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Donnerstag, 11. Juni

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Polizeihauptwache Süd, Stolberg

Die Inspektion 2 der Polizei Aachen lag auf einem Hügel oberhalb der Stadt Stolberg. »Polizeihauptwache Süd, Stolberg«, so lautete der Name der Dienststelle offiziell. Zuständig für die Eifelgemeinden und für Stolberg, die alte Kupferstadt mit der hell leuchtenden Burg im Zentrum.

Seit Tagen hatte es nicht geregnet, ausgerechnet heute herrschte Sauwetter. Straubinger parkte seinen dunkelgrünen 74er-Volvo vor dem Gebäude der Wache und stieg aus. Der Himmel war schwarz, es hatte mächtig abgekühlt. Eine Böe packte ihn, bevor schwere Regentropfen auf das Dach seines Autos prasselten. Er schlug den Kragen seines englischen Tweedjacketts hoch und ging auf das Zweckgebäude zu, dessen trostlose Austauschbarkeit ein hohles Gefühl von Leere in seiner Magengrube auslöste.

Straubinger wurde gleich zum Dienststellenleiter geschickt. Der Erste Polizeihauptkommissar Dietmar Müller begrüßte ihn überschwänglich, doch sein von Falten durchzogenes Gesicht verwandelte sich im Nu in ein fast trauriges Antlitz. »Hauptkommissar Straubinger, ich weiß nicht, ob das wirklich so sein soll. Sie sind uns zugeteilt. Was haben Sie bloß angestellt? Sie müssen sich ja wirklich was Übles geleistet haben.«

»Inwiefern?« Straubinger prüfte Müller mit skeptischem Blick.

»Sind Sie nicht bei der Mordkommission gewesen?«

Straubinger nickte. »In der Tat.«

»Und nun hat man Sie hierhergeschickt, um Ordnung in unseren Keller zu bringen?« Müller, das erkannte Straubinger, war das alles sehr unangenehm. »Das ist wirklich eine Strafexpedition, HK Straubinger.«

Straubinger hörte ihm zu, ohne zu antworten.

»Eines muss klar sein! Sie machen keinen Außendienst. Ich brauch dringend jemanden, der das erledigt. Und Sie, so leid es mir tut, wurden nun mal zu uns geschickt.«

»Jaja, das ist in Ordnung. Ich beschwere mich nicht. Was also soll ich tun?«

Müller seufzte und lehnte sich zurück. »Wir haben vor einigen Jahren eine Kollegin zugeteilt bekommen. Hatte zwei Jahre Elternzeit hinter sich, und«, er beugte sich konspirativ nach vorn und hob die Hand an den Mund, »sie hatte, wie sich herausgestellt hat, keine Lust zu arbeiten. Nur ihr Kind im Kopf.« Er lehnte sich wieder zurück. »Kann man ja irgendwie verstehen. Und wissen Sie was, Kollege? Ich hab lange überlegt, was ich mit ihr machen soll. Dann kam aus Aachen die Anweisung, unseren Keller zur Verfügung zu stellen für jede Menge Akten.«

»Warum? Die lagern doch sicher zentral im Polizeipräsidium, oder?«

»Ja, das stimmt schon. Aber das Präsidium in Aachen platzt aus allen Nähten. Dabei ist es noch keine 30 Jahre alt, Fehlplanung, wenn Sie mich fragen. Da mussten die Sachen teilweise ausgelagert werden. Und man hat das Zeug in Lkw-Ladungen hierhertransportiert. Da hab ich mir gedacht, das ist was für die Kollegin, und hab sie drauf angesetzt, irgendwie für Ordnung zu sorgen. Das war ein Fehler.« Er seufzte nochmals.« Jetzt herrscht Chaos im Keller! Sie hat Fallakten und zugehörige Asservate wahllos in diese wunderschönen Regale gestopft, die man uns aus einem ausgemusterten Archiv, was weiß ich wo, hierhergebracht hat. Das Magazin ist sozusagen unbrauchbar.«

»Und sie hat nichts verzeichnet?«

»Den Eingang schon, aber den Lagerort hat sie nie festgehalten. Nix. Unauffindbar.« Er atmete tief durch, legte die Hände zusammen und sah Straubinger an. »Und jetzt haben wir jemanden beantragt, der System in das Durcheinander bringen soll. Jemanden mit Erfahrung in der Polizeiarbeit wollten wir haben. Und nun hat man Sie geschickt, einen Hauptkommissar! Was haben Sie bloß angestellt?«, fragte er erneut und raufte sich kurz die Haare. »Da werden Sie Monate dran knabbern, HK Straubinger.« Müller setzte eine Mitleidsmiene auf, als würde er ihn in die Unterwelt zur Reinigung der Abwasserkanalisation schicken.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wurde vorgewarnt. Es muss Ihnen nicht peinlich sein. Ich hab schon ganz andere Sachen machen müssen. Zeigen Sie mir, wo ich hinsoll. Den Rest schaffe ich schon. Und was meine Untaten betrifft, ich hab bloß einen Taxifahrer vermöbelt. Der hatte es verdient. Aber er hatte die falsche Verwandtschaft.«

»Sieht ja eigentlich ganz ordentlich aus.« Straubinger schaute sich in dem fensterlosen Raum mit den Archivregalen um, auf denen jede Menge abgelegte Gegenstände und Akten herumlagen.

Die junge Polizistin, die zuvor die feuerfeste Stahltür geöffnet hatte, grinste. »Na ja, versuchen Sie mal, hier was zu finden.« Für einige Sekunden starrte sie in seine tiefbraunen Augen und schien kurz in seinem Blick gefangen zu sein.

Straubinger streckte sich und fuhr sich durch die schwarzen lockigen Haare. Prüfend ließ er seinen Blick zwei Sekunden auf ihr ruhen, woraufhin sie rot anlief. Er schlug die Augen nieder und sah zu dem großen Metallschrank am Ende des Raums. »Was ist da drin?«

»Ach, das ist ein alter verstaubter Schrank, der stand schon immer hier. Waren früher Kisten mit Lampen, altes Schreibtischzeugs, Schreibmaschinen und so drin.« Verschwörerisch beugte sie sich vor und flüsterte: »Der Chef, der schmeißt nicht gern was weg, verstehen Sie?«

Straubinger nickte und setzte eine konspirative Miene auf.

»Jetzt hat die Kollegin erst mal die alten Fälle reingepackt … äh … soweit ich weiß«, stammelte sie. »Aus den eingemeindeten Gebieten.«

»Aha, eingemeindete Gebiete.« Straubinger sah sie erneut an. »Was ist das?«

Mit beiden Händen rückte sie ihren Gürtel zurecht. »Na ja, all das, was in den Stadtteilen passiert ist, die damals noch eigenständige Gemeinden waren, Breinig, Venwegen oder Gressenich.«

»Gemeinde Gressenich, aha. Hört sich geheimnisvoll an.«

»Ist es auch irgendwie. Dörfer rund um Stolberg, die in den 70er-Jahren der Stadt zugeschlagen wurden. Damals hatte fast jedes Dorf eine eigene Polizeiwache. Mit einem Polizisten, den jeder kannte, und so.« Sie sah auf die Wanduhr. »Ich muss leider …«

»Nur noch eine Frage. Müssen die Akten in dem Schrank auch neu sortiert werden?«

»Nee, da ist ja in den letzten Jahren niemand rangegangen. Nicht so wichtig. Aber so genau weiß ich das nicht.« Sie lachte. »Will eigentlich keiner wissen.« Dann tippte sie auf ihre Armbanduhr, hob verlegen die Schultern, wandte sich zum Gehen und winkte zum Abschied. »Viel Spaß hier unten.«

»Jaja, klar. War schön, Sie kennenzulernen. Und lassen Sie die Tür bitte offen.«

»Gemeinde Gressenich«, murmelte Straubinger leise, als sie den Raum verließ. »Was für ein klingender Name.«

Fünf Stunden lang hatte Straubinger Akten gesichtet, ihre Registriernummern herausgesucht und mit der Datei abgeglichen, die seine Vorgängerin so unfachmännisch angelegt hatte, dass er für jedes Stück beinahe eine halbe Stunde brauchte. Des Öfteren blätterte er in den Fällen und versuchte, sich nebenbei ein Bild über die Menschen dieser Stadt zu machen. Diebstahl, Kneipenschlägereien, Rauschgiftdelikte, Autoknacker, Sexualstraftaten, Neonazis, Brandstiftung, zwei Banküberfälle, schwere Körperverletzung. Eine Stadt wie viele andere. Eigentlich nichts Außergewöhnliches.

Immer wieder fiel sein Blick auf diesen Metallschrank am Ende des Raums. In dem Schrank gab es für ihn eigentlich nichts zu tun, Altfälle, bei denen davon auszugehen war, das sie sauber geordnet und abgelegt waren. Doch allein die Tatsache, dass der Schrank dort hinten stand, abgesperrt und lange unberührt, reizte ihn so, dass er sich irgendwann erhob und im Gehen an dem Schlüsselbund, den die Kollegin ihm übergeben hatte, nach dem passenden Schlüssel suchte. Er fand ihn, testete ihn vorsichtig und öffnete den Schrank. Staub wirbelte auf, den er zur Seite wedelte. Im Innern roch es muffig. Stehordner, Hängeordner und stapelweise verschnürte Aktendeckel. Alle zugebunden, mit einer Archivnummer versehen und anscheinend in der richtigen Reihenfolge abgelegt. Die älteste Akte, die er fand, war aus dem Jahr 1968. Schlägerei in einer Gastwirtshaft in Mausbach, Gemeinde Gressenich.

Hier schien nichts in Unordnung zu sein. Alles war sauber gekennzeichnet und sortiert. Als er gerade den Schrank schließen wollte, fiel ihm ganz unten am Boden, eingeklemmt zwischen Hängeordnern und Rückwand, etwas auf, was das ordentliche Gefüge zu stören schien. Ein verloren wirkender Aktendeckel, auf der Spitze stehend, irgendwie aus der Ordnung gefallen. Straubinger bückte sich, griff nach der ausgeblichenen grauen Pappe und zog sie vorsichtig heraus. Die Akte war sehr dünn. Merkwürdig, dachte Straubinger. Ein Aktenzeichen aus dem Jahr 1956. Ein Todesfall! Vorn auf dem Deckel stand mit Bleistift geschrieben: »Akte Hürtgenwald«.

Seine Neugier war geweckt. Ohne den Schrank zu schließen, begab er sich zurück zu seinem Tisch. Er zog an dem Knoten des Stoffbands und öffnete den Aktendeckel. Die Akte enthielt wenige Schriftstücke und zwei Fotos. An einem am Rand des vergilbten Papiers war das Porträt eines Mannes festgesteckt, helles Haar, bereits deutlich ausgedünnt, Seitenscheitel. Straubinger erschrak. Dieses Gesicht, es erinnerte ihn an jemanden. Aber an wen?

Auf der ersten Seite ein Name: »Heinrich III. Vandenberg, geboren am 13. Januar 1919 in Stolberg, gestorben am 21. Mai 1956, Gressenicher Wald, südlich ›Buche 19‹, Gemeinde Gressenich.«

Gemeinde Gressenich. Schon wieder dieser Name. Straubinger gab das Aktenzeichen in den Computer ein. Nichts. Dann »Akte Hürtgenwald«, wieder nichts, anschließend suchte er nach Vandenberg. Auch nichts. Entweder war die Mappe nach einer amtlichen Aktenvernichtungsaktion im Schrank vergessen worden oder jemand hatte sie versteckt, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.

Er blätterte weiter. Die Buchstaben auf den dünnen Durchschlagpapieren waren kaum lesbar, die Typendurchschläge des Kohlepapiers hatten sich in dem Trägerpapier mit den Jahren ausgebreitet und waren verschwommen.

Auf der zweiten Seite stand noch einmal der Name Heinrich Vandenberg, wohnhaft im Kupferhof Blumenthal in Stolberg. Tod bei Waldarbeiten zwischen »Buche 19« und »Pflanzgarten«, durch eine Landmine. Wurde 37 Jahre alt. Dann standen dort der Name des Försters und der Name des Polizisten, die den Toten im Wald gefunden hatten, und der Name eines Mannes, der den beiden den Fund am 22. Mai gemeldet hatte.

Straubinger sah sich das Schwarz-Weiß-Foto des Mannes noch mal an. Ein gut geschnittenes Gesicht, dunkle Augen. Ein anmutiges, fast verstecktes Lächeln umspielte seine vollen Lippen, Falten entlang der Wangen, zweifellos ein Frauenschwarm seiner Zeit. Diese funkelnden, warmen Augen. Das Gesicht des Mannes strahlte neben der herben Männlichkeit auch etwas Gütiges aus. Vor mehr als 50 Jahren von einer Mine getötet. Ein weiteres Foto, das in einer flachen angeleimten Leinentasche am hinteren Deckel steckte, zeigte die Leiche, wie sie mit verdrehten Armen auf dem Waldboden lag, ein Bein komplett abgerissen, das andere Bein zerfetzt. Das abgerissene Bein hing hinter ihm in einem Baum. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Er wollte das Foto gerade wieder zurückstecken, als ihm etwas auffiel. Im Vordergrund am unteren Bildrand erschien der Waldboden ungewöhnlich ebenmäßig. Straubinger öffnete mehrere Schubladen des Schreibtischcontainers und fand schließlich, wonach er suchte, eine große Lupe. Ein sehr schmaler Zipfel im Bildvordergrund hob sich ab vom umgebenden Waldboden. Allerdings war der Bildbereich äußerst unscharf, sodass man nicht erkennen konnte, was es war. Ein Stück Stoff vielleicht?

Straubinger war wie elektrisiert. Dieser Mann, einerseits hart und andererseits sensibel, wie er auf dem Foto wirkte, hatte Holzarbeiten im Wald gemacht? Irgendwas sagte ihm, dass das nicht alles war.

Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite waren ein blauer Stempel, ein handgeschriebenes Datum und eine Unterschrift zu sehen. Der Stempel des Fotografen, die Stempeltusche mit den Jahren verlaufen. Karl Königforst, Mausbach, 22. Mai 1956. Das Foto war also einen Tag nach dem angegebenen Todesdatum des Heinrich Vandenberg entwickelt worden.

Ein letztes Mal betrachtete Straubinger das Foto der Leiche des Mannes. Es blieb die Frage: Was war das dort im Vordergrund? Er bewegte den Kopf langsam vor, blinzelte und schien nochmals in das Foto einzudringen. Als er es in die Leinentasche zurückstecken wollte, fand er darin einen kleinen Zettel und las.

»Na, HK Straubinger«, Straubinger erschrak, »haben Sie sich gut eingearbeitet?«

»Danke, ja, danke.« Straubinger steckte den Zettel zurück und legte Akte und Lupe beiläufig zur Seite. »Ganz schöner Wust hier.«

»Sie machen das schon.« Der EPHK Müller klang jovial wie ein liebevoller Patriarch. »Ab morgen bekommen Sie dann eine Assistenz.«

»Oh, die kann ich brauchen.«

»Warum steht die Tür offen?« Müllers Blick fiel auf den Stahlschrank am Ende des Raums.

»Hab mal reingesehen. Ich muss ja wissen, was überall herumliegt.«

»Da brauchen Sie nix zu machen. Altes Zeug aus den alten Gemeinden, braucht keiner mehr. Manche Akten aus den ehemaligen Polizeiwachen sind irgendwann bei uns gelandet, manche in der einzigen Wache, die heute noch existiert, in Vicht.«

Straubinger sah ihn fragend an. »Vicht? Heißt so nicht der Fluss, der durch Stolberg fließt? Der mit den alten Hammerwerken? Hab da was gelesen.«

»Ja, die Vicht ist ein Bach«, erklärte Müller. »Aber so heißt eben auch ’n Dorf.«

»Und da ist die letzte verbliebene Land-Polizeiwache?«

Müller nickte. »Nur eine einzige Wache mit zwei Kollegen für 17.000 Leute, die neun eingemeindeten Dörfer von Stolberg. Und den Schrank da, den können Sie wieder zumachen. Lassen Sie das Zeug außen vor.«

»Und wenn ein ungeklärter Fall wieder aufgerollt werden soll?«, fragte Straubinger. »Dann sollte man doch wissen, wo was zu finden ist.«

»Ungeklärter Fall? Fällt mir nichts ein.« Müllers Züge wurden nachdenklich, bevor er sich zum Gehen wandte.

»EPHK Müller?«

»Was denn, Kollege?«

»Ich hab eine Akte gefunden, ganz hinten, versteckt hinter den anderen Akten.« Er nahm das Schriftstück in die Hand und wedelte damit. »Ein Todesfall von 1956. Den würde ich mir gern mal näher ansehen. Die ›Akte Hürtgenwald‹.«

»1956?« Müller verzog das Gesicht und kratzte sein Kinn. »Ach das, ja. Der Fall Vandenberg, oder?«, fragte er und zeigte auf den Aktendeckel.

Straubinger nickte. »Ja, das ist der Fall.«

»Das war ich. Die hab ich dahinten hingesteckt. Die Akte hab ich vom ehemaligen Dorfpolizisten von Schevenhütte, Polizeiobermeister Matthes Wolfberg, ein guter Mann. Er hat den Fall damals intern ›Akte Hürtgenwald‹ genannt.« Müller deutete auf die Bleistiftschrift. »Er hat mich zur Polizei gebracht, alter Freund meines Vaters. Als er starb, ein paar Jahre nach seiner Pensionierung, hat seine Frau mir die Akte vertraulich übergeben. Sie erzählte mir, dass er sie stets gehütet hatte und davor bewahren wollte, vernichtet zu werden.«

»Und das hatte sicher einen Grund, nehme ich an.«

»Sie wissen ja, jeder Fall, der älter als die 70er-Jahre ist, ist eigentlich längst wegen der verstrichenen Aufbewahrungsfrist entsorgt worden.« Müller setzte sich auf die Kante von Straubingers Schreibtisch und nahm ihm die Akte kurz aus der Hand, schlug sie auf und betrachtete das Foto von Heinrich Vandenberg. »Wolfberg ist dieser Fall sehr nahegegangen, ich hab damals als Junge zugehört, als er das meinem Vater mal erzählt hat. Und mir ist seine Beschreibung nicht aus dem Kopf gegangen, wie er und der damalige Förster, der alte Enno ter Wey, den Toten gefunden haben.«

»Und ein Hepp Dorenbusch, der hat das ja gemeldet, steht hier drin.«

»Ja, genau«, bestätigte Müller. »Da war noch jemand dabei.«

»Hepp Dorenbusch, Besenbinder, Gressenich, wohnhaft Dorado.« Straubinger stutzte. »Was bedeutet Dorado?«

Müller zuckte die Achseln. »Nie gehört.«

»Aber warum hat er gerade diese Akte gehütet?«

»Wolfberg hat wohl irgendwie Zweifel an irgendwas gehabt.«

»Und, haben Sie dann weiter nachgeforscht?«

Offensichtlich war Müller Straubingers Frage unangenehm. »Na ja, Sie wissen, wie das ist. Das war unendlich lange her und ich hatte anderes zu tun, als ich den Laden hier übernommen habe. Aber die Akte hab ich ja wenigstens verwahrt.«

»Mir erscheint da Einiges merkwürdig. Nur zwei beschriebene Seiten. Keine weiteren Nachforschungen.«

»Es gab damals viele Minentote, bis lange Zeit nach dem Krieg. Das war also nichts Außergewöhnliches. Man hat das seinerzeit als ein naturgegebenes Schicksal betrachtet.«

»Trotzdem, irgendwas scheint mir nicht klar.«

»Und wenn schon«, sagte Müller abweisend. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, HK Straubinger.«

»Ich würde mich gern drum kümmern. Mord verjährt nun mal nicht.«

»Es war kein Mord! Vandenberg ist auf eine Mine getreten, es war also kein Mord.«

»Vielleicht, vielleicht nicht. Kollege Wolfberg hatte daran anscheinend Zweifel.«

Müller wurde unruhig. »Wie kommen Sie drauf?«

»Darf ich?« Straubinger nahm die Akte wieder an sich, zog den Zettel heraus.

Müller beugte sich über und Straubinger las vor: »›Akte Hürtgenwald‹, darunter ein großes Fragezeichen, mit Bleistift geschrieben. Darunter die Frage: ›Wonach hat Vandenberg gesucht?‹ Und zum Abschluss die Initialen ›M.W.‹«

Müller richtete sich wieder auf. »Wo hat der Zettel gesteckt?«

»Hinten bei dem Foto, ein bisschen versteckt in der kleinen Leinentasche.«

Straubinger beobachtete, wie es in Müller arbeitete.

»Gut, HK Straubinger. Nehmen Sie sich der Sache an. Vielleicht bin ich das dem alten Wolfberg schuldig.« Müller schüttelte den Kopf und stöhnte. »Hab ich es doch gewusst! Warum musste der Herrgott mir einen Mordermittler schicken?« Flehend blickte Müller an die Decke und reckte die Hände in Verzweiflung wie einst Desdemona im Angesicht Othellos. Dann wurde sein Blick streng. »Aber bitte vergessen Sie nicht, wozu Sie eigentlich hier sind. Machen Sie das im Stillen und außerhalb der Dienstzeit. Wir werden sehen, was sich draus entwickelt. Einverstanden?«

»Akzeptiert, Sie sind der Chef.«

»Und übrigens: Sie sollten eine Kaffeemaschine hier unten haben. Da in dem Schrank, unten links, da müsste sie stehen. Die können Sie nehmen.« Müller stützte die Hände in die Hüften, nickte und verließ den Raum.

Straubinger ging zu dem offenen Aktenschrank und räumte unten links einen Karton zur Seite. Und da stand sie, eine »Wigomat 100«, völlig verstaubt. Straubinger lachte. So was gab es eigentlich nur noch im Design-Museum, Abteilung 50er-Jahre. Diese Kaffeemaschine war tatsächlich älter als er. Grinsend schüttelte er den Kopf und schloss die Schranktür.

Nach diesem denkwürdigen Tag in Stolberg fuhr Straubinger durch einen heftigen Regensturm auf die Autobahn und zurück nach Köln. Nach eineinhalb Stunden war er in seiner Wohnung.

Die Akte Hürtgenwald

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