Читать книгу Wolgaland - Lydia Steinbacher - Страница 4
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Die Fliege landete direkt auf dem Aralsee. Auf dieser Karte hatte er noch seine einstige Größe und verschwand dennoch zur Gänze unter dem schwarzen Insektenkörper. Sie machte ein paar Schritte nach Nordosten, da kam der hellblaue Fleck wieder zum Vorschein, vielleicht schon ein bisschen kleiner als noch vor einem Augenblick.
Nicht mehr als ein armseliger Schwarm Fliegen wäre der Chor ohne ihn gewesen, der Zusammenklang im Summen kaum ertragbar. Alexandr Niebel legte hohe Maßstäbe an die Sänger an, vor allem aber verlangte er sich selbst viel ab. Und seinen Arrangements. Er wischte mit der Hand über die Weltkarte, um das Tier zu verscheuchen – die tausenden Ommatidien sahen die Bewegung lange vor der Berührung kommen, der Körper hob ab und verlor sich im Raum, suchte sich ein Fenster, prallte gegen das Glas, fünfmal, fünfzigmal. Manchmal war es ein Zufall, so wie die Wahl dieser Fliege, sich für ein paar Sekunden in der Steppe niederzulassen, diese Stelle in der Welt zu wählen, der Alexandr näher zu seinem alten Leben brachte. In seinem Gesicht stand ein genügsames Lächeln. Es war unauffällig wie seine gesamte körperliche Erscheinung, die Unauffälligkeit war auf beschwerlichem Wege zu erwerben gewesen. Er strich sich die grauen Haare nach hinten, eines der Härchen sichelte wie vom Mond gefallen hinter ihm zu Boden. Draußen war es längst dunkel, da nahm Alexandr wieder beim Pianino Platz, einem alten Lauberger & Gloss. Jegliche von Klavierstimmern unternommenen und nicht ganz billigen Versuche, das Instrument in seinen einstigen Klang zurückzuführen, waren vergebens gewesen. Doch war dieser frühere Klang selbst nur etwas Angedichtetes, eine Vorstellung, denn Alexandr hatte ihn nie gehört. Er strich über den geöffneten Tastendeckel, als könnte er verstehen, dass es sich nicht verändern lassen wollte von fremder Hand – das hatte immer etwas Grausames. Der Tastenanschlag war schwerfällig und träge. Schuld war aber nicht das Instrument, es kam nicht für die Schwäche der Menschen auf, die es zu spielen nicht in der Lage waren. Wer es spielen wollte, brauchte eine Stärke in den Fingern. Und wie die Stärke in den Fingern brauchte er im Geist die Vorstellung eines großen blauen Flusses, kleiner gepflegter Höfe und von Kindern, die im Übermut stolperten, die Alexandr sich immerzu vergegenwärtigte in der Musik, in all ihren Facetten, was aber niemand außer ihm wusste. Auch diese Unauffälligkeit hatte er auf beschwerlichem Weg erworben.
Lana klopfte mit ihren Ringen, die sie alle an der linken Hand trug, gegen das Rauchglas der Tür. Alexandr wandte sich abrupt in ihre Richtung. Fast klang es, als würde die Scheibe zerspringen, aber es war ihre übliche Begrüßung am Dienstagabend. Zuerst das Klopfen mit den Silberringen gegen das Glas, gleich darauf öffnete sie die Tür zum Proberaum, der eigentlich der Veranstaltungssaal des kleinen Gasthauses war. Es war ihre Art, die Männer vorzuwarnen, denn sie beherrschte auch die Kunst, unvermutet und lautlos aufzutauchen. Die Fliege huschte unter ihrer Achsel aus dem Zimmer in den Gang, so hatte ihr Lana unversehens ein Schlupfloch geöffnet. Ihre Schicht begann um fünf, die Chorprobe um acht Uhr abends, für gewöhnlich mit einer Viertelstunde Verspätung, weil ein paar Sänger sich stets die Freiheit nahmen, die anderen warten zu lassen. Lana war eine schlanke Frau, ihr Alter unterlag großen Schwankungen wie ihr Gemüt, einmal sah sie aus wie gerade einmal dreißig und an einem anderen Tag, es konnte auch der darauffolgende sein, hätte man sie nach einem flüchtigen Blick ins Gesicht auf gut fünfundvierzig schätzen wollen, die Wahrheit war in ihrer Gegenwart unaussprechlich. Jede Woche bot sie Alexandr etwas anderes zu trinken an und immer wünschte er sich nur das Übliche. Lana warf den Kopf auf eine Seite, sodass man ihren Pferdeschwanz über die Schulter fliegen sah. Festhalten unmöglich – alle Lasten, alle ihr lästig Fallenden, ehe man sich’s versah, wieder abgeworfen. Lana, die das Endgültige verabscheute. Sie schaute Alexandr noch eine Weile an, obwohl der Dialog schon abgespult war. Jede Woche trug er denselben grauen Anzug, der dennoch faltenfrei war, vorbildlich gebügelt und ohne Makel. Dahinter stand ein penibles Zeitmanagement, bis zum nächsten Probenabend hatte er seine Kleidung immer rechtzeitig gewaschen und gebügelt. Jonathan ist übrigens auch schon da, ist noch vorn an der Bar, kommt gleich, sagte Lana, verließ den Proberaum und ging zur Schank, ohne die Tür zu schließen. Es war Gelächter zu hören und die Beine der Barhocker, die über den Boden kratzten. Der Zigarettenrauch wuchs langsam in das Glas der Tür.
Lana erinnerte Alexandr an jemanden, ohne dass er sagen konnte, an wen. Seltsam, dass ihm der Gedanke erst jetzt kam, wo er sie schon so lange kannte. Es konnte sich nur um ein winziges Detail handeln, vielleicht die Anordnung der Falten auf ihrer Stirn, die ihn an seine Tante denken ließ und natürlich auch an die Mutter, von der er nicht einmal ein Bild besaß, nur unendliche Vorstellungen. Dachte er aber an die Zeit in Sibirien zurück – denn an die Jahre vor der Deportation konnte er sich kaum erinnern und fast war ihm, als hätte die ersten Jahre seiner Kindheit jemand anderer für ihn gelebt und er wäre erst nachher hineingeplatzt –, dann hörte er immer die Stimme seines Vaters, vielleicht war sie auch notwendig, um sich überhaupt zu erinnern. Nach der Zwangsarbeit in der Trudarmee hatte er, sobald es dunkel wurde und an nebeligen Tagen, nur über eines gesprochen, über die Heimat, die Wolgarepublik, im Flüsterton. Aber was mit den Falten auf der Stirn der Tante, was nun? Im ersten Lebensjahr hatte sie Alexandr angeblich mit verdünnter Ziegenmilch gefüttert, und weil er sich dennoch normal entwickelt hatte, war sie so stolz gewesen, dass sie bei jeder Gelegenheit davon berichtet hatte, es noch Jahrzehnte später bei Treffen mit ihren Freundinnen immer wieder ansprach. Wahrscheinlich war es nur die Art, wie Tante Nelly ihn damals skeptisch angeschaut hatte, wenn er nachmittags von der Schule heimkommend seine Hefte auf dem Küchentisch aufgeschlagen hatte, um Hausaufgaben zu machen, die man sehr ähnlich auch in Lanas Gesicht bemerken konnte. Nur diese drei besonders angeordneten und gar nicht tiefen Falten auf der Stirn, mehr nicht. Falten für Sorgen, Zweifel, Unverständnis. Tante Nelly hatte über seine Schulter in seine Hefte gelugt, als hätte sie bei jedem Umblättern Angst gehabt, da einen Vermerk des Lehrers zu entdecken – nicht die Texte betreffend, die Alexandr in schönster kyrillischer Schreibschrift in die Zeilen setzte, sein Russisch war perfekt, annähernd zumindest. Sondern etwas Grundlegendes bemängelnd, was nicht richtig war, was aus der Reihe tanzte. Oft war Alexandr traurig von der Schule heimgekommen, dann hatte sie ihm die Hand auf den Kopf gelegt, seine Haare zurückgestreichelt wie das Fell eines dummen Hundes, aber sie meinte es so: Du kannst das noch nicht richtig verstehen, aber du musst keine Sorge haben, du bist kein Faschist. Dann hatte sie ihm etwas zu essen gebracht und egal was es war, es fühlte sich an wie ein Lindenblatt im Magen, etwas, das dazu imstande war, fast alles wieder gut zu machen. Ob es nur genügend Blätter gab? Er hatte die Tante sehr geliebt.
Die Stunden nach der Chorprobe waren für Alexandr leere Nacht ohne Schlaf und ohne Beschäftigung. Erschöpft vom Dirigieren, aber vor allem von den Gesprächen und dem aufgesetzten Lächeln wie ein Riss durch eine Mauer, saß er auf der Bettkante vor seinem Bücherregal und starrte die Buchrücken an. Er besah sich genau, welche Beschriftungen nach links und welche entgegengesetzt ausgerichtet waren, unwillkürlich kippte er den Kopf dabei ganz leicht – eine Bewegung, für die man verspottet würde, er verspottet würde. Da stand Lore Reimers Senfkorn, ihr unlängst erschienener Band, zwischen den Vielen guten Kameraden von Nora Pfeffer und – ja, was sollte das? – Schumanns Waldszenen gleich rechts daneben. Der unverhältnismäßig große, aber umso dünnere Notenband hatte den ihm eigentlich zugewiesenen Platz nicht in diesem Regal. Wer käme auch auf die Idee, Noten aufrecht zwischen irgendwelche Romane und Gedichtbände zu zwängen? Wahrscheinlich war er übernächtigt gewesen, oder es war, wie leicht dahingesagt, das Alter, das sich in kurzen Augenblicken in einer merkwürdigen Verwirrung der Sinne zeigte und wieder hinter einem Fleck auf der Haut versteckte. Etwas irritierte Alexandr jedoch. Weil er sich auch nach längerem Überlegen nicht daran erinnern konnte, den Notenband zwischen die Bücher gesteckt zu haben, und auch keinen Sinn darin entdecken konnte, nahm er ihn heraus und ging damit die paar Schritte auf die andere Seite des Raums, wo sich ein kniehohes Regal nur für die Musik befand. Im Halbdunkel legte er das Heft auf das dritte Brett. Alexandr machte immer nur so wenig Licht wie nötig, und obwohl ihm diese Angewohnheit oft das Ärgernis seiner Mitmenschen eingebracht hatte, änderte er sie nicht. Gleich darauf ließ er sich wieder auf der Bettkante nieder, studierte weiter die Bücher, hoffte, es würde ihn müde machen, zum Einschlafen bewegen. Er dimmte das Licht der Stehlampe noch ein bisschen weiter, legte den Polster auf seine Oberschenkel und die Arme darauf. In Gedanken ging er zum wiederholten Mal die Probe des heutigen Abends durch, verfuhr dabei nach Stimmlagen und vergegenwärtigte sich jedes einzelne Mitglied – auch die nicht erschienenen Sänger, die schmucke Ausreden erfunden hatten. Mit den Jahren war Alexandr besser darin geworden, seine Ansprüche zu untergraben.
Die kleingedruckten Titel konnte er nicht alle lesen – er konzentrierte sich nun wieder ganz auf die Bücherwand –, aber er wusste ja auch so, um welchen Autor und welches Werk es sich jeweils handelte, alles war fein säuberlich sortiert. Auf dem zweiten Regalbrett, dem für Sachbücher, neben einem Büchlein über die Porzellanmanufaktur Zsolnay, das er einst von einer Ungarnreise mitgebracht und nie gelesen hatte, mutete ihn etwas komisch an. Konnte es sein, dass auch dort ein Notenband stand? Alexandr beugte sich vor, um genauer sehen zu können. Der dunkelgrüne Einband, das mussten die gesammelten Kinderlieder sein. Jetzt warf er den Polster zur Seite, sprang auf und zog den Band heraus, wog ihn in den Händen. Bei genauerer Betrachtung fand er, dass das Grünblau hinter den weißen Buchstaben doch ein bisschen anders aussah, als er es in Erinnerung hatte, aber er hatte schon lange kein Stück mehr daraus gespielt, geschweige denn gesungen, außerdem war es viel zu dunkel im Zimmer, um die Farben beurteilen zu können. Er wollte sich schon wieder umdrehen, um auch diesen Band an den richtigen Platz zu räumen, da bemerkte er aus dem Augenwinkel noch andere Werke, die irgendjemand – aber wer, wenn nicht er selbst, sollte das gewesen sein? – falsch einsortiert haben musste. Einen um den anderen Band zog er zwischen den Büchern hervor und trug sie hinüber zum Notenregal, wo er sie an die richtigen Stellen legte. Gerade als er glaubte, mit allem fertig zu sein, entdeckte er noch ein letztes Notenheftchen in seiner Bücherwand, Schumanns Waldszenen. Erneut. Verwundert und mit steifen Fingern brachte er es auf die andere Seite des Zimmers. Jetzt schaltete er die große Deckenleuchte doch ein und besah sich seine Notensammlung genauer. Nachdem er mit dem ersten Stapel fertig war, fühlte er seine alte Zunge trocken im Mund liegen, als hätte er seit Tagen nichts getrunken. Wie konnte es sein, dass er diesen einen Zyklus von Schumann gleich elf Mal besaß? Er ging auch die anderen Stapel durch und kam bald nicht auf elf, sondern auf siebenundzwanzig. Eiskalt und bleiern zog das bedruckte Papier an seinen Händen nach unten. Der Schweiß rann seinen Körper hinab, Schneewasser über die Lenden. Die ganze Nacht über brachte er mit dem Sortieren der Bücher und Notenbände zu und hastete von der einen Seite des Raums auf die andere in einem merkwürdigen Gefühl der Ohnmacht und Enteignung. Er rannte, bis er endlich aufwachte.
Das Telefon klingelte. Eine Stimme, die tiefer war als noch am vorigen Abend im Gasthaus, womöglich auch ein klein bisschen heiser. Es war Lana. Den ersten Satz beendete ein Knackgeräusch wie von einem Schnalzen mit der Zunge oder dem Öffnen einer winzigen Schatulle. Man konnte das Gefühl haben, alle Verbindungen führten zu dieser Frau, als flöchte sie in ihr Haar jeden Morgen einen Knotenpunkt. Alexandr hörte ihr nur stumm zu. Sie bat ihn, noch einmal ins Lokal zu kommen, Jonathan wolle etwas von ihm und würde ihn dort erwarten, aber er habe selbst nicht anrufen können. Na ja, du kennst ihn ja, sagte sie. Ein Seufzen. Lana telefonierte von zuhause aus, Alexandr hörte ein Klirren hinter ihrer Stimme, wahrscheinlich von einem Löffel, der in einer Kaffeetasse kreiste, doch klang es, als sei diese ganz leer. Im Gasthaus sah er sie nie etwas trinken. Ihr Anruf hatte ihn überrumpelt. Jetzt sofort?, fragte er. Wieder ein leises Knackgeräusch. Ja, so wie ich ihn verstanden habe. Du wohnst ja gleich dort. Ich kann mir schon denken, was er von dir will – er hat uns alle gefragt –, aber das soll er dir selbst erklären. Alexandr schüttelte den Kopf. Er hatte den Burschen ganz gern, das war ein anständiger junger Mann, aber er konnte sich partout nicht vorstellen, was Jonathan um diese Zeit am Herzen liegen mochte, was sich nicht gestern bei der Probe hätte besprechen lassen oder eben nächsten Dienstag – Probenabende, die sich für Alexandr aneinanderreihten, kein Leben, das dazwischen passte, nur ein ewiges Hervorholen von Vergangenem. Lana hatte schon aufgelegt, weil er nichts weiter gesagt hatte. Noch ein Abschiedswort mehr überhört. Wann hatte er Lana eigentlich seine Telefonnummer gegeben? Ins Telefonbuch hatte er sie nicht eintragen lassen.
Der Stoff seiner Kleidung fühlte sich nach jahrelangem Tragen und Waschen so dünn an, dass jederzeit mit einem Riss zu rechnen war, aber dann hätte Alexandr Nadel und Faden zur Hand genommen. Die Tante hatte ihm das beigebracht, da war er noch ein Kind gewesen. Erst wenn er fürchtete, die Leute könnten sich mokieren, schnitt er seine alten Hosen oder Hemden in kleine Fetzen zum Putzen – für alles war noch Verwendung. Im Winter, wenn er, über der gewöhnlichen Kleidung nur mit Filzmantel und seinen Halbschuhen bekleidet, Spaziergänge durch die nassen Straßen machte, mochte auch ein kalter Wind gehen, wurde er manchmal gefragt, ob er nicht schrecklich fröre, aber was waren schon diese Winter. Nicken. Weitergehen. Alexandr zog die Tür hinter sich zu und schritt die Treppe nach unten. Er hatte die kleine Wohnung im oberen Stockwerk des Holzhauses ganz für sich, der Mietpreis war vertretbar. Die Wohnung ein fünfunddreißig Quadratmeter großer Raum – Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem. Die jungen Leute flohen aus dem Dorf in die Städte und nannten das allen Ernstes eine Flucht. Frau Seiger, die unter ihm gewohnt hatte, war vor ein paar Wochen gestorben. Seitdem suchten ihre erwachsenen Kinder, denen das gesamte Haus gehörte und demnach auch seine Wohnung, einen neuen Mieter für das Erdgeschoß – oder wollten sie die Wohnung verkaufen, es war Alexandr egal. Einen Augenblick sah es so aus, als würde entlang der Küchenzeile unten ein Licht brennen, als hätte Frau Seiger vergessen es abzuschalten, bevor sie gestorben war. Es musste eine Spiegelung sein. Sie hatte etwas Ärmliches. Dort wo er herkam, drehte man die Spiegel um, wenn jemand starb.
Es waren nur ein paar Steinwürfe bis zur Gaststätte, wo auch die Chorproben stattfanden, der Eingang befand sich im Hof. In der Stube saß Jonathan als einziger Gast – für einen Mittwochvormittag durchaus nicht ungewöhnlich – an einem Ecktisch. Auf dem rosafarbenen Tischtuch vor ihm stand nur ein großes Glas Wasser, nicht einmal ein Salzstreuer oder Servietten waren da. Das ließ den jungen Mann sehr zierlich wirken. Jonathans linkes Augenlid zuckte nervös, als Alexandr neben ihm auf der Bank Platz nahm. Die Männer schwiegen eine Weile. Weißt du, ich habe überlegt, ob ich dich einmal ein Solo singen lasse, fing Alexandr an, um irgendwie das Gespräch zu beginnen, er fühlte sich dazu fast in der Pflicht neben dem schüchternen Burschen, aber da sprudelte es plötzlich aus dem heraus: Ich habe mir den Vormittag in der Firma extra freigenommen, weil – also du weißt ja, dass ich manchmal an kleinen privaten Projekten arbeite … Alexandr zog die Augenbrauen hoch, natürlich hatte er davon Kenntnis, auch wenn es ihn nicht wirklich interessierte, aber diese Alltagsgeschichten waren Zerstreuung – vielleicht nicht so schlecht für einen älteren alleinstehenden Mann, wie er es war. Sich bei gutem Wetter aus dem Fenster lehnend konnte er an manchen Vormittagen mitanhören, was man sich auf der Straße erzählte. Die Leute hier hatten laute Stimmen, die meisten. Jonathan gehörte nicht dazu. Er war im Betrieb der Eltern untergekommen, in dem Geräte für die Landwirtschaft hergestellt wurden. In den Stunden nach der Arbeit war er Künstler oder wäre es zumindest gern gewesen. Er fertigte so eine Art Skulpturen – das war bekannt – und neuerdings hatte er allem Anschein nach die Fotografie für sich entdeckt. Jetzt umfasste Jonathan mit einer Hand das Wasserglas und zog es ein Stück näher zu sich heran, ein paar Perlen stiegen darin auf. Und obwohl er normalerweise ein sehr schweigsamer Zeitgenosse war, erzählte er nun langwierig von seinem neuen Projekt – er gab dem Wort einen sonderlichen Klang, womit er alles ins Lächerliche zog, aber wahrscheinlich wollte er damit nur einem abschätzigen Blick oder einem mitleidigen Lächeln zuvorkommen. Irgendein Fotoprojekt, verstand Alexandr, der durstig war und sich während des Geredes nach dem Wirt umsah, der ihm etwas zu trinken bringen würde. Jonathan wollte alte Fotos sammeln. Bilder, die Personen, Gegenstände, einprägsame Situationen aus dem Leben seiner Freunde zeigten, die jenen also eine bestimmte Erinnerung konservierten. Nichts Gewichtiges, nur Kleinigkeiten, die sie bereit seien, ihm zu schenken, versicherte er. Nur ein paar Bedingungen gebe es – so wolle er sicher sein, dass er selbst die gezeigten Personen, Orte und Gegenstände nicht wiedererkennen würde, und die Bilder sollten ihm anonym übergeben werden. Vielleicht hast du auch ein paar alte Fotos, die du nicht mehr brauchst?, fragte Jonathan schließlich. Er kam endlich auf den Punkt.
Alexandr schaute einstweilen hinaus und verschaffte sich Zeit. Es würde ein dunkler Tag werden, der Nebel hing irgendwo fest. Kein Loskommen. Schweigen. Als er sich umdrehte, sah er Jonathans fragenden Blick auf sich ruhen und versuchte, ihn mit einer Geste abzuwehren. Jonathan sah ihn zweifelnd an, aber dann spielte ein Lächeln um seine Lippen, er nickte ebenfalls, hob das Glas vom Tisch und trank in kräftigen Zügen. Nur ein unbedeutender Rest blieb übrig, als setze sich mit der Zeit in jeder Flüssigkeit etwas ab, das man besser nicht zu sich nahm, als hätte sich da schon etwas eingenistet, das auch fortan klirrend seine Kreise ziehen würde. Wenig später hatten sich die beiden Männer schon ihre Mäntel übergezogen und verabschiedeten sich voneinander. Jonathan schien es plötzlich eilig zu haben. Alexandr nahm die Hände aus den Taschen und spürte die feuchte Luft auf der Haut. Er machte einen langen Spaziergang und wusste doch nichts mit sich anzufangen, fast schon wollte er Lana anrufen, aber allein der Gedanke war derart lächerlich.