Читать книгу Angel - Luciana Palanza - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеEs ist sechs Uhr morgens, als mein Wecker klingelt und mich aus dem Schlaf reisst. Ich habe kaum geschlafen, ich habe mich mehr von einer Seite auf die andere gewälzt und konnte mich einfach nicht entspannen. Deshalb fühle ich mich, wie jeden Morgen, als wäre ich von einem Güterzug überrollt worden.
Widerwillig mache ich mich bereit, um in die Schule zu gehen. Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt in die Schule gehe. Ich kann mich nicht konzentrieren und dadurch fällt es mir sehr schwer, den ganzen Stoff zu verstehen. In solchen Momenten stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn ich einfach in einen Zug steigen würde und weg fahren würde. Jeden Tag wird dieses Bedürfnis stärker. Das einzige, was mir noch ein kleines bisschen Hoffnung gibt, ist meine Zukunft. Wenn ich meinen Abschluss habe, kann ich endlich weg und mein Leben endlich so leben, wie ich es will. Ich kann dann endlich glücklich sein.
Auch dieser Tag in der Schule verläuft kein bisschen besser. Ausserdem habe ich ständig das starke Bedürfnis, Luke eine zweite Email zu schreiben und ihm meine Situation zu erklären. Vielleicht hat er die erste Email ja gelesen und vielleicht hat er auch geantwortet. Ich rede mir zwar ein, dass das nicht der Fall ist, aber eine kleine Stimme in meinem Kopf hat die Hoffnung nicht aufgegeben.
Wie auch am Tag zuvor begebe ich mich nach der Schule gleich in mein Zimmer und starte meinen Laptop auf, wo ich schon wieder seine Email-Adresse eingebe. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten und ich schreibe einfach darauf los.
Hi Luke,
Nur im Fall, dass du meine Email von gestern gelesen hast, wollte ich mich kurz vorstellen. Das habe ich gestern total vergessen, ich habe einfach darauf los geschrieben. Es tut mir leid, falls ich dich damit komplett überfallen habe. Jetzt kommt also diese klischeehafte Vorstellungsrunde.
Ich heisse Kayla und bin sechzehn Jahre alt. Seit meiner Geburt wohne ich in einer winzigen Stadt in der winzigen Schweiz. Ich nehme an, dir ist dieses Land bekannt vor allem wegen der ganzen Schokolade. Ausserdem hast du mit deiner Band bereits ein Konzert in der Schweiz gegeben. Wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr daran erinnern. Ich war jedenfalls da und es war einer der besten Tage meines Lebens. Einer der wenigen guten Tage, die ich in den letzten zwei Jahren erlebt habe.
Seit zwei Jahren geht es mir fast durchgehend schlecht und ich habe niemandem davon erzählt. Ausser dir. Du bist der Einzige, der davon wissen könnte. Du bist der einzige Mensch, vor dem ich mich nicht schäme. Es ist echt eine Schande, dass ich es nur schaffe, vor einem fremden Menschen komplett offen zu sein und über meine Probleme zu sprechen. Aber ich kann es einfach nicht. Ich kann das nicht.
Deshalb trage ich seit fast zwei Jahren dieses Geheimnis mit mir rum. Diese zwei Jahre waren einfach nur schlimm. Auf der Grundschule war alles super. Ich war ein wenig schüchtern, aber normal. Ich hatte Freunde und meine Klassenkameraden haben mich beachtet und mich nicht ignoriert. Alles war super, bis ich vor zwei Jahren auf das Gymnasium gekommen bin. Eigentlich habe ich mich riesig darauf gefreut, denn ich wurde in dieselbe Klasse eingeteilt, wie Natascha und Lilly, zwei gute Freundinnen. Es sah auch so aus, als würden sie sich freuen, mit mir in eine Klasse zu gehen und es war alles toll. Für ein paar Wochen jedenfalls. Doch an einem Tag kam plötzlich Natascha auf mich zu und sagte mir ins Gesicht, dass ich nervig sei und dass sie nichts mit mir zu tun haben will, weil ich angeblich alles meiner Mutter erzählen würde. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen ist, aber es stimmte nicht. Ich hatte zwar ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter und habe ihr jeden Tag erzählt, was in der Schule passiert ist, aber lange nicht alles. Das ist doch nicht schlimm, oder? Nur weil es andere Jugendliche gibt, die rebellieren und die Grenzen austesten, heisst das doch nicht, dass ich meiner Mutter nicht von meinem Tag erzählen darf. Das habe ich Natascha auch erklärt und gehofft, sie würde es verstehen. Sie hat nur gemeint, dass ich mir neue Freunde suchen müsse.
Das war so ziemlich der schlimmste Moment in meinem Leben. So hat alles angefangen. Seitdem schrumpft mein Selbstbewusstsein täglich, ich ziehe mich immer mehr zurück und ich lasse mich von der Welt zerstören. Ich weiss, dass es total seltsam klingt, wenn man so etwas schreibt und sich bewusst ist, dass es einem schlecht geht, aber man tut trotzdem nichts dagegen. Ja, es ist seltsam, aber ich kann es nicht. Schon dutzende Male wollte ich mich meiner Mutter anvertrauen. Immer kurz bevor ich es ihr sagen wollte, begann ich schrecklich zu schwitzen und jedes Mal war da ein riesiger Kloss in meinem Hals. Du weisst gar nicht, wie sehr ich mich dafür schäme, dass ich es nicht einmal schaffe, Freunde zu finden. Ich weiss nicht, was ich falsch gemacht habe, aber ich habe es offensichtlich nicht geschafft. Ich bin ein Versager! Jeder Mensch hat Freunde, jeder schafft das! Ausser ich.
Und ich habe Angst. Angst vor der Reaktion meiner Mutter. Würde sie mich überhaupt ernst nehmen? Vielleicht würde sie ja auch sagen, dass ich mich nicht so aufführen sollte, schliesslich gibt es viele Jugendliche, denen es viel schlechter geht als mir. Ich sollte mich ja glücklich schätzen, dass ich in der Schweiz leben darf, dass ich gesund bin und dass ich ein Gymnasium besuchen darf. Dass ich es nicht auf die Reihe kriege, Freunde zu finden ist ein Luxusproblem. Ja, so denke ich über meine Situation.
Vielleicht fragst du dich, wie ich es geschafft habe, meiner Familie alles zu verheimlichen. Ehrlich gesagt kann ich diese Frage selbst nicht genau beantworten. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich eine ziemlich gute Schauspielerin bin. Ich habe meine Emotionen total unter Kontrolle wenn ich unter Menschen bin. Ich habe noch nie in der Schule geweint und auch meine Familie hat mich höchstens zwei oder drei Mal weinen sehen in den letzten zwei Jahren. Ich habe so oft gelacht und fröhlich gewirkt, wenn ich innerlich am Zerbrechen war. So oft. Eigentlich fast jeden Tag. Fast jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause komme, würde ich am liebsten in Tränen ausbrechen, mich auf den Boden schmeissen und erst wieder aufstehen, wenn alles aufgehört hat. Trotzdem lächle ich immer, erzähle meiner Mutter ein paar erfundene witzige Geschichten von der Schule und begebe mich in mein Zimmer. Erst dann werfe ich mich auf mein Bett und weine lautlos. Manchmal nur zehn Minuten, manchmal auch bis zum Abendessen. Beim Essen jedenfalls täusche ich wieder gute Laune vor. Ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob ich so überzeugend spiele, oder ob meine Familie meine Trauer und den Schmerz nicht sehen will. Ich weiss es nicht. Aber es tut einfach nur weh, wenn ich darüber nachdenke, dass ich den Menschen, die ich am meisten liebe, etwas vorspielen muss.
Okay, das war vielleicht trotzdem nicht so eine normale Vorstellungsrunde. Vielleicht sollte ich jetzt über normale Dinge schreiben. Über meine Hobbies und diesen Kram.
Ich liebe Musik. Musik bedeutet mir so viel. Musik hilft mir, alles ein kleines bisschen zu verarbeiten und mich ein bisschen besser zu fühlen. Aber ich will jetzt nicht nur über Musik schreiben. Vielleicht ein anderes Mal. Trotzdem muss ich noch erwähnen, dass mir die Musik von dir und deiner Band schon so oft geholfen hat. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn du aufhören würdest, Musik zu machen.
Zwei weitere meiner langweiligen Hobbies sind lesen und Filme schauen. Wenn ich lese, kann ich meine Realität für ein paar Stunden vergessen und ganz in eine Fantasiewelt eintauchen, wo alles perfekt ist. Wo es immer ein Happy End gibt. Nicht so, wie im echten Leben. In Büchern finden alle Leute Freunde. Gewisse nicht gleich von Anfang an, aber irgendwann schaffen sie es. Nicht so wie ich.
Ich glaube nicht, dass ich noch am Leben wäre, wenn es keine Musik, Bücher und Filme geben würde. Es ist ein echter Lifesaver, wenn man einfach kurzerhand in eine andere Welt schlüpfen kann und sein eigenes Leben vergessen kann. Auch wenn es nicht für lange Zeit ist, es reicht, um neue Energie zu schöpfen und einen weiteren Tag durchzustehen.
Wo ich auch super abtauchen kann, ist das Internet. Ich kann mir stundenlang sinnlose Videos auf Youtube anschauen. Hauptsache, mein Gehirn ist beschäftigt und muss sich nicht um mein echtes Leben kümmern. Im Internet habe ich auch das erste Mal von deiner Band gelesen und mittlerweile verbringe ich viel Zeit auf Twitter, um die neusten Dinge über dich und deine Band zu erfahren. Naja, nicht nur über dich und deine Band, eigentlich lese ich die News über jeden Promi. Das ist so ein kleines Hobby von mir. Ich weiss immer den neusten Promi Klatsch und Tratsch von Hollywood. Das ist wirklich so typisch mädchenhaft, aber irgendwie mag ich es halt. Aber ich habe es bis jetzt niemandem erzählt, weil ich nicht weiss, wie andere darauf reagieren würden. Naja, vielen Leuten könnte ich es sowieso nicht erzählen, da sich niemand mit mir unterhalten will.
Zurück zu meinen Hobbies: Sportlich bin ich nicht, aber ich nehme mir immer wieder vor, mehr Sport zu machen. Es soll auch helfen, wenn man an Depressionen leidet. Ich weiss nicht, ob ich depressiv bin, aber Sport kann nie schaden. Deshalb versuche ich ein paar Mal pro Woche den Hometrainer zu benutzen. Bis jetzt hat es nicht so regelmässig geklappt. Aber vielleicht schaffe ich es irgendwann.
Mehr fällt mir jetzt nicht zu mir ein und ich muss eingestehen, dass ich ein ziemlich langweiliger Mensch bin. Deshalb hoffe ich – falls du diese Email gelesen hast – dass ich dich nicht zu sehr gelangweilt habe. Mir hat es gut getan, alles von der Seele zu schreiben.
Jetzt werde ich mich wieder wie immer in mein Bett begeben und ein paar Serien schauen. Ich hoffe, dass morgen nicht allzu schlimm wird. Und dir wünsche ich alles, alles Gute. Danke, dass du für mich da warst. Auch wenn du mir wahrscheinlich nicht antworten wirst, du hast mir unglaublich viel geholfen!
Kayla
Ich drücke auf „senden“ und klappe meinen Laptop zu. Eigentlich wollte ich noch ein paar Folgen meiner Lieblingsserie schauen, aber da fällt mir ein, dass ich noch Hausaufgaben machen muss. Wenn ich mich schon in der Schule nicht konzentrieren kann, dann sollte ich mir bei den Hausaufgaben Mühe geben. Ich will schliesslich nicht länger auf dieser Schule bleiben als nötig.
Gerade als ich meine Mathehausaufgaben beendet habe – also eigentlich habe ich nur die ersten zwei Aufgaben gelöst, der Rest war mir zu schwer – ruft mich meine Mutter, weil es Abendessen gibt. Wie jeden Tag versuche ich zu lächeln und mir nichts anmerken zu lassen. Ich hoffe, dass sie mich nicht fragt, wie der Tag so war, denn mittlerweile sind mir alle witzigen Geschichten ausgegangen, die ich ihr erzählen könnte. Aber zum Glück diskutieren meine Schwester und meine Mutter über irgendeine Party, zu der meine Schwester eingeladen ist, sodass sie mich kaum bemerken.
Nach dem Essen gehe ich schnell unter die Dusche und versuche mich irgendwie zu beruhigen. Denn seit meiner ersten Email bin ich richtig aufgewühlt. Luke, mein Idol, könnte meine Emails gelesen haben und wissen, was mit mir los ist. Als einziger Mensch!
Ich frage mich, ob die Welt von dieser Email erfahren würde, falls ich in der nächsten Zeit sterben würde. Ich denke nicht unbedingt an Selbstmord, aber falls ich bei einem Autounfall ums Leben kommen würde. Würde man meinen Laptop nach gesendeten Emails überprüfen und meine beiden Emails an Luke finden? Würde man meinen Mitschülern davon erzählen? Würden sie erfahren, was sie mir angetan haben?
Diese Gedanken begleiten mich den ganzen Abend. Ich versuche mein Bestes, sie loszuwerden und mich abzulenken, aber irgendwie komme ich immer darauf zurück.
Muss ich zuerst sterben, bis alle Menschen erfahren, wie schlecht es mir geht?