Читать книгу Wolgaland - Lydia Steinbacher - Страница 5

Оглавление

2

Lana stand noch eine Weile neben dem Bett, betrachtete den Faltenwurf des Leintuchs und fand, dass sich seltsame Formen darin zeigten, gar nicht so, als wäre sie gerade noch hier gelegen, Buchstaben eines fremden Alphabets. Gregor saß auf dem Stuhl und zog sich die Socken über die rissigen Füße. An Lanas Mikrofaserbettwäsche blieb er in regelmäßigen Abständen hängen, sie verzieh keine raue Hornhaut, keinen eingerissenen Nagel. Es waren die alltäglichen Gegenstände, die sich irgendwann gegen einen verschworen. Und Lana hatte das Gefühl, als spielten viele Dinge, die sie umgaben, bereits mit dem Gedanken der Verschwörung oder hätten sich in Wahrheit schon gegen Gregor und sie entschieden. Oder nur gegen einen von ihnen beiden. Er wollte noch rauchen und sie warf ihm ein Feuerzeug zu – einmal hatte sie versehentlich Feuerwerk dazu gesagt, jetzt tat sie das öfter. In der Wohnung roch es wie immer nach einer eigenartigen Mischung aus Feigen, Flieder und Rauch. Gregor machte die Balkontür auf. Lana mochte den schweren Geruch und wollte lieber im Warmen sitzen, aber er war wieder in dieser Stimmung, für die sie noch kein Wort hatte. Sie presste ihren nackten Bauch und die Brüste gegen das Glas des geschlossenen Flügels der Tür, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, doch Gregor hatte von einem Moment auf den anderen keine Augen mehr für solche Spiele. Lana hatte keine Lust auf ein Gespräch und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Der Abdruck ihrer bloßen Haut auf dem Glas würde erst viel später sichtbar werden, wenn das Licht aus einer anderen Richtung ins Zimmer fiel. Sie schaute dem Wind hinterher, der hereinkam und sich im Schwingen der feuchten Kleider am Wäscheständer verlor. Am liebsten wäre sie jetzt geschwommen – ein paar Bahnen in einem Becken mit blaugrünen Fliesen ziehen, kurz in einem Hochglanzurlaubskatalog verschwinden, fünf Minuten fünf Sterne. Gregor hatte den Zigarettenstummel irgendwo verschwinden lassen. Er rauchte nur, wenn er bei ihr war. An ihm haftete die Kälte, als er die Tür hinter sich schloss. Dieser Abend war kühler als die der vorhergehenden Wochen, vielleicht war es doch nicht zu früh für den Winter – aber war es nicht seine eigene Schuld, dass man ihm im November noch nicht traute? Ließ er sich doch jedes Jahr mehr Zeit.

Fragst du dich eigentlich nie, was Tom so treibt?, sagte Gregor und machte eine kurze Pause, ehe er hinzufügte: So ein junger Bub, der braucht dich doch. Und er setzte wieder neu an: Meinst du, er denkt nicht an dich? Wenn er nun auf einmal vor deiner Tür stehen würde. Wenn er dich einmal fragen würde, warum du dich nicht mehr kümmern willst? Lana schaute ihn an. Was war es doch für eine Anmaßung, immer mit diesen Fragen daherzukommen, Gregor ging ihr in seinem Glauben, ihr mittlerweile näher zu sein als noch vor ein paar Wochen, schön langsam auf die Nerven. Auch dass er fast immer im Konjunktiv sprach – eine Krankheit. Wie ihn jetzt verscheuchen? Sie brachte keinen Kaffee, kein Wasserglas, brachte keine verliebten Blicke auf, nichts auf dem Tischchen zwischen ihnen, was das Schweigen nur eine Spur bekömmlich gemacht hätte. Lana band sich die Haare zusammen, begann eine uninspirierte Bewegung nach der anderen wie Gregor seine Fragesätze. In der Leere ausbleibender Antworten fing er schließlich an, von seiner Tochter zu reden. Wohl tat er ihr ein bisschen leid in dem Moment, aber Lana fiel dazu nichts ein. Stattdessen steckte sie die Ringe an ihren Fingern um. Was er erzählte, klang wie ein Tagebucheintrag. Geschrieben, um nie gelesen zu werden. Sarah wolle ein Instrument spielen lernen, vielleicht Klavier, aber er sei sich da nicht so sicher, immerhin konnte sie die rechte Hand noch immer nicht gut bewegen, in der Früh war sie merkwürdig verquollen. Und außerdem sei sie doch schon zu alt dafür. Das bringt doch jetzt nichts mehr. Meinst du nicht? Lana zog sich während seiner Sätze an und ordnete schon ihre Instrumente im Arztköfferchen, allzu viel brauchte sie meist nicht für ihre Besuche. Sie hörte mehr auf den Klang seiner Stimme als auf Gregors Worte, hörte, dass er gereizt war. Er wollte sie auf Teufel komm raus an allem beteiligen, an Gewinn, Verlust – der Moment war zu fürchten, an dem sich herauskristallisieren würde, wie viele Fehlinvestitionen man getätigt hatte im Leben. Ihr fielen die Musikinstrumente im Haus ihrer Großeltern ein. Posaune, Tuba, Trompete – Relikte eines Vorzeigebläsers, mit denen heute der Staub sein Spiel trieb. Aber warum stellte Gregor sich so an? Lana kam neben ihm zu stehen wie ein Kreisel, scheinbar starr in rascher Bewegung. Sie kamen sich gegenseitig immer öfter vor wie Kinder und sahen einander auch so an. Der eine blickte spöttisch auf den anderen herab, von oben den Atem ausstoßend, dann wieder war es genau umgekehrt und der andere wuchs über den Kopf des ersten. Was soll ich sagen?, murmelte Lana schließlich und schlüpfte in ihre Schuhe. Warum lässt du sie nicht einfach machen? Machen, was sie sich wünscht. Ein kurzer Blick über die Schulter, ehe sie sich in ihren Terminkalender vertiefte. Hast du überhaupt zugehört?, fuhr Gregor sie an. Weil er so schnell aufgestanden war, zuckte sie zusammen. Er schnaubte. Ich sehe, du hast zu viel zu tun, keine Zeit, ich weiß schon. Aber ich werde auch gebraucht! Wie?, wollte Lana fragen, nicht wozu oder von wem.

Von den unsichtbaren Türen, hinter denen sich die verworrenen Erinnerungswege wie ein Labyrinth ausnahmen, hatte er zu viele grob geöffnet. Eigenmächtig öffnete er jetzt auch die Wohnungstür, seine Schuhe standen draußen am Gang, das war bei Lana so üblich. Ihre Hausregeln waren eine zweiseitige Broschüre in ihrem Kopf. Anhand der Schuhe vor ihrer Wohnungstür konnten die Hausbewohner mutmaßen, wer bei ihr ein- und ausging, sie spielte mit den Fantasien der unbekannten Nachbarn.

Im Auto begann die Zeit zu rauschen. Eine merkwürdige Müdigkeit wohnte in dem Geräusch und in den Kurven – das Bewegt-Sein ohne Anstrengung, eine Strömung, gegen die sie nicht anzukämpfen brauchte. Lana fuhr auf der Landstraße durch die umliegenden Dörfer, die Bezirkshauptstadt, dann wieder Dörfer und Felder mit braunen Kühen, alles einander sehr ähnlich und doch nicht ganz gleich, aber jedenfalls friedlich. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die Alexandr ihr einmal erzählt hatte. Es musste an einem der ersten Probenabende überhaupt gewesen sein, da hatte er den Chor gerade übernommen. Sie hatten einander noch nicht öfter als ein- oder zweimal gesehen, aber der eigenwillige Chorleiter, der Zugereiste, hatte sie auf sehr eindringliche Art und Weise gemustert, als hielte er sie, in ihrer schwarzen Hose, der schwarzen Schürze und mit dem klebrigen Servierbrett in der Hand, für eine Schlüsselfigur im Dorf. Das hatte ihr gefallen. Nachdem die Probe vorüber gewesen war, die Sänger gegessen und getrunken hatten, war er noch an der Bar gesessen, allein, und Lana hatte sich gewundert, dass ein Mann wie er so lange wach und nüchtern bleiben konnte. Vor allem, wo er doch ein halber Russe war. Wieso er ihr diese Geschichte erzählt hatte, wusste sie nicht mehr zu sagen, auch waren ihr die Zusammenhänge nicht klar. Vielleicht war er doch betrunken gewesen. Und ein bisschen hatte es gewirkt, als läse er diese Episode vor, als hätte er sie zuvor aufgeschrieben oder schon etliche Male in Gedanken entworfen. Ziemlich sicher sogar. Die Kühe auf der Weide, die ihrem Auto hinterherschauten, riefen sie ihr jetzt in Erinnerung.

Sie müssen sich das so vorstellen. Ein kleines Dorf, nicht so groß wie dieses, kleiner, nur ein paar Familien, allesamt waren sie Bauern. Es gab eine Schule, ein Kirchlein mit einem Küster, und der Fluss war nicht weit. Mein Vater hat sein Leben lang von diesem Ort gesprochen, manchmal so laut und aufgeregt, als erwarte er ein Echo aus irgendeiner Richtung, wenn schon nicht von seinen Freunden oder dem eigenen Kind, der toten Frau, alle waren verstummt, und häufig – und immer öfter im Alter – sprach er kaum hörbar leis, nur schweigen wollte er nicht. Er hat so oft davon erzählt, dass ich es lange gar nicht für wahr hielt, nichts von alldem. Für mich waren die Geschichten wie Bilder, die er mir in den Kopf zeichnete und die die eigenen blassen Kindheitserinnerungen absorbierten. Die Leute hatten Angst. Der schwarze Rabe kam nachts in die Häuser. Als Kind sah ich den Vogel ganz deutlich vor mir, ich sah in ein schwarzes Auge und bemerkte den Wind, der von hinten kommend das Federkleid leicht anhob. Die wandernde Pupille. Dass mit dem schwarzen Raben kein Tier, sondern das Auto der Leute vom NKWD gemeint war, verstand ich erst später. Selbst kann ich mich nicht erinnern, den Wagen je gesehen zu haben. Aber vielleicht ist er mir nur nicht im Gedächtnis, weil ich nicht auf der Straße suchte. Ich dachte lange, es wäre dieser Rabe gewesen, der, wie mein Vater erzählte, in die Häuser eingedrungen war, alle Schubladen der Kommoden, sogar die Küchenschränke, durchwühlt und nach Namen und Geständnissen verlangt hatte. Es wurden wahllos Menschen verschleppt, nur ganz wenige von ihnen kamen wieder zurück. Und dann mussten schließlich alle das Dorf verlassen, alle nemcy. Hof und Vieh mussten dem Staat abgetreten werden, dafür bekam man irgendein Dokument in die Hand gedrückt. Ich war sechs Jahre alt, ich hatte mich auf die Schule gefreut. Ich weiß noch, dass Tante Nelly weinte und ich Angst hatte, sie würde blind davon. Das war so eine Geschichte, die man den Kindern erzählte. Die Denunzierten öffneten vor der überstürzten Abreise die Ställe und Gatter, sodass wenigstens das Vieh freikam und nicht hinter Gittern verhungern musste. Die wenigen Männer und Frauen, die in dem Dorf verblieben, trieben die Kühe auf dem Friedhof zusammen, die eigenen und die der Zwangsumsiedler. Sie verstanden die Sprache der Tiere und melkten sie, wenn ihnen die Euter zu schwer wurden. Aber stellen Sie sich das kurz vor, die Kühe auf dem Friedhof, ich habe mir das immerzu vorgestellt. Hier und da fiel wohl ein Tropfen Milch auf ein Grab.

Es war zwanzig vor vier, sie würde sich verspäten. Vor ihr rollte ein Traktor, aber in den Kurven traute Lana sich nicht zu überholen. Gregor hatte seinen Stoffbeutel bei ihr vergessen. Einen Aquarellmalkasten und ein paar Pinsel hatte sie darin entdeckt, außerdem irgendein Buch über Landschaftsmalerei. Sie wusste natürlich, dass er diese Dinge für seine Tochter besorgte, die sich nach dem Unfall aufs Malen und Basteln verlegt hatte. Angeblich hatten das die Physiotherapeuten fürs Erste empfohlen, um die Geschicklichkeit der Hand zu verbessern. In einem Alter, in dem die meisten Menschen die Lebensphase des Klebens, Schneidens, Malens für immer hinter sich gelassen hatten. Eigentlich war sie auf dem besten Weg gewesen, Leichtathletin zu werden, hatte mit fünfzehn Jahren bereits mehrere Jugendwettbewerbe gewonnen. Ob sie je wieder diesen Sport ausüben würde, war nicht klar, Gregor sagte, man dürfe darüber nicht spekulieren. Das sei ja kein Berufswunsch, sondern ein Traum. Ganz etwas anderes. Lana hatte es respektiert. Die Monotonie des Trainings auszuhalten und sich dadurch zu verbessern in Bewegungen, die im besten Fall so gleichförmig waren, dass man verschiedene Zeitebenen übereinanderlegen könnte und es wäre dennoch nichts anderes als die Gegenwart zu erkennen – mit sechzehn Jahren, mit siebzehn, achtzehn, achtundzwanzig, nur ein bisschen Haut, Haar, Stoff, die sich unterschieden, der Sprung immer der gleiche, der höchste und beste. Lana bewunderte es, wenn Leute das auf sich nahmen. Wie lange war es her? Vielleicht sechs Wochen, dass Gregors Tochter in der Sporthalle gestürzt war, aus fast vier Metern Höhe in den Einstichkasten. Ein komplizierter Schulterbruch, die Hand hatte es nicht minder schwer erwischt, und ein gerissenes Kreuzband obendrauf. Die Lokalzeitungen waren voll mit Genesungswünschen gewesen. Den Sturz seiner Tochter hatte Gregor aus nächster Nähe miterlebt, hatte selbst den Notruf gewählt, war die ersten drei Wochen nach der Schulter-OP nicht von Sarahs Seite gewichen, als sei so etwas lebensgefährlich. Die Tatsache, dass sich auch der Bruch der rechten Hand als komplizierter herausstellte als gedacht und schließlich operativ behandelt werden musste, hatte seine Sorge um die Tochter noch verstärkt. Lana hatte sich die eigene Traurigkeit eingestehen müssen, als er an den Dienstagabenden nicht zur Chorprobe im Gasthof erschienen war, drei Mal in Folge nicht. Für ein kleines Dorf war das viel, alle redeten über ihn. Der Chor klang auch ohne den siebten Sänger im ersten Bass ausgewogen, aber Alexandr hatte sich dennoch jede Woche beklagt. Es waren Nuancen, die sonst niemand hörte, außer dem alten Spinner – Lana wusste, dass viele ihn dafür hielten. Sie hatte Alexandr in dieser Zeit gefragt, für wen er denn eigentlich die Musik mache. Nur für dich selbst in Wahrheit? Er hatte den Kopf geschüttelt.

Lana zog sich die Spange aus dem Haar. Die Plastikzähne bohrten sich durch die Haare in die Haut, wenn sie die Kopfstütze auch nur leicht berührte. In dem Moment bog der Traktor vor ihr endlich in eine Einfahrt. Sie blinzelte und stieg aufs Gas. Die nassen Felder glänzten im einbrechenden Licht. Die Wolken waren ein ausgeworfenes Netz. Der nächste Hausbesuch stand an, ein neuer Kunde. Natürlich waren es wieder Kois, was sonst, dachte sie, als sie die Einfahrt sah, die armen modernen Tierchen. Der aus Weidenruten geflochtene Kranz an der Eingangstür, in dem ein paar trockene Rosenblüten steckten, passte nicht ganz ins vorgefertigte Bild. Mit dem Zeigefinger berührte sie eine Blüte. Die einzelnen Blätter fühlten sich ein bisschen an wie Schuppen. Ihr Job als Fachtierärztin für Fische war keine so glitschige Angelegenheit, wie die Leute dachten, häufig beriet sie ihre Kunden nur, beantwortete Fragen zur Haltung, analysierte das Wasser. Wenn Tierhalter eine Einsendung machten, dann saß sie vormittags am Arbeitstisch und sezierte die kühlen Fischleiber. Gregor hatte das einmal mitangesehen, seitdem rief er immer an, bevor er kam, um mit ihr zu schlafen. Das machte er lieber ohne Fisch im Haus. Das stundenweise Kellnern im Gasthaus brauchte Lana als Ausgleich, es war wie ein zweiter Lebenslauf. Aber sie arbeitete nie mehr, als sie wollte, in beiden Berufen – diesen Grad der Selbstbestimmung hatte sie erreicht.

Als sie die Autotür zuzog und den Motor startete, war es schon finster. Die Tage werden so kurz und dunkel, hatte sich ihre Großmutter früher jeden Herbst beschwert und dabei ein ängstliches Gesicht gemacht. Da war Lana noch ein Schulkind gewesen, kleiner und frecher als ihre Freundinnen. Dafür waren die anderen hübscher gewesen – auf diese gewöhnliche Art, wie man sich das Hübschsein vorstellte. Die Tage sind schon so dunkel und kurz. Dieser oder ein ähnlicher Satz über die Dunkelheit wurde wahrscheinlich hunderte Male pro Tag, ja, vielleicht noch öfter auf der Welt gesprochen, in verschiedenen Sprachen, trotzdem war er für Lana ein ganz intimer Teil ihrer selbst. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie zu ihrem Sohn sprechen könnte wie ihre Großmutter einst zu ihr, wenn sie so eine samtige Stimme hätte oder zumindest ein passendes Register ziehen könnte. Für Tommi. Aber sie fehlte dem Kind nicht als Mutter. Bernard war ein guter Vater, war zweisprachig und auch nicht arm. Welches Kind würde nicht in Nizza aufwachsen wollen? Oder: Welcher Erwachsene würde nicht gerne von seinen Jugendtagen in dieser Stadt erzählen? Lana kramte mit der rechten Hand aus der Mittelkonsole einen Kaugummi hervor. Das hasste sie an Gregor – seinen Blick, der oft Vorwurf war. Es war ja nicht so, dass sie keine Gefühle für ihren Sohn hatte, und außerdem würde sie ihn bald wieder besuchen. Sie würde einen Flug nach Nizza buchen, Ende Mai, der Frühling schien ihr immer eine geeignete Zeit. Die Idee des Kind-Großziehens trug sie tagein, traumaus mit sich herum, sie hatte sich im Nacken festgesaugt wie ein Blutegel. Eine Stelle, die sie nur mit Mühe erreichte, ein Zustand, auf den sie wenig Einfluss zu haben glaubte. Wenn sie schon dachte, es sei ihr gelungen, den Egel endlich abzuziehen, ohne ihn zu sehr zu drücken, dann setzte ihn Gregor wieder an seinen Platz. Wie heute. Aber das Kapitel war abgehakt, Tom hatte eine schöne Kindheit, am Telefon klang er glücklich, Tommi, genau. Manchmal war die Verbindung schlecht, dann hörte sie das Glück im Rauschen.

Lana fuhr gerade eine langgestreckte Linkskurve der Autobahn aus, als der Wagen an Geschwindigkeit verlor. Sie hatte den Fuß nicht vom Gaspedal genommen – im Gegenteil versuchte sie im ersten Reflex, mehr Gas zu geben, aber es war zwecklos. Die Warnblinkanlage schaltete sie ein, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre, so wenige Autos waren unterwegs. Sie ließ den Wagen auf dem Seitenstreifen ausrollen. Da sie einen weißen Pullover trug, würde sie für die anderen Fahrer gut zu sehen sein, wenn sie ausstieg, um das Auto zu inspizieren. Doch konnte sie die Tür nicht öffnen, irgendetwas hielt sie davon ab. Kurz dachte sie daran, jemanden anzurufen, nicht den Pannendienst, das würde wahrscheinlich ohnehin sein müssen, sondern jemanden, dem sie hätte sagen können, dass sie erst spät zuhause sein würde. Im Kopf ging sie die eingespeicherten Kontakte durch. Ein Großteil der Bekanntschaften war wohl verjährt.

Plötzlich zwei Tränenspuren auf ihren Wangen. Wäre einer der alten Kontakte jetzt neben Lana zu sitzen gekommen, hätte er es erst gar nicht bemerkt. Dann aber wurde sie blass im Gesicht. Unweigerlich hätte er versuchen müssen, ihre rechte Wange zu berühren durch die Dunkelheit, eines ihrer Augen für sich zu gewinnen, ihren porzellanenen Blick. Die Nässe eine Verlegenheit auf den Fingerspitzen. Es verging keine Zeit. Lana rauchte ein bisschen und öffnete das Fenster, die Rauchzeichen flogen bis zu ihrem Sohn nach Frankreich, dorthin, wo jeder aufwachsen wollte.

Wolgaland

Подняться наверх