Читать книгу Wolgaland - Lydia Steinbacher - Страница 8

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Sie saßen dicht an dicht und wenn sie lachten, dann rieben sich die runden Schultern aneinander. Jonathan mit einem Tischbein zwischen den Knien an einer Ecke der beiden Tafeln, die jeweils aus zwei zusammengestellten Tischen gebildet waren. Alexandr abseits beim Klavier, der Chorleiter wartete. Stefan würde nicht kommen, er hatte kurzfristig Bescheid gegeben, aber auch Gregor war noch nicht erschienen, obwohl es gleich acht Uhr sein musste und gerade er sonst überpünktlich war. Zwischen den Tischen, in der Mitte des Raums, fiel Jonathan ein toter Falter auf, der sich, von einer oder mehreren Schuhsohlen auseinandergerissen, am Boden zerrieben hatte. Die Männer um ihn herum unterhielten sich mit ihren lauten Stimmen, wiederholten die immer gleichen Wörter, anhand derer sie sich ihrer Zugehörigkeit versicherten. Jonathan schaute in regelmäßigen Abständen zu Alexandr nach vorn, der vor dem Instrument mit geschlossenem Tastendeckel saß, als bräuchte er die Gesellschaft eines großen stillen Körpers in dem Stimmengewirr – im alten Holz aller Glanz verloren, abgesplittert, so spiegelte sich nichts in rotbrauner Oberfläche, was die Ruhe gestört hätte. Er saß bei dem Klavier, mit leicht hängenden Schultern, so teilnahmslos, als säße er in Wahrheit an einem ganz anderen Ort in der Welt, für einige Minuten entflogen. Während Jonathan noch einen letzten freien Platz in der Runde hatte finden können, war Alexandrs Rolle die desjenigen, der alles besetzt vorfand, der sich – so schien es – nur der herrenlosen Dinge annehmen konnte. Der Dinge, mit denen sich niemand hatte anfreunden können, mit denen man es vielleicht eine Zeit lang probiert, sie dann aber stehen oder fallen gelassen hatte, weil man mit ihnen nicht weiterkam. Unnützes band man nicht an sich, und was zu lange unverstanden blieb, wurde stets unnütz. So viele Jahre nicht verwendet. Wozu noch? Das kann weg. Jonathan atmete durch den Mund, wie immer, wenn er mit sich selbst sprach, ohne die Lippen zu bewegen. Niemand aus dem Chor begriff, was sie ihre Lieder hindurch sangen, was Alexandr sie singen machen wollte. Jonathan glaubte, zumindest dies verstanden zu haben – dass sie das nicht leisten konnten –, und vielleicht kam er Alexandrs überspannten Vorstellungen schon allein darum einen Hauch näher als die anderen.

Plötzlich war da ein Wortfetzen, der seine Aufmerksamkeit erregte. Jonathan schaute sich am Tisch um, blickte in die Gesichter der Männer. Neue Nachbarn? Wer hatte das gesagt? Ludwig fing seinen Blick mit einem amüsierten Lächeln auf. Kennst du die Familie denn?, fragte er. Welche Familie? Jonathan hatte so ein Gefühl, dass sich hier die Fäden verknoteten, und in der Tat sprachen die anderen von dem Mann, den er vor einigen Tagen am Postamt gesehen hatte. Natürlich sprachen sie über ihn! Gleich sollten die anderen Chorsänger es bestätigen. Mit großen Gesten – auch die Schultern rieben sich wieder aneinander – erzählten sie, dass in der alten Trauner-Villa eine Familie eingezogen war. Sie waren nicht aus der Gegend. Nein, natürlich nicht, das hörte man an dem fremd klingenden Akzent, doch sonst wusste man recht wenig. Die passenden Geschichten, die auch die wunderlichsten waren, wurden schon erfunden. Beim Bäcker sollten sie Unmengen von Semmeln gekauft haben, dabei war es nur ein Dreipersonenhaushalt. Jonathan saß da mit hochgezogenen Augenbrauen und lauschte den Geschichten. Auch wenn sie noch so widersinnig waren, er wollte alles erfahren, was die anderen sich zusammengereimt hatten, und ein bisschen war er über sich selbst erstaunt deswegen. Hätte er einen Schritt neben sich machen können, womöglich hätte er sich kopfschüttelnd angesehen. Und der … der Sohn?, hörte er sich stattdessen fragen – er wandte sich an keine bestimmte Person, sprach niemanden direkt und gleichzeitig alle an. Unauffällig schüttelte er die Hände aus, um wenigstens ein bisschen Erregung loszuwerden. Keine Ahnung, den hab ich kaum gesehen. Die müssen arbeitslos sein oder weiß der Teufel, jedenfalls gehen sie zu ganz ungewöhnlichen Zeiten aus dem Haus – sie wohnen ja gleich ein Stück die Straße rauf, von uns hat man einen guten Blick. Wer hatte das gesagt? Es musste Ludwig gewesen sein. Einen guten Blick, wiederholte Jonathan leise für sich, aber die anderen schienen es gehört zu haben. Sie befeuerten ihn jetzt richtiggehend, ihn, der sonst nie am allgemeinen Gespräch am Tisch teilnahm, er merkte das sehr wohl. Aber auch in dieser Situation wusste er das Wichtigste für sich zu behalten. Die Ansichtskarte! Wie hätten sie sich auf diese Information gestürzt! Hyänen. Aber er verbarg die kleine Episode sicher vor ihren hungrigen großen Leibern, das Blau des Bildes hatte sich da schon in seiner Iris eingelagert. Er wusste auch, dass sie vermutlich sogar Alexandr interessiert hätte, die Farbe seiner Postkarte, die plötzlich seine Trumpfkarte wurde, ihnen allen war er einen langen Satz voraus. Eines Abends hatte der Chorleiter etwas von der Wolga gesagt, Jonathan konnte sich erinnern – sie alle hatten nicht wenig getrunken –, die anderen hatten es wahrscheinlich gar nicht bemerkt, überhaupt schon vergessen, dass Alexandrs Augen plötzlich wässrig geworden waren, als er auf seinen Vater zu sprechen gekommen war. Der habe von der blauen Wolga geträumt für den Rest seines Lebens. Und wahrscheinlich war sie gar nicht blau. So sind diese Flüsse nicht. Jonathan aber würde niemandem von der Beobachtung am Postamt erzählen, die ihn im unwahrscheinlichsten Fall sogar zu diesem fremden Fluss würde führen können, egal wohin, es war sein Geheimnis. Stattdessen lauschte er weiter dem Geschwätz, Ludwig klopfte sich schon auf die Schenkel und riss einen Witz über den jungen Mann. Was für ein Bürschchen, rief er aus. Wer? Jonathan glaubte einen Moment, dass er selbst damit gemeint sei. Und wirklich, zusehends bekam die Freude der anderen Risse – da lugte das Hämische durch. Er bemerkte, wie sie ihn angrinsten, einen spöttischen Ausdruck vom einen zum anderen Auge des einen großen Tiers, das sie waren, weiterreichten. Jonathan spürte die Wut unter seiner Haut kribbeln, seine Wangen wurden heiß. Sie waren es auch, deren Schuhe den Falter entzweigerissen hatten. Es wäre nicht schwer gewesen herauszufinden, welcher Fuß ihn erwischt hatte.

Gregor kam herein, mit der Hand einen Moment länger als üblich die Tür aufhaltend, weil hinter ihm noch ein Mädchen erschien. Es war groß und hatte auf den ersten Blick starke Ähnlichkeiten mit dem Vater, ein breites Gesicht und hohe Wangenknochen. Gregor hob die Hand zum allgemeinen Gruß und stellte seine Tochter vor. Jonathan nickte ihr zu, die Gespräche waren gänzlich verebbt, Sarah schaute ein bisschen unsicher einmal nach links, dann nach rechts, sie lächelte. Und es war sehr leicht, dieses Lächeln zu erwidern. Irgendjemand sagte etwas Taktloses, aber dann räumten die Männer ohnehin schnell das Feld. Alexandr hatte sie zu sich nach vorn gerufen. Er war aufgestanden, weil er Gregor erkannt hatte, Sarah jedoch schien er gar nicht bemerkt zu haben. Sie setzte sich auf einen der leer gewordenen Stühle, die plötzlich nichts Weiches mehr hatten, während die Sänger auf ihren Plätzen am Ende des Saals Stellung bezogen. Einmal trafen sich Jonathans und Sarahs Blicke. Er glaubte, er würde lächeln, aber vielleicht war doch nur sein Mund einen Spalt breit offen gestanden. Sie wandte sich schnell ab, und Jonathan tat es ihr gleich. Als er später wieder wagte, sie direkt anzusehen, fixierte sie den Chorleiter. Was für sie dabei nicht zu erkennen war, hätte Jonathan ihr gern irgendwann erzählt: Nach einem kurzen Aufwärmen stand in Alexandrs Gesicht schon dieser erwartungsvolle Ausdruck, der sich in menschlichen Zügen kurz vor der Erfüllung eines Wunsches abzuzeichnen pflegt und gewöhnlich nur wenige Sekunden anhält. Doch sein Blick veränderte sich nicht, Alexandr fand keine Erfüllung in der Musik. Sie konnten sich bemühen und all seinen Anweisungen Folge leisten, doch immer fehlte etwas, das sehr wichtig war und nicht in Worte fassbar. Dieser grauhaarige Kauz mit dem russischen Akzent, der Russe – Jonathan dachte daran, wie er die Leute oft von ihm sprechen hörte. Er selbst hielt sich fast ausschließlich an Namen, glaubte er doch zu wissen, wie es war, in gemeine Schablonen gedrängt zu werden, der Name war schlimm genug. Die Flucht gelang nur in die nächste vorgefertigte Form. Und ob es überhaupt möglich war, die Formen von innen zu zersprengen, war nicht im Geringsten sicher.

An diesem Abend machte Alexandr sie bekannt mit einem neuen Lied, einer Melodie, die so vertraut klang, als gäbe es nichts weiter zu erklären. Aber der Eindruck täuschte. Zwar war das Arrangement nicht so komplex wie manch andere, die er ihnen schon zugemutet hatte, es klang einfach und ungekünstelt, als er es ihnen zur Einführung vorspielte. Es ist die Melodie vom Armen Heinrich, aber der Text vom Sträußchen am Hute, sagte Alexandr. Doch niemand kannte diese Lieder, von denen er sprach. Jonathan wechselte ein paar Blicke mit den anderen. Weil sie sich keine Blöße geben wollten – immerhin ging es hier ja um Volkslieder –, gab es auch keine Einwände. Wenn Alexandr etwas zu erklären versuchte, schien er sehr angespannt, fast als ängstige er sich insgeheim, sobald es ruhig wurde und alle Anwesenden seinen Ausführungen lauschten, wie von ihm eingefordert. Er beschrieb ihnen die Form, die sie auskleiden und füllen sollten, in Wahrheit nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Wunsch selbst. Er predigte das genaue Hinhören und schien gleichzeitig furchtsam angesichts der uneingeschränkten Aufmerksamkeit. Ein scharfes Gehör ist wie ein reines Gewissen, offen für Neuigkeiten. Aber war denn nicht Alexandr mehr noch als alle anderen mit Altlasten beschwert? Die zweiten Tenöre waren als erste dran, sie übten die Strophe unter seinen Anweisungen, dann die ersten Tenöre, zu denen auch Jonathan zählte, der froh war, endlich singen zu dürfen. Schließlich beide Gruppen zusammen. Doch schon nach ein paar Minuten verlangte Alexandr, dass sie ihre Stimmen zügelten. Nein, so geht das nicht. Hört zu. Langsamer, langsamer. Ihr müsst euch doch gegenseitig zuhören, Herrgott, rief er. Da also war es wieder. Zuhören sollten sie. Nachdem Alexandr die Unsicherheiten bei einzelnen Sängern vertrieben und große Unebenheiten geglättet hatte – auch Ludwig und Anton im zweiten Bass waren drauf und dran gewesen, sich einen falschen Ton einzulernen –, bremste er den ganzen Chor zusammen, er wollte es leise, einfühlsam. Sie konnten es ihm nicht recht machen. Auch Jonathan kämpfte mit seiner Stimme, die er kaum hörte, immer schoben sich die anderen darüber. Schon ein paar Wiederholungen später verlor Alexandr die Nerven, schüttelte wild den Kopf, winkte ab. Jonathan verstummte, während die meisten einfach weitersangen, bis der Chorleiter mit dem Fuß mehrmals laut auf den Boden stampfte. Aus!

In dem Moment bemerkte Jonathan, dass Sarah nicht mehr ihre einzige Zuhörerin war. Lana saß neben ihr und flüsterte ihr etwas zu. Sie erschien ohne Möglichkeit der Rückverfolgung, hinter ihr Verwirbelungen im Raum, ein Labyrinth hunderter Wege, als würde sie jedes Mal einen neuen Weg ausprobieren, oder als würde sie die Wege zerschneiden und immer neu zusammensetzen auf ganz unerwartete Weisen. Um diese Gabe – wenn es denn noch jemand außer ihm so bezeichnet hätte – beneidete er sie. Wenn sie nach der Probe noch zusammensaßen und tranken, dann gaben die Männer nicht darauf acht, ob Lana sich gerade bei ihnen aufhielt oder nicht. Man konnte sie minutenlang nicht bemerken und dann saß sie plötzlich auf dem Schoß eines der Männer, mit einem Lachen die Stimmen von fünf anderen übertönend. Sie unterhielten sich daher über Lana, als sei sie nicht anwesend. Jonathan betraf das nicht direkt, nur selten fand er es überhaupt wert, ein Wort zu verlieren. Und Lana würde sich ohnehin einen Reim auf alles Geschwätz machen. Was sie jetzt Sarah zuflüsterte, konnte Jonathan nicht verstehen, Alexandr schimpfte, und war er sonst auch unscheinbar und zurückhaltend, so entwickelte er doch eine Präsenz, wenn er dirigierte oder ihnen die Leviten las. In Wahrheit machte er sich auf diese Art nur selbst zum Angriffspunkt. Nach der Probe sprach man in der Runde auch über Alexandr, wenn er im Raum war, man hielt sich nicht zurück, aber nicht aus demselben Grund wie bei Lana. Sie wussten, dass er da war und sie hören konnte, dass er immer etwas länger blieb, gewiss nicht als Erster und ebenso wenig als Letzter nachhause gehen würde. Oft faselten sie dann etwas von einem frischen Wind, der fehle. Aber wer diesen Wind bringen sollte, wurde nicht diskutiert, es gab keinen Anwärter auf das Amt des Chorleiters. Ein kleiner Männerchor in der Provinz, dessen Namen niemand kannte – es gab attraktivere Ziele. Auch war es nicht so, als zweifelte jemand ernsthaft an Alexandrs musikalischem Gespür. Dies im Hinterkopf, blieben Gespräche in dieser Richtung ein Nullsummenspiel, auch wenn man die Hälfte verschwieg. Was auch immer in der Runde besprochen oder verlacht wurde, es war nie revolutionär. Jonathan schüttelte manchmal den Kopf und manchmal nickte er, das tat er auch am heutigen Abend. Plötzlich aber schlug Lana mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Anton sich das Glas gegen die Zähne stieß. Besser ihr Halunken würdet endlich aufhören zu saufen, damit ich nachhause komm. Aber dann war sie schon weg.

Der Mond nahm schneller ab als zu, das war ihm als Kind so vorgekommen, und diese Geschichte hatte er nicht mehr umschreiben können im eigenen Kopf. Er hätte eigentlich nur geradeaus der Straße folgen müssen, doch stattdessen bog er nach links und wanderte die Anhöhe hinauf. Bei der großen Robinie hielt er sich rechts. Fürs Erste wollte er sich nur das Gebäude in Erinnerung rufen, oder auch sich vergewissern, dass wirklich Licht brannte in der alten Trauner-Villa, dass dort wieder jemand wohnte. Doch ein weitläufiger Garten rückte das Haus in einige Distanz zur Straße. Das Gartentor war nur angelehnt, offensichtlich ließ es sich nicht mehr schließen, verzogen und zerfressen vom blühenden Rost – auch so konnte die Zeit zu den Menschen sein, die Türen offenhaltend. Von hier aus hatte Jonathan keinen freien Blick auf das Haus. Hinter dem Zaun wuchsen die Sträucher hoch und dicht, doch weil der Winter Jonathan ein wenig in die Hände spielte, hätte er trotz allem schon ein erleuchtetes Fenster als Loch ins Innere erkennen müssen. Die Villa lag aber ganz im Dunklen. Alle schliefen, es war spät. Das war einzusehen, und trotzdem, Jonathan hatte ihn sich vorgestellt, den fremden jungen Mann, wie er an einem Tisch saß und las oder schrieb. Auch jetzt noch, um diese Zeit. Die Eltern schliefen mit Sicherheit schon. Wie Jonathans Eltern in ihren Betten. Jede Nacht dieselben Orte für die Köpfe, nur ein paar Zentimeter Abweichung. Nur die Träume, die sie weit voneinander entfernten und von sich selbst.

In seiner Wohnung spürte er die Erschöpfung. Er hatte sich schon ausgekleidet, als er ein eigenartiges Geräusch hörte. Ein weinendes Kind oder eine Katze, er öffnete die Terrassentür, weil ihm schien, es käme von draußen, schleppte sich schutzsuchend durch die Dunkelheit. Jonathan schaltete das Licht im Zimmer aus, denn plötzlich hatte er Angst, gesehen zu werden, aber da war nur die Stille zwischen dem dünnen Mond und ihm.

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