Читать книгу Taubenblut - Lutz Kreutzer - Страница 13
Ordenspflicht
ОглавлениеAls Sentlinger den kleinen Tagungsraum des Gasthofs Grundler betrat, saßen die Honoratioren der Gemeinde bereits an ihren Plätzen, darunter auch zwei Mitglieder des Vorstands des katholischen Herrenordens. Jeder von ihnen hatte einen Krug mit Bier vor sich stehen.
Abgehetzt sagte Sentlinger in die Runde: »Entschuldigt bitte, aber der Verkehr.«
Murrend nahmen die anderen seine Ausrede zur Kenntnis, obwohl jeder wusste, dass an diesem Abend so gut wie nichts los war auf den Straßen der Region.
»Was soll denn heute überhaupt besprochen werden?«, fragte Franz Paltinger, der Bürgermeister. »Wozu hast du uns geladen, Erwin?«
Sentlinger nahm Platz, bestellte ein Mineralwasser und legte seine Tasche ab. »Es ist euch allen zu Ohren gekommen, dass sich hier eine fremdartige Gastronomie breitgemacht hat. Ein thailändisches Restaurant mit angeschlossenem Massageinstitut.«
»Ja warst schon probieren, ob’s denn auch gut is, des Massieren?«, frotzelte der stellvertretende Bürgermeister Viehwalder unter leisem Gelächter der Anwesenden.
»Bitte bleibt sachlich. Ich habe erfahren, dass dieses Etablissement neben zweifellos gutem Essen auch zwielichtige Dienstleistungen anbietet, die dem Ruf von unserem schönen Tuntenhausen trefflichen Schaden zufügen können.«
»Was denn für einen Schaden?«, rief der Gemeindekämmerer.
»Schaden an unserer heiligen Tradition, den Katholizismus zu wahren und zu schützen.«
»Erwin, die Zeiten ändern sich«, sagte der Bürgermeister. »Du weißt selbst, dass der Papst zu Toleranz aufgefordert hat. Andersgläubigen gegenüber.« Er räusperte sich. »Dieses Restaurant schadet unserer Gemeinde nicht, es …«
Er kam nicht zum Ende, denn der Pfarrer mischte sich vehement ein. »Schweigt! Alle! Das alles passiert im Schatten unserer Basilika, einem der heiligsten Orte, die Bayern zu bieten hat. Es kann nicht sein, dass sich dort Schluder, Sünde und Verderben breit machen. Wir müssen etwas tun. Weihmiller, sag was.«
Weihmiller, der Chef des Ordnungsamts, wand sich. »Wir können nichts tun«, kommentierte er. »Der Gewerbeantrag ist vorschriftsmäßig eingereicht, der Besitzer hat einen deutschen Pass, und alles, was dort gemacht wird, ist in bester Ordnung.«
»Trotzdem, es geht nicht, dass sich hier ein Bordell breitmacht«, schimpfte Sentlinger.
»Mit Verlaub, Erwin, aber es ist kein Bordell«, warf Weihmiller ein. »Prostitution ist nicht angemeldet und wird nach unserem Wissen dort auch nicht betrieben.« Er betrachtete Sentlinger herausfordernd.
»Hast einen Test g’macht, Weihmiller? Was ham sie denn dir genau massiert?«, rief Grundler, der Wirt.
»Dass du ned willst, dass jemand besser kocht als du, is ja klar, Grundler«, rief Viehwalder. »Du hast Angst um deine Knödel und dein Sauerkraut.«
»Sünde, Sünde!«, rief der Pfarrer. »Alles Sünde.«
»Nochmal, das ist ein ganz normales Restaurant. Und ein Gesundheitsbetrieb«, erläuterte Weihmiller. »Da ist nichts zu beanstanden.«
»A Puff is des, und nix anderes!«, schnarrte Grundler in derbem Tonfall.
»Und selbst wenn. Ein Bordell lässt sich in Deutschland nicht verhindern«, erläuterte Haarthaler, Schatzmeister des katholischen Herrenordens und Staatssekretär im Finanzministerium. »Unsere Gesetze fördern sowas ja direkt. Selbst wenn es so wäre, wir hätten kaum eine Chance, sowas zu verbieten! Deutschland ist mittlerweile europaweit das Eldorado für Bordellbetreiber.« Er lehnte sich zurück, kreuzte die Arme und starrte sein Bierglas an.
»Abgesehen davon, der Betrieb tut unseren Gemeindefinanzen außerordentlich gut«, warf der Kämmerer ein. »Der Fleischhacker lebt, die Bäckerei lebt, der Blumenhändler, der Gemüsetürke. Selbst der Matterer mit seinem heruntergekommenen Porzellanladen macht wieder Geschäfte. Was wollt ihr eigentlich? Das ist für uns das Beste, was passieren konnte!«
»Wir müssen handeln«, sagte Hartmut Eberling, ehemaliger Landwirtschaftsminister und Vorsitzender des katholischen Herrenordens. »Erwin hat Recht. Selbst schon der Anflug von Ruchlosigkeit schadet uns doch enorm. Ich sehe es als unsere Pflicht, diesen Leuten das Handwerk zu legen.«
»Handwerk is gut«, kicherte Viehwalder.
»Wenn ich bedenke, dass dort Männer in Frauenkleidern anderen Männern zutiefst sündhafte Freude anbieten!«, sagte der Pfarrer geifernd. »Allein der Gedanke, dass sich nacktes Fleisch gleichgeschlechtlicher Geschöpfe einander nähert und Dinge vollbringt, die der Herrgott niemals für gutheißen könnt.« Dabei trug er jedes Wort in gequältem Ton und mit angeekelter Miene vor.
»Geh, jetzt seien S’ doch ned so empfindlich, Herr Pfarrer! Das gibt’s doch jeden Tag in allen Klöstern rund um die Welt bei euch Katholiken«, sagte Peter Rauwald vergnügt, der Vertreter des Wirtschaftsforums, der im Nachbarort eingeheiratet hatte. Jeder wusste, dass er als fränkischer Protestant die katholischen Traditionen der Gegend für verlogen hielt. »Da könnt ihr vielleicht noch einiges lernen«, sagte er belustigt und erntete schadenfrohe Heiterkeit.
»Es hat doch gar keinen Sinn, weiter zu diskutieren«, warf der Bürgermeister mürrisch ein. »Ich lehne das komplett ab. Wir haben keine gesetzliche Grundlage, solange dort nicht nachweislich illegale Prostitution betrieben wird.«
»Meine Herren«, sagte Sentlinger laut, »ich beantrage eine Abstimmung darüber, wie wir weiter vorzugehen gedenken. Die Gemeinde könnte anstreben, dem Betrieb Thailandeinland die Lizenz zu entziehen.«
»Wir könnten ja alle mal hingehen und eine Testreihe machen«, schlug Rauwald amüsiert vor, »ob die da noch was anderes anbieten als nur gesundheitsfördernde Dienstleistungen.«
Der niedergelassene Arzt lachte. »Was der Gesundheit förderlich ist, das ist ja von Fall zu Fall verschieden.«
»Herr Doktor Trieben, was gibt’s denn da zu lachen?«, fragte Hartmut Eberling scharf. »Sie betreuen doch als Hausarzt die Thailänder. Waren da ned zuletzt so ein paar von den Madeln bei Ihnen? Was wollten die denn?«
»Tut mir leid«, sagte Trieben und hob die Hände. »Die ärztliche Schweigepflicht verbietet mir, über meine Patienten zu reden.«
»Erwin, sei mal realistisch«, mahnte Bürgermeister Paltinger. »Das müssten wir sehr gut begründen. Und der Thai hat Müller-Westermann im Boot. Und der kennt die besten Anwälte. Vergiss es! Ich sehe da keine Chance.«
»Der Bürgermeister. So, so«, ätzte Grundler, der Wirt. »Auch schon verführt und dem schnöden Mammon hörig.« Enttäuscht winkte er ab.
Rauwald sah den Wirt an, dann den Pfarrer und schließlich Sentlinger. »Jetzt seid’s doch mal ned so scheinheilig. Wenn die Deutschen es in Thailand treiben wie die Karnickel, das ist euch egal. Aber wehe, wenn es sich im schönen Bayern abspielt, huijuijui! Dann muss der Katholizismus herhalten, um die … ›Eindringlinge‹ wieder aus dem schönen Bayernland zu vertreiben.«
»Wer da eindringt, sind ja wohl die Bayern, nämlich in die Thailänder«, rief Viehwalder dazwischen, suchte die Augenpaare der anderen Anwesenden grinsend ab und sorgte erneut für Gelächter.
»Wir verdienen alle genug an dem Laden«, fuhr Rauwald fort, »lasst sie gewähren. Ich bin überzeugt davon, irgendwann verschwinden die auch wieder. Also, gehen wir zur Abstimmung.«
Sentlinger stellte die Frage. »Also, verehrte Honoratioren der Gemeinde. Wollt ihr Schamlosigkeit und Sünde weiterhin dulden in unserem heiligen Bayern? Wollt ihr für Schimpf und Schande weiterhin den Weg geebnet sehen in unserem Land? Wollt ihr Moral und Sitte den Rücken kehren hier in Tuntenhausen? Dann sagt Ja und stellt euch gegen mich und den katholischen Herrenorden. Wollt ihr aber Anstand und Ehre, Keuschheit und Reinheit bewahren, dann sagt Nein und erhebt eure rechte Hand.«
Außer Sentlinger hoben der Pfarrer, der Vorsitzende und der Schatzmeister des katholischen Herrenordens sowie der Wirt die Hand.
»Grundler, du hast kei Stimmrecht net!«, beschwerte sich Viehwalder. Der Wirt senkte seine Hand und verließ schnaubend den Raum.
Sentlinger beäugte einen nach dem anderen. Doch sie blieben standhaft.
»Erwin, es hat keinen Sinn«, sagte der Bürgermeister. »Ich weiß nicht, was dich in dem Fall antreibt.«
»Wird wohl seine heilige Schwester sein«, spottete Viehwalder. »Sie verlangt wohl von ihm, den Teufel mit unserer Hilfe zu vertreiben.« Gelächter setzte ein.
»Erwin, es bringt nichts«, sagte der Bürgermeister und versuchte zu beschwichtigen. »Sieh es ein. Wir werden nichts tun können, was unserem Gewerberecht wiederspräche.«
Sentlinger ließ die Hand sinken. Er seufzte und warf den anderen enttäuschte Blicke zu. Er fühlte sich und seine Sache verraten. Wortlos stand er auf, nickte und verließ frustriert den Raum.