Читать книгу Angel - Luciana Palanza - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеKaum bin ich von der Schule nach Hause gekommen, gehe ich wortlos in mein Zimmer und setze mich auf mein Bett. Eigentlich würde ich jetzt still vor mich hin weinen und hoffen, dass mich niemand hört. Aber heute ist irgendetwas anders.
Denn ich schnappe mir meinen Laptop und starte ihn auf. Anstatt wie sonst mein Twitter-Profil zu öffnen, gehe ich heute gleich auf meinen Email-Account und schreibe seine Email-Adresse ins leere Format.
Woher ich sie weiss? Ich habe schon vor langer Zeit recherchiert und wollte ihm eine Email schicken. Aber ich bin nicht dazu gekommen. Besser gesagt hatte ich ein kleines bisschen Bammel davor. Ausserdem ist es mir bewusst, dass er meine Email sowieso nie lesen würde.
Aber heute traue ich mich. Bevor ich noch lange darüber nachdenken kann, beginne ich schon zu schreiben.
Hi Luke,
Heute Morgen bin ich natürlich wie man es erwartet hat, zu spät aufgestanden und ich musste mich richtig beeilen. Zum Glück hatte ich noch genug Zeit, um mich zu duschen. Wäre ich mit fettigen Haaren in die Schule gegangen, hätte alles noch tausend Mal schlimmer geendet.
Jedenfalls hatte ich keine Zeit mehr, zu frühstücken und ich habe irgendeine Jeans und einen Pulli angezogen. Danach musste ich zum Bus rennen und hatte zum Glück keine Zeit mehr, mir irgendwelche Gedanken zu machen oder mir auszumalen, wie der heutige Tag verlaufen könnte. Während ich also zur Bushaltestelle gerannt bin, habe ich deine Stimme in meinen Ohren gehört. Dass soll jetzt nicht wie ein Psychopath rüberkommen, denn das bin ich nicht. Glaube ich zumindest. Was ich mit der Stimme gemeint habe, sind deine Lieder. Sie geben mir Kraft, wenn ich sie brauche und sie bauen mich auf, wenn es mir schlecht geht. Oder sie lassen mich all die schlimmen Dinge in meinem Leben vergessen. Letzteres trifft auf heute Morgen zu.
Bei der Bushaltestelle hat leider alles schon begonnen. Ich bin total ausser Puste und mit rotem Kopf angelangt. Zum Glück hatte der Bus Verspätung, sodass ich ihn noch erwischt habe. Doch mir war die ganze Busfahrt total unangenehm. Schon bei der Bushaltestelle haben mich zwei Mädchen in meinem Alter total doof gemustert, offensichtlich über mich gelästert und gelacht. Du weisst gar nicht, wie sich das angefühlt hat. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich hingucken sollte. Das war ein so demütigender Moment. Am liebsten wäre ich einfach weggerannt. Weit, weit weg. Und am liebsten wäre ich nie wieder zurückgekommen. Der Schmerz, der sich in meiner Brust ganz langsam, Zentimeter um Zentimeter, ausgebreitet hat, war fast unerträglich.
Gerade als ich wieder gehen wollte und den Tag krank machen wollte, fuhr der Bus heran und ich habe mich gezwungen, einzusteigen, ohne mich umzusehen. Denn es war klar, dass ich das eine oder andere bekannte Gesicht sehen würde. Bekannte Gesichter, die ich am liebsten nie wieder sehen will.
Im Bus konnte ich noch einen freien Doppelsitz ergattern. Ich habe mich gleich hingesetzt, die Musik etwas lauter gestellt und tief durchgeatmet, während ich aus dem Fenster geschaut habe. Die Busfahrt dauert eigentlich nur zehn Minuten, trotzdem kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Bei jeder Haltestelle stiegen immer mehr Leute ein und ich habe nur darauf gewartet, bis sich endlich jemand auf den leeren Platz setzen würde. Aber der Platz blieb auf der ganzen Fahrt leer. Obwohl viele Schüler dicht aneinander gedrängt im Gang standen, setzte sich niemand auf den einzigen leeren Platz. Neben mir.
Obwohl ich versucht habe, mir einzureden, dass es nicht weiter schlimm ist, spürte ich diesen Schmerz von vorher wieder. Diese Demütigung. Ich musste mich richtig zusammenreissen, um nicht loszuheulen.
Fakt ist: Schon der Weg zur Schule war die reinste Demütigung für mich, obwohl ich mit niemandem gesprochen habe.
Das Aussteigen finde ich aber immer noch am schlimmsten. Ich weiss, normale Menschen sollten kein Problem haben, in den Bus ein- beziehungsweise auszusteigen. Ich schon. Ich hasse es, wenn ich dicht an anderen Menschen vorbeilaufen muss, wenn mich andere Menschen berühren oder auch nur ansehen. Deshalb warte ich immer, bis alle ausgestiegen sind.
Das habe ich auch heute Morgen gemacht. Als alle draussen waren, habe ich tief Luft geholt, meinen Rucksack gepackt und bin endlich ausgestiegen. Hinter all den anderen Schülern habe ich mich dann ins Schulhaus geschleppt.
Luke, ich bin mir sicher, dass du nie das Gefühl hattest, ausgeschlossen zu sein und einfach nicht dazu zu gehören. Und das, obwohl du nichts gemacht hast. Wirklich – nichts! Du warst bestimmt einer der Schüler, die sich nie Gedanken machen mussten, neben wen sie sich am besten hinsetzen sollten – du warst bestimmt bei jedem willkommen.
Ich vermisse dieses Gefühl. Das Gefühl der Zugehörigkeit. Es gibt nichts Schlimmeres, wenn du ein Klassenzimmer betrittst, von niemandem beachtet wirst und nicht weisst, wohin du dich setzen sollst, weil du nur das Gefühl hast, zu stören – egal wohin du dich setzen würdest.
So ging es mir heute, als ich das Mathezimmer betrat. Normalerweise schauen alle Schüler, die bereits auf ihren Plätzen sitzen, kurz auf und begrüssen die Person. Aber es war ja klar, dass niemand aufgeschaut hat, als ich ins Zimmer gekommen bin. In solchen Momenten fühle ich mich ganz klein. Richtig schwach. Weil schon in jeder Reihe jemand sass, musste ich mich entscheiden, wen ich heute belästigen will. Nach langem Überlegen setzte ich mich zu Lilly in die zweite Reihe.
Ich schlich schon fast zum Platz und habe mich vorsichtig hingesetzt und gleich mein Matheheft und das Etui auf das Pult gelegt. Lilly hat dabei kurz aufgesehen und mich mit einem bösen Blick angeschaut. Das ist so ein Moment, in dem ich am liebsten heulen würde. Oder ich würde gerne aufwachen und feststellen, dass es ein Traum ist. Aber das hier ist die Realität. Die knallharte Realität. Und in dieser Realität gehöre ich nicht dazu.
Du musst wissen, eigentlich bin ich eine gute Schülerin, aber seit ein paar Monaten kann ich mich einfach nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Ständig frage ich mich, was ich falsch gemacht habe. Warum genau ich diejenige sein muss, die nicht dazu gehört. Und manchmal frage ich mich, ob das irgendwann wieder aufhören wird. Aber das tut es nicht. Glaube ich zumindest.
Im Internet liest man doch immer von diesen Aussenseitern, die entweder richtige Streber sind und die Schule ihr ganzer Lebensinhalt ist oder dann sind sie mollig, haben eine Brille oder eine Zahnspange. Auf mich trifft nichts von dem zu.
Da stellt sich mir die Frage, warum ich da durch muss. Was habe ich getan, dass Gott mich so bestrafen will?
Ich weiss, du kannst es mir auch nicht beantworten, aber es tut gut, sich all das von der Seele schreiben zu können. Wenn auch mit dem Wissen, dass du diese Email niemals lesen wirst.
Zurück zur Mathestunde, die ich heute hatte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie langsam die Zeit vergeht, wenn man weiss, dass man an diesem Ort unerwünscht ist. Die Minuten kamen mir vor wie Stunden. Ich habe bestimmt dreissig Mal auf die Uhr geguckt. Und am Ende der Lektion war mein Blatt noch schneeweiss. Ich hatte Glück, dass mich der Lehrer nicht aufgerufen hat oder sonst irgendeine Bemerkung gemacht hat.
Der restliche Morgen verlief ähnlich wie die Mathestunde. Ich konnte mich nicht konzentrieren, ich musste mich jede Stunde wieder neu entscheiden, welchen Mitschüler ich mit meiner blossen Anwesenheit nerven soll und ich habe jede Minute gewünscht, dass ich wo anders wäre.
Aber jetzt kommt es! Der Morgen war nichts im Gegensatz zum Mittagessen. Wie fast jeden Tag habe ich meine Plastikbox mit meinem Essen genommen und habe mich in den Raum mit den ganzen Mikrowellen begeben. Wie ich das hasse! Es hat so viele Leute. Und ich hatte das Gefühl, dass mich jeder von ihnen abwertend gemustert hat. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm diese fünf Minuten jeweils sind. Auf jeden Fall ging ich dann mit meinem Essen zu den Tischen, wo sich meine Klasse immer versammelt um zu essen. Da der eine Tisch schon ziemlich voll war, habe ich mich an den nächsten freien Tisch gesetzt und darauf gehofft, dass sich die noch kommenden Mitschüler zu mir setzen würden. Davon bin ich jedenfalls stark ausgegangen. Was dann passiert ist – ich kann es kaum in Worte fassen. Leon, Lilly und Dora kamen mit ihrem Essen zu den Tischen. Ohne mich auch nur anzuschauen, haben sie sich an den bereits vollen Tisch gequetscht, obwohl sie sich auch zu mir setzen konnten. Das bedeutete, dass ich ganz alleine essen musste. Und die ganze Schule konnte mich sehen. Alle sahen, dass ich alleine sass. Ich will mir gar nicht vorstellen, was sie wohl über mich dachten.
Noch vor ein paar Jahren hätte ich eine Person, die ganz alleine ass, verurteilt. Ich hätte gegrinst und vielleicht sogar mit einer Freundin ein bisschen gelästert. Ich hätte mich überlegen gefühlt.
Jetzt hätte ich Mitleid mit dieser Person.
Jedenfalls habe ich ganz schnell gegessen, habe es vermieden, aufzusehen und habe mich wie immer ganz klein gefühlt. Ich wusste ganz genau, dass meine Klasse, die keine zwei Meter von mir entfernt war, über mich gelästert hat. Ich musste es nicht einmal hören, ich konnte es einfach spüren. Was habe ich ihnen getan, dass sie mich so behandeln? Diese Dinge trieben mir die Tränen in die Augen. Deshalb musste ich mich ziemlich zusammenreissen, um nicht auch noch zu weinen. Das wäre dann wirklich zu viel gewesen!
Als ich aufgegessen habe – beziehungsweise nichts mehr runterwürgen konnte – habe ich auf der Stelle meine Dinge gepackt und bin geflüchtet. Ich bin wortwörtlich geflüchtet. Ich wollte weg von meiner Klasse, weg von all den anderen Schülern und einfach nur in meine Welt. An den Ort, wo alles perfekt ist. Ja, das klingt wieder so, als wäre ich verrückt. Aber über die ganze Zeit, in der ich niemanden hatte, um Dinge zu unternehmen oder einfach Dinge zu bereden, habe ich meine eigene Welt erfunden. Einen Ort, an dem ich Freunde habe. Ein Ort, an dem ich akzeptiert werde. Ein Ort, wo ich so sein kann, wie ich bin.
Also bin ich kurz zu meinem Spind gegangen, habe meine Schulbücher geholt und dann ging ich zum Schulzimmer, wo wir danach Englisch hatten. Da habe ich mich hingesetzt, die Kopfhörer aufgesetzt und ganz laut Musik gehört. Wieder einmal deine Musik. So kann ich ganz gut abschalten und in meine Welt abtauchen. Ich habe mir vorgestellt, dass ich mit meiner besten Freundin draussen unter einem Baum sitze, die Mittagspause geniesse und Schokolade esse. Dinge, die man mit seiner besten Freundin eben tut.
Ich sass bestimmt fast dreissig Minuten einfach da, hatte die Augen geschlossen und vor mich hin geträumt.
Der Nachmittag verlief ähnlich wie der Morgen. Ich habe mit niemandem gesprochen, ich musste mich wieder ein paar Mal entscheiden, neben wem ich sitzen sollte und ich konnte mich nach wie vor nicht konzentrieren. Und jetzt sitze ich eben hier und schreibe dir. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut es sich anfühlt. Endlich fühle ich mich ein Stück freier. Auch wenn du diese Worte niemals lesen wirst. Du hilfst mir mehr, als du denkst!
Kayla
Puh, es hat mich ziemlich viel Mut gekostet, diese Worte aufzuschreiben. Bis jetzt habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Niemand weiss davon. Niemand weiss, wie sehr ich leide. Und jetzt sollte es ausgerechnet Luke als Erster erfahren. Er wird es zwar niemals lesen, aber er könnte es lesen und das zählt auch.
Nach einigen Minuten überwinde ich mich endlich dazu, die Email endgültig abzuschicken. Danach klappe ich meinen Laptop zu und stehe auf. Es macht mich richtig nervös, dass nun endlich jemand wissen könnte, was mit mir los ist. Aber es fühlt sich auf keinen Fall schlecht an. Nur ungewohnt eben.
Um mich ein wenig abzulenken gehe ich ins Bad, um zu duschen. Duschen ist immer eine gute Lösung. Auch Luke hat einmal in einem Interview gesagt, dass man am besten duschen soll, wenn sonst alles schief läuft. Das sollte auf jeden Fall helfen.
Nach einer ausgiebigen Dusche gehe ich zurück ins Zimmer und ziehe eine Jogginghose und einen Pulli an. Ich weiss, dass es bereits Frühling ist, aber ich mag es eben bequem und kuschelig. So begebe ich mich in mein Bett, wo ich meine Hausaufgaben mehr schlecht als recht erledige. Ich habe heute einfach nicht die Geduld, alles genau durchzulesen und viel zu überlegen. Trotzdem – gemacht ist gemacht.
Meiner Mutter sage ich, dass ich keinen Hunger hätte - wieder einmal. In letzter Zeit habe ich öfter einmal das Abendessen ausfallen lassen. Ich hatte einfach keinen Hunger und ausserdem habe ich dadurch bestimmt ein oder zwei Kilos verloren, was nie schaden kann. Denn ich habe mir ernsthaft Gedanken darüber gemacht, ob ich nicht akzeptiert werde, weil ich zu viel wiege. Eigentlich dachte ich immer, dass ich total normal, wenn nicht sogar schlank wäre. Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Da kann abnehmen nie schaden.
Obwohl es draussen noch hell ist, lege ich mich in mein Bett und surfe ein bisschen im Internet. Ich bin kurz auf Twitter unterwegs, wo ich die neusten Neuigkeiten von Luke erfahre und auf Instagram kann ich die neusten Fotos von ihm bestaunen.
Es ist erst neun Uhr, als ich in einen unruhigen, durch Albträume geprägten Schlaf falle.