Читать книгу Die Akte Hürtgenwald - Lutz Kreutzer - Страница 5
1956 – Montag, 21. Mai
ОглавлениеGressenicher Wald, 9.20 Uhr
– eine halbe Stunde vor dem Moment
Der alte Zweitakter machte einen Lärm wie ein Dutzend Hornissenschwärme. »Wie weit müssen wir noch fahren?«, rief der kleine Junge, nachdem sie die Waldlichtung »Buche 19« passiert hatten. Verkrampft hielt er seine Mutter umschlungen, die Hände in den Gürtel ihres Trenchcoats gekrallt. Er saß etwas erhöht auf dem Sozius, sodass er einem Sack Mehl gleich auf ihrem Rücken hing.
Die Mutter wendete den Kopf über ihre Schulter. »Die Kurve noch, dann sind wir da.«
Der Wald rechts und links war so dicht, dass die Blicke des Jungen keinen Meter hineindrangen. Die Mutter bremste und drehte kurz am Gasgriff, der 7-PS-Motor heulte ein letztes Mal auf, bevor sie ihn zum Absterben brachte. Sie kippte das dunkelgrüne Meldekrad der Wehrmacht, ein NSU 201 ZDB, nach links, um den Jungen absteigen zu lassen.
»Pass auf und verbrenn dich nicht am Auspuff!« Jedes Mal, wenn sie zusammen irgendwo hinfuhren, warnte sie ihn vor dem heißen Metallrohr. Und so achtete der Junge beim Absteigen darauf, das Bein weit auszustrecken, bevor er es über den Sattel schwang.
»Hier?«
»Ja, hier ist es«, flüsterte sie, »de Höll.« Sie bückte sich vor, riss die Augen auf und schnappte mit der Hand nach seiner Nase, wobei sie ein grimmiges Geräusch machte, als wolle sie ihn auffressen.
Der Junge schreckte zurück. »Nicht! Da krieg ich ja Angst!«
Es war das liebevolle Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mutter und Sohn. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Hör zu, mein Junge! Du bleibst dicht hinter mir, hörst du? Du machst keinen Schritt, ohne dass ich es dir sage, ist das klar?«
Der Junge nickte.
Die Mutter forderte ihn mit erhobenem Zeigefinger auf: »Sag es laut!«
»Ja, Mama, ich mach keinen Schritt.«
»Gut. Du weißt, hier gibt es immer noch Tote. Der Förster und der Dorfpolizist müssen ab und zu jemanden rausholen.«
»Ja, Mama, ich weiß. Minen. Sie liegen immer noch im Boden.«
»Man kann sie erkennen. Es ist eine ganz leichte Erhebung über ihnen.« Sie machte eine Bewegung mit der rechten Hand, als würde sie einem Hund den Kopf streicheln. »Aber wenn Blätter draufliegen … Man weiß nie. Wir gehen da auf keinen Fall rein, hörst du?«
»Wo gehen wir nicht rein?« Ängstlich sah der Junge sie an. »In de Höll?«
»Ja, hab ich dir erklärt«, mahnte die Mutter, »zu gefährlich.«
Der Junge ließ nicht locker. »Wieso heißt das so?«
»So nennen die Leute hier das nun mal.« Die Mutter holte zwei Baumwollbeutel aus der kofferartigen Motorradtasche aus Leder hervor und drückte sie dem Jungen in die Hände. »Wirst schon sehen.«
Seine viel zu große Jacke hing ihm bis zu den Knien und verdeckte fast komplett die kurze Hose. Seine Unterschenkel waren blau vor Kälte. Er hauchte in die Hände, rieb sie schnell und fest aneinander und hielt sie an seine Beine.
Die Mutter bückte sich, rubbelte seine Waden warm und sagte: »Bald bekommst du eine lange! Zum Geburtstag, wenn du acht wirst. Ich werde dir eine nähen, versprochen.«
Sie schoben die kleine Maschine hinter zwei Bäume und bedeckten sie mit Astwerk. »Damit sie niemand findet«, sagte sie lachend. »Das Gute ist, dass sich niemand aus den Dörfern hierhertraut. Außer uns beiden«, ergänzte sie flüsternd. »Und deshalb können wir die besten Pilze finden! Im späten Mai wachsen die ersten. Und die können wir gut verkaufen.«
Der Junge machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nur verkaufen?«
»Nachdem wir uns kugelrund gegessen haben.« Sie lachte abermals und presste den Kopf des Jungen gegen ihre Brust. »Und wir nehmen nur die guten Pilze, die Steinpilze. Alles andere lassen wir stehen. Pilzschnitzel machen wir uns, die werden dir schmecken. Wirst sehen!«
»Hmm!« Voller Vorfreude leckte der Junge sich über die Lippen, rollte mit seinen Augen und rieb sich den Bauch.
Die Mutter gab ihm einen Klaps. »Und nun los, alles klar?«
Der Junge nickte. Sie schlichen einen kleinen Pfad entlang, und obwohl die Sonne bereits hell über dem dichten Wald hing, kam dem Jungen der Weg so düster vor, als würde es dämmern. Durch die eng gesetzten Fichten drang kaum ein Lichtstrahl. Nach einer Weile öffnete sich eine Lichtung.
Die Mutter blieb stehen und hob warnend die Hand. »Keinen Schritt weiter!«
Sie hatte ihm einige Male davon erzählt und er hatte so lange gequengelt, bis sie ihm versprach, ihn mitzunehmen. Für diese Stelle im Gressenicher Wald galt immer noch eine Betretungswarnung seitens des Forstamts, die Einheimischen wussten das. Und jetzt wurde dem Jungen schlagartig klar, warum die Leute dieses Inferno »de Höll« nannten. Er starrte auf ein monströses Chaos aus umgeknickten, explodierten und zerschossenen Bäumen. Zur Hälfte abgerissen, die Baumkronen am Boden, die trotz der Zertrümmerung noch Leben in sich zu tragen schienen, bizarr zerborstene Stämme, wild ineinander verhakt, rohes gesplittertes Holz, ein Mahnmal totaler Zerstörung.
»Hier hat der Krieg gewütet.« Ihre Stimme klang heiser und belegt. »Noch nicht lange her. Wenige Jahre, bevor du geboren wurdest, da ist das passiert. Und die Soldaten, die hier gestorben sind, die kamen aus der Heimat, wie ich damals, aus dem Osten. Viele Jungs, nur ein paar Jahre älter als du.«
Der Junge hatte kaum ein Ohr für seine Mutter. »Alles kaputt.« Seine Stimme bibberte. »Der ganze Wald geplatzt.« Er machte ein Knallgeräusch und ließ die gespreizten Hände auseinanderschnellen. Ängstlich sah er sich um und flüsterte: »Da ist was abgestürzt oder so.«
»Und überall Minen, vom Krieg, weil sie noch nichts weggeräumt haben.« Mit festem Griff packte sie ihn an der Schulter, sodass der Junge den Druck deutlich spürte. »Man muss ein Stück wegbleiben.«
»Aua!« Der Junge befreite sich mit einer schnellen Drehung. »Und hier hast du das Moped, die NSU, gefunden?«
»Ja, dahinten, am anderen Ende. Und den Mantel auch. Ich hab ihn umgenäht, er war mir viel zu lang.«
»Von wem war der?«, fragte der Junge.
»Von einem Soldaten.« Beiläufig hob sie die Schultern. »Hat ihn wohl liegen gelassen.«
Der Junge griff kurz nach dem dunklen Trenchcoat, sah auf die geflickte Stelle in halber Höhe und nickte.
»Und dahinten wachsen auch die besten Pilze.« Sie lächelte gütig. »Also, mein Liebling, sei schön vorsichtig«, mahnte sie ein letztes Mal, »und bleib immer dicht bei mir, hörst du?«