Читать книгу Die Akte Hürtgenwald - Lutz Kreutzer - Страница 8
Freitag, 12. Juni
ОглавлениеDer Hürtgenwald
Das Gesicht des Mannes und das Foto seiner Leiche hatten ihn nicht losgelassen, er hatte schlecht geschlafen. Jetzt saß er frisch geduscht am Frühstückstisch und strich sich durch die Haare. Der Duft von frischem Kaffee half ihm, munter zu werden. Und schnell waren die Bilder von gestern wieder da. Von dem Mann, dem Toten im Gressenicher Wald.
Ein diffuses Gefühl der Unruhe kam in ihm auf. Der Mann und der Fall erinnerten ihn an ein Ereignis, das lange zurücklag. War es das Porträt? Oder war es das Foto im Wald, der Tote, wie er dort inmitten dieser einsamen Waldlichtung lag, kaputte Bäume ringsumher, sein Bein in einem der Äste hängend. Grausam.
Josef Straubinger war in den Wäldern des Chiemgaus aufgewachsen, sein Vater war Bauer gewesen und hatte zwei Hektar besessen. Jeden Sommer hatte es ihn mit den Nachbarn in die Forste gezogen, um für den Winter vorzusorgen, denn die Höfe der Region wurden allesamt mit Scheiten beheizt. In der Nachbarschaft hatten sie zusammengehalten, man hatte sich gegenseitig geholfen. An einem warmen Sommertag im Juli, bei Neumond, zogen sie aus. Dem Korbi Mühlburger, dem stets gut gelaunten Nachbarn, war es nicht wohl an diesem Morgen. Er klagte über Magenprobleme. Selbst der Kräuterschnaps hatte keine Besserung gebracht. Doch er wollte nicht zurückstehen und begleitete Straubingers Vater und die anderen. Und er, der zwölfjährige Josef, durfte auch mit. Mit festem Bergschuhwerk, einer groben Leinenhose und einer dicken Cordjacke bekleidet, war er bestens gerüstet für die schwere Arbeit. Als sie gerade dabei waren, eine riesige Fichte, die der Vater und der Bruno geschlägert hatten, mit dem Flaschenzug den Hang hinaufzuziehen, da passierte es. Straubinger erinnerte sich, wie er die Riesenratsche bediente, die der Korbi ihm eingerichtet hatte. Zug um Zug ächzte der Baum den Hang hinauf. Dem Korbi wurde unvermittelt schlecht. Er ging ein paar Schritte den Hang hinab und übergab sich. Dann, plötzlich, rutschte er aus, glitt auf dem Hosenboden auf den Baum zu und verhakte sich im Schritt mit beiden Beinen zwischen Stamm und Boden. Er fluchte. Straubingers Vater und der Bruno hechelten den Hang hinauf. Riefen ihm etwas zu. »Auslassen, Josef, auslassen!« Doch er hatte nicht gewusst, was sie meinten. Panisch hatte er den winzigen Hebel betätigt, der die Bremsnase aus dem Zahnrad der Ratsche löste, und der Baum war den Hang hinabgerast. Der Korbinian hatte geschrien wie am Spieß, denn der Baum und das Stahlseil hatten ihm den Unterschenkel abgerissen.
Straubinger saß am Küchentisch und schüttelte sich. Die Erinnerung daran war jedes Mal fürchterlich. Der Korbinian hatte ihm niemals die Schuld gegeben. Mit einem trefflichen Holzbein ausgestattet, hatte er ihm immer wieder gesagt: »Mein Junge«, währenddessen hatte er auf das Holz geklopft, »hätt der Herrgott gewollt, dass ich mein Bein behalt, hätt er mir morgens keinen üblen Magen beschert.« Da wurde ihm klar, an wen ihn das Porträt des Mannes aus dem Wald erinnerte. Der Korbinian hatte ähnlich ausgesehen. Hellblaue Augen, schütteres blondes Haar, Seitenscheitel. Straubinger starrte ausdruckslos an die Wand und trank langsam den Kaffee aus. Dieses Gesicht!
Als er seine Wohnung im Kölner Süden verließ, regnete es in Strömen. Auf der A 4 Richtung Aachen war die Hölle los. Er kam eine halbe Stunde zu spät in Stolberg an und begab sich gleich ins Archiv.
»Guten Morgen!« Eine junge Frau, Ende 20, kam auf ihn zugeschossen und streckte ihm die Rechte hin. »Anja Schepp, ich soll Ihnen helfen, hier Ordnung reinzubringen.« Sie grinste verlegen.
»Das ist schön, Anja Schepp. Darf ich Anja sagen?«, fragte Straubinger, wobei sein brummiger Bariton fast warm klang.
»Ja, klar«, antwortete Anja fröhlich.
»Haben Sie schon mal so was gemacht?«
Sie zögerte. »Na ja, zum Schluss. Bei Ihrer Vorgängerin.«
»Nanu, und Sie haben das nicht bemerkt? Ich meine dieses Chaos?«
Anja sah zu Boden. »Doch«, sagte sie leise. »Ich hab es ja … aufgedeckt … also sozusagen. Ich hab ja bemerkt, dass …«
»Dafür müssen Sie sich nicht verteidigen. Das ist doch gut, dass Sie das bemerkt haben.«
Sie lächelte verschämt. »Finden Sie? Hm … Ihre Vorgängerin fand das nicht. Die hat mich ganz schön beschimpft.«
»Ich beschimpfe Sie nicht.« Straubinger ging zu seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, hier, gegenüber.« Straubinger klatschte kurz in die Hände. »Also, dann fangen wir mal an.«
Anja Schepp erklärte ihm, wie alles zusammenhing, wo er was finden konnte und ein paar Worte zum Chef. »Ein wirklich netter Mensch, aber reizen Sie ihn nicht, er kann ganz schön ungemütlich werden.«
»Er ist Polizist. Warum sollten Polizisten immer nur lieb sein?«, fragte er sie.
»Auch wieder wahr.« Anja Schepp nahm eine Flasche Wasser aus ihrer Tasche und trank sie zum Drittel aus. »Ah«, stieß sie genussvoll hervor. »Aachener Heilwasser. Wollen Sie einen Schluck?«
»Macht das was mit mir?«, fragte Straubinger scherzhaft.
»Einen klaren Kopf. Köln hat sein Kölsch zur Verwirrung, Aachen seine Heilquellen zur Wiederbelebung.« Sie goss ihm ein Glas ein und stellte es ihm hin. »Die Produktion wird Ende des Jahres eingestellt. Noch haben Sie also die Chance, Körper und Geist zu reinigen.«
»Danke!« Straubinger probierte und verzog das Gesicht. »Uiui, ist Ihnen da der Salzstreuer reingefallen?«
Anja lachte. »Ha, Sie sind nicht der Erste, der so reagiert. Aber Sie werden sehen, es wird Ihnen guttun.«
Straubinger nickte. »Nun gut«, sagte er und trank den Rest des Glases aus. »Anja, was ganz anderes. Kennen Sie Gressenich?«
»Klar, so ein Dorf, gehört zur Stadt Stolberg.«
»Und wo liegt das? Gibt es so was wie eine Umgebungskarte?«
»Ja, kommen Sie, hinten an der Wand steht eine, die können wir aufhängen.«
Anja Schepp ging voran und drei Regalgassen weiter stand tatsächlich eine große aufgezogene Wandkarte mit dem Stadtgebiet von Stolberg.
Straubinger hob die Karte hoch, schleppte sie zurück und stellte sie auf den Tisch, sodass sie gegen die Wand lehnte. »Ein bisschen muffig«, sagte er und rümpfte die Nase.
»Also, Gressenich, das ist nicht weit«, erklärte Anja Schepp. »Sehen Sie, hier sind wir, Stadtteil Münsterbusch. Dort ist die Stolberger Burg, und noch weiter, immer nach Osten, da ist Gressenich. Ungefähr … vielleicht zehn Kilometer von hier weg.«
»Also eine Viertelstunde mit dem Auto?«
»Ja, ungefähr. Ist ganz schön da. Aber auch wirklich eigenwillige Leute.« Sie zog einen Flunsch.
Straubinger nickte. »Wo nicht?«
»Ja, wo nicht. Aber dort besonders. Sie haben keinen Karnevalsprinzen, Karneval feiern sie an anderen Tagen und sie hätten immer noch gern einen eigenen Bürgermeister.«
Straubinger lachte. »Von diesem Karnevalszeug verstehe ich zwar nichts, aber hört sich in der Tat sehr eigenwillig an. Wo auf der Karte ist der Gressenicher Wald?«
Anja sah ihn mit großen Augen an. »Da fragen Sie mich was!« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Irgendwo bei Gressenich, nehme ich an.«
»Genau so ist es, südlich von Gressenich«, sagte eine Stimme von der Tür her. EPHK Müller betrat den Raum. »Ich bringe Ihnen was. Frischer Kaffee aus Aachens bester Rösterei. Und Filtertüten. Milch und Zucker.« Er stellte eine Dose und eine Tüte auf den kleinen Tisch.
»Vielen Dank, Sie sind ja ein großartiger Chef!«, sagte Straubinger sichtlich erfreut.
»Haben Sie die Maschine getestet?«
»Äh, nein, keine Zeit gehabt.«
»Aha! Dann mal los.« Müller ging zum Schrank und holte die Maschine raus. »Oh je, die muss mal geputzt werden. Dahinten ist ein Waschbecken, Straubinger, schon gesehen?« Müller ging hin und begann, die Maschine vom Staub zu befreien.
»Frau Schepp, besorgen Sie doch mal ein paar Tassen, bitte«, rief Müller, füllte Wasser in den Glasbehälter und ging hinüber zu Straubingers Tisch. Er gab Straubinger das Kabel mit dem Stecker in die Hand, legte einen Filter in den Trichter und füllte ihn mit Kaffeepulver aus der Blechdose, die ein Relief des Aachener Doms zierte. Ein paar Sekunden später röchelte die Maschine kaum hörbar los. Kaffeeduft erfüllte augenblicklich den Raum.
»Wusste ich es doch, sie funktioniert. Das war noch Qualität! Und fast geräuschlos. Das Wasser läuft nur durch Metallbauteile. Im Gegensatz zu den heutigen Maschinen aus Plastik. Die hier kann noch richtig guten Filterkaffee machen.«
Anja kam zurück und brachte drei Steinguttassen.
Müller schenkte jedem Kaffee ein. Dann stellte er sich vor die Karte. »Sehen Sie sich unsere Heimat gut an, HK Straubinger. Studieren Sie die Karte. Jeder Fall, den Sie hier in dem Chaos finden, hat irgendwo dadrauf seinen Punkt.« Müller trank einen Schluck. »Ahh, ist der gut!«
Straubinger trat ein Stück näher und trank ebenfalls. »Tatsächlich, nur ein bisschen Staubgeschmack«, sagte er und verzog kurz das Gesicht, »aber nach dem dritten Durchlauf ist der auch weg.«
»Sehen Sie hier«, erläuterte Müller, »alles, was im Süden von Gressenich liegt, das ist der Gressenicher Wald. Das ist der nördlichste Teil des Forstgebietes, das man Hürtgenwald nennt.«
»Ich hab mal ein Buch von Ernest Hemingway gelesen, ist das dieser Hürtgenwald, den er in dem Buch beschreibt? Wo diese Riesenschlacht war? Das größte Desaster für die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg?«
»Ja genau, das ist der Hürtgenwald. Dieser dicht bewaldete Höhenrücken hier«, sagte Müller und zeigte auf die Karte, »zwischen Roetgen, unten im Süden an der belgischen Grenze, Stolberg im Westen, Langerwehe und Düren im Norden. Und dieser obere Teil des Hürtgenwalds, also der Gressenicher Wald, gehört zum Stadtgebiet von Stolberg«, schloss er und fächerte mit der Handfläche über die Karte. »In diesem verfluchten Hürtgenwald, da haben die Amerikaner so viele Soldaten verloren wie sonst nirgendwo. Zehntausende Männer, die genaue Zahl kennt man nicht. Die Deutschen nicht ganz so viele. Und vor Gressenich, da sind die Amis damals hängen geblieben. Aber«, sagte er leise, »das erzähl ich Ihnen ein andermal. Ich muss jetzt weiter.«
»Und Vandenberg?«, fragte Straubinger.
Müller sah ihn verdutzt an.
»Die ›Akte Hürtgenwald‹, Heinrich Vandenberg. Wo ist er gestorben?«
Müller runzelte die Stirn. »Tja, genau kann ich Ihnen das auch nicht …« Er fixierte noch einmal die Wandkarte und zeigte schließlich auf einen Punkt. »Also das hier ist der Parkplatz ›Buche 19‹«, murmelte er und fuhr mit dem Finger den Bachlauf nach Süden entlang, »hier unten, da etwa. Da muss das gewesen sein. Mitten im Gressenicher Wald.«
Straubinger nickte und nahm noch einen Schluck.
»Tun Sie mir einen Gefallen, HK Straubinger. Beißen Sie sich nicht zu sehr fest in die Sache», sagte Müller und schlenderte zur Tür.
»Danke für den Kaffee!«, rief Straubinger ihm hinterher.
Anja Schepp setzte sich an ihren Tisch und betrachtete die Karte. »Da lernt man in einer Minute mehr über seine Heimat als in drei Schuljahren Heimatkunde.«
Straubinger sah sie ein paar Sekunden lang an. »Sagt Ihnen der Kupferhof Blumenthal etwas?«, fragte er schließlich.
»Blumenthal? Ja sicher. Das ist das Stammhaus der Vandenbergs. Eine alte Villa. Mitten in Stolberg. Schönes Anwesen.«
»Kupferhof? Was bedeutet das?«
»Stolberg ist eine alte Kupferstadt. Steht ja auch auf allen Ortsschildern, Kupferstadt Stolberg.«
»Und die Vandenbergs? Was sind das für Leute?«
»Kupfermeister, reiche Industrielle.« Anja hob die Schultern. »Ich kenne sie nicht, nie gesehen. Irgendwie abgehoben, glaub ich. Was weiß ich? Hab in Heimatkunde nie so richtig aufgepasst.«
Straubinger stutzte. Heinrich Vandenberg entstammte also einer reichen Industriellenfamilie. Und so jemand machte Holzarbeiten im Wald? Zu jener Zeit wurden die Klassenunterschiede noch viel deutlicher gelebt als heutzutage. Sehr geheimnisvoll, dachte Straubinger. Er nahm sich die Akte noch einmal vor und las. Dann stutzte er. »Anja, können Sie mal rausfinden, was eine ›Dolmar CP‹ ist?«
»Wie?«
»Dolmar CP«, wiederholte Straubinger.
»Klar«, sagte sie, verdrehte die Augen, tippte etwas auf der Tastatur und starrte angestrengt auf den Bildschirm.
»Ich hab’s! Die erste Einmann-Benzinmotorsäge weltweit trug den Namen Dolmar CP. Wurde 1952 in Deutschland erfunden.«
»Hier im Polizeibericht steht, dass sich unmittelbar neben Heinrich Vandenbergs Leiche so eine befand.«
»Ja, und?«, fragte Anja.
Straubinger kramte das Bild hervor, auf dem die Leiche zu sehen war, und legte es Anja hin. »Sehen Sie irgendwo eine Kettensäge?«
Anja sah sich das Bild an, verzog das Gesicht. »Nein, keine Kettensäge. Aber ganz schön heftig«, sagte sie leise und reichte Straubinger das Bild zurück über den Tisch.
»So was machen Minen mit einem.«
Heute war Freitag. Am Nachmittag, nach Dienstschluss, würde er diesen Kupferhof Blumenthal besuchen. Und anschließend, wenn noch Zeit blieb, würde er sich dieses Dorf einmal ansehen. Das befahl ihm einfach seine Neugier.
*
Kupferhof Blumenthal
Gesäumt von kniehohen Mauern, endete die gepflasterte Einfahrt an einem prunkvollen Torbogen aus Blaustein. Zwischen den vorgelagerten Betriebsgebäuden und dem Torbogen spannten sich hohe Brüstungsgatter, die oben in Lilienspitzen endeten und das Überklettern unmöglich machten. Dahinter thronte ein mächtiger dreistöckiger Bau mit einer Fassade aus gelbrotem Sandstein, die von Simsen und Faschen aus demselben Blaustein gegliedert wurde, aus dem auch der Torbogen war. Eine Freitreppe mit kunstvoll gestaltetem Schmiedewerk und Zustiegen von rechts und links führte zu dem mächtigen Eingangsrisalit, der oben in einem klassisch dreieckigen Giebel abschloss. Das graue Blechdach und die beiden Schornsteinbauten aus rotem Ziegelmauerwerk verliehen dem Gebäude trotz seiner Pracht den Eindruck unprätentiöser Behaglichkeit.
Straubinger war beeindruckt. Er sah auf die Uhr. 15.10 Uhr. Auf Viertel nach drei hatte er sich angemeldet. Nun stand er vor dem runden Blumenbeet aus Buchsbäumen und Rosensträuchern, das die Hofeinfahrt wie eine Verkehrsinsel teilte. Dahinter, am Fuß der Freitreppe, befand sich ebenfalls ein Beet mit unterschiedlichen Sträuchern und Pflanzen, flankiert von zwei weißen Puttenstatuen, die die beiden Treppenaufgänge bewachten. Hier schien alles seine klare Ordnung zu haben.
»Wow, so möchte ich auch mal wohnen«, murmelte Straubinger und blickte an der Fassade empor zu der prachtvoll ornamentierten Schmuckfläche des Giebeldreiecks. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Im zweiten Stock lugte eine Frau aus einem der weißen Sprossenfenster. Sie zog sofort ihren Kopf zurück und knallte das Fenster zu.
Zwei Minuten später stand Gerhild Vandenberg in einem schwarzen Morgenmantel aus blumenbesticktem Samt vor ihm, der bis zum Boden reichte. Ihre Haare waren unter einer Samthaube versteckt, ihr Gesicht frisch geschminkt, knallroter Lippenstift, dunkler Lidschatten, leicht nachgezogener Augenbrauenstrich, und ihre Füße steckten in plüschbesetzten roten Pantoffeln. Am auffälligsten jedoch waren ihre wachen Augen. Einen Moment war es Straubinger so, als würde er in dem funkelnden Glühen ihres Blicks versinken.
»Es ist Freitag, ich hab meine Fitnessübungen gemacht, komme gerade aus der Wanne, und Sie überfallen mich hier wie ein Kater eine Maus. Sie sind also der Hauptkommissar?« Ihre penetrante Blasiertheit überraschte Straubinger, doch er blieb ruhig.
»Ich hatte angerufen und mich angemeldet.«
»Ja, aber Sie sind fünf Minuten zu früh«, schimpfte sie.
»So ist es, Gnädigste, und ich habe Fragen an Sie, die sich kaum aufschieben lassen.«
»Kaum, sagen Sie. Das heißt doch, sie lassen sich aufschieben«, gab sie barsch zurück. »Sehen Sie, es gibt immer eine Möglichkeit, wenn man sich bemüht.« Sie musterte Straubinger von oben bis unten. »Ach was, kommen Sie rein. Was soll’s.« Sie drehte sich um und ging voran ins Haus. »Und schließen Sie die Tür.« Ihr Trippeln auf dem Steinfußboden hallte wider wie in einem Kirchengebäude.
Straubinger ging drei Schritte hinter ihr her. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um. »Ich komme mir vor, als hätte ich einen … einen Mord begangen.« Dabei ließ sie ihre Arme in der Luft herumwirbeln.
»Wer weiß.«
»Oh, ich werde verdächtigt. Na, so was. Wen hat es denn erwischt?«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, die Ihre Vergangenheit betreffen.« Straubinger deutete auf einen der Stühle. »Darf ich mich setzen?«
»Vergangenheit?« Sichtlich irritiert sah sie ihn an. Erst als Straubinger die Stuhllehne anfasste, bot sie ihm einen Platz an dem großen Holztisch vor dem offenen Kamin an. »Ja, natürlich, setzen Sie sich. Oder gehen wir vielleicht in den Garten?«
Straubinger nickte und folgte ihr durch den nördlichen Gebäudeflügel. An den Wänden hingen Gemälde. Drei Bilder, nur Himmel und Wolken. Straubinger blieb fasziniert stehen.
»Gefallen sie Ihnen?«, fragte sie mit verschränkten Armen neben ihm. »›Der Morgen‹, ›Der Mittag‹ und ›Der Abend‹.«
»Ja, sie sind sonderbar. Leicht, verletzlich, und doch haben sie etwas Dräuendes, Eindringliches.«
»Sehen Sie, Sie haben es verstanden.« Ihr Tonfall wurde sanfter. »Kunst, die nur schön sein will, hat die Bezeichnung Kunst nicht verdient. Kunst muss Sie innen berühren, ganz tief in Ihnen drin. Ansonsten ist sie sinnlos.« Gerhild Vandenberg lächelte. »Dieser Mann hat uns alle berührt. Ganz tief, tief in uns drin.«
»Wer ist der Maler?«, fragte Straubinger.
Sie hob den Zeigefinger an die Lippen und sagte leise: »Psst, das wird nicht verraten.« Dann wandte sie sich um und ging weiter. »Kommen Sie, wir gehen raus. Ich habe gerade einen Tee aufgebrüht. Mögen Sie Tee?«
Straubinger nickte. Nach einer Minute kam sie zurück mit einem Tablett, darauf altenglisches Porzellan, ein kleines Sahnekännchen und eine Keksdose.
Sie nahmen Platz an einem weißen Tisch und ebensolchen Stühlen, die aus Gusseisen gefertigt waren, der morgendliche Regen war abgetrocknet. Gerhild Vandenberg goss den Tee ein und bot ihm Shortbread dazu an.
»Ein beeindruckendes Anwesen. Sagen Sie, wohnen Sie alleine hier?«
»Es gehört der Vandenberg-Stiftung und ich habe das Wohnrecht, lebenslang.«
Straubinger ließ seinen Blick schweifen. Ihm fielen die Holzskulpturen auf. Große Figuren, die ihn ein wenig an afrikanische Kunst erinnerten. »Wunderbar, Sie sind Liebhaberin afrikanischer Kunst?«
Sie lachte. »Gefällt es Ihnen?«
»Ja, sehr. Wunderschön.«
Sie wirkte ein wenig verlegen. »Ich mach das selbst. Schnitzen, behauen, bemalen. Meine Leidenschaft. Mit irgendwas muss man sich ja beschäftigen im Alter. Solange man noch kann.«
Straubingers Blick fiel auf ein Nebengebäude, dessen Steinfassade zwar ebenso gepflegt wirkte wie der Rest der Anlage, dessen direkte Umgebung aber verwahrlost war. Keine gemähten Rasenflächen, keine Blumen, ungeputzte Fenster, und jede Menge Kinderspielzeug aus Plastik lag verstreut umher, ausgeblichen und teilweise kaputt. In einem Sandkasten aus angefaultem Holz spielten zwei unvorstellbar hässliche Bullterrier-Albinos, die an Ketten gelegt waren. Daneben stand ein verrosteter Blechgrill, an dem eine ebenso verrostete Grillzange hing.
»Und wer wohnt dort?«
»Das kann man nicht wohnen nennen«, schimpfte sie zischend. »Dort haust der Albtraum. Ich weiß nicht, wieso. Aber mein Onkel hat dieser Familie freies Wohnen eingeräumt, schon seit ewigen Jahren. Der Alte ist lange tot, aber nun wohnen sie in dritter Generation dort und sie werden nicht weniger, wie sie unschwer erkennen können. Ungebildetes und streitsüchtiges Volk!«
»Wo sind sie denn alle? Sieht ja nach einem ganzen Klan aus.«
»Sie hatten heute Morgen Streit. Danach setzte es Schläge. Wie so oft. Die Polizei kommt gar nicht mehr her, wenn ich sie anrufe. Jedes Mal haben die zusammengehalten wie Pech und Schwefel und mich der Lüge bezichtigt. Statt die Kinder zu beschützen, hat die Polizei mir Schwierigkeiten gemacht. Sollen sie sich die Köpfe einschlagen, mir ist es egal. Nach einer Stunde sind sie alle ausgelaugt und geben Ruhe.«
»Und woher wissen Sie, dass sie sich nicht die Köpfe eingeschlagen haben?«
»Weil der dreckige Kerl nach jedem Streit erst mal die beiden Kampf-Albinos vor die Tür setzt. Die machen mir echt Angst.«
»Kann ich gut verstehen.«
»Manchmal bedroht er mich damit und seine beiden Jungs, zehn und zwölf, sind auch nicht besser.«
In dem Moment ging die Tür des Nachbargebäudes auf. Ein Hüne von einem Mann kam heraus und schnauzte irgendwas in Richtung der Hunde, sodass Gerhild Vandenberg zusammenzuckte. Aus dem Augenwinkel beobachtete Straubinger, dass er den Viechern ihr Fressen in einen Napf füllte.
»Wie heißt der gute Mann?«, fragte Straubinger leise.
»Das ist der Herr Dorenbusch.«
»Dorenbusch?« Straubinger horchte auf. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir doch ins Haus zurückgehen? Wir sitzen ja irgendwie auf dem Präsentierteller.«
»Wenn Sie das möchten. Ich traue mich ja gar nicht mehr in meinen Garten. Und ich hatte mich gefreut, dass ein Mann neben mir sitzt, damit dieser Unmensch dort sieht, dass ich nicht ganz hilflos bin.«
Straubinger stellte beide Tassen auf das Tablett, nahm es, ging voran und setzte sich zurück vor den Kamin an den großen Holztisch. »Ich habe gestern eine alte Polizeiakte gelesen. Über den tragischen Tod Ihres Vaters im Jahr 1956. Dorenbusch, Hepp Dorenbusch, so hieß doch der Mann, der Ihren Vater damals gefunden hat.«
Sie nickte und Straubinger glaubte zu sehen, wie ihr ein Schmerz der Erinnerung durch die Glieder fuhr. Ihre Fassade schien zu bröckeln. »Ja«, antwortete sie leise. Zitternd. »Das ist der Mann, der damals hier eingezogen ist mit seiner Familie. Und das da eben, das war sein Sohn Dieter Dorenbusch.«
»Und Hepp Dorenbusch, er ist tot?«
»Tsss«, zischte sie. »Ja. Er war ja ganz nett. Damals ist er spurlos verschwunden, wurde aber für tot erklärt, damit diese elende Sippe das Erbe antreten konnte!«, antwortete sie fast schnippisch und deutete auf das Haus gegenüber.
»Wann ist er verschwunden?«
»Warten Sie, ich muss nachdenken. Ich glaube, es war 1968, im Sommer. Ja, er ist nicht mehr aufgetaucht. Einfach weg.«
»Und das ist nie aufgeklärt worden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben vermutet«, sagte sie leise, »dass er abgehauen ist. Durchgebrannt, mit einer Frau.«
»Wann hat Hepp Dorenbusch hier das Wohnrecht erhalten?«
»Es war kurz nach dem Tod meines Vaters. Unser Onkel, Vaters jüngerer Bruder Olaf, hat damals das Familienvermögen erhalten, so stand es in der Familienverfügung. Ich als unehelicher Bastard bekam nur einen Pflichtteil.«
»Wie geht denn das?«
»Damals war alles möglich. Juristen haben das so gedreht. Na ja, aber es geht mir ja einigermaßen gut. Olaf jedenfalls hat Dorenbusch hier einziehen lassen.«
»Haben Sie eine Idee, was Ihr Vater damals mit Hepp Dorenbusch im Wald gemacht haben könnte?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es hieß Holzarbeiten.«
»Aber was sollte Ihr Vater dort für Holzarbeiten durchführen?«
Sie machte eine nachdenkliche Miene.
»Vielleicht hat er etwas gesucht?«, bemerkte Straubinger.
Sie seufzte und legte die Hände zusammen. »Es war damals für mich und für meine Cousine Gisela ein harter Schlag. Vater war ein wunderbarer Mann. Und auf einmal war er weg. Was hätten wir tun sollen? Sie haben uns gesagt, er wäre bei Holzarbeiten auf eine Mine …« Sie drehte sich weg, verzog ihr Gesicht und fing sich dann wieder.
»Verstehe«, sagte Straubinger. »Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein.« Er trank einen Schluck Tee und betrachtete den Shortbread Finger, den er in der Hand hielt, biss hinein und kaute. »Sagt Ihnen Dorado etwas?«
Sie zog die Augenbraue hoch, stutzte und schüttelte den Kopf. »Nein. Dorado? Was soll das sein?«
»Ein Wohnort?«
»Eldorado, die sagenumwobene Goldstadt?« Sie lächelte.
»Nein, es soll irgendwo in Gressenich sein.«
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Nie gehört. Das weiß ich nicht. In Gressenich kenne ich mich eigentlich kaum aus.«
Straubinger nickte. »Dieser Onkel, wo ist er und was macht er?«
»Olaf, er hat sich nach dem Tod unseres Vaters ganz allmählich zurückgezogen.« Sie machte eine Pause, weil die Hunde so laut kläfften und miteinander rangen, als würden sie sich gegenseitig auffressen wollen. Wie wild rannten sie hin und her, dabei knurrten sie bedrohlich.
»Scheißviecher!«, fluchte Straubinger aufgebracht. »Entschuldigen Sie, aber diese Hunde gehören nicht hierher.«
Sie nickte hilflos. »So geht das jeden Tag. Manchmal hetzt er sie auf mich und macht sich einen Spaß daraus zuzusehen, wie sie in die Kette rennen und kurz vor mir zum Stehen kommen, dass ich Angst bekomme. Und wenn ich ihn darauf ansprechen will, dann laufen die Hunde wieder auf mich zu. Der Onkel, der hat nach Vaters Tod als Nachlassverwalter das Familienvermögen in die Dürener Papierindustrie gesteckt. Man muss sagen, ziemlich erfolgreich, denn er lebt heute in einem kleinen Schloss dort oben.«
»Wieso hat er gerade in Düren investiert?«
»Die Frau vom Onkel, die gute Tante Ottilie, sie stammte von dort. Früh gestorben.«
Straubinger ließ den Blick schweifen. »Sagen Sie, was ist eigentlich mit Ihrer Mutter?«
»Meine Mutter? Na ja, sie hat mich damals gern abgegeben, in Vaters Obhut. Sie hat sich kaum um mich gekümmert. Ich hab sie noch ein paarmal gesehen nach Vaters Tod, aber sie war nicht gerade das, was man sich unter einer guten Mutter vorstellt. Vor 20 Jahren hab ich sie dann beerdigt. Lungenkrebs. Und tot«, sagte sie und machte eine Handbewegung, die das Zerplatzen einer Seifenblase imitierte.
»Ihnen geht es ja nicht gerade schlecht hier. Also bis auf den Nachbarn.« Straubinger beobachtete, wie sie reagieren würde.
Sie zeigte keine Regung. »Ich würde diese Leute dort gern loswerden, bisher ist es mir nicht gelungen.«
Irgendwie berührte Straubinger diese Frau. Ihre aufgeplusterte Art hatte zwar etwas von einer Vogelscheuche, aber er hatte erkannt, dass sie in frühen Jahren wohl ein hartes Schicksal hatte ertragen müssen, als sie ihren Vater verlor.
»Wenn Sie dann keine Fragen mehr haben …« Sie lächelte freundlich und erhob sich. »Ich bin müde, ich brauche meinen Nachmittagsschlaf.«
»Tja, das wär’s dann.« Straubinger erhob sich. »Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, mir das alles zu erzählen.«
»Gern, und kommen Sie bald wieder«, antwortete sie und reichte ihm zum Abschied die Hand.
*
Im »Petit Marron«
Straubingers Volvo glitt die Landstraße entlang. Zu beiden Seiten der Fahrbahn breiteten sich Felder aus, im Hintergrund rechts eine bewaldete Hügelkette, die den Blick auf vereinzelte schwarz gedeckte Häuser freigab. War er das, der Gressenicher Wald? Aus einer Senke vor ihm türmte sich eine riesige weiße Dampfwolke auf, die aus zwei Kühltürmen eines Kraftwerkklotzes heraus den blauen Himmel verhängte. Windräder am Horizont flankierten die Kraftwerkswolke und erinnerten Straubinger an Lanzenträger, die ihre Burg beschützten. Dann endlich markierte ein gelbes Ortsschild den Beginn von Gressenich, »Kupferstadt Stolberg«.
Straubinger bremste ab und fuhr die Hauptstraße entlang, vorbei an einem reinen Zweckbau, der als Kirche diente, und an alten Bruchsteinhäusern. Bald hatte er das Ortsende erreicht. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Er wendete den Wagen an einer Einmündung, fuhr zurück und bog links ab. Die Straße führte hinunter in ein Tal und endete bei einer Kapelle, die an der tiefsten Stelle des Ortes stand. Es musste doch ein Wirtshaus geben, dachte Straubinger. In jedem Ort gab es ein Wirtshaus. Ein älterer Mann querte die Straße. Straubinger ließ das Fenster runter.
»Entschuldigen Sie. Gibt es hier ein Wirtshaus?«
»Watt?«, fragte der Mann. »Wirtshaus? Sie meinen bestimmt ’ne Kneipe, oder? Ja, fahren Sie mal weiter und biegen Sie links ab. Da ist ein Spielplatz, und da gibt es ein … ein Wirtshaus.«
An dem Spielplatz hielt Straubinger an. Ein Bruchsteinhaus mit Walmdach, an den Wänden rankte üppig der Efeu. »Petit Marron« stand in Leuchtlettern auf der Wand, kleine Kastanie.
Straubinger schloss das Auto ab, sah in die Sonne und ging auf das »Petit Marron« zu. Neben dem Eingang stand handschriftlich auf einer schwarzen Werbetafel mit Kreide geschrieben: »3 Gläser Leffe ersetzen 6 Semester Philosophiestudium.«
Hier gab es also belgisches Bier. Die Tür stand weit offen, Straubinger konnte von außen einen flüchtigen Blick auf die Theke werfen.
Neben der Werbetafel stand ein kleiner Mann mit Glatze, Brille und Bierbauch allein an einem Stehtisch und rauchte. »Raucher sterben vor allem einsam«, frotzelte Straubinger und grinste den Mann im Vorbeigehen an.
»Und Idioten vor allem schnell!«, rief ihm der Mann brummig hinterher.
Hinter der Theke stand ein großer Kerl, dessen Umfang es mit dem eines Bierfasses locker aufnehmen konnte. »Das da draußen, das war ein guter Einstand, Fremder«, bemerkte er und grinste, während er ein Bier zapfte.
Vor der Theke saßen drei Männer. Zwei in Monteuranzügen, etwa 40, einer schlank und drahtig, der zweite klein und untersetzt. Sie aßen irgendeine Wurst mit Pommes und tranken Pils dazu. Der dritte Mann trug ein langes weißes Hemd, das ihm bis zu den Oberschenkeln reichte, hatte schlohweiße, schulterlange Haare, die zu seinem Bart passten, und nippte an einem dunklen belgischen Leffe. Der Mann sah aus wie Ende 60.
Straubinger grüßte kurz in die Runde und setzte sich an einen Tisch, der mit einem rot-weiß karierten Tuch bedeckt war. Der Wirt kam zu ihm und fragte nach seinem Wunsch.
»Ich nehme ein Kölsch. Und das Tagesessen.«
»Heute gibt es Scholle, gebraten.«
Straubinger nickte. »Passt.«
»Aus Bayern?«, fragte der Wirt.
»Aus Köln«, gab Straubinger zurück.
»Reden die in Köln jetzt auch schon so?« Der Wirt verschwand in der Küche.
Fünf Minuten später kam er zurück, einen Teller in der Hand und ein Kölsch.
»Scholle, Zitrone, Bratkartoffeln. Und einen Salat dazu.«
»Danke!« Straubinger blickte voller Genuss auf den Fisch. »Sagen Sie, wo ist denn der Gressenicher Wald?«
Der Wirt starrte Straubinger mit großen Augen an, streckte den Zeigefinger aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Hier überall.« Er grinste. »Suchen Sie was Bestimmtes?«
»Ich hab nur davon gehört, soll schön sein dort. Und hat es dort nicht Kämpfe gegeben, im Zweiten Weltkrieg?« Straubinger registrierte aus dem Augenwinkel, dass der Mann mit dem weißen Hemd aufmerkte und herübersah.
»Kämpfe?« Der Wirt schlenderte zurück hinter die Theke. »Kämpfe ist wohl gelinde ausgedrückt. Man sagt, mit die schlimmste Schlacht während des Kriegs. Hier, vor unserer Haustür.«
»Zwei Gute!«, sagte einer der Männer in Monteurkluft.
Der Wirt schenkte zwei dunkelbraune Schnäpse ein und stellte sie wortlos auf die Theke. Die Männer tranken sie in einem Zug, verzogen kurz das Gesicht, bezahlten und verließen das Lokal.
»Hey, Bierbaron! Mein Bier, schreib’s an!«, sagte der Mann mit dem weißen Hemd zum Wirt. Nachdem er den letzten Schluck getrunken hatte, kam er auf Straubinger zu, sah ihn mit großen Augen an und zischte:
»Gression trotzt blind vermessen
Gottes Satzung, Gottes Wort;
Lustbetöret, erdvergessen
Frevelten die Blinden fort.«
Schnell wieselte er zur Tür, wobei er Straubinger nicht aus den Augen ließ, und verschwand.
Straubinger kaute noch, als er den Wirt fragte: »Muss man den Herrn kennen?«
Der Wirt hielt ein Glas unter den Zapfhahn und drehte ihn auf, sodass sich das Bier mit einem hörbaren Schuss Frische in das Glas ergoss. »Dem könnten Sie eigentlich gleich hinterherlaufen. Er wohnt im Gressenicher Wald.«
»Er wohnt im Wald?«
»Ja. Hat sich eine Hütte gezimmert, vor 40 Jahren oder so. Erzählen die Leut.«
»Und da wohnt er?«
»Im Sommer. Im Winter zieht er ins betreute Wohnen. Hier gleich im Dorf. Kann es aber kaum abwarten, bis das Wetter nach dem Winter wieder besser wird.«
»Und was macht er?«
»Er malt. Wolken.«
»Sonst nichts?«, fragte Straubinger und stutzte.
»Viele Wolken.«
»Und er nennt Sie Bierbaron?«
Der Wirt nickte und brummte eine Bestätigung.
»Bierbaron. Ein guter Name.«
Straubingers Bemerkung entlockte dem Wirt ein müdes Lächeln. »Er hat für jeden im Dorf einen Namen.«
»Und wie heißt er selbst?«
»Der Wolkenmaler.«
»Und was hat er da eben aufgesagt?«
»Ach.« Der Bierbaron lachte. »Einen der alten Verse über Gression«, bedeutungsschwanger hob er den Blick und die rechte Hand, »die sagenumwobene Stadt, die hier mal gewesen sein soll.« Dann zapfte er weiter. »Er hat viele solcher Geschichten.«
»Wo finde ich ihn?«
Der Bierbaron stöhnte. »Äh, ja, neben seinem Bunker. Im Wald.«
»Bunker?« Straubinger schien verwirrt.
»Ja, ein gesprengter Weltkriegsbunker. Da steht seine Hütte.«
»Gibt es denn keinen Förster, der da einschreitet?«, fragte Straubinger.
»Doch, es gibt einen Förster. Aber der lässt ihn.«
Straubinger hakte nach: »Wie komme ich dahin, also zu der Hütte?«
»Tja, eigentlich nicht so schwer zu finden. Mit dem Auto?«, fragte der Wirt.
Straubinger nickte.
»Da vorren links«, sagte der Bierbaron.
»Das hab ich jetzt nicht verstanden, Entschuldigung«, sagte Straubinger. »Sagten Sie vorren?«
Der Bierbaron seufzte. »Also. Da … vorn … links.«
»Okay, da vorn links, jetzt hab ich es.«
Der Bierbaron grinste. »Dann die Straße bis fast zur nächsten Ortschaft.« Er zeigte Richtung Südwesten. »Richtung Mausbach, nach ’nem Kilometer, da ist links am Waldrand ein Parkplatz. Den Waldweg fahren Sie entlang. Schnurgerade, wieder so ’n Kilometer. Am Ende, etwas verwachsen, da sind drei Bunker, alle gesprengt. Einer ist noch halbwegs intakt. Da finden Sie ihn. Meistens sitzt er draußen bei seiner Hütte und malt.«
»Wolken«, stellte Straubinger fest.
»Ja, Wolken. Deshalb heißt er so.«
»Der Wolkenmaler.«
»Ja genau, der Wolkenmaler.«
Straubinger zahlte. »Scheint ein friedlicher Zeitgenosse zu sein.«
»Hoho, der kann auch anders«, sagte der Wirt mahnend. »Frag mal die vier da draußen, unsere Dorf-Punks, wie der Wolkenmaler sie liebevoll nennt.« Er zeigte kurz durchs Fenster auf ein paar Jugendliche. »Die haben so ihre Erfahrungen mit ihm gemacht.«
Straubinger beobachtete vier Halbstarke, die auf der Lehne einer Bank saßen, die Füße auf den Sitzflächen, Aludosen in der Hand. Sie schäkerten, so wie es Jugendliche in dem Alter machten.
Mittlerweile stand der Raucher von draußen an der Theke. »Was willst du denn von dem Idioten?« Er hob das Glas und trank an dem frisch gezapften Bier. »Macht nur Ärger, der Kerl.«
»Noch ein Idiot? Welchen Ärger denn?«, fragte Straubinger.
Der Mann wischte sich den Mund ab und fauchte. »Erzählt Mist, beleidigt jeden, der ihm über den Weg läuft. Denkt sich bescheuerte Namen aus. Will alles wissen über die Leute.«
Der Wirt hob korrigierend den Finger und schaute wie ein Oberlehrer. »Weiß alles über die Leute.«
Der Mann setzte einen griesgrämigen Blick auf und winkte ab.
»Hat er für Sie auch einen Namen?«, fragte Straubinger.
»Mich nennt er Tschick. Keine Ahnung, was das heißt. Hört sich bescheuert an, oder?« Er gab dem Wirt ein Zeichen, woraufhin der zum Zapfhahn griff.
»Tschick, so sagt man in Österreich zur Zigarette.« Straubinger lachte. »Vielleicht rauchen Sie zu viel für seinen Geschmack.«
»Aha.« Teilnahmslos trank Tschick erneut einen Schluck. »Jetzt stellt er seine Nachforschungen auch schon bei den Ösis an.«
Der Bierbaron machte zwei schwungvolle Bleistiftstriche auf Tschicks Deckel und stellte Straubinger ein frisches Kölsch hin.
»Wie komme ich zu der Ehre?«, fragte Straubinger.
»Bei uns wird jeder eingeladen«, antwortete Tschick ungerührt. »Beim ersten Mal.«
»Prost!« Straubinger trank das Bier in einem Zug aus und sah durch das Fenster auf den Spielplatz. Die vier Dorf-Punks, die eben noch auf der Sitzbank rumlungerten, waren verschwunden. »Beim nächsten Mal bin ich dann dran«, sagte er zu Tschick.
Als er ging, rief der Wirt ihm hinterher: »Kommen Sie wieder! Und empfehlen Sie uns weiter … in Bayern!«
»Wenn ich mal wieder dort bin. Ich sag Ihnen, die kommen demnächst alle. Schön hier bei euch. Aber die Gläser könntet ihr ein bisschen größer machen.«
*
Bei den Bunkern
Die schnurgerade Schneise war rechts und links von ebenso schnurgeraden Fichten gesäumt. Ein dicht gepflanzter, undurchdringlicher Wald. Nach etwas mehr als einem Kilometer näherte sich Straubinger einer Weggabelung auf einer kleinen Lichtung.
Der Mann in dem weißen Gewand stand vor einer Blockhütte und stellte gerade eine Staffelei auf. Straubinger hielt seinen Wagen an und stieg aus.
»Hallo!«
Der Mann reagierte nicht.
Straubinger ging ein paar Schritte näher. »Hallo, entschuldigen Sie, wir haben uns eben in dem Wirtshaus unten getroffen. Erinnern Sie sich?«
Blitzschnell wendete der Mann den Kopf und starrte Straubinger mit riesigen Augen an. »Wir haben uns nicht getroffen«, schnippte er fast wütend, »wir sind uns begegnet. Das ist ein Unterschied. Und klar erinnere ich mich, was soll die Frage. Ich bin nicht blöd!«
»Sie waren ja schnell wieder hier aus dem ›Petit Marron‹.«
»Was wollen Sie?«, fragte er barsch.
»Mich interessiert das Gedicht, das Sie eben aufgesagt haben.«
»Niemand interessiert sich dafür.« Der Alte wirkte verwirrt.
»Ich schon«, widersprach Straubinger. »Worum geht es in dem Gedicht?«
Der Alte stierte Straubinger für einige Sekunden aus tiefen Augenhöhlen an, drehte sich weg und verschwand in der Hütte. Straubinger ging hinter ihm her. »Darf ich eintreten?«
»Nein!« Der Alte baute sich vor ihm auf und stemmte sich in den Eingang.
Straubinger wich zurück. »Sagen Sie mir, worum es bei dem Gedicht geht?«
Langsam kam der Weißhaarige wieder aus der Hütte heraus. »Alte Verse zu den liederlichen Menschen von Gression. So wie sie damals waren, so sind sie heute.« Er warf den Kopf in den Nacken und reckte die Fäuste.
»Den Herrgott wollten sie nicht kennen,
Als er bot den Menschen Gnade.
Gression muss niederbrennen
An des Omerbachs Gestade.«
»Sind Sie da nicht ein bisschen streng mit Ihren Nachbarn?«
Dem unwirschen Blick des Alten folgte eine Tirade an Unfreundlichkeiten. »Meine Nachbarn? Dass ich nicht lache. Ha! Eine Saubande ist das! Nichts als Scharlatane! Taugenichtse! Und Frevlerinnen!«
»Aber doch nicht alle, oder?«, fragte Straubinger.
»Was glauben Sie, hä? Ich lebe hier seit 60 Jahren. Die Menschen sind schlecht! Sie betrügen, faseln unnötiges Zeug, belügen sich und wollen nur eines: Geld, Geld, Geld! Das war damals so und das ist heute so. Gression, dem Untergang geweiht!«, rief er aus voller Brust.
»Ein großartiges Gedicht. Und Gression? Gibt es das noch?‹
»Der Herrgott hat es untergehen lassen. Und genauso wird es allen hier ergehen, weil sie wieder dieselben Torheiten begehen!«, sagte er zornig, reckte beide Hände nach vorn, als wollte er etwas packen, und zog sie langsam zu sich hin.
»Giebel stürzen, Häuser fallen,
Bäume werden unterspült;
Von der Woge mächt’gem Prallen
Wird der Boden aufgewühlt.«
Der alte Mann kochte. Er konnte sich kaum beruhigen, atmete hektisch und machte merkwürdige Bewegungen mit den Händen, wand sich und verkrampfte das Gesicht. Dann, von einer Sekunde auf die andere, setzte er eine strenge Miene auf. »Alle bekloppt«, brummte er und wedelte mit der Hand vor seiner Stirn hin und her.
Straubinger sah ihn lange an. »Haben Sie Angst?«
»Angst?« Der Alte sah zu Boden. »Angst, nein, keine Angst. Vor wem? Vor diesem gottlosen Volk?« Heftig schüttelte er den Kopf. »Der Untergang ist nicht mehr weit. Und weißt du was, Bayer?«, sagte er voller Überzeugung. »Du bist Polizei, ich sehe es dir an. Und auch du glaubst es mir nicht. Niemand glaubt es!«
Straubinger ging auf die Hütte zu und startete erneut den Versuch, einen Blick hineinzuwerfen. Der Alte stellte sich sofort vor ihn und blockierte ihm erneut den Zugang.
»Sie wissen, dass Sie im Wald eigentlich nicht wohnen dürfen?«, sagte Straubinger.
Der Alte folgte seinem Blick, ging noch näher an ihn ran, bückte sich und sah ihm mit seltsam verdrehtem Hals von unten in die Augen. »Meint er das ernst, Polizei?«
Straubinger nickte. »Ja, ich meine das ernst.«
Der Alte stolperte scheinbar und trat Straubinger voll auf den Fuß, ausgerechnet auf den Fuß, in dem ihm die Platten und Schrauben eingebaut worden waren.
»Oh«, rief der Alte schwülstig. »Oh, entschuldigen Sie …«
Straubinger war klar, dass dieses kleine Schauspiel von Gemeinheit getrieben war. Er setzte ein gleichgültiges Gesicht auf.
Der Wolkenmaler stutzte und rüttelte an Straubingers Arm. »Hm? Tut ihm der Fuß nicht weh?«
»Nein, tut mir nicht weh.«
Der Alte nahm einen Stock, der neben der Tür zur Hütte stand, und klopfte zweimal auf Straubingers dünnen Turnschuh. »Nicht weh?«
Straubinger schüttelte gelassen den Kopf. »Nein.«
Der Wolkenmaler betrachtete ihn und seinen Fuß mit fragendem Blick. Dann holte er weit aus, ließ den trockenen Haselnussstock niedersausen, sodass es krachte, als hätte er ihn gegen einen Panzer geschlagen. Prüfend starrte er Straubinger ins Gesicht, der immer noch keine Miene verzog.
»Eisenfuß«, murmelte der Alte. Skeptisch musterte er Straubinger von oben bis unten. »Du bist ein Mann mit Charakter.« Während er Straubinger verwirrt betrachtete, fasste er sich ans Kinn. »Komm, Eisenfuß!« Er stellte den Stock zur Seite und führte Straubinger in seine Hütte.
Überall standen große und kleine bemalte und unbemalte Leinwände. Die Bilder zeigten den Himmel, manchmal war er blau mit Schönwetterwolken, manchmal grau mit bedrohlichen Wolkentürmen, dann war der Himmel in frühmorgendliches Grün getaucht oder in vormittägliches Gelbgrün, immer waren Wolken zu sehen, mal weiße, dann gräulich-lilafarbene oder rötlich leuchtende. Einige Bilder zeigten die watteähnlichen Wolken des Kraftwerks vor einem satten Blau. Aber alle Bilder zeigten eben nur Himmel, keinen Horizont.
»Sie sind ein Meister der Wolken«, sagte Straubinger und presste anerkennend die Lippen zusammen. »Ist es immer derselbe Himmel, den Sie malen?«
Der Wolkenmaler nickte. »Immer derselbe. Immer der Himmel über dieser gottverfluchten Scholle«, sagte er leise, richtete den Blick nach oben, machte eine beschwörende Handbewegung und ging leicht in die Hocke. »Dieser Himmel hat alles Böse der Welt gesehen«, flüsterte er.
»Was … Was meinen Sie mit dem Bösen?«, fragte Straubinger gespannt.
»Krieg und Zerstörung. Hunger und Vertreibung. Mord und Totschlag«, zeterte er, während er einen Schritt vor die Tür machte.
»Und warum malen Sie ihn unentwegt, den Himmel? Ist das Böse auf die Dauer nicht lähmend?«
Der Alte hielt den Blick nach oben gerichtet und blinzelte in die Sonne, als suche er die Ewigkeit. »Komm, Eisenfuß, komm!« Dann zog er Straubinger hinterher. »Sieh hin«, sagte er. »Das Böse ist dort, überall. Und ich«, beschwor er und zeigte jetzt nach oben, »ich muss das Gute in meinem Himmel finden.«
Straubinger betrachtete die weißen Wolken und das kühle Blau. Sein Blick wanderte in das bärtige Gesicht des Alten, dessen Augen glühend auf seine Bestätigung warteten. Straubinger nickte. »Wie zeigt sich der Himmel heute?«
»Coelinblau, kalt wie Stahl, hart wie dein Fuß. Heute male ich ein neues Bild. Ich habe seit Tagen auf dieses Wetter gewartet.« Er machte sich an seiner Staffelei zu schaffen.
»Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich einen Namen?«
Verstört starrte er Straubinger an. »Natürlich hab ich einen Namen.«
»Wie darf ich Sie nennen?«, wollte Straubinger wissen.
»Nenn mich so wie alle. Nenn mich Wolkenmaler«, sagte er mit ernster Miene. »Namen sollten ja etwas über einen Menschen erzählen. Ich gebe jedem einen eigenen, eine treffende Bezeichnung. Ich bin Wolkenmaler, du bist Eisenfuß. Das sagt mehr aus als der Taufname, der uns in Unwissenheit als Kind gegeben wurde, ohne uns zu kennen.« Er schob den Haltebügel nach oben und klemmte eine leere Leinwand fest.
Straubinger beschloss, ihn fortan ebenfalls zu duzen. »Gut, du bist der Wolkenmaler.«
Er nickte.
»Ich habe Bilder wie diese heute schon mal gesehen. Im Kupferhof Blumenthal.«
Der Wolkenmaler zeigte keine Regung.
»Bei Gerhild Vandenberg. Kennst du sie?«, fragte Straubinger.
Der Alte sah zu Boden. Plötzlich schnellte er vor wie eine Krähe und keifte ihn an: »Du wirst ihr nichts tun!« Seine Augen schienen zu lodern.
Straubinger wich zurück. »Nein, nein, was sollte ich ihr tun?«
Der Wolkenmaler wühlte in einem Holzkasten mit Farben. Er holte drei Tuben hervor und quetschte je einen dicken Klecks auf eine Holzpalette. Dann nahm er einen breiten, schweren Pinsel, lud ihn mit den drei Farben auf und schlug ihn wild auf die Leinwand. Straubinger sah fasziniert zu, wie er eine Grundierung anlegte, die bereits einen weiten, kühlen Himmel in seinen Augen entstehen ließ.
»Sag mal, Wolkenmaler, was ist unter deinem Himmel?«
»Unter? Unter meinem Himmel?«
»Was ist das, was du nie malst?«
Der Wolkenmaler antwortete nicht.
»Was wäre auf einem Bild zu sehen, wenn du den Horizont malen würdest? Was würde ich dort erkennen?«
»Kann man nicht malen«, schnarrte er, sah ihn verschämt an und trippelte zurück in die Hütte, als müsse er ein Geheimnis beschützen.
»Ich will, dass du es für mich malst«, sagte Straubinger und stützte sich am Türsturz ab. »Ich will wissen, was dein Horizont zeigt.«
Der Wolkenmaler sah stoisch ins Leere. Er verzog keinen Muskel im Gesicht, sagte nichts und atmete schwer.
»Es wäre ein besonderes Bild.« Straubinger ließ nicht locker. »Was würde es zeigen?«
Der Wolkenmaler holte zwei Schnapsgläser und zeigte ihm eine klare Flasche mit einer braunen, leicht trüben Flüssigkeit. »Wolkenels« stand dort schwungvoll in Frakturschrift, ein hellblauer Himmel war auf das Etikett gemalt. Aus der Flasche ließ er je einen Schnaps in die Gläser fließen. »Trink!«
Straubinger nahm das Glas, roch daran und rümpfte die Nase. »Was ist das?« Das bitterstarke Aroma widerte ihn ein wenig an.
»Els. Aus Kräutern, die dir den Magen vergrätzen und ihn doch schützen vor all dem Unheil, das in dieser Luft schwebt.« Der Wolkenmaler hielt das Glas gegen den Himmel. »Das einzig Heilbringende hier in der Gegend!«, rief er. Dann forderte er Straubinger noch mal zum Trinken auf. »Weg damit!« In einem Zug kippte er den Schnaps in seinen Schlund.
Straubinger tat dasselbe. »Puh, ganz schön bitter. Was ist denn da drin?«, fragte er und verzog das Gesicht.
»Artemisia absinthium, Wermutkraut. Der Franzos’ macht seinen Absinth draus, der Italiener den Martini und der brave Eifler seinen Els. Und mein Els enthält außerdem Minze. Bau ich hier hinter der Hütte an. Gut bei Magenbeschwerden! Das macht aus ihm eine Medizin, und Medizin ist eben besonders bitter.«
Straubinger betrachtete den grünlichbraunen Schimmer am Rand des leeren Glases und schüttelte sich. »Wer denkt sich so was aus?«
»Mit Els hat früher manch wackerer Bauer die Verdauung seiner Kuh reguliert. Und was fürs Vieh gut ist, das kann dem Menschen nicht schaden.«