Читать книгу Als du das Pfauenauge gerettet hast - Luise Eggers - Страница 5

1. KAPITEL

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1999

»Jetzt hab ich sie! Ohne die seid ihr machtlos!«, sagte Matilda und hielt siegreich zwei Holzstäbe in die Höhe. Ihre Schwester Clementine umklammerte Elina, die sie um einen Kopf überragte.

»Was sollen wir ohne unsere Zauberstäbe tun?«, fragte sie Elina.

»Mach dir keine Sorgen, ich beschütze dich. Wir sind auch ohne unsere Zauberstäbe Hexen!«

Ein Lachen riss sie aus ihrem Spiel, die drei drehten sich um.

»Was macht ihr denn da?«, fragte Jannick, der ihr Spiel, das sie auf der frisch gemähten Wiese zwischen Dorf- und Waldrand begonnen hatten, beobachtete.

»Wir spielen Mittelalter. Wir sind Hexen, sieht man doch!« Elina deutete auf die Zweige, die als Zauberstäbe dienten, ihre nackten Füße auf dem Gras und ihren langen karierten Rock.

»Genau«, pflichtete Clementine ihr kleinlaut bei.

»Du spielst also in deiner Freizeit Hexenverbrennung mit Kindern?«, fragte er.

»Bist du neidisch auf meine Freizeitgestaltung?«

Das war er nicht. Er war fasziniert, dass sie sich nicht genierte, mit diesen jungen Mädchen zu spielen. Sie musste fünfzehn oder sechzehn sein, denn sie war eine Klasse unter ihm. Wie alt mochten die Zwillinge sein? Vielleicht zwölf, schätzte er.

Jannick war sich sicher, dass alle anderen Mädchen in Elinas Alter nicht mehr so spielten, selbst wenn sie es wollten.

»Vielleicht. Deswegen klau ich euch jetzt auch eure heiß geliebten Stöcke!« Jannick griff gezielt nach Matildas Hand. Sie schrie auf, ließ die Stäbe fallen und versteckte sich kichernd hinter Elina. »Na, was nun?«

»Gib sie wieder her!«, forderte Elina gereizt.

»Nö.«

Er ging ein paar Schritte rückwärts und grinste sie provokant an.

»Keine Angst, ich räche uns!«

Die Zwillinge jubelten, während sie auf Jannick zulief. Er rannte zu dem Bauernhof, der an den Mischwald grenzte, und hoffte, dass der alte Ganhagen nicht daheim war. Der grummelige Bauer mit seiner Schirmmütze sah sich immer mit zusammengekniffenen Augen nach den Kindern des Dorfes um und hielt es für seine Pflicht, alle anderen vor den Dummheiten der Jugend zu warnen. Und in Burgow, diesem Ostsee-Nest, kannte jeder jeden, da wollte Jannick keine Predigt von seiner Mutter darüber hören, dass sich der alte Ganhagen wieder über ihren Sohn beschwert hätte.

Elina raffte ihren Rock über die Knie und war dicht hinter ihm. Mit seiner tief hängenden Jeans lief es sich einfach beschissen, das hatte er nicht bedacht. Er rannte durch das grüne Holztor in den Hof, Ganhagens blauer Benz stand zum Glück nirgends. Jannick bog nach rechts und lief entlang der Scheune zum Gemüsegarten. Elinas raschelnder Rock war nicht mehr zu hören. Er drehte sich um, lief langsamer und als er wieder nach vorn sah, stand sie direkt vor ihm. Sie war durch den Garten gerannt und über den niedrigen Haselnusszaun gesprungen. Bremsen war nicht mehr möglich. Sie rannten ineinander und stürzten.

Beide lagen am Boden, halb auf dem Sandweg, halb auf dem Heu, das am Scheunentor lag. Jannick riss den Arm hoch, in der Hand hielt er immer noch die Stöcke. Elina sah ihn durchdringend an und griff danach. Jannick stützte sich auf den Ellenbogen, um seinen anderen Arm weghalten zu können. Er versuchte aufzustehen, aber sie umklammerte ihn mit den Beinen und drückte ihre Waden auf seinen Rücken.

»Du zerdrückst mich!«

»Dann gib mir die Zauberstäbe.«

»Ist ja gut.«

Er legte die Zweige in ihre Hand und sie nahm die Beine von seinem Körper.

»Du kannst jetzt wieder von mir runtergehen.«

Er rollte von ihr runter, hielt sie aber am Arm fest.

»Ich lass dich trotzdem nicht gehen.«

Gereizt funkelte sie ihn an. Jannick lächelte und bemerkte, dass ihr schon vorher wüstes dunkles Haar mit Strohhalmen übersät war.

Elina vergrub ihre Finger im Boden und warf ihm eine Handvoll Sand ins Gesicht. Sofort ließ er sie los und fluchte. Sie rappelte sich hoch und rannte vom Hof.

Bei den Zwillingen angekommen, ließ sie die Stöcke fallen, drehte sich kurz um und rannte weiter Richtung Wald. Jannicks Wangen glühten, er jagte hinter ihr her, so schnell, wie es seine Hose erlaubte.

»Lauf, schnell!«, riefen Matilda und Clementine ihr hinterher.

Elina hob ihren Rock, sprang über Brennnesseln und eine umgefallene dünne Kiefer. Ihr Fuß schmerzte. Etwas Spitzes stach in den Ballen, sie musste auf einen kleinen Stein getreten sein und kam ins Straucheln. Für eine Sekunde hielt sie inne, um einen Blick auf die schmerzende Stelle zu werfen, da stieß Jannick sie um.

»So, du kleine Ziege. Jetzt bist du wohl meine Gefangene.«

»Dann vergewaltigst du mich jetzt?«, fragte sie. Jannick weitete die Augen. Sie war wirklich seltsam. »Im Mittelalter passiert so etwas öfter.«

»Na, das überlege ich mir noch. Besonders hübsch bist du ja nicht.«

Da war er wieder. Dieser aufbrausende Ausdruck in ihrem Gesicht. Die Arme, greif schnell nach den Armen. Doch schon hatte er Moos und Erde im Gesicht.

»Sag mal, spinnst du?! Hör ma’ auf, mich dauernd mit Dreck zu bewerfen.« Er richtete sich auf und schüttelte das Moos aus seinen braunen Locken. Sie stand auf, klopfte Bluse und Rock ab und ging. »Hey, warte doch mal!« Er griff nach ihrem Arm, aber sie riss sich los. »Das war doch nur ’n doofer Scherz.«

Dieser durchdringende Blick, mit dem sie ihn ansah, fesselte Jannick.

»Was willst du von mir?«

»Gar nichts. Ich wollte mich nur rächen, da du mich ja dauernd mit Dreck bewirfst.«

»Warum hast du uns überhaupt gestört? Du kennst mich doch gar nicht.«

»Doch, klar! Du bist ein Mädchen, das gerne mit Dreck wirft und mit Kindern spielt.«

»Haha!«, sagte sie trocken, verschränkte die Arme und streckte den Rücken, als würde sie eine bessere Erklärung erwarten.

»Ich kenne dich aus der Schule. Du gehst doch in die elfte Klasse, oder nicht? Ich bin mit deiner Schwester in einer Klasse.« War er ihr wirklich noch nie aufgefallen? Er fragte sich, ob er sich eingebildet hatte, dass sie ihn manchmal auf dem Schulhof anstarrte. Oder starrte nur er sie an?

»Ich weiß. Aber trotzdem kennst du mich nicht. Oder weißt du, wie ich heiße?«

»Das versuche ich gerade herauszufinden.«

Sie musterte ihn und kniff die Augen zusammen.

»Warum willst du das wissen? Ich bin doch nicht besonders hübsch.«

»Jetzt sei mal nicht so. Was muss ich tun, damit du mir deinen Namen verrätst?«

»Frag doch meine Schwester.«

»Das wäre zu einfach.« Ihr Zeigefinger ruhte auf ihrer Unterlippe und sie sah nachdenklich nach oben. Nach wenigen Sekunden zeigte sie auf den See.

»Wenn du dich traust, dort mit mir zu baden, dann sag ich dir meinen Namen.« Nichts leichter als das, dachte sich Jannick. In dieser dicken Jeans und dem schwarzen T-Shirt war ihm schon seit Mittag zu warm und jetzt, zwei Stunden später, wurde es nicht besser.

Sie drehte sich um und ging zur Lichtung, hinter der sich der Burgower See erschloss. Jannick folgte ihr stumm. Sein Nirvana-T-Shirt landete auf einer umgefallenen Kiefer, die als Bank diente. Er zog an seiner Gürtelschnalle und öffnete den Knopf seiner Hose. Seine blau-weiß karierte Boxershorts würde ihm als Badehose dienen. Die Sonne schien auf seine blassen Beine, aber endlich trennte ihn die Hose nicht mehr von der frischen Luft, die er an seinen Schenkeln spürte. Elina zog sich die Bluse aus. Mit einer kurzen Bewegung warf sie ihren Rock auf den Boden.

»Wieso hast du keine Unterwäsche an?!«

Sie zuckte mit den Schultern.

»So etwas gab es im Mittelalter noch nicht.«

Jannick sah sie lange an. Wo sollte er auch hinsehen? So schnell hatte sich noch kein Mädchen für ihn ausgezogen. Wie eine Löwin stand sie dort und sah ihn auffordernd an. Der kleine, drahtige Körper verschwand im Wasser.

»Hast du Angst? Hier ist doch niemand«, rief sie und sah sich zum ersten Mal um. Er könnte mit Unterhose ins Wasser gehen, aber dann würde er sich vor ihr lächerlich machen. Schließlich durfte sie nicht mutiger sein als er, wenn dann auf Augenhöhe. Er sah sich nervös um, aber es war niemand zu sehen. Vermutlich saßen all seine Freunde am letzten Ferientag in Warnemünde am Strand. Das war einfach der Ort, an dem man sich im Sommer traf. Kaum einer ging an den hiesigen See. Es war schwer, nicht auf den glitschigen Steinen am Ufer auszurutschen. Auch mochten viele die Berührungen der kleinen Putzerfische an den Füßen und Beinen nicht. Auf der Wasseroberfläche trieben Blätter, Blüten, Gräser und Samen. Alles, was die Bäume so verloren. Und seitdem einer der Jungs aus dem Ort erzählt hatte, er habe einen Katzenhai gesehen, ging keiner der Jugendlichen mehr hier schwimmen.

Aber es half alles nichts. Einmal tief einatmen und runter mit der Hose.

Er suchte Halt, versuchte, zwischen die Steine zu treten, und spürte die Stupser des kleinen Fischschwarms. Das Wasser war von der Sonne aufgewärmt, kühlte ihn aber angenehm ab. Elina lachte und schwamm ihm entgegen. Über ihrem Kopf flog eine Libelle vorbei und um sie herum schwirrten kleine Mücken. Elinas nackter Körper schien in dem dunklen Wasser zu leuchten. So dicht vor ihr zu schwimmen erregte Jannick. Ihre Finger berührten sich zufällig im Wasser.

»Was soll das hier eigentlich sein?«, fragte sie und strich über den Flaum auf Jannicks Oberlippe.

»Ein mächtiger Bart! Sieht man doch.« Er zog die Mundwinkel übertrieben nach unten und strich mit Daumen und Zeigefinger über den Bart. Elina lachte.

»Da hab ich ja mehr Bart.«

»Da hast du allerdings recht.«

Sie grinste, schlug mit den Händen auf das Wasser und spritzte es ihm ins Gesicht. Er ging zum Gegenangriff über, bis ihre Haare nass an Kopf und Schultern klebten.

»So, ich habe deine Bedingungen erfüllt. Du musst mir deinen Namen verraten.«

»Ich heiße Elina.« Ihr Lächeln war sanft, als hätte das Aussprechen ihres Namens sie gezähmt.

»Dein Name gefällt mir. Ich finde, du solltest auch eine Aufgabe erfüllen, oder willst du meinen Namen gar nicht wissen?« Das Wasser zog leichte bogenförmige Wellen, als sie schwamm.

»Was für eine Aufgabe denn?« Sie zog eine Augenbraue hoch und lächelte verschmitzt.

»Ein Kuss. Auf die Wange?«

Sie schwamm auf ihn zu, das Wasser bedeckte sie bis zu ihrem Schlüsselbein.

»Schließ deine Augen.« Seine Lider senkten sich und er spürte nur das Wasser, das sie in seine Richtung drückte. Ihre Lippen berührten seine Haut, aber nicht auf seiner Wange, sondern auf seinem Mund. Ein Kribbeln durchfuhr ihn und er drehte sein Becken sicherheitshalber zur Seite. Jannick legte seine Hände an ihren Kopf und küsste sie energischer. Als sie die Augen öffneten, bemerkte er die Narbe, die Elinas linke Augenbraue teilte. An ihren dichten Wimpern klebten Wassertropfen und auf ihren Schultern sah er Gänsehaut.

»Eigentlich dürfte ich dir meinen Namen nicht verraten, da du mich nicht auf die Wange geküsst hast.«

»Das musst du auch nicht, Jannick.«

»Hey! Woher wusstest du das?« Ein diebisches Grinsen huschte über ihre Lippen.

»Im Gegensatz zu dir fand ich dich schon immer ganz hübsch. Da lässt sich der Name schnell herausfinden.«

»Du bist ja ganz schön nachtragend. Glaubst du, ich hätte dich bis in den Wald verfolgt, wenn ich dich nicht … gut finden würde?«

»Wow, … gut, was für ’ne Steigerung.«

»Mann! Ich hab dich doch immer nur mit Klamotten gesehen und fand dich auch hübsch, aber jetzt hab ich ja viel mehr gesehen und … das ist mehr als hübsch.« Sie schien sich über das tollpatschige Kompliment zu freuen, doch dann verdunkelte sich ihr Gesichtsausdruck und eine tiefe Denkfalte zeichnete sich auf ihrer Stirn ab.

»Sagst du das wegen der Gerüchte über mich?«

»Welche Gerüchte?« Er wusste nicht, wovon sie sprach. Skeptisch musterte sie sein Gesicht.

»Ein paar Jungs erzählen rum, ich wäre leicht zu haben.«

»Und warum erzählen sie das?« Sie mied seinen Blick.

»Keine Ahnung, weil sie doof sind oder ich sie nicht rangelassen habe. Und wenn Mädchen in meinem Alter schon Sex hatten, dann sind sie gleich Schlampen, aber bei ’nem Kerl sagt niemand was. Der wird gefeiert und abgeklatscht.«

»Du hattest schon Sex?« Er wollte nicht schockiert klingen, aber in seinem Freundeskreis hatten tatsächlich mehr Jungs davon gesprochen als Mädchen. Vielleicht sprachen Mädchen auch einfach nicht so darüber. Natürlich prahlten die Jungs mehr damit, das war ihm klar, und wahrscheinlich war nur die Hälfte davon wahr.

»Ja, ist das ein Verbrechen? Ich bin sechzehn, das ist nicht verboten. Einige haben schon viel früher Sex.«

Er hob die Hände aus dem Wasser, als würde er sich ergeben.

»War nur eine Frage, keine Anklage. Ich habe von diesen Gerüchten noch nichts gehört, aber wenn ich ehrlich bin, machen das Gerede über Sex und die Tatsache, dass wir hier nackt im Wasser stehen, das Ganze nicht besser. Ich meine, ich will nicht so rüberkommen, als wäre ich deswegen hier, aber … besser wir ziehen uns wieder was an.«

Sie drückte das Wasser aus ihren Haaren und griff nach ihrem Rock. Die Sonne trocknete die nasse Haut schnell. Jannick strich den Sand von seinen Füßen und sah verstohlen zu Elina, die oberkörperfrei an der umgeknickten Kiefer stand und ihre Bluse auf die richtige Seite krempelte. Ihr Körper war an jeder Stelle gleichmäßig braun von der Sommersonne und er fragte sich, wie sie das angestellt hatte. Als könnte sie seine Gedanken hören, wandte sie sich Jannick zu, der sich schnell wieder umdrehte. Das leise Knacken kleiner Zweige begleitete ihre Schritte. Er spürte ihren Atem auf seinem nackten Rücken.

»Ich bin keine Schlampe. Ich bin einfach nicht so schüchtern und ich würde auch gern mit dir schlafen, aber ich will nicht, dass du was Falsches von mir denkst. Ich würde das ja nicht machen, um dir zu gefallen, sondern weil du mir gefällst«, sagte sie leise.

Wie fies ist bitte diese Ansage, dachte er und biss sich auf die Lippe. Er drehte sich zu ihr um und überlegte, wie er darauf reagieren sollte.

»Ich würde auch auf der Stelle mit dir schlafen, ehrlich. Aber dann würdest du denken, ich wäre wie einer dieser Kerle, die nur das wollen, und dein Ruf bliebe der Gleiche. Jungs können, was das angeht, echt nicht die Klappe halten, sorry. Aber vielleicht sollten wir uns erst einmal richtig kennenlernen.« Sie nickte. »Vielleicht mögen wir uns dann gar nicht mehr und haben gar keine Lust, miteinander zu schlafen.« Er stieß mit der Hand sanft gegen ihre Schulter, was ihr ein Lächeln entlockte.

»Du kannst dich viel besser ausdrücken als ich, das mag ich schon mal an dir«, erwiderte sie.

»Und du bist ziemlich ehrlich, das ist eine gute Eigenschaft, finde ich.« Jannick strich seine nassen Locken nach hinten.

Als sie zurück durch den Wald gingen, fiel ihm auf, dass Elina etwas humpelte. Ein Baumstumpf diente als Sitz, damit er ihren Fuß begutachten konnte. Auf ihrem Schienbein waren Kratzer und blaue Flecke. Am Fußballen fand er einen roten Punkt, der sie schmerzte. Er trug sie huckepack durch den Wald und ließ sie vor Ganhagens Hof herunter.

»Sehen wir uns morgen in der Schule?«, fragte sie.

»Leider ja, ich hätte gern länger Ferien.«

»Wer nicht?«

»Stimmt. Na, dann bis morgen. Pass auf deinen Fuß auf!« Er drehte sich zum Gehen um und als sie schon einige Meter auseinandergegangen waren, rief er ihr nach: »Warte mal, ich hab was vergessen!«

Neugierig weiteten sich Elinas mandelförmigen Augen. Schnellen Schrittes steuerte er auf sie zu, griff mit seinen Händen sanft in ihre Haare und küsste sie.

Eine Hand wanderte auf ihren Rücken, er drückte sie an sich und spürte ihr Becken an seinem. Scheiße, warum bin ich nur so anständig?

Als du das Pfauenauge gerettet hast

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