Читать книгу Angst macht große Augen - L.U. Ulder - Страница 13

10.

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Nets Anruf ging um 20.35 Uhr bei Valerie ein. Die Zielperson hatte pünktlich um 20.00 Uhr das Handy eingeschaltet und ein nur wenige Minuten langes Telefonat in die russische Stadt Grosny geführt. Fast wäre das Gespräch Net und seinem Kollegen Sultan entgangen, weil zur ungünstigsten Zeit einer der Server des Providers abschmierte und dadurch naturgemäß Hektik im Großraumbüro aufkam. Das Kundengeschäft ging nun einmal vor. Im letzten Moment gelang es Net, zwei stille SMS an das Handy zu senden, bevor es wieder abgeschaltet und damit unsichtbar wurde. Mit dem Ergebnis konnte er nicht nur den Sendemasten ermitteln, der lediglich den ungefähren Standort bestimmte, auch wenn der Abstrahlwinkel bekannt war. Durch die Kreuzpeilung wusste er auf wenige Meter genau, wo sich das Handy zum Zeitpunkt des Telefonates befunden hatte.

Valerie überlegte kurz, was sie machen sollte. Der Gesuchte hielt sich anscheinend in einer Wohnung in Hamburg Dringsheide auf. Net gab ihr die genaue Anschrift und wusste auch, dass es sich um die rechtsseitige Wohnung im ersten Stock handeln würde.

Sie beschloss, bis zum nächsten Morgen zu warten, bevor sie die Auftraggeberin anrief, dann wäre die Kleine in der Schule.

*****

„Warum du kommen mit?“

Noch während des ersten Klingelns hatte die Frau das Gespräch angenommen. Jetzt reagierte sie gereizt auf Valeries Ankündigung, sie bis zur Wohnung begleiten zu wollen.

„Weil ich Sie nicht kenne und Sie mich zwischen Tür und Angel angesprochen haben. Und außerdem …“

„Ah, verstehe. Sie wollen erst Geld haben“, unterbrach die Frau Valerie und wechselte dabei in einen herablassenden Tonfall.

„Hören Sie mir zu. Ich will sichergehen, dass wir wirklich Ihren Mann suchen und das ich mich nicht an einer rechtswidrigen Aktion beteilige. Wenn Ihnen das nicht passt, können wir es auch gern ganz lassen.“

„Ist gut, ist gut.“

Sofort schwenkte die Frau um und flötete geradezu die Worte. „Sagen Sie mir, wo wir treffen können uns.“

Eine knappe Stunde später rollte die Detektivin mit ihrem Geländewagen langsam durch die Dringsheide und schaute aufmerksam nach beiden Seiten, ob sie ihre Auftraggeberin irgendwo entdecken konnte. Nachdem sie den Halbbogen durchfahren und fast wieder am Schiffbeker Weg angelangt war, ohne die Frau zu sehen, drehte sie um. Sie passierte die erste, nach links führende Sackgasse, fuhr am Parkhaus vorbei und näherte sich dem großen Parkplatz. Aus dem Schatten eines Baumes trat unvermittelt eine kleine Gestalt an den Straßenrand und schaute in ihre Richtung. Es war die Frau, sie musste allem Anschein nach mit einem Auto gekommen sein. Valerie war einen kurzen Moment verblüfft, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass die Frau allein mit einem Pkw durch die Großstadt fahren könnte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder als Blödsinn.

Sie hielt auf der linken Straßenseite in Höhe der Frau an und öffnete die Fahrertür.

„Sagen Sie, wo Adresse ist, dann gebe ich Ihnen das Geld“, wurde sie grußlos empfangen, wieder in diesem arroganten, herablassenden Ton, über den sich Valerie zunehmend ärgerte.

„Das können Sie nachher noch. Wir gehen zusammen zur Wohnung“, beschied sie resolut.

Valerie stieg aus und schloss die Tür.

„Lassen Sie die Spielchen. Ich will sofort wissen, wo Azamat ist.“

Die Stimme wurde lauter. Valerie fiel auf, dass sie umso flüssiger sprechen konnte, umso mehr sie sich aufregte. Dazu gestikulierte sie heftig mit den Händen.

Die Detektivin schluckte die passende Antwort hinunter. Sie wollte diese nervige Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ohne weiter auf die Frau zu achten, marschierte sie in Richtung des Hauses los.

*****

Das Handy klingelte viele Male, bis Valentin Klein sich bequemte, das Gespräch anzunehmen. An der Rufnummer hatte der russisch-stämmige Immobilienmakler sofort erkannt, wer dran war. Der Anruf kam für sein Empfinden viel zu früh.

„Habt ihr es schon wieder versaut?“

„Nein“, antwortete der Anrufer schwer atmend auf russisch.

„Diese verdammte Detektivin will nicht abhauen. Sie steht mit Rimma an der Straße und quatscht rum, dass sie mit zur Wohnung will.“

„Dann lasst euch was einfallen. Das kann ja nicht so schwer sein.“

„Sollen wir sie platt machen? Den Jungen juckt es schon in den Fingern.“

„Seid ihr verrückt? Wir haben schon genug Aufsehen erregt. Denkt daran, ihr seid Rimmas Brüder. Haut ihr meinetwegen welche auf die Fresse, wenn sie ihr die Wohnung gezeigt hat. Aber so, dass sie es keiner mitbekommt und sie keinen Krach schlagen kann. Und dann schnappt ihr euch den Dulli und bringt ihn mit, wie wir es besprochen haben. Dort wird keiner umgelegt. Die Trottel in der Wohnung werden die Schnauze halten. Die haben viel zu viel Angst.“

Der bullige Klein beendete das Gespräch und schüttelte verärgert den Kopf. Der Mann, der im Alter von knapp Vierzig mit gefälschten Papieren, die ihn als Spätaussiedler auswiesen, nach Deutschland gekommen war, bewegte sich geschickt in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der ehemalige Kampfsportler beherrschte neben russisch sehr gut deutsch und genauso gut englisch. Nach etlichen Jahren beim Militär bewarb er sich mit Offiziersdienstgrad bei der Spezialeinheit der russischen Streitkräfte, der GRU Speznas. Nach knallharter Ausbildung führte er eine kleine Einheit, die zur asymmetrischen Kriegsführung und Terrorismusbekämpfung im ersten Tschetschenienkrieg eingesetzt wurde. Gezielte Tötungen missliebiger Personen gehörten ebenso zu den Tätigkeitsfeldern wie das Einschüchtern Oppositioneller. Mit seinen Leuten, sein ständiger Schatten war Wladimir, genannt Wladi der Riese, operierte er dabei weitgehend unabhängig. So gelang es ihm, Vermögenswerte getöteter Geschäftsleute an die Seite zu schaffen. In Deutschland angekommen, beschloss der ebenso clevere wie skrupellose Klein, seine kriminelle Karriere mit einer bürgerlichen Fassade zu tarnen. Die Entscheidung, als Immobilienmakler aufzutreten, ließ ihm ungeahnte Freiheiten, sowohl in finanzieller wie auch in zeitlicher Hinsicht. Er war dadurch kaum zu überprüfen. Ein weiteres Standbein war seine nur an den Wochenenden geöffnete Diskothek vor den Toren der Hansestadt. Er hatte sie „Mir“ genannt und alle dachten bei dem Namen an die ehemalige sowjetische Raumstation. Darauf angesprochen, wurde er nicht müde zu beteuern, dass er nur die Übersetzung des Wortes „Frieden“ im Sinn gehabt hatte bei der Namensgebung. Er wünsche sich nichts mehr als eine friedliche Welt und ganz besonders seinen Gästen einen friedlichen Aufenthalt in seinen Räumlichkeiten. Die Wahrheit war, dass er einen Bericht über die mittlerweile stillgelegte Diamantenmine Mir im fernen Jakutien gesehen hatte. Das riesige, künstlich geschaffene Loch in der Landschaft hatte ihn fasziniert und wie die Mine sollte die Diskothek dazu beitragen, Wohlstand zu erzeugen, seinen Wohlstand. Nebenbei sollten mit ihr die Einkünfte aus seinen zahlreichen dunklen Geschäften gewaschen werden. Seit dem Missgeschick mit dem Toten vor ein paar Tagen lief einiges schief in seiner Parallelwelt, er musste aufpassen, dass nicht alles aus dem Ruder lief, was er sich innerhalb der vergangenen Jahre mühevoll aufgebaut hatte. Noch schützte ihn sein fein gesponnenes Sicherheitsnetz, er musste auf der Hut sein, damit es so blieb.

*****

Die schwarzhaarige Frau schluckte wohl oder übel Valeries Bedingung und setzte sich in Bewegung, um ihr zu folgen. Die Privatdetektivin überquerte die Straße und ging schräg auf einen Hauseingang des roten Wohnblockes vor ihr zu. Ihre Begleiterin war mittlerweile aufgeschlossen und drehte sich immer wieder um. Am Haus angekommen drückte Valerie gegen die Tür, sie war nur angelehnt und ließ sich aufdrücken. Zwei halbwüchsige Jungen kamen ihnen im Hausflur entgegen und schoben sich vorbei.

„Wo müssen wir hin? Hoffentlich nicht ganz nach oben?“, fragte auch schon die Schwarzhaarige, noch in der Tür stehend.

„In den ersten Stock“, antwortete die Gefragte arglos.

Nicht ahnend, dass die Fragestellerin blitzschnell die linke Hand hinter ihrem Rücken verschwinden ließ und aus der geballten Faust einen Finger herausstreckte.

Valerie ging weiter in den Hausflur hinein zu der nach oben führenden Treppe. Dass sich hinter ihrem Rücken mehrere breitschultrige Männer dem Haus zügig näherten, nahm sie nicht wahr. Sie war bereits an den Wohnungen im Erdgeschoss vorbei und auf dem ersten Absatz zum oberen Stockwerk, als sie bemerkte, dass die Schwangere ihr nicht folgte.

„Was ist los?“, fragte sie nach unten. Sie sah nur die Hand der Frau am Treppenlauf.

„Geht gleich wieder. Es strampelt, muss kurz Luft holen.“

Leise traten die Männer ins Haus und bewegten sich hinein in den toten Winkel der Treppe, auf der Valerie stand.

„So, geht wieder. Ich komme.“

Erstaunlich flink erklomm die Schwarzhaarige die Stufen und näherte sich der Wartenden. Gemeinsam erreichten sie die erste Etage.

„Wo ist es jetzt? Rechts oder links?“

Die Stimme klang plötzlich ungewöhnlich laut.

„Es ist die rechte Wohnung.“

„Also rechts“, wiederholte die Frau wie ein Papagei, und wieder sprach sie so laut, dass man es im ganzen Haus hören musste.

Valerie drehte sich irritiert zu ihr um und bemerkte, dass mehrere Männer zügig die Treppe nach oben kamen. Osteuropäer, dachte sie sofort, groß und breit.

„Wer ist das? Gehören die zu Ihnen?“

Die Schwangere drehte sich um und hob erschrocken die Hände.

„Meine Brüder. Geht weg!“, rief sie viel zu gekünstelt in hohem Tonfall.

Die Detektivin begriff schlagartig, dass etwas nicht stimmte. Schnell trat sie an die Wohnungstür, an der kein Name verzeichnet war. Sie wollte den Klingelknopf drücken, aber das schaffte sie nicht mehr. Sie spürte, wie eine Hand brutal in ihr langes Haar griff und ihr den Kopf zurück riss. Ihr Hinterkopf schien zu explodieren vor Schmerzen. Durch den Ruck verlor sie das Gleichgewicht und stolperte ein, zwei Schritte rückwärts, während sich gleichzeitig jemand an ihr vorbei drückte. Sie wollte den Mund öffnen, protestieren, aber bevor sie einen Ton herausbringen konnte, bewegte sich aus dem Augenwinkel etwas Dunkles auf sie zu. Krachend schlug eine Faust auf das rechte Auge. Ihr Hinterkopf stieß mit voller Wucht gegen die Mauer. Benommen merkte sie, wie ihr Kreislauf absackte und ihre Beine weich wurden. Mit aller verbleibenden Kraft brüllte sie.

„Azamat. Azamat.“

Die Quittung war ein weiterer, hart geführter Schlag auf Jochbein und Mund, wieder knallte der Kopf dadurch mit voller Wucht an die Wand. Sie spürte ein unangenehmes Knirschen sich verformender Knochen und nahm den Geschmack von Blut in ihrem Mund wahr. Unmengen von Blut, so kam es ihr vor, schienen sich im Mund zu sammeln. Reflexartig schluckte sie es hinunter. Langsam rutschte sie an der Wand nach unten. Das Geräusch splitternden Holzes und Gebrülle drang noch gedämpft an ihre Ohren, bevor ihre Wahrnehmung völlig eintrübte.

*****

Der Mann, der Valerie im Vorbeigehen den ersten Faustschlag versetzt hatte, hielt sich nicht lange auf. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Beim dritten Mal gab die Zarge nach und die Tür flog auf. Krachend schlug sie in der Wohnung gegen die Wand. Hinter einer Tür mit Milchglaseinsatz sah er Bewegungen und lief durch den schmalen Flur. Auch diese Tür war verschlossen. Er schaffte es, die Tür aufzutreten, bis sie einen spaltbreit offenstand. Sie ließ sich aber nicht weiter aufdrücken, weil ein schwerer Gegenstand davor geschoben worden war. Wieder brüllte der Mann etwas auf russisch. Ein zweiter Mann kam ihm zu Hilfe. Während sie gemeinsam die Tür Stück für Stück gegen den Widerstand aufbekamen, hörten sie in dem Raum hektisches Gepolter. Endlich war der Spalt breit genug, um sich in das Zimmer zu zwängen. Am Ende des kleinen Raums stand die Tür zum Balkon offen, die lange Gardine bewegte sich in einem Luftzug. Mit riesigen Schritten war der Mann auf dem Balkon und schaute über das Geländer. Er konnte gerade noch sehen, wie eine Gestalt mit dunklem Haarschopf über die Grünfläche lief und hinter Büschen und Bäumen verschwand.

*****

Azamat hatte sich allein in der Wohnung seiner Bekannten aufgehalten und war auf der Toilette. Auf dem Weg zurück in das Wohnzimmer machte er einen Abstecher in die winzige Küche der schlichten Dreizimmerwohnung, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die Eheleute hielten sich schon länger in Deutschland auf und waren als Asylbewerber eingereist. Sie waren mit Dehlis Eltern befreundet gewesen und weil sie nicht wie Azamat die illegale Einreise über die Schlepperbande gewählt hatten, gab es keine bekannten Berührungspunkte zwischen ihnen und den Verbrechern, deshalb fühlte er sich bei ihnen sicher. Eher beiläufig ging sein Blick hinaus aus dem Fenster. Dabei fiel ihm der große Geländewagen auf, der auf der anderen Seite der Straße entgegen der Fahrtrichtung stand. Er sah die beiden Frauen, eine von ihnen war klein und offenbar schwanger, sie wirkte osteuropäisch, die andere war groß mit langem, brünetten Haar, elegant gekleidet. Optisch passten die beiden Personen nicht zusammen, vielleicht war deshalb seine Neugier geweckt und sein Blick verweilte länger auf ihnen. Die Schwangere gestikulierte temperamentvoll mit den Händen. Er beobachtete, wie sie schließlich auf den Hauseingang zugingen. Azamat wollte schon den Kopf wegdrehen, um gewohnheitsmäßig noch einmal zum Türspion im Flur zu gehen, als er die Männer sah, die einer dunklen Limousine auf dem großen Parkplatz entstiegen. Eine Szene wie aus einem schlechten Film, lange schwarze Lederjacken und schwarze Hosen, dazu bullige Figuren und Gesichter mit brutalen Zügen. Elektrisiert beobachtete er, wie sich die Typen ebenfalls dem Haus näherten und verschenkte so wertvolle Zeit, wie er sich gleich darauf einstehen musste. Als er sich endlich losreißen konnte und zur Wohnungstür lief, hatte er keine Chance mehr, die Wohnung zu verlassen und in dem Hausflur nach oben zu fliehen. Panisch ging er seine Möglichkeiten durch, es blieb nur die Flucht über den Balkon. Gegen die mit Sicherheit bewaffneten Männer würde er keine Chance haben.

Im Treppenhaus wurde es plötzlich lauter, er hörte eine ihm fremde Frauenstimme, die etwas rief, das er nicht verstand. Schnell verschloss er die Wohnzimmertür. Das in seinen Adern einströmende Adrenalin gab ihm die Kraft, einen schweren Schreibtisch vor die Tür zu wuchten. Sein Bein stieß bei seinen Anstrengungen heftig gegen den Couchtisch. Eines der beiden Handys auf dem Tisch rutschte von dem Anstoß über die glatte Oberfläche und fiel nach unten auf den Teppichläufer. Das kaum hörbare Poltern ging unter in dem wütenden Bollern des Mannes, der sich zur gleichen Zeit an der Eingangstür zu schaffen machte. Es würde nur Sekunden dauern, bis sie an dieser Zimmertür standen, das war Azamat klar, und die würde genauso schnell ihren Widerstand aufgeben. Er griff, ohne genau hinzusehen, nach dem Handy auf dem Tisch und rannte zum Balkon. Hinter sich konnte er bereits seine Verfolger an der Sperre wüten hören. Die Wohnung befand sich im ersten Stock, der Blick nach unten offenbarte eine beeindruckende Höhe, die jedoch mit jedem Geräusch in seinem Rücken ihre Gefährlichkeit verlor. Mit einem Blick in die Runde vergewisserte er sich, dass in direkter Nähe kein Wachposten zu sehen war, der genau diesen Fluchtweg überwachte. Also kletterte er über die Brüstung, hangelte sich an der Eckstange der Balkonverkleidung nach unten, um die Sprunghöhe zu verringern, bis er mit seinen Händen am unteren Ende des Balkons hing. Weil er jeden Moment mit seinen schweißnassen Fingern abzurutschen drohte, stieß er sich ab. Der Aufprall auf dem Rasen war weicher, als er befürchtet hatte. Er ließ sich abrollen und sprang sofort auf. Da er in der Gegend fremd war, musste er sich zunächst orientieren und entschied sich, nach rechts zu laufen, in der Hoffnung, so schnell wie möglich aus der Sicht zu geraten.

*****

Valerie nahm das Geschehen um sich herum nur noch gedämpft war, so als befände sie sich unter einer dicken Watteschicht, die ihr die Orientierung nahm. Sie versuchte fieberhaft, ihre Gedanken zu sortieren, versuchte zu ergründen, warum sie wie in einem schlimmen Alptraum nahezu bewegungsunfähig war. Es gelang ihr nur bruchstückhaft. Schmerzen verspürte sie keine, obwohl etwas mit ihrem rechten Auge nicht in Ordnung schien und sie immer weniger damit sehen konnte. Im Mund schmeckte sie ihr Blut. Sie lehnte halb liegend und verdreht an der Wand im Treppenhaus und versuchte, ihre Position zu verändern. Wie in Zeitlupe drehte sie den Oberkörper, bis sie kniete und sich dabei auf den Händen abstützte. Ihr Sichtfeld beschränkte sich auf den verschwommen wirkenden Fußboden unter den Händen, die langen Haare hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht. Die Männer im Hausflur, es mussten mehr sein als die, die sie zuvor gesehen hatte, waren aufgeregt. Sie brüllten in einer fremden, hart klingenden Sprache durcheinander. Jemand lief nach unten, ihr war, als hörte sie kurze, schnelle Schritte, die sich entfernten. Valerie kroch von der Wand weg zum Treppengeländer, um etwas zu haben, an dem sie sich festhalten und hochziehen konnte. Mitten in dieser Anstrengung, eine Hand befand sich noch auf dem Boden, erhielt sie einen wuchtigen Tritt in ihren Unterleib. Sie hörte ihren eigenen Schmerzensschrei und spürte, wie ihr Körper angehoben wurde und wie in Zeitlupe zur Seite auf den Rücken fiel. Es kam ihr für einen Moment vor, als hätte sie ihren eigenen Körper verlassen und beobachtete die Szene von oben. Völlig kraftlos und nach Luft schnappend blieb sie vor der nach unten führenden Treppe liegen. Über ihrem Kopf verdunkelte sich ihr verschwommenes Sichtfeld. Jemand bückte sich so dicht über sie, dass sie den fremden Atem wahrnahm.

„Du Dreckschlampe hast ihn gewarnt. Dafür nehmen wir dich mit und machen dich kaputt.“

Eine Faust griff in ihre Haare und riss brutal an. Schlagartig meldeten sich die Schmerzen zurück. Die Detektivin schrie laut auf, während sie an den Haaren die Treppe nach unten gezogen wurde. Steißbein, Gesäß und Knöchel knallten schmerzhaft über jede einzelne Stufenkante. Ihre Arme ruderten, ohne Halt zu finden in der Luft, bis endlich der Mittelabsatz der Treppe erreicht war.

Ein lautes Gebrüll in der fremden Sprache war in unmittelbarer Nähe zu hören. Der Typ, der immer noch ihre Haare wie in einem Schraubstock festhielt und sie so in eine unnatürliche Position zwang und ein anderer Kerl, der oben in der Wohnung gewesen sein musste, brüllten sich an.

Valerie war durch die Schmerzen völlig benommen.

Unvermittelt wurde sie an den Haaren hochgerissen, bis ihr Gesicht in der Höhe des Oberschenkels des Mannes pendelte. Sein Kopf kam nach unten und er schleuderte ihr von Spucketropfen begleitete Worte entgegen, die sie nicht verstand. Er stieß sie von sich weg und sie kam seitlich an der Wand zu liegen. Von oben kam der Mann die Treppe herunter, der mit ihrem Drangsalierer die heftige Diskussion geführt hatte, reflexartig zog sie den Kopf ein und schützte ihn mit den Armen, um ihn vor möglichen Tritten zu schützen.

Aber nichts dergleichen geschah. Der Mann hastete vorbei, brüllte seinem Begleiter etwas zu, dann verschwanden die Trittgeräusche nach unten. Nachdem die schwere Eingangstür ins Schloss fiel, herrschte gespenstische Stille im Treppenhaus. Ungewöhnliche Stille, eigentlich hätten längst Anwohner auf den Lärm aufmerksam werden müssen.

Das Auto, schoss es Valerie durch den Kopf. Ich muss sehen, welches Auto sie fahren.

Es dauerte ewig, bis sie sich erst in die Hocke und dann an der Wand nach oben tastend in die stehende Position gebracht hatte. Sie drehte sich und bewegte sich unsicher auf wackligen Beinen zum Fenster. Die Straße unter ihr lag verlassen da, nur ihr eigener Wagen parkte noch auf der gegenüberliegenden Seite. Die Unbekannten waren längst verschwunden. Sicher auf der Suche nach dem Mann, den sie durch ihre Hilfe erst gefunden und dem anscheinend, so deutete sie die Reaktionen, gerade noch die Flucht gelungen war. Obwohl ihr Körper rebellierte und sie sich vor Schmerzen kaum auf den Beinen halten konnte, trieb es sie nach oben. Valerie musste sich nach dem Auftritt der Unbekannten unbedingt vergewissern, dass niemand mehr in der Wohnung war, der Hilfe benötigte. Erst als sie sich am Geländer treppauf zog, fielen ihr die Blutflecken auf dem Boden auf, ihr Blut. Sie schaute sich um und sah, dass sie auch die Wand am Fenster verschmiert hatte. Wie zur Vergewisserung tastete sie über ihr Gesicht, fühlte schmerzerfüllt die Schwellungen und stellte erschrocken fest, dass anschließend die gesamte Handinnenfläche blutbeschmiert war.

„Hallo?“

Keine Antwort.

Vorsichtig und mit einem mulmigen Gefühl, sich dabei mit dem Ellenbogen an der Wand abstützend, betrat sie die fremde Wohnung. Alle Türen, die von dem kleinen Flur abgingen, standen offen, die Räume waren menschenleer. Zuletzt schob sie sich durch den Türspalt in das Wohnzimmer, der Schreibtisch stand immer noch im Weg. Sie schaute sich um, die klassische Einrichtung, Sitzgruppe, Tisch, Schrankwand. Die ganze Wohnung war leer. Die von einem Luftzug aufwehende Gardine ließ sie erschrocken zusammenzucken. Die Tür zum Balkon stand offen, damit war klar, wie es diesem angeblichen Azamat gelungen war zu flüchten.

Die Detektivin ging unsicher durch den Raum und trat hinaus auf den Balkon. Sie beugte sich über die Brüstung. Obwohl die Wohnung nur im ersten Stock war, schauderte es ihr bei einem Blick nach unten.

Was waren das für Männer? Waren es wirklich die Brüder ihrer Auftraggeberin gewesen?

Sie ließ die Unterhaltung mit der Frau Revue passieren. Beim ersten Treffen hatte sie sehr gebrochen deutsch gesprochen, eben, unten an der Straße, konnte sie es beinahe fließend, nahezu ohne erkennbaren Dialekt.

Sie schüttelte verärgert den Kopf, das heißt, sie wollte es tun. Die Schmerzen veranlassten sie ganz schnell, hastige Bewegungen zu unterlassen. Eines war klar, die Frau hatte sie vorgeführt, eindeutig. Benutzt, um diese andere unbekannte Person zu finden. Die Auftraggeberin hatte unbedingt verhindern wollen, dass sie mit zur Wohnung des Gesuchten kam, so als sollte die Anwesenheit einer Zeugin verhindert werden.

Azamat hieß der Mann, den sie suchte. Solch einen Namen hatte sie noch nie gehört.

Aber war es überhaupt der richtige Name, den sie durch das Treppenhaus gebrüllt hatte? Was wurde hier gespielt? Warum springt jemand auf der Flucht von einem Balkon, doch wohl nur in Todesangst?

Valerie fasste sich wieder an den Kopf, in dem sich immer heftigere Schmerzen bemerkbar machten. Im Moment war sie nicht in der Lage, das Geschehen zu analysieren, musste sie sich eingestehen.

Sie ging in den Flur zurück, wenigstens die Funktionsfähigkeit der Beine kehrte zurück, die Schritte wurden sicherer. Zielstrebig suchte sie nach dem Badezimmer, weil ihr klar war, dass sie in diesem Zustand nicht hinunter auf die Straße konnte.

Obwohl sie auf Schlimmes gefasst war, war der Blick in den Spiegel ein Schock für sie.

Das rechte Auge war fast völlig zugeschwollen, die Haut drumherum dunkel gerötet, es sah aus, als säße ein riesiger Ball anstelle eines Auges unter Haut. Die Nase war ebenso rot, am rechten Nasenflügel war ein Riss in der Haut, immerhin hatte die Blutung aufgehört. Ein Riss im rechten Mundwinkel, der bei der ersten Berührung wieder zu bluten anfing. Die gesamte Wangenpartie war angeschwollen und wirkte dadurch eigenartig schief, als hätte sie einen Schlaganfall erlitten. Durch die verschmierten Blutspuren kam ihr das eigene Gesicht wie das eines Zombies vor. Sie zog vorsichtig die Lippen hoch und fuhr mit den Fingerspitzen die Zähne entlang, wenigstens schienen noch alle festzusitzen, obwohl ihr vorhin das Gefühl etwas anderes suggeriert hatte. Valerie rückte dichter an den Spiegel vor und schob sich ihre Bluse hoch, um den Oberkörper zu überprüfen. Der Fußtritt hatte eine Abschürfung am linken Rippenbogen hinterlassen, ein leichter Druck auf diese Stelle und sie verzog sofort das Gesicht, weil sich der Schmerz wie Nadelstiche durch die Haut bohrte.

Mit befeuchtetem Toilettenpapier säuberte sie sich so gut es ging und stöberte ein letztes Mal durch die Wohnung. Sie wirkte aufgeräumt und seltsam steril, fast geschlechtslos. Kein Hinweis darauf, ob hier ein Ehepaar oder gar Kinder wohnten. Keinerlei Dekoration oder persönliche Accessoires, die eine persönliche Note verraten könnten.

Im Schlafzimmer ein gemachtes Doppelbett, akkurat waren Kopfkissen und Bettdecken glattgestrichen. Eine zusätzliche Matratze lehnte wie versteckt an der Wand hinter der Tür. Schlief auf ihr dieser Azamat, vielleicht im Wohnzimmer? In einem weiteren, schmucklosen Raum standen zwei Einzelbetten, groß genug für Erwachsene, rechts und links an die Wand geschoben, damit ein schmaler Weg zum Fenster verblieb. Valerie realisierte, dass sie so, ohne weitere Ermittlungen, keinerlei Hinweise auf die hier lebenden Personen erlangen konnte. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Azamats Nummer, vielleicht hatte er es eingeschaltet. Der Ruf ging raus. Verblüfft stellte sie fest, dass es im Wohnzimmer klingelte. Die Detektivin runzelte die Stirn. Sie ließ die Verbindung bestehen und ging hinüber in den Raum, konnte das Gerät aber auf keinem der Möbel entdecken. Suchend wanderte ihr Blick durch das Zimmer, das gedämpfte Geräusch kam aus dem Bereich des Polstersessels am Ende des Tisches. Sie ging in die Hocke und tastete mit der Hand am Spalt der Sitzpolsterung entlang, außer Mengen von Krümeln konnte sie nichts erfühlen. Sie bückte sich tiefer und fuhr mit der Hand unter den Sessel, bis sie mit den Fingerspitzen das Gerät zu fassen bekam. Jetzt beendete sie den Anruf. Sie hockte sich auf den Sesselrand und betrachtete das Telefon erstaunt. Warum ließ jemand sein Handy zurück, noch dazu in einem fremden Land? Wollte er die Verbindung kappen, um seine Spuren zu verwischen oder gab es eine simplere Erklärung? War es einfach nur hinuntergefallen und er hatte es in der Hektik nicht mehr mitnehmen können?

Einem ersten Impuls folgend steckte Valerie das Handy in ihre Jackentasche.

Anschließend horchte sie in den Hausflur hinein. Weil alles ruhig war, verließ sie die Wohnung. Auf dem Klingelschild war kein Name verzeichnet, auch unten nicht, weder am Klingelbrett noch an den Briefkästen. Die Ruhe im Haus war beängstigend. Obwohl vorhin ein Höllenlärm entstanden war, ließ sich keiner der Hausbewohner blicken. War das ein Zufall oder hatten die Mieter bereits Erfahrungen mit dem Schlägertrupp von vorhin gemacht? Bevor sie verschwand, fotografierte Valerie mit ihrem Handy die Namensschilder der Mietparteien. Weil nur ein einziges Schild fehlte, sollte es ein Leichtes sein, die Namen der Wohnungseigentümer herauszufinden.

Angst macht große Augen

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