junge wurde.

»Nein, wir sind erst wieder nach New York zurückgekommen. Also Dad, meine Schwester und ich.«

»Mum!« Emy mischte sich wieder in die Befragung ihrer Mutter ein. »Ich kann doch noch etwas bleiben und komme dann später. Oder ich rufe Dad an, und er holt mich ab.«

»Ohh. Das ist eine sehr gute Idee, Emy.« Mrs. Laurent machte eine ausladende Bewegung mit ihren Armen. »Dein Dad rätselt schon die ganze Zeit, welche Überraschung ihr für ihn zu Weihnachten vorbereitet habt. Fahrdienst für seine Tochter. Er wird vor Freude weinen, wenn er das erfährt. Gut.« Emys Mutter richtete sich auf. »Spätestens in einer Stunde bist du zu Hause.« Zu Ethan schaute sie lächelnd, um ihn zu fragen: »Bist du bewaffnet oder hast du Drogen bei dir?«

»Mum«, fuhr Emy dazwischen.

Er erschrak noch einmal, da er die Ironie nicht erkannte und antwortete schnell. »Nein, also nein, nein bin ich nicht, ich meine, habe ich nicht.«

Mrs. Laurent schaute Ethan an.

»Emy ist sechzehn und ich kenne alle Cops und Staatsanwälte in dieser Stadt. Also schön auf dem Eis bleiben. Wie heißt du eigentlich?«

»Ethan Bishop heiße ich.« Ihm war es heiß unter seiner roten Mütze.

»Bishop?«, wiederholte Mrs. Laurent den Namen und ging zurück zum Auto. Sie stieg in den Wagen. Bevor einer der beiden Laurents im Auto fragen konnte, sagte sie: »Emy hat das Christkind getroffen und du darfst sie, wenn du brav bist, später vom Eis holen.«

Mrs. Laurent hatte sich neben ihren Mann gesetzt. Dr. Laurent schaute sie fragend an. »Schatz, du darfst fahren. Sie möchte heute noch den Salchow lernen.« Dr. Laurent erkannte, dass er keine ausreichende Erklärung von seiner Frau erwarten konnte, und fuhr langsam an.

»Dad«, ertönte es von hinten. »Könnten wir vielleicht an einer Adresse vorbeifahren? Ich glaube, ich kann jetzt lesen, was auf meiner Hose steht.«

»Nein, Mathis, können wir nicht«, erklärte Mrs. Laurent ihrem Sohn. »Dein Vater hat heute Fahrbereitschaft. Und es wäre schön, wenn zumindest Teile unserer Familie am Heiligen Abend zu Hause sind, damit Lucía nicht die Polizei anruft, weil wir spurlos verschwunden sind und keiner ihre chilenischen Rippchen essen will.«

Emy hatte sich auf die Lehne einer Parkbank gesetzt.

»Ich habe dich in der Schule gesehen, dort bist du immer alleine. Meine Freundinnen erzählen die unterschiedlichsten Geschichten über dich und überlegen die ganze Zeit, wie sie dich kennenlernen können.« Ethan schaute an ihr vorbei.

»Ja, naja ich kenne keinen auf der ‚BSGE‘.«

»Willst du niemanden kennen oder will dich keiner kennen?« Emy hatte den Jungen unbewusst in den Pausen an der Schule beobachtet und sich gewundert, warum er immer alleine in der Schule unterwegs war. Sie hatte beobachtet, dass er beim Essen immer einen Tisch suchte, an dem er für sich sitzen konnte. Einige der Mädchen an der BSGE hatten Ethan ins Visier genommen. Er war neu in der Stadt, er sah gut aus und er war unnahbar. So richtig wusste niemand Bescheid.

»Du redest nicht gerne, oder?« Sie fixierte ihn und merkte, dass er sich nicht wohlfühlte. Ethan sprach leise.

»Eigentlich schon. Es ist bei mir momentan alles etwas durcheinander. Normalerweise bin ich nicht distanziert, oder doch, ich weiß es gar nicht.« Sie lächelte ihn an.

»Du hast einen niedlichen Akzent.«

»Kann sein, ich habe ja lange in Deutschland gelebt und da mischt sich die Sprache irgendwann.« Sie lächelte immer noch.

»Cool, ein New Yorker, der keinen Slang spricht.« Sie schaute ihm in sein Gesicht und erkannte, dass er vom Schlittschuhlaufen eine für einheimische Verhältnisse untypische Gesichtsfarbe bekommen hatte. Emy fragte vorsichtig. »Willst du mir vielleicht verraten, warum du so lange auf dem Eis bist?« Er hob den Kopf und blickte über sie hinweg in Richtung Riverside Drive.

»Naja, also eigentlich bin ich gar nicht so ein begeisterter Eislahrer.« Er schaute auf seine Schlittschuhe. Jetzt lachte Emy.

»Gut. Wenn du mit dem Elan bis Sylvester durchhältst, könnte aus dir aber einer werden.« Ethan, musste auch lachen. Sie war froh, dass er ihren Humor verstand. Und dann brach es aus ihm heraus, so, als hätte er eine Ewigkeit darauf gewartet, jemandem seine Geschichte erzählen zu können.

»Naja, also wir, also Dad, Marcia und ich, sind erst seit einem Monat wieder in New York. Ich kenne nicht viele Leute in der Stadt. Meine Eltern haben in München gearbeitet. Deshalb waren wir in Deutschland. Meine Mum ist zwei Tage vor unserer Abreise mit dem Auto verunglückt und im Krankenhaus gestorben. Also sind wir nur zu dritt wieder hier. Dad muss heute in der Klinik arbeiten. Die Eltern meiner Mum sind schon lange tot. Die Eltern meines Vaters leben in der Nähe von Denver. Mein Grandpa hatte vor zwei Monaten einen Skiunfall und kann nicht richtig laufen. Deshalb konnten sie nicht kommen. Ich wollte nicht allein in der Wohnung bleiben.«

Emy starrte Ethan mit großen Augen an und hoffte, dass die Bank, auf deren Lehne sie saß, nicht nachgeben würde. Sie wüsste nicht, wie sie sich dann halten sollte.

»Oh Gott, das tut mir leid.« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Ja, also, ich weiß, es ist schon etwas eigenartig, dass ich Schlittschuh fahre, um diese Zeit. Aber ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen...«. Er beendete den Satz nicht und schaute wieder in Richtung Hudson River.

»Und deine Schwester?« Sie sprach sehr leise. »Wo ist die heute Abend?«

»Sie ist bei meinem Onkel in Kalifornien.«

Emy schaute ihn an und schüttelte dabei leicht ihren Kopf. »Das geht doch nicht. Du kannst, aber du kannst doch nicht die ganze Nacht alleine hier auf dem Eis bleiben.«

Ethan zog seine Schultern leicht nach oben. »Naja, irgendwann werde ich nach Hause gehen und schlafen.«

Emy stand von der Bank auf und lief hin und her. »Oh man, was ist das denn für eine Scheiße?« Sie war aufgeregt. »Was machen wir mit dir?«, fragte Emy mehr sich und nicht auf eine Antwort wartend.

Er sprach flüsternd. »Nein, schon gut, ich werde noch etwas bleiben und dann kann ich ja nach Hause gehen. Morgen früh kommt meine Mum. Also, der Sarg mit meiner Mum und wenn das alles erledigt ist, fliege ich mit meinem Dad auch nach Kalifornien. Marcia hatte mein Onkel gleich zu sich geholt, als wir wieder in New York waren, damit sie abgelenkt wird. Sie ist erst neun und versteht das alles überhaupt nicht.« Ethan sprach immer schneller und bemerkte nicht, wie sie ihn anstarrte. Er erzählte weiter. »Das mit Mum, also, dass sie nach Hause kommen kann, war alles nicht so einfach, weil der Behördenkram in Europa so lange gedauert hat.« Als er seine Worte »nach Hause« hörte, wusste er nichts mehr zu sagen. Sie starrte immer noch in sein Gesicht.

»Du kommst mit«, unterbrach sie die Stille. »Du kommst mit zu mir.«

»Was meinst du mit ‚du kommst mit‘?«, fragte Ethan.

»Na, ganz einfach: Du kommst sofort mit zu mir nach Hause. Du rufst deinen Dad an und sagst ihm, dass du bei uns bist, heute Abend.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, das geht nicht«, wehrte sich Ethan gegen den Beschluss, den Emy schon längst gefasst hatte. »Ich kann doch nicht einfach an Weihnachten zu fremden Leuten gehen. Deine Familie will sicher in Ruhe den Abend verbringen, die kennen mich doch gar nicht.«

»Ethan, Ethan.« Sie war aufgestanden und auf ihn zugegangen. Sie hatte beide Arme auf seine Schultern gelegt. »Du glaubst doch nicht, dass ich jetzt >Gute Nacht< sage, dich hier stehen lasse und zu Hause fernsehen oder irgendetwas anderes tun kann.«

»Aber ich kenne euch doch nicht und das ist, glaube ich, keine schlaue Idee, da einfach bei euch aufzutauchen.«

Emy schüttelte ihren Kopf. »Naja, Mum hast du ja schon kennengelernt«, beruhigte sie den Jungen. »Und nach meiner Einschätzung bist du bei ihr durch den Grundcheck gekommen, sonst hätte sie mich doch nicht hiergelassen. Ethan, du rufst deinen Vater an und ich meine Mum.« Als Emy sah, wie er sein Telefon aus seiner Jacke holte, drehte sie sich um und telefonierte mit ihrer Mutter. »Mum.«

»Ahh, unsere Eisfee!« Mrs. Laurent war immer noch im Sarkasmusmodus. »Emy, du hast doch noch zehn Minuten, oder ist dein Schlittschuhritter weggefahren und hat dich auf dem Eis zurückgelassen?«

»Mum, hör zu, ich kann jetzt nicht viel sagen.«

»Nicht viel sagen?«, unterbrach Mrs. Laurent ihre Tochter. »Bist du einem Geheimdienst beigetreten?«

»Mum, bitte, es ist alles ganz schlimm.«

Und wieder unterbrach Mrs. Laurent ihre Tochter. »Alles ganz schlimm, ist dein Eisprinz verheiratet und seine Frau und die sieben Kinder sind gekommen, um mit ihm Weihnachten auf dem Eis zu feiern?«

»Mum, bitte, ich bringe Ethan mit. Ich erkläre dir gleich alles.«

»Du bringst ihn mit?« Mrs. Laurent fragte vorsichtig. »Und morgen früh wird dann geheiratet? Soll ich die Familie zusammenrufen? Aber einer von euch beiden müsste heute Nacht noch konvertieren.«

»Mum, ich erkläre dir gleich alles. Wir gehen sofort los.« Sie legte auf und fragte Ethan, ob er mit seinem Vater gesprochen habe. Er nickte.

»Mary!« Dr. Laurent rief nach seiner Frau. »Was ist mit Emy?«

Mrs. Laurent hatte sich aus der Küche ein Glass Wein geholt. Sie ging zu ihrem Mann in das Zimmer, wo die große Ledercouch stand und der Fernseher von der Decke hing. Sie setzte sich auf die breite Lehne der Couch und sagte:

»Emy hat einen ausgesetzten Welpen gefunden und bringt ihn mit nach Hause.«

»Einen Welpen?«, wollte Dr. Laurent wissen.

»Naja, im erweiterten Sinn. Sie hat den Jungen vom Eis dabei, wenn sie kommt.«

»Warum?«, fragte der sich vom Fernseher abwendende Dr. Laurent.

»Das will sie uns gleich erzählen.«

»Ist das ein Freund von ihr?«, wollte Dr. Laurent wissen.

»Eigentlich nicht«, antwortete seine Frau nachdenklich. »Irgendetwas Schlimmes ist passiert, hat Emy erzählt.«

»Etwas Schlimmes?« Dr. Laurent setzte sich aufrecht hin und hörte mit voller Aufmerksamkeit zu. »Wie heißt der Junge noch mal?«

»Ethan Bishop«, sagte Mrs. Laurent.

»Ethan Bishop, Ethan Bishop?« Dr. Laurent wiederholte seine Frage.

»Ja, du kennst ihn?« Mrs. Laurent schaute ihren Mann fragend an.

»Nein«, antwortete der Vater von Emy, als er ruckartig von der Couch sprang. »Ich kenne ihn nicht, aber seinen Vater.«

»Wo willst du hin?« rief Mrs. Laurent ihrem Mann nach, der auf dem Weg zum Telefon war.

»Er ist der Sohn von Dr. Bishop, dem Arzt, der vor ein paar Wochen die chirurgische Abteilung im Krankenhaus übernommen hat. Du weißt schon, die Geschichte mit dem Unfall seiner Frau in Deutschland. Ich rufe den Dr. in der Klinik an und frage ihn, was wir machen sollen.«


»Guten Abend, Dr. Bishop, hier ist Dr. Laurent. Unsere Tochter hat ihren Sohn getroffen und kommt gleich mit ihm zu uns. Wir wollten nur wissen, wie wir uns verhalten sollen.«

Während Dr. Laurent mit dem Vater von Ethan sprach, hatte sich Mrs. Laurent in die große Couch gelümmelt und unterhielt sich mit Lucía, der aus Chile stammenden Nanny der Familie.

»Lucía«, begann Mrs. Laurent, die Füße jetzt doch wieder von der Couch nehmend, »wenn du möchtest, kannst du in die Kirche gehen, damit du einen guten Platz bekommst. Wir erwarten noch Besuch, aber darum kann ich mich kümmern.«

»Besuch?« Lucía hasste es, wenn im Haus Laurent unvorhergesehene Ereignisse stadtfanden. »Wen erwarten wir denn am heutigen Abend, Señora?«

»Emy bringt noch einen Freund mit.«

»Einen Freund?« Lucía war streng katholisch und Emy in ihren Augen ein sehr gefährdetes katholisches Mädchen, das es zu beschützen galt. Lucía war die moralische Instanz im Haus Laurent, obwohl sie kein richtiges Mitglied der Familie war. Für die Kinder war sie es dann doch. Sie kannten sie so lange sie lebten und hatten als Kind den gehörigen Respekt vor ihr, den sie weder vor den Eltern, noch den Großeltern aufbrachten. Beide liebten die Nanny wie ihre eigene Familie.

»Ja, einen Freund.«

Lucía war mit der Antwort bei weitem nicht zufrieden und das war ihr anzusehen.

»Ich bleibe heute hier und gehe zur Frühmesse. Was werden Sie heute Abend essen?« Sie fragte es mit ihrer mütterlichen Freundlichkeit.

»Wir haben doch schon gegessen, aber Emys Freund hat sicher Hunger. Der Junge ist den ganzen Abend draußen gewesen und ist Schlittschuh gefahren.« Schon beim Aussprechen des Satzes wusste Mrs. Laurent, das Lucías Unverständnis über den zu erwartenden Besuch durch ihre Aussage nicht kleiner geworden war.

»Schlittschuhe, am Heiligen Abend, dann wird der Junge nicht katholisch sein.«

Mrs. Laurent machte eine leichte Aufwärtsbewegung mit beiden Händen.

»Vielleicht ist ja Jesus nicht über das Wasser gegangen, sondern mit Schlittschuhen gefahren.«

Das reichte Lucía. Sie drehte sich um und ging mit ein paar spanischen Ansagen in Richtung Küche.

Mathis war in das Wohnzimmer gekommen.

»Was machen wir heute noch?«, wollte er von seinen Eltern wissen.

»Nichts, Emy bringt den Jungen noch mit zu uns und wenn du möchtest, kannst du mit uns die Weihnachtsshow ansehen.«

»Nö, das will ich nicht. Ich werde mich um meine Fotos kümmern. Gute Nacht. Was für einen Jungen bringt Emy mit?«, wollte er schon im Gehen wissen.

»Eine Weihnachtsgeschichte, mein Junge«, bekam er von seiner Mutter als Antwort. Mathis wusste: Wenn sie so drauf war, gab es entweder Ärger oder etwas zu Lachen. Er wollte es nicht rauskriegen und ging ohne weitere Fragen zu stellen in sein Zimmer.

Dr. Laurent kehrte zurück. Er ließ sich mit einem breiten Seufzer in die Couch fallen, um seiner Frau zu Berichten, was er gerade mit dem Vater von Ethan am Telefon besprochen hatte. Mrs. Laurent setzte sich neben ihren Mann und schaute ihn von der Seite an. Sie hörte zu und begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen.

»Soll er bei uns bleiben?«, wollte Mrs. Laurent wissen.

»Dr. Bishop ist in einer Stunde zu Hause. Er musste etwas länger in der Klinik bleiben, da es einen Notfall gab. Er hatte seinen Sohn angerufen, der zu Hause saß und ihn gefragt, ob er ihn im Krankenhaus abholen wollte, damit er nicht alleine in der Wohnung sitzen muss. Ethan wollte lieber etwas Schlittschuh fahren und dann zu Hause auf seinen Vater warten. Es wäre schön, hatte Ethans Vater gesagt, wenn er den Jungen auf dem Nachhauseweg bei uns abholen könnte. Ich habe den Dr. eingeladen, auch noch zu uns herauf zu kommen, aber er hat dankend abgelehnt. Also bleibt der Junge bei uns, bis Dr. Bishop anruft, wenn er vor dem Haus steht.«

Mrs. Laurent hatte sich in der Zwischenzeit näher zu ihrem Mann gesetzt und ihren Kopf auf seine Schulter gelegt.

»Er sieht aus wie ein Engel und lebt in der Hölle.« Sie sah durch das bis zum Boden reichende Fenster zu, wie es immer noch schneite.

Emy kam zuerst durch die Wohnungstür, Ethan hinter ihr, mit seinen Schlittschuhen über der Schulter. Mrs. Laurent dachte, wo hatte der Junge denn vorhin seine richtigen Schuhe, da sie diese nicht an der Eisbahn gesehen hatte.

»Guten Abend.« Er stand im Flur der großen Wohnung und schaute sich etwas verlegen um.

»Guten Abend«, sagte Dr. Laurent, indem er mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging. »Ich kenne deinen Vater, ich bin ein Kollege aus dem Krankenhaus deines Vaters.«

Ethan dachte an eine Verschwörung, da es doch kein Zufall sein konnte, was da gerade passierte. Lucía war mittlerweile auch im Flur und nahm ihm seine Schlittschuhe ab und wartete, ihn dabei anschauend. Ethan wusste nicht gleich, was sie von ihm wollte, erinnerte sich an seine Mütze und gab sie ihr.

»Kommt rein«, lud Mrs. Laurent allen im Flur Stehenden ein. »Also, Ethan, du willst wieder ein richtiger New Yorker sein?«, fragte Emys Mutter den Jungen.

»Ja, naja, eigentlich bin ich das ja. Wir waren ja jedes Jahr hier, für ein, zwei Monate.«

»Wo habt ihr in Europa gelebt?«, wollte Dr. Laurent wissen.

»In Deutschland. Dad hat dort für die Army oder so gearbeitet.«

»Deutschland?«, fragte Mrs. Laurent. »Und wo da?«

»In München.« Ethan stand in dem Zimmer mit dem großen Fernseher.

»Setzt euch doch zu uns«, lud Emys Vater seine Tochter und ihn ein. Emy sagte sofort:

»Vielleicht gehe ich mit Ethan in mein Zimmer. Da können wir etwas Musik hören oder so.«

»Ja, gleich«, bremste Mrs. Laurent den Eifer ihrer Tochter. »Aber zuerst sollte Ethan etwas essen.«

»Das muss aber nicht sein«, wehrte sich der Junge.

»Doch, muss es«, bekam er im freundlichsten Anwaltston von Mrs. Laurent als Antwort zurück. »Unsere Lucía hat extra ihren Kirchenbesuch abgesagt, um dich kennenzulernen und dir die besten chilenischen Rippchen zu kochen. Und wenn Lucía am Heiligen Abend nicht zur Kirche geht, kommt das fast einer Exkommunikation gleich. Das wäre nur dadurch zu entschuldigen, wenn du ihre Kochkunst in höchsten Tönen lobst.«

Er war sich noch nicht sicher, ob er die Situation, in der er sich befand, als angenehm empfinden sollte. Aber was war in den letzten Wochen schon angenehm?

Als die Bishops im Herbst von ihrem Jahresurlaub in New York im München zurück waren, stand die Entscheidung fest. Dr. Bishop übernimmt in New York ab Dezember die chirurgische Abteilung im Presbyterian Hospital. Das bedeutet, die Familie wird für immer in ihre Heimat zurückkehren. Alle freuten sich, weil sie in wenigen Monaten wieder in New York leben würden. In München hatte sich die Familie sehr wohl gefühlt. Die Kinder waren dort aufgewachsen, hatten Freunde und kamen sehr gut in Deutschland zurecht. Ethan hatte eine Freundin, eine echte Münchnerin. Laura, die mit ihm die internationale Schule besuchte, hatte sich immer um eine festere Beziehung zu Ethan bemüht. Im Herbst, als die Familie aus dem alljährlichen Urlaub aus New York zurückkehrte, als es feststand, dass es der letzte Urlaub dieser Art sein würde, hatte er das nach der Ankunft in München stolz und sehr glücklich seiner Freundin Laura mitgeteilt. Ethan wunderte sich, warum sie verstört auf diese Nachricht reagierte. Er wunderte sich, dass sich Laura nicht über sein Glück mit ihm freute. Ethan ahnte nicht, dass in ihr gerade eine kleine Welt zusammenbrach. Sie gingen am nächsten Tag zusammen in die Stadt Eis essen, wie sie es schon viele Male getan hatten. Plötzlich zog Laura Ethan den Eisbecher unter dem Löffel weg und schaute den erstaunten Jungen an.

»Ethan, geh nicht weg von hier, bleib in München.«

Ethan, der mit seinem langen Eislöffel etwas verwundert zu Laura schaute, fragte sie:

»Ja, also wie, wie meinst du das?«

»Ich möchte«, fing Laura den Satz ganz langsam an, »ich möchte nicht, dass du aus München weggehst.«

Er sprach sehr gut, eher perfekt Deutsch, aber in dem Moment glaubte er, seine Freundin nicht richtig verstanden zu haben.

»Ich, also ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Er wusste wirklichen nicht, was er sagen sollte. Laura war seine Freundin, aber mehr sein Freund. Er mochte sie sehr, hatte aber nie geglaubt, dass es mit Laura mehr geben könnte, als Freundschaft. Laura schob den Eisbecher wieder unter den Löffel, den er immer noch so hielt wie vor einer Minute.

»Es tut mir leid, Ethan, ich will dich nicht unter Druck setzen.«

Ethan hielt den Löffel immer noch wie festgeklebt in derselben Position. Laura legte ihre Finger auf seine Eis-Löffel-Hand und sagte:

»Ist schon gut, Sweety.«

Als er an diesem Abend zu Hause war, fragte ihn seine Mutter:

»Na, mein Kind, wie war dein Tag?«

Ethan erzählte seiner Mutter vom verrutschten Eisbecher, von Sweety und von der traurigen Laura, die sich gar nicht wie erwartet mit ihm gefreut hat, dass er bald wieder in New York zu Hause ist.

»Ach, herrje!« Seine Mutter rubbelte über seinen Kopf. »Da ist die junge Lady in dich verliebt und du hast es nicht bemerkt.«

»Verliebt?« Er erschrak. »Warum das denn? Wir sind Freunde.«

Mrs. Bishop räumte Lebensmittel in den Kühlschrank. Sie hielt inne und antwortete ihrem Sohn.

»Ja, aber es passiert, dass aus Freunden Paare werden.«

»Das ist absolut nicht nachvollziehbar«, konterte Ethan. »Ich habe ihr keinen Anlass gegeben, sich in mich zu verlieben. Mum, ich glaube, du verstehst da etwas falsch.«

Mrs. Bishop lächelte und versprach, die Sache auf gar keinen Fall seinem Dad zu erzählen.

»Ethan, Ethan?«

»Ja!« Er war in seinen Gedanken verschwunden. Die Stimme von Emy klang wie durch einen dicken Vorhang zu ihm.

»Also, wenn du etwas essen möchtest, wäre es soweit.«

»Ja. Gut.« Er schaute sich vorsichtig im Zimmer um, wo und was er essen solle.

»Ich habe gedacht, du isst in meinem Zimmer«, schlug sie vor. »Da können wir Musik hören und meine Eltern können sich ihre langweilige Weihnachtsschnulze ungestört anschauen.«

»Weihnachtsschnulze?« Fragte Mrs. Laurent, nicht ohne die nötige Ironie erkennen zu lassen.

»Komm, Ethan!« Emy machte eine Bewegung mit ihrem Kopf in Richtung der Tür, wo ihr Zimmer zu sein schien. Er stand auf, ging Emy hinterher, die ihre Zimmertür schon geöffnet hatte. Das Zimmer von Emy war schwach beleuchtet und sah überhaupt nicht so aus, wie er sich das Zimmer einer sechzehnjährigen New Yorkerin vorgestellt hätte. Überall lagen Notenblätter und Stapel aus Zetteln. Unter dem Fenster war eine Art Bank, auf der Zeitschriften abgelegt wurden. Das Zimmer war gemütlich, aber chaotisch.

»Gut, dass ich aufgeräumt habe«, überraschte sie mit ihrer Erklärung. Er dachte, sie hat sicher den Humor ihrer Mutter geerbt, merkte jedoch gleich, dass Emy ihre Erklärung zum Zustand des Raumes ernst meinte. Mitten im Zimmer stand ein Bistrotisch mit drei Stühlen. Darauf waren ein Teller, Besteck und ein Glas Wasser.

»So, es ist angerichtet.« Sie machte mit ihrem Arm eine ausschweifende Bewegung, die mit einem Zeigen in Richtung Tisch endete. Sie setzte sich auf einen der Stühle am Tisch und schob das Wasserglas etwas mehr in Richtung Teller.

»Und du isst nicht?«, fragte er.

»Nein.« Emy strich sich eine Strähne ihrer langen, blonden Haare aus dem Gesicht. »Wir haben bei unseren Großeltern gegessen. Aber iss du, bevor es kalt wird.«

»Wie heißt das Essen?«, wollte er wissen.

»Wie es heißt?« Emy neigte ihren Kopf wieder ein wenig zur Seite, lächelte etwas, »Abendbrot.«

»Nein, also ich meine: Was ist das?« Ethan hatte immer noch Schwierigkeiten, seine Muttersprache fehlerfrei zu sprechen. Die Zeit in Deutschland hatte eine Färbung hinterlassen und manchmal musste er über Formulierungen nachdenken.

»Ach, du meinst, was das ist?«, fragte Emy.

»Ja, eigentlich ja.«

»Das ist chilenisches Rindfleisch und verschiedenes Gemüse. Magst du so etwas nicht?«

»Doch, ja, natürlich.« Ihm war die Situation unangenehm, obwohl er sich in der Gegenwart von Emy wohlfühlte. Er begann zu essen. Sie stand auf und ging zu einem Regal.

»Welche Musik hörst du gerne?« Sie schaute über ihre Schulter zum Tisch.

»Das ist egal. Am besten, du suchst etwas aus, was du gerne hören möchtest.«

»Dann etwas Schranz?« Noch bevor er antworten konnte, lachte sie und Ethan war überzeugt, dass sie ihrer Mutter doch sehr ähnlich war. »Da du aus Deutschland zurückgekommen bist, schlage ich Schubert vor.« Er hatte das Cello in der Ecke des Zimmers gesehen und wunderte sich nicht, dass sie klassische Musik mochte.

»Ja, oder etwas von Rostropowitsch. Aber Schubert, der deutsche Tanz, C-Dur, würde da ja auch passen«, antwortete Ethan, ohne vom Teller aufzuschauen. Emy, die eigentlich mit dem Vorschlag Schubert zu hören, einen weiteren Scherz machen wollte, um die Stimmung aufzulockern, war erstaunt. Sie schaute zu ihm.

»Du weißt, wer Mstislaw Rostropowitsch ist? Du bist der erste Junge, Quatsch, du bist der erste Mensch, den ich kenne, der weiß, wer Rostropowitsch war. Und du magst Schubert?« Ethan aß in aller Ruhe weiter.

»Naja, Rostropowitsch ist ja nicht nur einer der besten Cellisten, er ist ja auch ein begnadeter Pianist. Und er musste in New York leben, obwohl er lieber in Russland wäre. Aber eigentlich höre ich gar nicht viel Musik.«

Sie beobachtete Ethan von der Seite und sah, wie der Junge, nach vorne schauend, langsam aß.

»Ne, sag mal, was hörst du für Musik?«, hinterfragte Emy die Interessen von Ethan.

»Also, ich höre so verschiedene Dinge, bloß eben nicht so sehr Mainstream. Jazz, Klassik, manchmal auch Folk.«

Das ist ja spannend, dachte sie und schob die CD in den Player. Emy ging zu dem Tisch zurück und setze sich auf den Stuhl gegenüber von Ethan, der immer noch aß.

»Dein Zimmer ist sehr entscheidungsfreudig eingerichtet.«

»Entscheidungsfreudig?« Sie lachte. »Meine Mutter und vor allem Lucía behaupten immer, es wäre chaotisch mit einer Tendenz zu schlampig.«

»Nein, nein, ich finde es sehr interessant.« Ethan legte das Besteck auf den Teller, wischte sich mit der Stoffserviette den Mund ab und schaute sich um. »Du hast bestimmt einen Grund dafür, warum die Sachen so daliegen, wie sie daliegen.« Emy war überrascht über die Analyse des Chaos.

»Das werde ich mir merken und bei nächster Gelegenheit als Ausrede benutzen, wenn mich wiedermal jemand auffordert aufzuräumen«, sagte sie. »Wo wohnt ihr?«

»72. in der Nähe des Juilliard, also nicht weit weg von hier.«

»Wow, in der Nähe des Juilliard. Das ist cool.«

Emy war begeistert. Die Juilliard School, das Traumziel eines Menschen, der Musiker, Schauspieler oder Tänzer werden will.

»Da möchte ich auch hin.« Sie schaute verträumt in die Ecke, wo ihr Cello stand.

»Ach ja?« Er saß immer noch an dem Tisch. »Meine Mum hätte auch gerne gesehen, wenn ich dahingegangen wäre.«

»Als Eiskunstläufer? Oh, tut mir leid, Ethan, das habe ich nicht so gemeint.«

»Schon gut.«

Er hob eine Hand.

»Schon gut.« Emy schaute ihn an. »Also, wo hätte dich deine Mum denn gerne auf das Juilliard gesehen?«

»Ich spiele Klavier und das hätte ich dann dort studieren sollen.«

»Und?« Sie war gefesselt, sie hatte einen Seelenverwanden entdeckt.

»Naja, nachdem das mit meiner Mum passiert ist, werde ich auf keinen Fall dort vorspielen.«

»Aber warum nicht?« Emy fragte energisch nach.

»Ich werde nicht in New York bleiben und auch nicht hier studieren. Warum, weiß ich nicht. Aber dass ich dort nicht studieren werde, das weiß ich genau.« Sie wollte gerade mit einem Werbefeldzug für das Konservatorium beginnen, als sein Handy klingelte.

»Sorry!« Ethan zog das Telefon aus seiner Hosentasche und ging ran. »Ja, Dad, ok, bis gleich. - Mein Dad ist da und ich fahre mit ihm nach Hause.«

»Ja, na klar.« Sie stand auf und ging zur Tür. Im Wohnzimmer saßen die Laurents und schauten im Fernsehen eine Weihnachtsshow. Als Emy und Ethan durch die Tür kamen, standen sie auf.

»Fährst du nach Hause?«, fragte Dr. Laurent.

»Ja, also mein Dad ist unten und wartet auf mich. Danke für das Essen.« Er drehte sich zu Emy. »Danke, dass du mich mitgenommen hast.«

Sie lächelte ihn an. »Kein Problem. Wir sehen uns in der Schule.«

»Ja, in der Schule«, wiederholte er die Worte. »Also, noch einmal danke.« Ethan drehte sich um und ging in Richtung Tür, wo Emy wartete, um ihn aus der Wohnung zu begleiten.

»Mach´s gut, Ethan.«

»Ja, du auch.«

Emy schloss die Tür hinter dem Jungen und schaute eine ganze Weile auf diese.

»Emy.« Ihre Mutter stand im Flur.

»Ja, Mum?«

Mrs. Laurent sprach sehr langsam und sehr ruhig. »Warum bist du heute Abend aus dem Wagen gestiegen und zu dem Jungen auf das Eis gegangen?«

Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. »Sag du es mir, Mum.« Als sie keine Antwort bekam, ging sie los und verabschiedete sich mit einem Winken von ihren Eltern. »Gute Nacht.«

Emy hatte schlecht geschlafen. Sie hatte lange über den Abend nachgedacht und fand dann keine Ruhe. Sie stand auf, ging zum Bad und stellte fest: Die Vorfreude auf den Weihnachtstag war nicht so groß, wie sie es als Kind empfunden hatte. Emy freute sich aber auf den Tag, den sie mit der Familie verbringen würde. In der Wohnung war es noch ruhig. Nur aus der Küche waren Geräusche zu vernehmen.

»Ahh, Lucía macht Frühstück.« Wie kann ein Weihnachtstag besser beginnen als bei Lucía? Emy stürmte mit einem »Hola, Lucía« in die Küche. Die Nanny schaute sie verwundert an.

»Warum bist du so zeitig wach? Du kannst es wohl nicht erwarten, deine Geschenke zu bekommen?«

»Ach, Lucía, die Geschenke sind doch nicht so wichtig. Mit dir alleine zu frühstücken ist mein ganzes Weihnachtsglück.« Als sie das sagte, ging sie um Lucía herum und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Du bist eine Charmeurin«, erwiderte Lucía das Kompliment des Mädchens. »Ah, unsere kleine Señorita ist glücklich, weil sie den jungen Herren kennengelernt hat.« Lucía lachte und sah, dass Emy nachdenklich wurde.

»Vielleicht«, sagte Emy, mehr zu sich selber. »Das war ein Notfall, Lucía, nichts Romantisches oder so.«

»Ach, Kind, oft fangen so die Liebesgeschichten an. Ich habe meinen Aldo damals kennengelernt, als er im Laden meines Vaters Schokolade gestohlen hat und dabei erwischt wurde. Aldo war damals zwölf und der schönste Junge in unserer Straße.« Lucía schwärmte immer noch von ihrem Aldo. Aldo war der Mann von Lucía. Er kam in den Siebzigerjahren durch die Militärjunta in Chile ums Leben.

»Ahh!« Lucía tippte sich an ihren Kopf. »Der junge Señor hat gestern Abend seine Schuhe vergessen.«

»Seine Schuhe«, staunte Emy.

»Nein, seine Eisschuhe«, ergänzte Lucía ihre Bekanntmachung.

»Schlittschuhe«, sprach Emy leise vor sich hin. »Lucía!« Emy wurde wieder laut. »Sind meine Ellis schon wach?” Ohne die Antwort abzuwarten, ging Emy aus der Küche zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Mit einem lauten «guten Morgen” weckte sie die beiden Laurents, die noch tief schliefen, überfallartig auf. Mrs. Laurent drehte sich zur Tür, in der ihre Tochter stand.

«Emy, sag nicht, dass du wieder jemanden eingefangen hast”, sprach Mrs. Laurent merklich zerknirscht.

»Dad, du hast doch die Telefonnummer von Dr. Bishop, ich muss Ethan anrufen, ich habe mir aber nicht seine Nummer geben lassen.«

»Emy«, antwortete Mrs. Laurent im Bett sitzend. »Die Bishops haben heute einen schweren Tag, vielleicht lässt du sie besser in Ruhe.«

»Ja, aber Ethan hat seine Schlittschuhe vergessen und vielleicht braucht er sie heute. Er getraut sich doch nicht, hierher zu kommen und sie zu holen.«

»Emy«, setzte Mrs. Laurent erneut an. »Er wird heute bestimmt nicht aufs Eis gehen.«

Emy ließ sich nicht bremsen. »Und wenn doch, wenn sein Vater plötzlich wieder arbeiten muss, oder...«

»Die Nummer liegt am Telefon«, unterbrach Dr. Laurent die Diskussion. »Kann ich noch eine Stunde schlafen? Danke und gute Nacht.« Dr. Laurent drehte sich zu seiner Frau und zog sie sanft wieder auf ihr Kissen.

Emy fand die Visitenkarte von Ethans Vater und wählte die Nummer.

»Bishop«, klang es schon nach dreimal klingeln.

»Guten Morgen, Dr. Bishop, ich bin Emy Laurent. Ethan war gestern Abend bei uns.«

»Ich weiß«, unterbrach sie Dr. Bishop. »Er hat mir erzählt, dass er mitgegessen hat. Danke noch einmal dafür, dass du dich um ihn gekümmert hast.«

»Schon gut, das habe ich gerne getan. Ethan hat etwas vergessen und ich würde es ihm gerne vorbeibringen, wenn ich nicht störe.«

Dr. Bishop antwortete freundlich. »Wir fliegen heute Nachmittag nach Kalifornien.«

»Ich weiß«, sagte Emy, »ich könnte jetzt kommen.«

»Gut, warum nicht. Ich glaube, Ethan schläft noch, aber er muss eh gleich aufstehen. Also komm vorbei, wenn es dir wichtig ist.«

»Ja. Danke und bis gleich. Ach so, Dr. Bishop ich komme zu der Adresse, die auf ihrer Visitenkarte steht?«

Dr. Bishop bejahte die Frage und legte auf.

Emy ging in die Küche zurück und nahm sich einen Muffin.

»Emy«, empörte sich Lucía. »Vor dem Frühstück isst man so etwas nicht.«

»Du hast recht, Lucía, ich muss aber schnell etwas erledigen und bin dann zum Frühstück wieder da. Meine Ellis und Mathis schlafen eh noch.«

»Was erledigen?«, wollte Lucía wissen und verfolgte Emy in ihr Zimmer.

»Ja, ich bringe dem jungen Señor seine Schlittschuhe, die er vergessen hat.«

»Seine Schlittschuhe?« Lucía konnte es nicht glauben. »Will er heute schon wieder fahren?«

»Nein, wahrscheinlich nicht, aber vielleicht doch. Da ich es nicht weiß, bringe ich sie ihm.«

»Was soll ich deinen Eltern sagen, wenn sie dich suchen?«

»Die wissen Bescheid.« Emy nahm sich die Schlittschuhe und machte sich auf den Weg in Richtung 72.

Emy stand vor dem Haus, in dem Ethan wohnte. Der Concierge begrüßte sie freundlich und wünschte ihr frohe Weihnachten. Emy holte einmal tief Luft, nachdem sie die Klingel gedrückt hatte. Die Tür öffnete sich und Dr. Bishop stand vor Emy. Er hielt in der einen Hand ein Telefon, welches er an seine Brust drückte, die andere Hand reichte er ihr und zog sie sanft in die Wohnung.

»Guten Morgen, Emy. Ich muss schnell noch ein Telefonat erledigen. Komm rein, Ethan kommt gleich. Ethan!« Dr. Bishop rief den Namen seines Sohns laut und lang. Er nickte ihr zu und verschwand in einem der Zimmer. Sie stand in dem Flur der Wohnung. Am Ende war ein riesiges, großes Fenster. Links und rechts waren Türen, die in die anderen Räume der Wohnung führten. In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch aus hellem Holz mit jeweils drei Stühlen an den Längsseiten und zwei an den Kopfseiten. Der Flur war dezent eingerichtet. Unter dem Fenster lagen zwei große in Weihnachtspapier eingewickelte Pakete. Geschenke, dachte Emy. Sie lagen so verlassen und unpersönlich da, als hätte sie jemand dort vergessen oder einfach nur abgelegt. Die zwei Pakete waren das einzige, was in diesem Raum an Weihnachten erinnerte.

Die hintere rechte Tür ging auf und der Junge kam in den Flur.

»Emy?«, fragte er sichtlich erstaunt.

Sie sah ihn nickend an. Er trug karierte Shorts, die wohl eine Nummer zu groß waren und ein T-Shirt mit einem Schriftzug in deutscher Sprache.

»Guten Morgen, Ethan, ich bringe dir deine Schlittschuhe. Du hast sie gestern vergessen.«

»Oh, ja, das ist cool. Aber du hättest dir nicht die Mühe machen müssen.« Er nahm ihr die Schlittschuhe ab und legte sie in die Ecke. Dann zog er einen Stuhl von dem großen Tisch und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Er nahm ihr gegenüber Platz.

»Eine schöne Wohnung habt ihr hier.« Sie schaute sich mit einer großen Geste in dem Raum um.

»Du meinst, einen schönen Flur.« Emy lachte. Erst jetzt bemerkte sie, dass vereinzelt Umzugskartons übereinandergestapelt dastanden. »Ihr seid noch nicht ganz fertig mit einräumen.«

Ethan blies seine Backen auf, lehnte sich weit nach hinten und sagte: »Eigentlich schon, aber so richtig interessiert es keinen. Vielleicht nach den Ferien.«

»Ach ja?« Sie achtete sehr darauf, das sensible Thema zu vermeiden. »Du wirst ja heute schon unter der Sonne Kaliforniens wandeln.«

Er nickte. »Wir fliegen heute Nachmittag, aber erst müssen wir zum JFK, meine Mum kommt an. Wir fahren mit ihr zum Mount Hebron, danach wieder zurück zum Airport, und fliegen dann zu meinen Verwandten.«

Emy spürte den Kloß in ihrem Hals und bemühte sich angestrengt, das nicht zu zeigen.

»Wann kommt ihr zurück?« Emy erschrak sich über den Klang ihrer eigenen Stimme.

»Am dritten Januar kommen wir alle nach New York zurück. Am vierten ist dann die Beerdigung von Mum und am fünften müssen wir ja wieder in die Schule.« Er holte tief Luft und Emy merkte, wie es dem Jungen schwerfiel, über das Thema zu sprechen. Dr. Bishop kam aus dem Zimmer zurück, in das er zum Telefonieren gegangen war.

»Guten Morgen, Ethan, wollen wir alle drei frühstücken gehen?« Dr. Bishop breitete seine Arme zu einer fragenden Geste aus und schaute die beiden an.

»Oh, nein, das ist nett, aber ich habe meiner Familie versprochen, zum Frühstück wieder da zu sein«, log Emy. »Ich will Sie auch nicht weiter stören.«

Sie hatte den Satz gerade beendet, als das Telefon klingelte, welches Dr. Bishop immer noch in der Hand hielt. Dr. Bishop meldete sich am Telefon.

»Ja, einen Moment bitte.« Er zeigte auf das Telefon und ging wieder in Richtung des Zimmers, aus dem er gerade gekommen war.

»Er ist ganz schön beschäftigt«, sprach Emy leise in Ethans Richtung.

»Ja, er ist normalerweise um die Zeit gar nicht zu Hause. Das ist etwas verwirrend, ihn bei Tageslicht in der Wohnung zu sehen.«

»Ethan.« Dr. Bishop war zurück. »Das Flugzeug mit Mum ist gelandet.«

Emy schnürte es die Luft ab. Sie sah, wie Ethan den Kopf senkte und leise »ja« sagte. Dr. Bishop stellte sich neben seinen Sohn, schaute auf ihn hinab und legte seine Hand auf seine Schulter.

»Ich werde dann gehen.« Sie stand auf und hoffte, nicht zu stolpern.

Dr. Bishop unterbrach die Stille. »Danke, Emy, und viele Grüße an deine Familie. Wir wünschen euch ein schönes Weihnachtsfest.« Er drehte sich langsam um und ging wieder in Richtung Tür, aus der er gerade gekommen war. Ethan saß immer noch auf seinem Stuhl. Sie schaute über ihn in Richtung Fenster und sah wieder die zwei Pakete, die dort lagen. Sie spürte, wie in ihr Traurigkeit aufstieg.

»Ethan, ich weiß nicht, wie man sich in so einer Situation richtig verhält. Es tut mir so leid und ich würde gerne etwas tun, aber ich weiß nicht, was.« Er stand auf und lächelte sie an.

»Naja, du hast mir ja die Schlittschuhe gebracht.« Er lächelte immer noch.

»Ok, ich werde jetzt gehen.« Emy drehte sich langsam um.

»Ja, danke, dass du vorbeigekommen bist.« Sie hatte die Tür schon geöffnet und war schon fast draußen. Sie ging die zwei Schritte zurück und stand genau vor ihm. Sie nahm ihn in beide Arme, drückte ihn und sagte:

»Alles Gute, Ethan, ich werde den ganzen Tag an dich denken.« Emy ließ ihn los, drehte sich um und ging sehr schnell aus der Wohnung. Bis zum Fahrstuhl schaffte sie es, ohne zu schluchzen. Dann war es egal. Hier konnte sie Ethan nicht mehr sehen. Sie wunderte und ärgerte sich über sich selbst. Warum berührt mich das alles? Ich kenne ihn doch gar nicht. Kenne ihn gar nicht, wiederholten sich die Worte in ihrem Kopf.

Dr. Bishop hatte den Fahrdienst seiner Klinik bestellt, um zum Flughafen zu fahren. Er und sein Sohn saßen hinten im Wagen. Beide schauten stumm aus dem Fenster. Als sie am JFK die verschiedenen Gates abfuhren, beobachtete er das Treiben. Der Wagen wurde langsamer und bog in ein Tor ab, welches zum Innenraum des Gates führte. Ethan sah sofort den großen schwarzen Wagen, der ringsum getönte Scheiben hatte.

»Ist das Mum?«, fragte er erschrocken seinen Vater. Dr. Bishop griff nach der Hand seines Sohns.

»Nein, sie ist noch in der Halle. Dort holen wir sie gleich ab.« Er drehte sich zu dem schwarzen Wagen um, der wartend dort stand. Der Fahrer, der die Bishops zum Flughafen gebracht hatte, drehte sich zu den beiden um.

»Herr Doktor, soll ich auf Sie warten?«

»Ja«, antwortete Dr. Bishop schnell, »wir sind in etwa zwanzig Minuten wieder da. Wollen wir?«, fragte Dr. Bishop seinen Sohn, immer noch seine Hand haltend. Ethan nickte seinem Vater zu und öffnete die Tür des Wagens. Am Eingang der wie ein Lager aussehenden Halle stand ein kleiner Mann im Anzug. Er begrüßte Dr. Bishop und Ethan schnörkellos und bat sie, mit ihm zu kommen. Keiner sprach ein Wort. Ethan schnürte es den Magen zu. Er wollte eigentlich stehen bleiben und seinem Vater sagen, er komme nicht mit. Sie betraten durch eine Stahltür einen großen, hell erleuchteten Raum, in dessen Mitte der Sarg mit Mrs. Bishop stand. Ethan sah den schmucklosen Kasten aus Edelstahl, der wie ein Case aussah. Er stoppte kurz, ging dann auf den Sarg seiner Mutter zu und sagte leise:

»Mum«. Dr. Bishop stellte sich dicht neben seinen Sohn und legte seine Hand auf dessen Schulter. Beide schauten schweigende nach unten. Der Mann, der sie zu dem Raum begleitet hatte, fragte leise:

»Dr. Bishop, würden sie bitte die Dokumente unterschreiben?« Er wies mit seiner rechten Hand in Richtung Schreibtisch, der in der hinteren Ecke stand.

»Kommst du…?«

»Nein.« Ethan unterbrach die Frage seines Vaters. Dr. Bishop nickte und folgte dem Mann alleine zu dessen Schreibtisch. Der Doktor setzte sich mit dem Rücken zugewandt zu Ethan an den Tisch und begann, mit dem Mann zu reden. Ethan ging einen Schritt näher an den Sarg. Er legte zwei Finger seiner rechten Hand behutsam auf das kalte Metall.

Der Tag, an dem Mrs. Bishop verunglückte, begann in München ausgelassen. Dr. Bishop war wie immer früh in das Krankenhaus gefahren. Mrs. Bishop hatte die Kinder geweckt. Marcia saß schon am Tisch in der Küche. Die Küche war das Zentrum der Münchner Wohnung. Sie war kleiner als die in New York, aber die Familie hatte sich gemütlich eingerichtet, für ihre Zeit in München. Hier in der Küche traf sich die Familie und hier wurden alle wichtigen Angelegenheiten diskutiert. Auch die, dass man zwei Tage vor der Heimreise am Abend gemeinsam die Theateraufführung von Marcias Schule besuchen wollte. Die Kinder und Lehrer hatten sich etwas Besonderes zum Abschied für Marcia ausgedacht. Was es war, würden sie allerdings nie erfahren.

Die Kinder waren von der Schule schon befreit und hatten zwei Wochen Ferien, bevor sie in Manhattan wieder in die Schule mussten.

»So, Marcia«, begann Mrs. Bishop, »wann genau fängt die Vorstellung in der Schule an?«

»Wir treffen uns schon am Nachmittag und um neunzehn Uhr ist Einlass und eine halbe Stunde später geht es los.«

»Ethan, kommst du auch?« Fragte Marcia aufgeregt ihren Bruder.

»Natürlich kommt Ethan«, beantwortete Mrs. Bishop die Frage ihrer Tochter. Er sollte erst gar nicht die Chance bekommen, sie zu verneinen.

»Gut, dann treffen wir uns alle in deiner Schule.«

»Ethan«, sprach Mrs. Bishop ihren Sohn direkt an. »Bist du fertig mit dem Kennzeichnen deiner Sachen? Morgen früh kommen die Umzugsleute und wollen den Rest verpacken.«

»Ja, bis auf mich selbst habe ich alles gekennzeichnet. Mum. Ich wollte mich heute noch mit Laura treffen. Sie wird mich fragen, wann wir das nächste Mal nach München kommen.«

»Tja, Ethan, eigentlich gar nicht. Es sei denn, wir entschließen uns, einmal hier Urlaub zu machen. Wie wichtig wäre es dir denn, Laura hier zu besuchen?«

»Naja, also ich mag sie schon, aber, ich weiß nicht genau, wie wichtig es wäre. Wir können ja telefonieren oder Mails schreiben.«

»Ethan, was hältst du davon«, fragte Mrs. Bishop, »wenn du sie nächstes Jahr zu uns nach New York einlädst? Wenn sie möchte und ihre Eltern nichts dagegen haben, könnte sie in den Sommerferien eine oder zwei Wochen zu uns kommen.«

»Mhh.« Er machte einen spitzen Mund. »Keine schlechte Idee, Mum. Ich werde es ihr so vorschlagen.« Ethan war sichtlich erleichtert und der Lösung seines Problems einen Schritt näher gekommen.

»Soll ich jemanden von euch beiden mitnehmen?«, wollte Mrs. Bishop wissen. Marcia sagte:

»Nein, Mum, ich bleibe hier und fahre dann direkt zur Schule.«

»Und du, Ethan?« sie drehte sich um und schaute ihn an. Er überlegte kurz, um dann »nein« zu sagen.

»Ich bleibe hier und treffe mich dann mit Laura.«

»Ok, dann sehen wir uns alle heute Abend in der Schule.« Marcia war schon auf dem Weg zu ihrem Zimmer und rief laut:

»Ok, Mum.« Mrs. Bishop ging zur Wohnungstür, drehte sich mit einem »Ach« um und kehrte noch einmal in die Küche zurück. Er saß immer noch am Tisch. Er hatte einen Fuß auf den Stuhl hochgezogen und stocherte mit seinem Löffel im Müsli herum, um die Rosinen zu finden, damit er sie zuerst essen konnte. Das machte er schon so, seit er Müsli zum Frühstück aß. Er schaute kurz hoch und sah, wie seine Mutter einen braunen Umschlag vom Schrank nahm, den sie vergessen hatte.

»Ich wünsche dir einen schönen Tag, Ethan.« Sie ging zur Wohnungstür und war nicht mehr da.

»Ethan.« Dr. Bishop stand neben seinem Sohn und fasste ihn an der Schulter an. »Wir sind fertig. Mum kommt jetzt zum Friedhof.«

»Ist gut, Dad.« Er ging langsam zwei Schritte zurück. »Komm, wir fahren da hin.«

»Können wir nicht warten und mit Mum mitfahren?« Dr. Bishop biss sich auf seine Oberlippe.

»Können wir, aber wir sollten draußen auf sie warten.«

»Nein.« Ethan schüttelte seinen Kopf. »Nein, ich möchte gerne bei ihr bleiben.«

»Ok.« Dr. Bishop ging zu dem kleinen Mann, sprach mit ihm und kehrte zu ihm zurück. »Mum wird in einen Transporter gebracht und dann fahren wir hinter dem Auto zum Friedhof.«

Zwei Männer in schwarzen Anzügen kamen zu dem Case, verbeugten sich leicht und bewegten ihn dann. Dr. Bishop hatte seinen Arm um die Schulter seines Sohns gelegt und ging so mit ihm hinter dem Sarg in Richtung Ausgang. Die Männer schoben den Sarg in den Transporter, so wie man es bei einem Krankenwagen tat. Ethan und Dr. Bishop beobachteten das Ganze aus dem Auto, mit dem sie gekommen waren. Der Transporter führ los und Dr. Bishop und sein Sohn folgten ihm. Ethan schaute die ganze Fahrt über immer nach vorne, um den Transporter nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie am Mount Hebron angekommen waren, stieg Dr. Bishop aus und ging in das Gebäude am Eingang des Friedhofes. Ethan stieg auch aus und ging zu dem Transporter, der rückwärts an dem Haus geparkt wurde. Er fragte einen der Männer, was jetzt mit seiner Mutter geschehen würde. Sie wird bis zum Tag ihrer Beerdigung hier aufbewahrt, informierten ihn die Mitarbeiter des Friedhofs. Ethan war nicht streng gläubig erzogen worden. Seine Mutter war Jüdin, aber auch nicht sehr oft zur Synagoge gegangen. Er wusste allerdings, dass Juden sehr schnell nach ihrem Tod beerdigt wurden. Ethan wunderte sich, warum es dann bei Mum so lange dauerte. Dr. Bishop kam zu ihm und sagte:

»Wir sind fertig und können gehen.« Der Sarg stand wieder auf einer fahrbaren Vorrichtung. Dr. Bishop ging zu ihm hin, legte seine Hand darauf und sagte etwas, aber Ethan verstand es nicht, da er zu weit entfernt war. Ethan ging zu seinem Vater und legte seine Hand auch noch einmal auf den Sarg.

»Er ist hässlich und hätte Mum nicht gefallen.« Dr. Bishop drehte sich zu seinem Sohn.

»Ethan, es ist nicht ihr Sarg, sie bekommt einen wunderschönen, aus hellem Holz, so wie sie alle hellen Gegenstände aus Holz geliebt hat.« Er nickte und drehte sich um, ohne ein Wort zu sagen, und ging zum Auto.

In der Wohnung hatte Dr. Bishop die gepackten Sachen für die beiden im Flur zurechtgestellt. Sie warteten zum zweiten Mal auf den Fahrdienst, der sie zum zweiten Mal zum Flughafen bringen würde.

»Bist du bereit?« Dr. Bishop lächelte seinen Sohn fragend an. Er schaute sich in der Wohnung um und blieb mit seinen Blicken bei den zwei Paketen hängen. »Ach ja, Weihnachten, Marcias und dein Geschenk stehen dort am Fenster. Mum hat sie in München für euch besorgt. Möchtest du deins noch auspacken, bevor wir fahren?«

»Nein«, antwortete er schnell und wendete sich von den Geschenken ab. »Können wir unten auf den Fahrdienst warten?« Ethan setzte sich, ohne die Antwort seines Vaters zu hören, schon in Bewegung, um die Wohnung zu verlassen.

»Ok, dann warten wir unten.« Dr. Bishop vermied es, in den letzten Wochen so etwas wie Streit aufkommen zu lassen, um Ethan nicht zu belasten. Er spürte aber die leichte Ablehnung seines Sohnes gegen sich. Er ahnte, dass sein Sohn eines Tages mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen kommen würde. Er wusste allerdings nicht, was die Gründe sein würden.

Ethan saß im Flugzeug am Fenster und schaute wortlos in den Himmel. Nach einer halben Stunde schlief er. Dr. Bishop beobachtete seinen Sohn und war froh, diesen Tag hinter sich gebracht zu haben.

Familie Laurent hatte sich im Wohnzimmer versammelt, um Geschenke auszupacken. Emy fand das etwas albern, hatte aber Spaß dabei. Mrs. Laurent war in die Küche gegangen, um Lucía beim Zubereiten des Essens zu helfen. Mrs. Laurents Eltern, Mr. und Mrs. Reeves, die wie jedes Jahr zu Weihnachten in der Wohnung der Laurents das Fest mit der Familie feierten, wurden von ihrer Tochter mit einem Handzeichen in die Küche komplimentiert. Sie erzählte den beiden die Geschichte vom Vorabend und bat sie darum, das Thema nicht anzusprechen. Lucía sagte immer wieder, »der arme Junge« und ergänzte aber gleich:

»Wahrscheinlich ist er nicht katholisch.« Mrs. Laurent legte ihren Arm um Lucías Schulter und sagte:

»Vielleicht haben wir ja Masel tov und in ein paar Jahren kannst du dann Weihnachten koscheres Essen kochen.«

»Ist die Familie jüdisch?«, wollte der Vater von Mrs. Laurent wissen. Emys Mutter schüttelte ihren Kopf.

»Seine Frau war es, Dr. Bishop nicht. Aber darüber müssen wir uns erst Gedanken machen, wenn Emy regelmäßig eine Synagoge besucht.«

Mrs. Reeves sagte: »Übertreibt doch nicht alle. Nur, weil sie mit dem Jungen Mitleid hatte, heißt das doch noch lange nicht, dass sie mit ihm befreundet sein will. Und außerdem hat sie doch ihren Freund aus ihrer Schule.«

»Mutter, du hättest sie gestern sehen sollen. Sie war so fixiert auf den Jungen, ich dachte schon, sie ruft euch noch in der Nacht an, um euch heute zur Verlobung einzuladen. Aber die Verlobung fiel dann aus, weil sie vor dem Frühstück zu ihm gegangen ist.«

»Warum das denn?« Mrs. Reeves schaute ihre Tochter fragend an.

»Wenn ich das wüsste.« Mrs. Laurent leckte einen Löffel ab, den sie aus einer Schüssel unter Protest von Lucía weggenommen hatte. Mr. Reeves schien die Unterhaltung nicht sehr zu interessieren. Sein Kommentar sorgte bei allen in der Küche anwesenden Frauen für ein kurzes Innehalten. Er sagte nur:

»Dann sollten wir den Jungen anrufen und ihn zum Essen mit seinem Vater einladen.“

»Dad!« Mrs. Laurent schaute zu ihrem Vater. »Die sind auf dem Weg zu ihrer Familie nach Kalifornien.«

»Schade, ich hätte den Jungen gerne kennengelernt.« Mathis kam in die Küche.

»Mum, ich hatte euch ja gebeten, mir in diesem Jahr nichts zu Weihnachten zu schenken.«

»Ja«, antwortete Mrs. Laurent auf den Vortrag ihres Sohnes.

»Jetzt habt ihr mir ja die Jacke geschenkt, was so nicht abgesprochen war.« Wieder gab es ein »ja« von seiner Mutter. »Ich hatte mir gedacht, ihr könnt mir die neuen SD-Karten für meine Kamera bezahlen, die ich mir gekauft habe. Ich habe natürlich die Rechnung aufgehoben und so könnt ihr das für eure Steuererklärung verwenden.«

»Oh, mein Sohn, er ist so schlau. Hier steht einer der gefürchtetsten Strafverfolger der Stadt New York in der Küche und mein Sohn will mich in Steuerbetrügereien verwickeln.« Mathis schaute seinen Opa an und fragte:

»Du bist doch im Ruhestand?« Alle lachten und Mr. Reeves machte mit seiner Hand eine winkende Bewegung.

»Mathis!« Mrs. Laurent nahm ihren Sohn an beiden Schultern. »Weihnachtsgeschenke funktionieren doch nur durch Überraschung. Das bedeutet aber nicht, dass der Beschenkte den Schenkenden überrascht.«

»Wie teuer waren denn deine Karten?«, wollte Mr. Reeves von seinem Enkel wissen.

»Naja, 125 Dollar.«

»Dann bekommst du das Geld von mir und ich kann die Rechnung bei der Steuer angeben.« Wieder lachten alle. Mathis und sein Großvater gingen in das Wohnzimmer.

»Machst du dir Sorgen um Emy?«, erkundigte sich Mrs. Laurents Mutter bei ihrer Tochter.

»Nein, Sorgen mache ich mir nicht. Aber Emy ist seit gestern Abend schon etwas verstört.«

»Naja, so eine Geschichte muss ein junger Mensch erst einmal verarbeiten.«

»Ja, Mutter, aber sie kannte den Jungen nur von der Schule, vom Sehen. Heute Morgen hat sie unser Schlafzimmer gestürmt, um von Maximilian die Telefonnummer von Dr. Bishop zu bekommen. Quasi mitten in der Nacht.«

»Was ist der Junge denn für ein Typ?« Mrs. Reeves schaute ihre Tochter fragend an, die eine Grimasse zog und dabei den Kopf hin und her bewegte.

»Kann ich dir nicht sagen, Mutter, er war sehr ruhig. Aber wie soll er auch sein, wenn er gerade von Emy vom Eis entführt wurde? Er war sicher mit der Situation überfordert. Er strahlt so eine bemitleidenswerte Unsicherheit aus. Aber das ist für Mädchen wie Emy noch gefährlicher als Boy Bands, Welpen oder Pferde.«

Mrs. Reeves hatte sich schon immer über ihre Tochter gewundert, wie sie mit wenigen Worten Verwirrung stiften konnte. Aber sie wusste, dass sie nie eine Situation dramatischer empfand oder darstellte als sie wirklich war.

»Wie sieht er denn aus, der Ethan?«

»Oh, Mum!« Mrs. Laurent zog ihre Schultern hoch und breitete ihre Arme aus. »Ein jüdischer Junge, der im Kippakatalog sicher auf der Titelseite erscheinen würde. Schlank, sportlich, lange schwarze Haare, ein süßer Teenager. Mit einem Wort: Gefährlich.«

»Emy hat aber noch ihren Freund?« Mrs. Reeves schaute Emys Mutter immer noch an.

»Ja, bis gestern schon, heute habe ich sie aber noch nicht gefragt.«

»Mary, bitte.« Mrs. Reeves warf ihrer Tochter einen disziplinierenden Blick zu.

»Ja, Mutter, aber sie ist sechzehn und da ändern sich solche Dinge ganz schnell. Vor zwei Jahren wollte sie noch die Bären im Zoo pflegen, in diesem Jahr wollte sie die Tiere mit einer Aktivistengruppe befreien. Nur weil keiner in der Gruppe einen Plan hatte, wie man Bären befreit und sie unterbringt, wurde das Vorhaben verworfen. Du weißt doch, dass Emy gerne hilft, auch dann, wenn dem zu Helfenden gar nicht zu helfen ist. Lass uns zurück in das Wohnzimmer gehen.«

Dr. Laurent saß auf der großen Couch und unterhielt sich mit seinem Schwiegervater. Mathis erklärte Lucía seine Kamera. Lucía machte immer wieder »Ah« und »oh«, ohne das Geringste zu verstehen, was ihr Mathis gerade erklärte. Emy hatte sich auf den Boden gesetzt und lehnte mit dem Rücken an der Couch und schaute irgendetwas im Fernsehen.

Ethan wachte auf und schaute zu seinem Vater, der in einer Zeitschrift las.

»Dad.«

»Ja, Ethan?«

»Können wir nicht woanders wohnen, also vielleicht woanders in New York? Ich möchte nicht wieder in unsere alte Wohnung.« Dr. Bishop legte die Zeitschrift auf den leeren Mittelsitz und drehte sich seitlich zu ihm.

»Naja, es ist nicht so einfach, eine Wohnung in New York zu finden. Und unsere müsste ja dann verkauft werden oder wir müssten einen Mieter suchen. Schnell würde das nicht gehen. Mum hat die Wohnung von ihren Eltern geerbt und hätte sie nie weggegeben.«

»Aber Mum ist nicht mehr bei uns und die Wohnung ohne Mum ist schrecklich.«

»Ich verstehe«, sprach Dr. Bishop zu seinem Sohn. »Aber wir müssen es einfach versuchen. Wir müssen sehen, was ist, wenn Marcia mit zurück ist und möglicherweise hängt sie an der Wohnung. Wir brauchen Zeit, um zu sehen, wie wir alle damit klarkommen.« Ethan resignierte und ärgerte sich über sich selber, weil er dieses Thema angesprochen hatte. »Schlaf noch etwas«, sagte Dr. Bishop zu seinem Sohn, »wir landen erst in zwei Stunden.« Ethan drehte seinen Kopf wieder zum Fenster und schaute hinaus.

Emys Großeltern hatten sich verabschiedet. Dr. Laurent brachte sie nach Hause. Mathis hatte sich bereit erklärt mitzufahren, wenn sein Vater eine der beiden Adressen anfuhr, die auf seiner Hose zu erkennen waren.

»Na, Emy.« Mrs. Laurent setzte sich zu ihrer Tochter auf den Boden und klatschte ihr sachte auf das Knie. »Wie war dein Tag?«

»Mum?« Emy sah ihre Mutter fragend an.

»Ja, ich weiß, du bist den ganzen Abend hier. Aber du warst nicht bei uns.«

» Doch, es war ein wunderschöner Tag, Mum.«

»Was hatte deine Grandma für Schuhe an?«, wollte Mrs. Laurent von Emy wissen.

»Da habe ich nicht drauf geachtet.« Mrs. Laurent lächelte und strich ihrer Tochter mit gespreizten Fingern durchs Haar.

»Emy, beschäftigt dich der Junge?«

»Mum, er hört klassische Musik und in der Wohnung bei ihm lagen zwei Geschenke, die einfach so dahingelegt waren. Er hatte Shorts an, die viel zu groß waren. Er ist so traurig und ich wollte ihm nur helfen.«

»Emy, Emy«, unterbrach Mrs. Laurent ihre Tochter, die immer schneller zu sprechen begann. »Er ist heute bei seiner Familie in Kalifornien und dort ist er nicht alleine. Du hast ihm doch geholfen. Du warst da, als er dich oder irgendeinen Menschen gebraucht hat. Steigere dich da nicht so rein. Du hast das getan, was du in der Situation für ihn tun konntest. Ethan ist schwer angeschlagen. Du musst ihn kennenlernen, wenn er wieder normal denken kann. Ich will doch nur, dass du nicht in eine Situation gerätst, die dir später Sorgen bereitet.«

Emy nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Und woher weißt du, was er für Shorts trägt?«

»Mum.« Emy musste lachen.

»Was hältst du davon, wenn wir in die Küche gehen und alles Süße essen, was nach Acht verboten ist?«

»Oh ja!« Emy lachte wieder und schob sich an der Couch hoch. Sie reichte ihrer Mutter beide Hände und zog sie hoch. Mrs. Laurent sprach mit einer verführerischen Stimme.

»Er sieht ganz schön gut aus.« Mrs. Laurent drehte sich zu ihrer Tochter um, die ihr einen leichten Schubs gab. »Aber besonders gut Schlittschuh fahren kann er nicht.«

»Mum, bitte.« Sie lachte.

»Hat er eine Freundin?«, fragte Mrs. Laurent.

»Das weiß ich nicht. Ich glaube aber kaum. Wann soll er die denn kennengelernt haben?« Emy schüttelte ihren Kopf. »Ich glaube nicht.« Mrs. Laurent schüttelte auch den Kopf, um sie nachzumachen, während sie den Kühlschrank öffnete.

»So ein Junge lernt jeden Tag ein Mädchen kennen, welches gerne seine Freundin sein möchte.«

»Ich glaube nicht, dass er so einer ist«, verteidigte Emy Ethan.

»Vielleicht hat er ja eine vollbusige Blondine in Deutschland, so mit geflochtenen Zöpfen an der Seite.«

»Mum, jetzt reicht es.«

Mrs. Laurent räumte alle Eiseimer und Sprühsahneflaschen aus dem Kühlschrank und stellte sie auf den großen Edelstahltisch, der in der Mitte der Küche stand.

»Was für ein Mann ist denn sein Vater?«

»Och, groß, gutaussehendend und höflich. Ich habe nur zwei, drei Worte mit ihm gesprochen. Er sah müde aus.«

»Und die Wohnung?«, bohrte Emys Mutter weiter.

»Mum, stellst du schon wieder Ermittlungen an?« Mrs. Laurent machte eine Grimasse.

»Ich werde mich doch wohl über meinen zukünftigen Schwiegersohn informieren dürfen.«

»Mum!« Sie versuchte, so ernst wie möglich zu klingen. Mrs. Laurent hatte Eis auf zwei Teller verteilt und leckte den Löffel mit viel Freude ab.

»Vanille ist das Christkind unter den Eissorten«, schwärmte sie. »Emy, ich glaube, du solltest die nächsten Tage einfach genießen und abwarten, was passiert, wenn er wieder zurück ist. Mach dir nicht zu viele Gedanken und denke daran, dass du Ethan in einer Situation kennengelernt hast, in der er nicht so ist wie er ist.«

Mrs. Laurent lehnte sich auf den Küchentisch und aß ihr Eis. Emy lehnte am Kühlschrank, hielt in der einen Hand den Teller mit dem Eis und wedelte mit der anderen Hand und dem Löffel wie ein Dirigent.

»Ich habe so den Eindruck, du willst mir da irgendetwas einreden, Mum.« Mrs. Laurent schaute nicht von ihrem Eis hoch.

»Ach ja? Du springst während der Fahrt aus dem Auto, weil jemand Schlittschuh fährt, bringst ihn mit nach Hause und kaum, dass du aufgewacht warst, läufst du vor dem Frühstück zu ihm. Bei der Weihnachtsfeier mit deiner Familie bist du anwesend, aber nicht dabei. Und du kennst die Unterhose des ach so Uninteressanten. Das alles sind eindeutige Zeichen für mich, dass meine Emy sich überhaupt nicht für den Jungen interessiert.« Jetzt schaute Mrs. Laurent zu Emy hoch und lächelte sie an. »Wenn Ethan gestern auf dem Eis noch einen Eishockeyschläger in der Hand gehalten hätte, hätte ich ihn auch mitgenommen.« Emy musste lachen, verschluckte sich dabei, sagte aber trotzdem:

»Mum, es reicht.«

Dr. Bishop und Ethan waren mit dem Taxi von LA nach Santa Monica gefahren. Sie waren etwas eher gelandet und hatten Bescheid gesagt, dass sie mit dem Taxi kommen. Der Wagen bog in die California Ave ein und Ethan hatte das erste Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, sich auf etwas zu freuen. Mums Bruder Joshua, der Onkel von Ethan, war vor vier Wochen nach New York gekommen, um Marcia zu sich zu holen. Er wollte ihn auch mitnehmen. Nach langem Überlegen hatten sich alle geeinigt, dass er in New York bleibt und auch gleich in die neue Schule gehen sollte. Es war sein erstes Jahr auf der neuen High-School und er sollte nicht zu viel Zeit verlieren. Das Taxi bog am Ende der California Ave in die Auffahrt zu Onkel Joshuas Haus ab. Das letzte Grundstück an der Ecke Ocean Ave. Ein wunderschönes großes Haus, mit Blick auf das Meer. Ethan sah seinen Onkel, seine Tante Jenny und seine Schwester am Ende der Auffahrt stehen. Als Marcia das Taxi sah und ihren Vater und ihren Bruder erkannte, riss sie sich los und lief in Richtung Taxi.

»Dad, Dad«, rief sie beim Rennen. »Ethan!« Sie rief den Namen ihres Bruders so laut, dass sich ihre kleine Stimme überschlug. Dr. Bishop rief noch im Taxi sitzend:

»Marcia, Marcia«, obwohl sie ihn gar nicht hören konnte. Dr. Bishop wischte sich, während er das Taxi bezahlte, mit dem Handrücken über sein Gesicht. Ethan hatte die Tür aufgerissen und war losgelaufen. Er kniete sich hin, damit seine Schwester in seine Arme laufen konnte. Marcia ließ sich fallen und schluchzte immer wieder:

»Ich habe so auf euch gewartet.« Er drückte sie fest an sich und streichelte ihren Kopf. Dr. Bishop hatte das Gepäck in der Auffahrt stehen lassen und war zu seinen Kindern gelaufen. Er kniete sich neben beide und nahm sie in den Arm.

»Ihr dürft mich nie wieder alleine lassen, nie wieder«, bat Marcia. Onkel Joshua und Tante Jenny standen ein paar Meter von den drei Bishops entfernt und wischten sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Herzlich willkommen in Kalifornien.« Onkel Joshua versuchte, die Situation zu entspannen. Tante Jenny hatte ihm in den Arm genommen und streichelte über seinen Kopf.

»Lasst uns erst einmal reingehen«, sagte sie. »Ihr müsst doch Hunger haben, oder habt ihr etwa das fürchterliche Flugzeugessen probiert?« Ethan zog die Schultern hoch.

»Eigentlich habe ich keinen Hunger.«

»Ethan, ich habe mit Tante Jenny für euch gekocht.« Marcia zog an seinem Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken.

»Na, dann sollten wir aber gleich essen und hoffentlich habt ihr auch genug gekocht«, sagte Dr. Bishop und nahm seine Tochter an die Hand. Die Familie lief langsam den etwas ansteigenden Weg zum Haus hinauf. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatten die Bishops wieder ein Gefühl von Familie.

Das gemeinsame Essen fand auf der Terrasse des Hauses statt. Marcia erzählte, was sie alles in den letzten Wochen erlebte und dass sie schon zwei Freundinnen kennengelernt hatte.

»Eine von den beiden ist auch neu hier und spricht nur Koreanisch. Aber sie ist trotzdem nett.« Ethan hörte den Gesprächen zu und empfand es als angenehm, dass ihn keiner etwas fragte. Er roch den Ozean und genoss den warmen Wind. Er fühlte sich wohl. Gestern bin ich noch Schlittschuh gelaufen und heute sitze ich am Ozean. Er dachte über den Tag nach. Ist das nicht zu viel für einen Tag? Er ließ seine Gedanken schweifen. Und dann Emy. Emy, das Mädchen vom Eis. Ethan dachte das erste Mal wieder an sie. Er lächelte. Er stellte sich vor, wie sie wohl in New York mit ihrer Familie in der Wohnung saß und Weihnachten feierte. Dann erinnerte er sich an die Zeitverschiebung und daran, dass sie ja sehr früh aufgestanden sein musste, um ihm seine Schlittschuhe zu bringen. Hatte er sich ausreichend bedankt bei ihr? Emy, ein kluges, hübsches und witziges Mädchen. Ich werde ihr ein Geschenk mitbringen und ihr es in der Schule geben. Er beschloss das mit einer gewissen Vorfreude.

»Marcia.« Tante Jenny sprach die Kleine direkt an. »Kannst du mir in der Küche helfen und Ethan vielleicht sein Zimmer zeigen?«

»Oh, ja!« Begeistert sprang Marcia auf und rannte los. Sie stoppte, drehte sich um und rief: »Ethan, komm, du schläfst gleich neben meinem Zimmer.« Sie war glücklich, ihren Dad und ihren Bruder wieder bei sich zu haben. Als die Kinder im Haus waren, begann Dr. Bishop, der Reihe nach zu berichten, was sich in den letzten Stunden in New York ereignet hatte. Joshua wollte jedes Detail von der Ankunft seiner Schwester wissen. Er saß etwas nach vorne gebeugt und hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Seine Frau hatte einen Arm auf seine Schultern gelegt und hörte Dr. Bishop zu. Sie sah die ganze Zeit auf den Ozean hinaus.

»Ich werde Marcia ins Bett bringen. Sie ist schon sehr früh aufgestanden.«

»Wir wollten ihr die Weihnachtsgeschenke geben, aber sie meinte, sie will auf euch warten und erst morgen die Bescherung machen.« Mit einem Seufzer erhob sich Jenny und ging zum Haus. Dr. Bishop rief ihr hinterher:

»Sag Marcia, ich komme gleich noch zu ihr, wenn sie im Bett ist.« Dr. Bishop und Onkel Joshua unterhielten sich weiter. Marcia kam aus dem Bad und lief in ihr Zimmer. Sie rief laut:

»Ethan!«

»Ja, ich komme«, antwortete er ihr. Er stand unten bei seiner Tante und ging die Treppe hoch zu den Schlafzimmern. Marcia saß schon in ihrem Bett, als Ethan in das Zimmer kam. Dr. Bishop war mit seinem Schwager auch in das Haus zurückgekehrt. Ethans Vater sprach leise: „Ich werde schnell zu Marcia gehen, damit sie dann schlafen kann.“ Jenny lächelte ihren Schwager an, als er nach oben ging. Dr. Bishop lief auf das Zimmer von Marcia zu, als er die Stimmen seiner Kinder hörte. Er konnte durch die offene Tür das Bett sehen, in dem Marcia lag. Ethan saß auf dem Bett und zog seiner Schwester die Decke etwas höher. Dr. Bishop blieb vor der Tür stehen und lehnte sich seitlich von der Tür an die Wand. Er lauschte dem Gespräch seiner Kinder.

»Ethan!« Marcia schaute ihrem Bruder ins Gesicht. »Hast du heute Mum gesehen?«, wollte sie wissen. Er überlegte kurz.

»Ja, Marcia, habe ich.«

»Und wie sah Mum aus?«

»Naja, also ich habe nur den Sarg von Mum gesehen.«

»Und wie sieht der aus?« Ethan bemerkte, wie die Lippen seiner Schwester etwas zitterten.

»Also, es ist ein wunderschöner Sarg, aus hellem Holz«, log er, »so, wie Mum alle Dinge aus hellem Holz liebt. Und er hat sich ganz warm angefühlt.« Marcia klebte förmlich an den Lippen ihres Bruders, um kein Detail zu verpassen von dem, was er berichtete.

»Jetzt ist sie zu Hause und wir sind wieder nicht bei ihr.« Marcia fing an, zu weinen. Dr. Bishop hörte das und ging in das Zimmer seiner Tochter. Als sie ihn sah, stand sie auf und streckte ihre Arme in seine Richtung. »Dad, sie fehlt mir so. Mum fehlt mir so.« Ethan stand auf und ging aus dem Zimmer. Er lief die Treppe hinunter und rannte aus dem Haus. Er schaute auf den Ozean und dachte, das kann doch alles nie wieder gut werden. Wie soll das alles ohne Mum gehen? Das Wohlgefühl vom Nachmittag war mit einem Mal verschwunden. Er wollte nicht mehr so traurig sein. Er hatte Angst, dass ihn das Gefühl nie wieder verlassen würde. Sein Onkel war zu ihm gekommen, stellte sich neben ihn und schaute auch auf den Ozean hinaus.

»Deine Mum hat als kleines Mädchen immer gesagt, sie wird eines Tages dahin gehen, wo das Wasser zu Ende ist. Sie wollte immer wissen, was hinter dem Horizont ist. Ich glaube, sie ist jetzt dort und glücklich, endlich zu wissen, was hinter dem Horizont ist. Ethan, sie war immer sehr stolz auf euch. Wenn sie erlebt hätte, wie stark du in den letzten Wochen warst, hätte sie gedacht, so ist er, mein Ethan. Aber jetzt musst du nicht mehr stark sein. Ethan, sei traurig, sei wütend, sei alles, was du fühlst. Deine Mum ist wieder zu Hause und sie wird immer bei dir sein.«

Er konnte den Ozean nicht mehr sehen. Seine Tränen verwandelten, was er sah, zu einem bunten Allerlei. Onkel Joshua nahm seinen Neffen in den Arm.

»Komm, lass uns zum Haus zurückgehen.« Ethan nickte und lief langsam mit seinem Onkel den Weg zum Haus zurück.

Emy stand am zweiten Weihnachtstag früh auf. Sie ging in die Küche. Lucía war schon am Werkeln.

»Guten Morgen, meine Schöne.« Lucía hatte Emy mit einem für sie typischen Lächeln begrüßt.

»Guten Morgen, Lucía, hast du gut geschlafen?«, wollte Emy wissen.

»Ja«, antwortete die Nanny, sichtlich überrascht von der Frage.

»Was ist für heute geplant?«, erkundigte sich Emy bei Lucía.

»Wir gehen alle zusammen in die Kirche, dann Mittagessen und dann weiß ich nicht, was ihr noch machen werdet.« Lucía holte einen großen, tiefen Teller aus dem Regal, stellte ihn auf den Tisch und schüttete Cornflakes hinein.

»Mhh, Cornflakes.« Emy liebte es, bei Lucía in der Küche zu frühstücken. »Ich glaube, ich werde einfach nur rumgämmeln.«

»Rumgämmeln? Was ist das?«, fragte Lucía.

»Das ist eine schwere Form von Nichtstun, abhängen, chillen.« Lucía lachte.

»Das hast du doch gerade erfunden. Und setz dich zum Essen hin. Wir sind doch hier nicht bei Shake Shack.«

Sie lehnte mit einem Arm auf dem Tisch und aß mit dem anderen die Cornflakes. Zwischendurch streifte sie ihre Haare hinter das Ohr, damit sie ihr nicht in den Teller fielen.

»Lucía, du solltest auch mal rumgämmeln.«

»Ja, das könnte ich machen, aber dann must du für deine Familie kochen.« Dr. Laurent war in die Küche gekommen.

»Ahh, eine illegale Cornflakesparty. Kann man sich da noch einklinken?« Er hatte sich selbst einen Teller aus dem Regal genommen und stellte ihn neben den seiner Tochter.

»Dr. Laurent, wollen sie auch im Stehen essen?«, fragte Lucía schon so, dass man ihr Nichtgefallen hören konnte.

»Ja, Lucía, wir sind eine unkonventionelle Familie und frühstücken an wichtigen Tagen im Stehen.« Lucía schüttelte den Kopf und ging wieder zum Herd, auf dem sie etwas kochte. »Emy, was habt ihr für heute geplant?«, fragte der Doktor seine Tochter.

»Rumgämmeln«, rief Lucía, noch bevor Emy etwas sagen konnte. Dr. Laurent und Emy schauten sich an und lachten laut los.

»Dad, ich weiß nicht und am liebsten wäre mir wirklich rumgämmeln.«

»Warum nicht? Dein Bruder hat für heute ein paar Freunde eingeladen.«

»Bääh.« Sie konnte keinen der Freunde ihres Bruders leiden. »Was wollen die Nerds bei uns?« Emy schaute ihren Vater an.

»Frag ihn, ich kann es dir nicht sagen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Die sollen ja in seinem Zimmer bleiben. Ich will diesen Typen nicht begegnen.«

»Sag das bitte alles deinem Bruder. Ach, Emy, kommt heute nicht Lucas zurück?« Sie zuckte zusammen. Lucas, an den hatte sie überhaupt nicht gedacht. Ihr Freund, seit einem Dreivierteljahr war sie mit ihm zusammen.

»Ja, Dad, er kommt heute zurück.«

»Naja, dann wird er sicher hier vorbeikommen.« Emy zuckte wieder zusammen. Lucas hatte in den letzten zwei Tagen überhaupt nicht in Emys Welt stattgefunden.

»Hast du ein Geschenk für ihn?« Lucías Frage klang besorgt.

»Ja, ich habe ein Shirt für ihn ausgesucht. Aber ich sollte es einpacken, also weihnachtlich. Lucía, kannst du das nicht für mich machen?«

»Kind!« Lucía baute sich vor Emy auf. »Du wirst doch deinem Freund das Weihnachtsgeschenk selber einpacken. Er wird merken, dass du es mit Liebe getan hast.«

»Oder auch nicht«, murmelte Emy. »Ich könnte ihn ja anrufen und ihm sagen, ich sei krank.«

»Genau, du sagst ihm, du hast dich beim Schlittschuhfahren verkühlt und am Weihnachtstag bei deinem frühen Ausflug zu Ethan richtig erkältet.«

Alle drehten sich um und schauten zu Mrs. Laurent, die, ohne von den anderen bemerkt zu werden, in die Küche gekommen war und den Vorschlag ihrer Tochter gehört hatte.

»Mum, könntest du mein Geschenk für Lucas einpacken?«

»Ja warum nicht, ich habe es ja auch gekauft. Aber versprich mir, dass ich nicht auch noch mit ihm heute Abend tanzen gehen muss.«

»Mum, bitte!«

Emy verkündete: »Dann werde ich das Geschenk mal besser gleich einpacken.« Sie ging in ihr Zimmer, nahm das Shirt aus dem Schrank, holte aus dem Wohnzimmer Geschenkpapier und begann, es einzuwickeln. Sie wiederholte die Worte von Lucía:

»Mit Liebe.« Nach dem dritten Versuch, wenigstens geschmackvoll zu verpacken, wollte sie ihr Vorhaben schon beenden, als Lucía ihr zu Hilfe eilte.

»Schau, Kind, so sieht das doch schön aus.« Emy beobachtete die Verpackungskünste ihrer Nanny von der Seite.

»Du könntest bei Macys als Weihnachtsgeschenkeinpackerin reich werden.« Lucía lachte und überreichte Emy das Paket.

»Hast du es auch mit Liebe gemacht?«, wollte es Emy schelmisch wissen. Beide lachten.

Die Laurents waren gerade mit dem Essen fertig, als die Freunde von Mathis eintrafen.

»Booh!« Emy brachte ihr Missfallen noch einmal zum Ausdruck. Mathis flüsterte seiner Schwester ins Ohr: »Kommst du mit zu uns in mein Zimmer?« Sie drehte ihren Kopf weg und zeigte ihrem Bruder einen Vogel. Mathis hielt sie am Arm fest und sprach leise weiter.

»Nick«, - er war einer der Freunde von Mathis - »ist begeistert von dir und vielleicht kannst du dich ja etwas mit ihm unterhalten.«

Emy schaute ihren Bruder an. »Hast du einen an der Esse? Oder hast du deinem Kumpel ein Date mit mir zu Weihnachten geschenkt?«

»Nein.« Mathis ließ seine Schwester wieder los. »Nein, einfach ganz unverbindlich.«

»Einfach ganz unverbindlich? Da habe ich lieber ein ganz unverbindliches Date mit der Statue of Liberty und rede mit der drei Stunden im größten Schneesturm.«

Sie drehte in Richtung ihres Zimmers ab und schüttelte ungläubig ihren Kopf. Ihr Telefon klingelte. Ethan? Emy erschrak darüber, was sie dachte. Dachte, hoffte?

»Hi Süße!« Lucas war dran.

»Na, Urlauber«, versuchte Emy, neutral zu klingen. »Kann ich zu dir kommen?«

»Ja, gerne, wann denn?«

»In einer halben Stunde.«

Sie sagte freundlich: »Ja, ja, komm her.«

»Alles in Ordnung bei dir?«, wollte Lucas wissen.

»Ja, alles ist gut. Ok. Bis gleich.«

Lucas, der Freund von Emy, war ein großer, sportlicher Junge, dessen Familie aus den Südstaaten nach New York gezogen waren. Er entsprach dem Klischee eines Texaners. Zumindest dem Aussehen nach. Er war aber ein netter, gebildeter Junge. Groß, blond, vielleicht etwas zu blond. Aber Emy mochte sein aktives Wesen. Er war immer in Bewegung. Sie hatte ihn mal gefragt, ob er auch beim Schlafen laufen kann. »Das sollte ich mal ausprobieren. Da könnte ich ‘ne Menge Zeit sparen.« Er lachte über sich. Auch das gefiel Emy an ihrem Freund.

Es klingelte an der Tür. Mathis ging hin, um sie zu öffnen. Er erwartete wahrscheinlich noch ein paar seiner Freunde. Aber vor der Tür stand Lucas mit zwei Männern mit einer großen Kiste. Lucas bedankte sich bei den Männern und gab jedem einen Dollarschein.

»He, Alter«, begrüßte Mathis Lucas. »Willst du meiner Schwester eine Waschmaschine zu Weihnachten schenken?«

»Fass mal mit an«, forderte Lucas Mathis auf.

Die zwei hoben die schwer zu scheinende Kiste an und gingen damit in Richtung Emys Zimmer. Mrs. Laurent und ihr Mann kamen in den Flur.

»Hallo, Lucas«, begrüßte Emys Mutter den Jungen. »Ziehst du bei uns ein?« Sarkasmusalarm in höchster Vollendung. »Hast du auch Möbel dabei? In Mathis Zimmer sitzen noch ein paar kräftige Männer. Die könnten beim Tragen helfen.«

»Nein, Mrs. Laurent, das ist das Weihnachtsgeschenk für Emy.«

Lucas musste sich beim Sprechen unter der schweren Last anstrengen. Emy war sich sicher, dass dieser Anblick von ihrer Mutter gespeichert wurde und sie ihn immer wieder zu allen passenden und nichtpassenden Anlässen zitieren wird. »Emy, schau, es weihnachtet sehr. Dein Lucas hat dir einen Stripper mitgebracht.« »Mum!« Emy ging hinter den beiden Jungs in ihr Zimmer und wollte die Tür schließen. Ihre Mutter, die Emys Vater am Arm zog, drängte sich und ihren Mann durch die Tür.

»Lass uns doch bitte dabei sein, wenn der Tänzer gleich aus der Kiste springt«, scherzte Mrs. Laurent. Sie holte tief Luft durch Ihre Nase. Dr. Laurent saß auf Emys Bett und schaute dem Treiben argwöhnisch zu.

»So, Emy, auspacken!«

Lucas war aufgeregter als sie. Sie ging zu dem Paket und begann, es von allen Seiten vom Papier zu befreien. Mrs. Laurent stand am Türrahmen gelehnt und machte Grimassen zu ihrem Mann. Der forderte sie mit Gesten auf, das sein zu lassen. Sie ging zu ihrem Mann und setzte sich auch auf die Bettkante. Dann riss sie die letzte Pappe von der Verpackung ab und da stand eine 60 cm große Büste. Mathis breitete seine Arme aus wie ein Prediger und sagte:

»George Washington! Eine Büste von George Washington! Das ist ja abgefahren.«

Mrs. Laurent lag in Emys Bett und hielt sich ein Kissen vor ihr Gesicht, damit keiner ihr Lachen hörte.

»Mathis, du bist ein Idiot«, rief Emy. »Das ist nicht George Washington, das ist Ludwig van Beethoven.« Emy ging zu Lucas und küsste ihn auf seine Wange.

»Danke, Lucas, das ist ein schönes Geschenk. Ich freue mich.«

»Echt?« Lucas war glücklich.

»Ein passendes Geschenk«, stellte Emy fest. »Immerhin hat Beethoven fünf Cellosonaten geschrieben.«

Dr. Laurent forderte seine Frau durch strenge Blicke auf, bloß nicht freizudrehen. Er sah ihr förmlich an, was sie alles sagen wollte.

»Wo soll Herr Beethoven stehen?«, wollte Mathis wissen. Und wieder nahm Mrs. Laurent das Kissen vor ihr Gesicht. Luca meinte:

«Auf der Bank vor dem Fenster wäre gut.«

»Genau, da kann er den ganzen Tag rausschauen.«

»Mum!« Emy rügte ihre Mutter mit einem Blick.

»Ok. Das sollte Emy entscheiden.« Dr. Laurent unterbrach das Schauspiel, oder besser, die Komödie, bevor seine Frau noch mehr Spaß an der Szene bekam, indem er sie von Emys Bett in Richtung Tür zog.

»Aber Schatz, warte doch!«, protestierte Mrs. Laurent. »Es sind circa acht junge Männer in Mathis Zimmer. Die können den Gipsmann hin und her tragen, bis Emy einen passenden Platz gefunden hat.«

»Mary, kannst du bitte mal mit in die Küche kommen?« Dr. Laurent wartete gar nicht erst die Antwort seiner Frau ab, zog sie zur Tür, obwohl sie protestierte.

»Och, lass mich doch noch ein bisschen bei meinen Kindern und Herrn Beethoven bleiben.«

Mathis verließ auch das Zimmer seiner Schwester.

»He, Lucas, ich habe in drei Monaten Geburtstag. Ich stehe auf Pamela Anderson, nur so als Hinweis.«

Die Jungs lachten und Emy rollte mit ihren Augen. Lucas ging um den Tisch zu Emy und nahm sie in den Arm.

»Na, meine Süße, wie war dein Weihnachten?« In Emys Kopf machte es Klick. Sie entzog sich leicht aus der Umarmung ihres Freundes.

»Ach, naja, wie immer.« Verdammt, ging es ihr durch den Kopf. Auf diese Frage hätte ich mich besser mal vorbereitet, waren ihre Gedanken. Lucas hakte nicht nach und fragte:

»Wollen wir zum Bens gehen?« Das »Bens« war in diesem Jahr der Teenie-Treffpunkt in Manhattan.

»Ja, warum nicht?« Eigentlich mochte Emy diesen Laden nicht. In dieser Situation kam ihr die Einladung wie ein Befreiungsschlag vor. »Warte, ich hole meine Jacke. Ach, Lucas, hier ist dein Geschenk.« Sie hätte beinahe vergessen, ihm das Shirt zu geben. Lucas packte es sofort aus und quittierte das Erhaltene mit einem überzeugenden »cool!«


Ethan saß am zweiten Weihnachtstag früh am Klavier im Haus seines Onkels und spielte ein paar Akkorde. Sein Onkel kam vorbei, lehnte sich auf den Steinway, lächelte und fragte seinen Neffen: »Was spielst du da gerade?«

»Nichts, das sind einfach ein paar Harmonien, einfach so.«

»Das solltest du aufschreiben, Ethan. Schreibst du das für mich auf?«

Ethan wunderte sich, sagte aber: »Na gut, warum nicht?« Seine Mum hatte immer, wenn er verträumt vor sich hin gespielt hatte, bemerkt: »Ahh, mein talentierter Sohn improvisiert sich durch den Tag und bereitet sich auf seine Kariere als Barpianist vor.« Dann lächelte sie und Ethan kehrte schnell wieder zu seiner Übungseinheit zurück.

Die Bishops, Onkel Joshua und Tante Jenny, gingen nach dem Mittagessen lange am Strand spazieren. Marcia rannte immer von einem zum anderen. Sie wollte am liebsten alle an ihre Hand nehmen. Ethan lief etwas hinter der Gruppe. Er schaute immer wieder mal zum Horizont. Auf der Ocean Ave waren viele Menschen unterwegs. Sie lachten und hatten Spaß. Er war eifersüchtig auf ihre Unbekümmertheit. Tante Jenny rief:

»Ethan, wir holen uns oben Eis, kommst du mit?«

»Nein, also, ich möchte lieber am Strand bleiben. Ich warte hier auf euch.«

»Sollen wir dir Eis mitbringen?«

»Nein, nein danke, ich möchte nichts, ich warte hier.« Er ging etwas weiter zum Boardwalk und setzte sich in den Sand. An seinen Füßen lagen kleines Treibgut und ein Stock. Er nahm ihn und stocherte etwas im Sand herum. Da lag ein kleines Stück Holz. Die Rinde war vom Wasser abgeschält. Ethan betrachtete es etwas genauer und stellte fest: Es sieht aus wie ein Fisch. Wie ein Delfin. Ein Delfin? Hatte er nicht irgendwo ein Foto von einem Delfin gesehen? Möglicherweise an einem der Flughäfen oder einer Werbung im Flugzeug. Nein, es fiel ihm wieder ein. Bei Emy im Zimmer war ein großes Foto von einem springenden Delfin an der Wand gewesen. Ein Schwarzweißfoto in einem schwarzen Rahmen. Er nahm das Holzstück und drehte es in alle Richtungen. Es sieht wirklich aus wie ein Delfin. Marcia kam mit einer großen Portion Eis zu ihm und setzte sich.

»Ethan, das Eis ist lecker, ich kann dich aber nicht davon lecken lassen. Du weißt, wegen der Bakterien.«

Er lächelte und strich seiner Schwester übers Haar. »Schon klar, Marcia.«

»Was hast du da in deiner Hand?« Ethan zeigte seiner Schwester das Holzstück. »Oh, das sieht aus wie ein Fisch.« Er lächelte wieder und sagte:

»Ein Delfin.«

Die Bishops verbrachten die Woche bis Silvester mit vielen Spaziergängen am Strand und einem Ausflug zum Disney Adventure Park in Anaheim.

Am dritten Januar war Ethan mit seiner Familie und mit seiner Tante und Onkel Joshua wieder in New York. Morgen ist die Beerdigung, ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Er wollte so lange wie möglich nicht daran denken. Es gelang ihm nicht. Marcia saß im Flur und unterhielt sich mit Onkel Joshua. Dr. Bishop kam dazu.

»Marcia, hier ist noch ein Geschenk zu Weihnachten. Möchtest du es auspacken?« Ethan stand an der Wand und schaute zu.

»Ist das von Mum?«

»Ja. Liebling. Sie hat es in München besorgt.« Antwortete Dr. Bishop mit einem Lächeln.

Marcia schaute alle im Zimmer an und alle nickten ihr zu. Sie ging zu dem Paket und fing ganz vorsichtig an, es auszupacken. »Ein Bazi.« Sie hob den Teddy aus dem Karton. Ein Teddy mit einer Lederhose und einem typisch bayrischen Hut. Marcia und ihre Mutter lachten immer, wenn in München jemand Bazi sagte. »Ein Bazi«, wiederholte Marcia und hielt den Bär mit beiden Händen wie ein Kleinkind vor sich. Dr. Bishop ging zu ihr und fragte:

»Ob er einen Namen hat?«

»Dad, er heißt Bazi.«

»Ach so, ein schöner Name für einen Teddy.«

»Ethan!« Marcia schaute ihren Bruder an. »Willst du dein Geschenk nicht auspacken?«

»Ich wollte erst mal meine Sachen sortieren, später dann vielleicht.« Tante Jenny klatschte, untypisch für sie, wie eine Gouvernante in die Hände. »Es wird Zeit, dass hier mal jemand was zu essen bestellt. Also bitte alle Wünsche an mich. Oder gehen wir essen?« Keiner der anderen wollte noch aus dem Haus gehen. »Gut, dann werde ich eine Bestellliste erstellen. Und jeder darf sich das wünschen, was er will. Auch wenn es sonst nicht erlaubt ist. Marcia, könntest du mir helfen?«

»Ja Tante Jenny.« Marcia lief ihrer Tante hinterher, den Teddy immer in der einen Hand. Dr. Bishop sagte fast flüsternd zu Ethan:

»Was wirst du morgen anziehen?« Ethan hatte sich das auf dem Rückflug überlegt.


»Mum hat mit mir in München einen Anzug für das Frühjahrskonzert an der Schule gekauft. Den werde ich anziehen und den schwarzen Wintermantel.« Dr. Bishop stand vor seinem Sohn, lächelte ihn an und sagte:

»Sie wird bei dir sein und sie wird stolz, sehr stolz auf dich sein.«

04.01.2006


Ethan war schon seit einer Stunde wach. Er war leise im Bad und hatte sich dann angezogen. Seine Tante hatte am Abend seinen Anzug rausgelegt und er hatte ihn schon an. Ethan saß in seinem Zimmer auf dem Bett und hörte Musik. In der Hand hielt er das Holzstück vom Strand und drehte es immer hin und her. Es klopfte an der Tür. Ethan stand auf und sagte leise: »Ja, bitte, ja.« Sein Vater kam in das Zimmer.

»Du bist zeitig wach.«

»Ja, ich war nicht mehr müde.« Dr. Bishop lächelte seinen Sohn an.

»Ethan, ich muss mit dir reden, bevor wir zum Friedhof fahren.«

»Willst du mir Angst machen, Dad?«

»Nein, nein, Ethan. Nein.«

Er sah, dass sein Vater etwas in der Hand hielt. Ein Stück Papier. Dr. Bishop zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ganz nah zu seinem Sohn, der auf der Bettkante saß. Ethan schaute seinen Vater an. Ethan hatte Angst. Dr. Bishop holte tief Luft.

»Am Tag des Unfalls, als Mum mit dem Auto unterwegs war.« Ethan starrte seinen Vater an. »Sie ist in einer Kurve von einem Anhänger mit ihrem Auto an eine Wand gedrückt worden. Der Fahrer des Lkw bemerkte es und ist gleich zu Mums Auto gegangen. Sie konnte ganz normal mit ihm reden. Er versuchte, die Polizei anzurufen. Aber in diesem Waldstück hatte er keinen Empfang mit seinem Telefon. Er ist sofort losgerannt, um Hilfe zu holen. Mum ging es zu der Zeit noch gut.«

Er schaute seinen Vater an und bemerkte nicht, wie ihm Tränen über sein Gesicht liefen.

»Mum hat versucht, mit ihrem Telefon einen von uns zu erreichen. Aber sie hatte auch keinen Empfang. Als der Mann zurückkam, sagte er Mum, dass Hilfe unterwegs sei. Sie sprach immer noch mit dem Mann. Dann kamen die ersten Helfer an der Unglücksstelle an. Sie konnten aber Mum nicht aus dem Auto befreien, weil sie nicht an sie herankamen. Sie mussten auf einen Kran warten. Es waren auch schon zwei Ärzte da und Mum sagte ihnen, dass es ihr nicht mehr so gut ginge und ob sie einen Stift haben könnte. Sie gaben ihr einen Stift. Mum hat zwei kleine Briefe geschrieben. Einen für dich und einen für Marcia und mich.«

»Nein, Dad, hör auf, hör bitte auf.« Ethan legte sich auf sein Bett. Dr. Bishop sprach langsam weiter.

»Mum hat dem Arzt gesagt, du sollst deinen Brief am Tag ihrer Beerdigung bekommen. Marcia soll ihren Brief an ihrem sechzehnten Geburtstag lesen. Wir sollen ihr bis dahin nicht sagen, dass es einen Brief für sie gibt.«

Er stand auf und schrie seinen Vater an. »Wo warst du? Wo warst du? Warum hast du ihr nicht geholfen? Du bist doch Arzt und hilfst doch immer allen. Warum hast du Mum nicht geholfen? Sogar Weihnachten hilfst du anderen Leuten. Warum hast du Mum nicht geholfen?«

Dr. Laurent hatte ihn fest an sich gezogen und drückte ihn so sehr er konnte.

Ethan sah den Brief auf dem Tisch liegen und erkannte den braunen Umschlag, den seine Mutter vergessen hatte, als sie in München die Wohnung verlassen wollte.

»Soll ich bei dir bleiben, wenn du ihn liest?« Er wischte sich mit beiden Händen über sein Gesicht und sagte leise »nein«. Dr. Bishop ging langsam aus dem Zimmer. Ethan schaute auf den braunen Umschlag, der laminiert war. Er setzte sich wieder auf die Bettkante und zog vorsichtig den Brief zu sich. Er atmete schwer und begann zu lesen.

Mein lieber Ethan,

wenn du das liest, habe ich es nicht geschafft, noch einmal mit dir zu sprechen.

Also sage ich dir auf diesem Weg auf Wiedersehen. Die sechzehn Jahre deines Lebens, mein lieber Junge, waren die schönsten Jahre in meinem Leben. Du bist nicht nur für mich eine Bereicherung. Deine Schwester und dein Vater lieben dich. Ich wünsche mir für dich, dass du nicht allzu lange traurig sein musst. Ihr drei werdet in Zukunft den weiteren Weg ohne mich gehen. Ich werde aber immer bei euch sein. Haltet fest zusammen und passt aufeinander auf, dann kann euch nichts passieren. Lieber Ethan, vertraue deinen Entscheidungen im Leben, auch wenn sie nicht immer richtig sein werden. Folge deinen Gefühlen und deinen Ideen. Bleib bei dir und lass dich nicht vom Weg abbringen, welchen du auch immer gehen wirst. Verbring nicht zu viel Zeit mit Erinnerungen. Du hast dein Leben vor dir und deine Gedanken sollen sich mit deiner Zukunft beschäftigen. Träume von morgen und erlebe das Heute. Erziehe deine Kinder später zu Menschen, wie du einer bist. Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn, mein Liebling, mein Ethan. Ich habe dich sehr lieb, Ethan, ich bin bei dir. Leb wohl, mein Kind.

Deine Mum.

Ethan stand mit seiner Schwester und seinem Vater hinter dem offenen Grab seiner Mutter. Er hörte die Worte »Du aber geh nun dem Ende zu. Du wirst ruhen, und am Ende der Tage wirst du auferstehen…« Er starrte in das Grab auf den hellen Holzsarg seiner Mutter. Seine Schwester hatte seine Hand nicht losgelassen. Ethan dachte die ganze Zeit immer nur: Mum, ich bin hier, wir sind hier, wir sind alle hier. Der Kantor sang den 91. Psalm. Ethan versuchte, so viel wie möglich aufzunehmen, um es in seiner Erinnerung später abrufen zu können. Dr. Bishop nahm als Erster die kleine Schaufel und warf mit Marcia zusammen etwas Erde in das Grab. Onkel Joshua und seine Frau hatten kleine Säckchen mit Erde aus Israel, die sie vorsichtig auf den Sarg warfen.

»Ethan, bist du soweit?« Tante Jenny stand dicht neben ihm und fasste ihn an seiner Hand.

»Nein, gleich, gleich.« Sie ließ los und stellte sich zu den anderen. Er nahm die Schaufel, es gelang ihm nicht, mit einer Hand Erde aus der silbernen Schale auf dem Schaufelblatt aufzunehmen. Mit beiden Händen schob er sie in die schwarze Erde und hob sie an. Er kippte sie langsam in das offene Grab und hörte das prasselnde Geräusch, das durch die kleinen Steine erzeugt wurde, als sie auf dem Holz auftrafen.

»Auf Wiedersehen, Mum.« Er sprach so laut er konnte. »Ich gehe. Ich komme dich jede Woche besuchen. Auf Wiedersehen, Mum, du fehlst mir, ich habe dich lieb.« Ethan machte eine Handbewegung zum Grab, drehte sich um und ging an allen Wartenden vorbei zu den Autos, die auf dem Weg geparkt waren.

Mrs. Laurent telefonierte mit einem Klienten, als Emy mit Mathis vom Einkaufen zurückkam. Sie hatten noch ein paar Dinge für die Schule besorgt. Mathis hatte seit Silvester Hausarrest, weil er trotz Androhung verschiedener Strafen am Times Square gefeiert hatte und anschließend in einer Kneipe am Broadway gegen alle Regeln der Vernunft mit seinen Freunden das neue Jahr begrüßte. Mrs. Laurent sah es seit 9/11 nicht gerne, wenn ihre Familie bei großen Veranstaltungen in der Stadt zu Gange war.

»Mum, wir sind zurück.« Mathis meldete seine Schwester und sich bei seiner Mutter an. »Habt ihr für die Schule alles zusammen?« Mrs. Laurent legte das Telefon zur Seite und setzte sich auf einen Stuhl. »Kinder, was haltet ihr davon, wenn wir heute alle zu euren Großeltern fahren, um dort zu essen? Euer Dad kommt erst spät aus der Klinik, Lucía ist bei einer kirchlichen Veranstaltung und ist auch nicht vor Acht zurück.« Mathis schaute seine Mutter an.

»Wann brauchst du eine Antwort?«

»Gleich. Deine Grandma sollte zumindest eine kleine Chance bekommen, etwas vorzubereiten.«

»Ach, sie wissen nicht, dass wir kommen?« Mathis schaute seine Mutter fragend an.

»Nein.« Mrs. Laurent antwortete schnell auf die Frage ihres Sohnes. »Denkst du, sie lassen uns unangemeldet nicht rein?« Mathis erkannte die Spitze in der Frage seiner Mutter und drehte in Richtung seines Zimmers ab.

»Emy, was ist mit dir?«

»Eigentlich wollte ich mich mit Lucas treffen. Wie lange bleiben wir bei den Großeltern?«

»Das kommt darauf an, wie schnell ihr essen könnt.«

»Mum, bitte.« Sie unterbrach ihre Mutter. »Ich könnte mich doch danach noch mit ihm verabreden.«

»Lad ihn doch zu deinen Großeltern ein.« Emy dachte kurz über den Vorschlag ihrer Mutter nach und war sich nicht sicher, ob er ernst gemeint war.

»Meinst du wirklich?«

»Ja, warum nicht? Es wird Zeit, dass dein Grandpa ihn mal richtig verhören kann.«

»Mum, versprich mir, dass nichts Komisches mit Lucas passiert, wenn wir dort sind.«

»Aber natürlich, wenn er außer ‚Guten Tag‘ und ‚Auf Wiedersehen‘ nichts Anderes sagt, könnte das funktionieren.«

»Mum, versprich es mir!«

»Versprochen.« Sie ging in ihr Zimmer, um ihren Freund anzurufen. Mrs. Laurent rief ihre Mutter an.

»Mutter, ich würde mit den Kindern und mit Emys Freund nachher zum Abendessen kommen. Passt euch das?« Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Ok, dann sind wir um Sieben bei euch.«

»Welchen Freund bringt Emy mit«, wollte Mrs. Reeves von ihrer Tochter wissen. »Och, Mum, mal sehen, welcher zu ihrem Abendkleid passt.«

»Mary, woher soll ich wissen, welcher Junge heute mitkommt?« Mrs. Reeves klang streng. »Als wir bei euch waren, hatte sie doch gerade den Sportler kennengelernt.«

»Mum, der, den du meinst, das ist der mit den schwarzen Haaren. Er ist Amateurschlittschuhfahrer und der eigentliche Sportler ist der blonde Hauptfreund von ihr, Lucas. Und Stand der Dinge ist: Der blonde Lucas kommt mit. Und Mum, erkläre bitte Dad, dass wir heute Abend nur über den blonden Lucas sprechen.«

»Mary, du bist ein verrücktes Huhn.« Mrs. Reeves seufzte ein wenig. »Was soll ich zu essen machen?«

»Mum, das überlasse ich dir. Du bist die Köchin in unserer Familie. Bis nachher.« Mrs. Laurent legte auf. Emy kam aus ihrem Zimmer.

»Lucas ist gleich hier und fährt mit uns zu den Großeltern.«

»Gut, fragst du deinen Bruder, ob er sich entschieden hat, seinen Hausarrest hier oder bei den Großeltern weiter abzusitzen?«

»Das mache ich, Mum.«

Lucas war pünktlich da und wartete gleich unten auf die Laurents.

»Guten Abend, Lucas«, wurde er freundlich von Mrs. Laurent begrüßt. »Wo steht dein Wagen?«

»Mein Wagen?« Lucas schaute Mrs. Laurent verstört an.

»Ach Lucas, hör nicht auf meine Mutter!« Emy umarmte ihren Freund und warf ihrer Mutter einen strafenden Blick zu. Die vier stiegen in ein Taxi und fuhren in Richtung Williamsburg zur Berry Street, wo die Reeves ein kleines Haus besaßen. Mr. Reeves empfing die Familie und führte sie in das Esszimmer in der oberen Etage.

»Was verschafft uns denn die Freude eures Besuches?«, fragte Mr. Reeves in die Runde.

»Eine kirchliche Veranstaltung und meine Abneigung zu kochen.« Mrs. Reeves war auch im Esszimmer und begrüßte alle.

»Das Essen ist gleich fertig. Wer hilft mir beim Tischdecken?« Emy zog Lucas hinter sich her und sagte:

»Wir, Grandma.«

Mrs. Reeves hatte Stew gekocht. Allerdings nicht extra für heute, sondern schon für die nächsten Tage. Stew wurde im Haus Reeves nicht traditionell mit Lammfleisch gekocht, sondern mit Fleisch vom Rind. Emy hatte als Kind einmal zu Ostern erfahren, das Irish Stew mit Lamm gekocht wird und drei Tage kein Wort mit ihren Großeltern gesprochen. Wegen der armen Lämmer. Aus politischen Gründen kommt kein Lamm in unseren Topf, hatte sie in der Schule einen Aufsatz geschrieben und dafür eine sehr gute Benotung erhalten.

Mrs. Reeves wendete sich an Lucas.

»Isst du gerne Irish Stew?«

»Mum«, antwortete Mrs. Laurent an Stelle des Gefragten, »Lucas kommt aus Texas. Der isst alles, was vier Beine hat. Außer Tische und Stühle.«

»Mum!« Emy empörte sich wieder über ihre Mutter. Lucas lachte und sagte:

»Ich esse das gerne« und nickte zustimmend mit seinem Kopf. Mathis stocherte etwas in dem Auflauf herum.

»Was ist mit dir?« Mrs. Reeves schaute ihren Enkel fragend an.

»Nichts, ich überlege nur, wie ich meine Fotos für die Schülerzeitung machen soll, wenn ich nach der Schule keinen Ausgang habe.«

»Dann machst du halt Fotos von deinem Hausarrest«, antwortete seine Mutter sofort.

»Mein Leben in der Isolationshaft‘. Dafür bekommst du sicher den Schülerzeitungen-Pulitzerpreis, wenn es den gibt. Oder du nimmst dein Teleobjektiv und fotografierst unsere dekadente Nachbarschaft.«

Mr. Reeves schmunzelte und erinnerte sich an die Zeit, als seine Tochter noch zu Hause wohnte und er selber oft Opfer ihres Sarkasmus war. Mr. Reeves setzte die Unterhaltung fort.

»Und, Lucas, wie hat deine Familie Weihnachten verbracht?«

»Ach, wir waren wie jedes Jahr in Texas bei den Großeltern. Ansonsten haben wir nichts Aufregendes getan.«

»Dann hat Emy ja wohl das aufregendste Weihnachten von allen erlebt.«

»Emy?« Lucas schaute zu Mathis, der ohne den Kopf zu heben weiter aß. Mr. Reeves reagierte am schnellsten.

»Und, Lucas, du spielst Basketball an der High-School?«

»Ja, Mr. Reeves, aber warum hat Emy das aufregendste Weihnachten gehabt?« Er drehte seinen Kopf zu Emy, die neben ihm saß. Sie wollte gerade zum Sprechen ansetzen, wurde aber von ihrer Mutter überholt.

»Weil sie das Hosenrätsel ihres Bruders gelöst hat«, antwortete Mrs. Laurent und warf ihrem Sohn einen Blitz in Form eines Blickes zu.

»Hosenrätsel?« Lucas konnte dem Treiben am Tisch nicht folgen.

»Ich erkläre dir das später«, beruhigte Emy ihren Freund.

Die Laurents fuhren nach dem Essen zusammen mit Lucas wieder nach Manhattan zurück.

»Kommst du noch mit hoch?«, wollte Emy von Lucas wissen.

»Nein, ich werde nach Hause gehen und den Schulkram für morgen zusammensuchen.«

»Ok, wir sehen uns morgen in der Schule.«

»Gute Nacht und danke für die Einladung, Mrs. Laurent.«

»Ja, gute Nacht und viele Grüße an deine Eltern.« Mrs. Laurent verzichtete auf jede Form eines Scherzes und schob ihren Sohn mit einem leichten Schubs in Richtung Haustür. Mathis rief laut:

»Bis Morgen, Alter.« Lucas gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte:

»Das war ein schöner Abend. Bis Morgen in der Schule.« Sie lächelte ihn an, winkte und ging auch zur Haustür. Sie waren noch nicht am Fahrstuhl angelangt, als Emy laut wurde.

»Bist du denn total blöd geblieben?«

»Was, warum das denn?« Mathis breitete seine Arme zu einer fragenden Geste aus.

»Warum hast du das mit Ethan erzählt?«

»Ich habe überhaupt nichts erzählt«, wehrte sich Mathis.

»Lass deinen Bruder in Ruhe!«, mischte sich Mrs. Laurent ein. »Seit seinem Hausarrest leidet der unter einem Gefangenensyndrom.«

»Unter was leide ich?«, wollte Mathis wissen.

»Unter Blödheit«, antwortete Emy auf die Frage ihres Bruders.

»Mum, kannst du mir sagen, was ich gemacht haben soll?«

»Naja, du hast dich wie ein Mathis verhalten. Du hättest das Thema nicht ansprechen sollen, wenn Lucas dabei ist.«

»Warum nicht? Ich dachte, Emy hat es Lucas selber erzählt. Und was ist überhaupt das Problem dabei, es Lucas zu sagen? Es war doch eine Art Notfall. Obwohl mir immer noch keiner gesagt hat, um was es da ging.«

»Um Nächstenliebe, mein Sohn, einfach nur um Nächstenliebe. Schließlich war es der Heilige Abend.« Mrs. Laurent stieg in den Fahrstuhl und Mathis sagte so etwas wie:

»Häää? Was ist, wenn dieser Ethan morgen in der Schule zu Emy geht und Lucas stellt mir Fragen, wer das ist und woher Emy ihn kennt? Soll ich dann etwas von Nächstenliebe erzählen?«

»Oooch, Mum!« Emy konnte sich kaum zusammenreißen. »Kannst du nicht seinen Hausarrest auf den ganzen Tag erweitern?«

»Dann wäre es ja keine Strafe mehr für ihn.« Mathis war sichtlich aufgebracht.

»Emy bringt am Heiligen Abend einen fremden Jungen mit nach Hause. Mir sagt keiner, was das für eine Aktion ist, aber mir sagt auch keiner, wie ich mich Lucas gegenüber verhalten soll.«

»Na, dann fang doch damit an, Lucas zu erzählen, wie du mich mit einem deiner Nerds verkuppeln wolltest.« Mrs. Laurent zog ihre Augenbrauen hoch.

»Oh, wie schade, habe ich da etwas verpasst?« Mathis stürmte durch den Flur in sein Zimmer, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Mrs. Laurent legte ihre Tasche und Jacke ab und unterhielt sich mit ihrer Tochter.

»Na, Emy, du hättest es Lucas vielleicht doch erzählen sollen. Oder gibt es einen Grund, warum du es ihm nicht erzählt hast?«

»Wie meinst du das, Mum?« Emy kannte ihre Mutter zu gut, um nicht die Zweideutigkeit in der Frage zu erkennen.

»Sag du es mir.«

»Nein, Mum, ich wollte nur den passenden Moment abwarten, um ihm das zu erzählen. Und außerdem verstehe ich nicht, was ihr alle für einen Tanz um diese Geschichte macht. Was ist denn passiert?« Sie schaute ihre Mutter an. Die schaute, ohne ein Wort zu sagen, nur zurück.

»Na?«

»Na was?«

»Sag du es mir?« Emy wandte sich genervt von ihrer Mutter ab und wollte in ihr Zimmer gehen.

»Emy.«

»Ja, Mum?«

»Sprich mit ihm.«

»Ja, Mum, das werde ich tun.«

Sie ging an ihren Schreibtisch, als ihr Telefon klingelte. Sie sah auf dem Display eine Nummer, die sie nicht kannte. Sie meldete sich genervt mit »Laurent.«

»Ja, also Entschuldigung, dass ich dich so spät anrufe.«

»Ethan«, unterbrach Emy den Satz. »Wie geht es dir? Es ist schön, dass du anrufst.«

»Ja, also die Nummer war bei uns im Anrufverzeichnis gespeichert, weil du ja meinen Vater angerufen hattest.«

»Ja, ja, das ist in Ordnung. Ich hätte sie dir ja auch gegeben, wenn nicht alles so hektisch gewesen wäre. Aber wie geht es dir?«

»Naja, ich weiß nicht, heute war die Beerdigung meiner Mum. Meine Verwandten aus Kalifornien sind noch bis zum Ende der Woche hier. Ich habe meine Sachen für die Schule zusammengesucht und gemerkt, dass ich keinen aktuellen Stundenplan habe. Ich wollte dich fragen, ob du mir die Zugangsdaten für den Schulserver sagen kannst?«

»Gerne, Ethan, ich schicke sie dir gleich. Geht es dir gut?« Booah, was für eine blöde Frage, schoss es ihr durch den Kopf.

»Ich bin etwas ohne Kraft.« Da war er wieder, Ethans süßer Akzent, den er sich während seiner Zeit in Deutschland eingefangen hatte. Emy lächelte und hatte sich mit dem Telefon auf ihr Bett gelegt.

»Möchtest du über den Tag heute reden, Ethan?«

»Was möchtest du denn wissen?«, fragte er.

»Nein, nein Ethan, wenn du möchtest, erzählst du mir, was du willst und ich höre dir einfach zu.«

Nach kurzem Schweigen fing er an, von der Beerdigung zu erzählen. Sie schloss die Augen und konnte trotzdem ihre Tränen nicht zurückhalten. Die Geschichte von dem Brief seiner Mutter erwähnte er nicht. Als er fertig war, sagte Emy:

»Ethan, deine Mum ist ganz sicher stolz auf dich und deine Schwester.«

»Ja, naja, ich hoffe, dass sie es ist«, flüsterte er fast schon diese Worte. »Wir sehen uns morgen in der Schule.«

»Was hältst du davon, wenn wir zusammen essen?«

»Du meinst, in der Schule?«

»Ja, oder hast du schon etwas Anderes vor?«

»Nein, nein, also gerne, ich meine, das würde ich gerne mit dir tun.«

»Gut, Ethan, ich freue mich auf morgen und auf dich.«

»Ok, dann freue ich mich auch.«

Er verabschiedete sich von ihr und legte auf. Emy schickte eine SMS mit den Zugangsdaten an ihn. Sie stand auf und ging zur Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. In der Küche sprach ihre Mutter mit Lucía. Als die beiden Emy sahen, kam es wie bei einem Chor aus beiden Mündern.

»Emy, was ist los?« Emy atmete schwer aus.

»Ethan.«

»Ethan was?«, fragte Mrs. Laurent ihre Tochter. »Ist er im Eis eingebrochen?«

»Jesus Maria!« Lucía faltete ihre Hände.

»Nein, Lucía, das war ein Scherz«, beruhigte Mrs. Laurent die Nanny. »Also, Emy, was ist los?«

»Ethan hat mich angerufen, weil er keinen Stundenplan hat.«

»Dein Bruder hatte ein halbes Jahr keine Schultasche. Da hast du nur gelacht. Jetzt hat Ethan keinen Stundenplan und du siehst aus wie die Königin der Heuschnupfengeschädigten.«

»Nein, Mum, heute war die Beerdigung seiner Mutter. Ich habe mit ihm darüber gesprochen.«

»Sorry.« Mrs. Laurent ging zu ihrer Tochter und nahm sie in den Arm. Emy fing sofort wieder an zu weinen.

»Mum, er tut mir einfach so leid. Du hast ihn doch gesehen, wie hilflos und einsam er hier saß.«

»Emy.« Mrs. Laurent versuchte, ihre Tochter zu beruhigen. Sie schob sie in Richtung Wohnzimmer.

»Ich koche heiße Schokolade«, rief Lucía, schon einen Topf von der Vorrichtung holend.

Emy setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die große Couch. Mrs. Laurent tat dasselbe.

»Emy.« behutsam begann Mrs. Laurent, mit ihrer Tochter zu sprechen. »Mitleid ist eine sehr wichtige Form der Aufmerksamkeit. Wenn du dich aus diesem Grund um Ethan kümmerst, könnte er es allerdings falsch verstehen. Und das wäre zurzeit für den Jungen das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Er fühlt sich bei dir geborgen und freut sich, jemanden gefunden zu haben. Wenn du ihm dann aber sagen musst, dass du außer Mitleid nichts Anderes für ihn empfindest, wird es für ihn eine böse Überraschung sein. Du solltest das Ganze eher freundschaftlich angehen. Also mit weniger Gefühl.«

»Mum.« Sie schaute ihre Mutter an. »Ich glaube, ich fühle mich zu ihm hingezogen. Wenn ich seine Stimme höre oder an ihn denke, ist das nicht Mitleid. Ich weiß, ich kenne ihn noch gar nicht richtig. Aber als er bei mir im Zimmer saß und so beiläufig Dinge gesagt hat, hat das bei mir alles Spuren hinterlassen.« Mit einem langen »Mhh« verschaffte sich Mrs. Laurent Zeit, um sich die richtige Antwort zu überlegen.

»Emy, der Junge befindet sich in einer absoluten Ausnahmesituation. Er ist mit Sicherheit ein ganz anderer Mensch, wenn er unter normalen Bedingungen lebt. Möglicherweise hätte er mit dir nie ein Wort gesprochen oder wäre unfreundlich zu dir gewesen.«

»Ja, Mum, das mag alles sein. Aber so habe ich ihn nicht kennengelernt. Und wie viele Menschen lernen sich kennen und schlafen am ersten Abend miteinander?«

»Hoppla, heißt das, du übernachtest heute bei ihm?«

»Mum, du weißt, was ich meine.«

»Ja, Kind, ich weiß. Aber geh das langsam an. Es ist für euch beide gefährlich. Für ihn noch mehr als für dich. Wenn du feststellst, dass du ihn nur bemitleidest, wird ihn das schwer kränken. Und das kann er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Und was, wenn er nur glücklich ist, jemanden gefunden zu haben, der ihm zuhört?«

»Mum, dann ist das in Ordnung.« - »Ach ja? Den Eindruck habe ich Momentan gerade nicht. Und was ist mit Lucas?«

»Lucas? Was soll mit dem sein?« Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist mein Freund.« Mrs. Laurent neigte ihren Kopf leicht zur Seite und zog wieder ihre Augenbrauen nach oben.

»Dein Freund? Dein Freund, wie?«

»Naja, einfach mein Freund.« Mrs. Laurent machte ganz schmale Lippen.

»Und Ethan wird dann sozusagen dein Liebhaber?«

»Mum, ich glaube, du bist verrückt. Du verhältst dich manchmal wie ein Teenager.«

»Das wäre schön.« Mrs. Laurent lächelte. »Da könnte ich mir neben deinem Dad noch einen Liebhaber halten. Vielleicht einen Eishockeyspieler.« Lucía stand mit einem Tablett im Zimmer.

»Mrs. Laurent«, sagte sie energisch. »Sie sollten so etwas nicht zu ihrer Tochter sagen.«

»Da hast du recht, Lucía, aber sie hat damit angefangen.« Emy musste über ihre Mutter lachen.

Beide standen auf und setzten sich an den Tisch. Lucía stellte das Tablett ab und ging, etwas Spanisches grummelnd, aus dem Zimmer.

»Mhh, heiße Schokolade.« Mrs. Laurent rieb sich die Hände. »Seitdem dein Eisprinz in unser Leben gefahren ist, gibt es abends immer so schön ungesunde Sachen. Also, ich habe ihn auch gern.« Emy lachte wieder. »Aber Emy, noch mal die Frage. Wie willst du dich Lucas gegenüber verhalten? Du kannst doch schlecht zu ihm sagen: ‚Lucas, ich probiere da gerade etwas aus, und du müsstest mal so lange warten, bis ich herausgefunden habe, was ich will.‘ Obwohl, zu Lucas kannst du das sagen. Er kommt ja aus Texas.«

»Mum, er ist in New York geboren.« Ein tiefes Seufzen war von Emy zu hören. »Ich weiß es nicht. Ich gehe besser schlafen. Ich muss nachdenken.« Mrs. Laurent gab ihrer Tochter einen langen Kuss auf ihre Stirn.

»Auf jeden Fall können beide froh sein, von dir gemocht zu werden. Schade für beide, dass es zur gleichen Zeit geschieht.«

Emy drehte sich noch einmal zu ihrer Mutter um. Die hob beide Hände, als wenn sie sich ergeben wollte. Emy verließ das Zimmer und ihre Mutter schaute ihr lächelnd hinterher.

Sie schaffte das Tablett in die Küche. Lucía war immer noch nicht ins Bett gegangen.

»Ist unsere kleine Emy unglücklich?«, wollte sie von Mrs. Laurent wissen.

»Nein, im Gegenteil. Die Glückliche hat gleich zwei Männer. Na gut, Jungs.«

»Oh, Maria!«, rief Lucía, bekreuzigte sich, faltete wieder ihre Hände und schüttelte sie vor ihrer Brust. »Sie müssen mit dem Kind reden. Was soll das werden?«

»Lucía, Momentahn hilft da kein Reden. Wir könnten höchstens morgen im Telefonbuch nachschauen, ob es einen Exorzisten in New York gibt, der ihr den, oder besser, die Beelzebuben austreiben kann.«

»Um Gottes Willen!« Lucías Stimme wurde ganz ruhig. »Señora, versündigen sie sich nicht.« Lucía verstand nach all den Jahren bei den Laurents immer noch nicht, wann die Señora mit dem Sarkasmusschwert durch die Gegend focht.

Dr. Laurent war in die Wohnung gekommen. Er küsste seine Frau und konnte gerade noch die verstörte Lucía begrüßen, die in ihr Bett gehen wollte.

»Na, Frau Anwalt, wie war dein Tag?« Mrs. Laurent berichtete vom Essen bei den Großeltern und von Mathis‘ kleinem Streit mit seiner Schwester. Und sonst gab es noch die kleine Einleitung zu Emys persönlicher Darbietung von »Kabale und Liebe«.

»Kabale und Liebe?«, wollte Dr. Laurent wissen. »Ja, Schatz, du weißt doch: >Ein Liebhaber fesselt dich, und weh über dich und ihn, wenn mein Verdacht sich bestätigt<.«

»Mary?« Dr. Laurent sah seine Frau zur Höchstleistung auflaufen.

»Ach, Schatz, deine Tochter hat festgestellt, dass eine monogame Lebensweise nicht das Richtige für eine sechzehnjährige New Yorkerin ist.«

»Mary?« Der Ton von Dr. Laurent wurde ernster.

»Nein, Schatz, sie macht sich um die Jungen Sorgen. Er tut ihr leid. Sie glaubt aber, dass sie etwas Anderes für ihn empfindet. «

» Ja, und was ist mit Lucas? Laurent schaute seine Frau an.

»Der muss warten. Er ist Texaner.«

»Mary, Krieg erzählst du?«

»Schon gut, Schatz. Lass uns schlafen gehen. Schatz, würdest du sagen, wenn ich einen jungen Eishockeyspieler hätte kennenlernen würde? «Beide lachten und gehen schlafen.

München-Manhattan-Emy-was dann

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