Читать книгу Wolgaland - Lydia Steinbacher - Страница 7

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Ausnahmsweise war Sarah ohne ein Frühstück und – obwohl es nicht so kalt war – mit gefütterten Stiefeln aus dem Haus gegangen, weil es ihr immer noch schwerfiel, die Schnürsenkel ihrer Halbschuhe zu binden. Sonst drängte sich der Vater geradezu auf seit dem Unfall. Sarah war nicht böse, dass er ihr Klopfen heute nicht gehört hatte. Am vorigen Abend hatte er zu viel getrunken, war auch wieder bei Lana gewesen – das waren einzelne Stunden wie Löcher im Stoff seines Pflichtbewusstseins: Du hast da etwas, ganz recht. Vielleicht war es eine Laufmasche im Alltagstrott. Sarah vermutete, dass es ihm nicht guttat, wie er sich selbst einengte, und sie verstand nicht, was ihn dann doch jedes Mal rechtzeitig zu den Abendnachrichten nachhause trieb, als wäre er ein Mann von Welt und als gäbe es bei Lana keine Welt, was Sarah nicht glauben wollte – im Gegenteil, vielleicht war sie dort eher zu weit und unübersichtlich. Und wenn es wegen ihr war … sie wollte nicht der Grund für alles sein. Du kannst doch bleiben. Ich bin doch alt genug, das zu verstehen. Aber irgendetwas jagte ihn immer wieder fort von dieser Frau. Oder – Sarah war sich da nicht sicher – kam sie, die Tochter, mit ihrem schmerzenden Arm ihm nicht gerade gelegen als Vorwand sich davonzumachen? Dann erst recht wollte sie sich eine neue Rolle erspielen.

Sie kannte die Freundin des Vaters nur vom Sehen, aber auch sie hatte die besondere Anziehung wahrgenommen, die von Lana ausging. Denn es war keine Kraft, die nur auf Männer gewirkt hätte. Eine einnehmende Körperlichkeit war es, die das Gegenüber herausforderte – Lana ging, sprach und dachte mit dem ganzen Körper, was nicht bedeutete, dass sie laut und ausufernd war in dem, was sie tat, aber jede Stromschnelle führte zu ihr. Sarah hörte ihren Namen oft aus verschiedenen Mündern. Ihr Vater hatte Lana einmal hereingebeten, zum Aufwärmen – wahrscheinlich hatte sie es selbst einfordern müssen, denn er mochte sie aus irgendeinem Grund nicht im Haus haben. Oder er wollte nur verhindern, dass sie und Sarah aufeinandertrafen. Dieser Gedanke hatte sich zu einem Verdacht ausgewachsen. Hast einen Narren an ihr gefressen, hatte Sarah zu ihm gesagt und ihn aufgezogen, und trotzdem soll ich sie nicht kennenlernen? Das Regenwasser war aus Lanas Haaren auf die Fliesen getropft. Sie hatte wunderschön ausgesehen. Ein paar Worte nur hatte sie mit Sarah gewechselt, bevor sie auf Gregors Wink hin sofort verschwand. Nicht ihm zuliebe, sondern gerade so, als hätte sie ihm zeigen wollen, dass es ihr nichts ausmachte zu gehen. Provozierend frei. Es musste ihr gefallen – und dem Vater auch. Nur geheuer schien es ihm nicht zu sein.

Sarah verzieh ihrem Vater sofort, als er sich nachmittags bei ihr entschuldigte. Weil er von zuhause aus arbeitete, war er fast immer da, wenn sie von der Schule kam. Gekonnt ließ sie das Wort Klavier in die kurze Stille zwischen Besteckklirren und Beschwichtigungen fallen und Gregor tat, als hätte er es nicht gehört. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Thema ansprach und er reflexartig nach der Schule fragte, als brächte man das Eltern so bei. Er sah dabei auf Sarahs Armschlinge und die Handschiene hinunter. Sie stand auf und nahm sich etwas aus dem Kühlschrank, wie um zu demonstrieren, dass auch das verletzte Knie schon wieder verheilt sei, aber der Vater hatte sich stumm hingesetzt und tat so, auch wenn niemand sonst einen Unterschied bemerkt hätte, als wäre es ganz deutlich zu erkennen, dass in Sarahs Gang etwas anders war. Ihr war vor ein paar Tagen schon aufgefallen, dass dieser Blick ihres Vaters sich nicht veränderte, sich keine Spur anpasste, obwohl sie selbst kaum noch Schmerzen im Bein spürte und keine Schonhaltung mehr einzunehmen brauchte, was nicht schwer war, zumal sie nicht mehr zum Training ging. Sarah war nicht wehleidig, es wäre so ziemlich das Letzte gewesen, was sie sein wollte. Wenn er sie auf diese Weise ansah, ärgerte sie das maßlos, ein Nachtrauern und darin ein Abwinken, als wäre jetzt alles entschieden. Aber was sollte das überhaupt sein: alles? Noch dazu war sie nicht mehr sein kleines Töchterlein, war jetzt vielmehr die junge Frau, die keinen Freund mit nachhause brachte. Sarah war ja nicht dumm, sie war sich ganz im Klaren darüber, was er denken musste, und sie wusste genau, dass er sie beobachtete – stets abwägend, ob sie glücklich genug sei. Früher beim Springen. Jetzt im Leben. Er saß dort hinter seinem Computer wie in einem Dachsbau, wenn sie von der Schule kommend die Straße überquerte und durch die Garage ins Haus kam. Erschiene sie einmal in Begleitung eines Schulkollegen, dann würde er ihnen keine Steine in den Weg werfen, bei diesen Dingen reagierte er immer zu spät. Er würde vielleicht irgendwann die Schlösser austauschen lassen, wenn er zur Ansicht gekommen sein würde, dass Sarahs Freund sie nicht glücklich genug machte. Aber es gab ihn ja gar nicht, so einen jungen Casanova, der ihr die verletzte Hand hielt und noch die letzte Entscheidung ihr abzunehmen bereit gewesen wäre.

Sarah lehnte sich zurück an das leise Säuseln des Heizkörpers und streifte die Handschiene ab, ließ den Arm über die Kante der Eckbank hängen. Noch immer waren einzelne Bewegungen schmerzhaft und ihre rechte Körperhälfte schwächlich. Die an den Fensterscheiben klebenden Papierschmetterlinge bewegten hin und wieder ihre Flügelspitzen im Luftzug. Eigentlich wollte Sarah sie herunterreißen, aber sie ließ die selbstgebastelten Scherenschnitte noch hängen für ihren Vater, dem die Kleinheit zu gefallen begonnen hatte. Er war der erste gewesen, der die Hoffnung auf ein Comeback aufgegeben hatte, der sofort gesagt hatte, dass der Berufssport doch nur was für Teufelskerle sei. Das nimmt nie ein gutes Ende, die werden nicht alt. Dabei hatte er früher immer vom großen Traum gesprochen, als sei das etwas ganz Persönliches, als träumten nachts nicht tausende Eltern vom Welterfolg ihres Kindes. Sarah war sich nicht sicher, wer zuerst in diesem Traum gewesen war. Jetzt bewegte sich eine Flügelspitze ganz heftig in der Heizungsluft, sie zitterte. Sarah wollte es dem Vater nicht sagen, wie schrecklich sie die Schmetterlinge seit einigen Tagen anmuteten, das fadenscheinige Getier. Zwar war sie es, die noch immer mit den Folgen der Brüche von Schulter und Hand zu kämpfen hatte, doch die undiagnostizierten Verletzungen trafen ihn. So hatte auch Sarah allen Grund ihren Vater anzusehen, als sei er krank, als bewege er sich anders. War es ein Schuldgefühl, das sich bemerkbar machte wie die Gicht? Hatte er Schmerzen in den Gelenken und wirkte darum so steif und fest? Die geschwollenen Augen, weil er sie unbedingt verschließen wollte und ihm das nicht gelang? Oder schlief er nur zu wenig? Er hatte Sarah trainiert, aber er hatte sie nicht auf den Unfall hin trainiert. Sie wollte ihm das sagen, weil es offensichtlich war, dass er sich Vorwürfe machte. Aber dann ging sie zum Tisch zurück und schaute ihm ins Gesicht.

Wieso fragst du Alexandr nicht?, sagte sie.

Willst du das wirklich? Ich weiß nicht. Und die Hand?

Eben, die Hand.

Na ja, ich kann mich ja einmal umhören.

Ist heute Probe? Sie kannte die Antwort schon. Kann ich mitkommen?

Nicht, wenn du morgen einen Test in der Schule hast.

Der ist verschoben. Sarah war besser geworden im Lügen, auch das ein Trainingsresultat.

Na gut, dann kommst du eben mit. Aber nur das eine Mal. Und mit Alexandr rede ich.

Das musste er sein, in dem grauen Anzug, der ein bisschen unförmig wirkte, wie er da nach vorne eingesunken und mit hängenden Schultern am Klavier saß. Er hatte die Augen geschlossen, als würde er sich sammeln. Obwohl er ganz offensichtlich fortgeschrittenen Alters und von gebrechlicher Gestalt war, schien er den anderen Männern im Raum durchaus gewachsen zu sein, wenn er auch körperlich kleiner war. Sarah hatte eben erst Platz genommen, da erhoben sich die Sänger schon von den Tischen und traten aufs Podium, denn der Chorleiter war aufgestanden, und das genügte. Sie bezogen ihre Aufstellung auf der niedrigen hölzernen Plattform, die auf der Stirnseite des Raumes aufgebaut war und jenen so erst als Veranstaltungssaal des Gasthauses auswies, den gelblichen Fliesenboden zum Teil verdeckend. Nun war ihr doch nicht wohl. Ihr Vater zwinkerte ihr zwar aus der zweiten Reihe zu, doch Sarah saß jetzt ganz allein am Tisch, den rechten Arm im Schoß abgelegt, mit der gesunden Hand hielt sie sich an einem Glas fest, das nicht ihres war. Lana hatte sie noch nicht gesehen, obwohl der Vater versichert hatte, dass sie heute auch da sein würde. Dienstagabend ist ihre Schicht. Sarah rief sich seine Worte in Erinnerung. Sie spürte, wie die im Halbkreis stehenden Sänger sie abwechselnd musterten, ihre Blicke gleichsam von dem grauen Anzug des Chorleiters abrutschten und auf sie fielen. Sie wollte es vermeiden, einen dieser Blicke mit den Augen aufzufangen. Nur Alexandr, der jetzt mit dem Rücken zu ihr stand, konnte sie gefahrlos beobachten. Wenn er beim Pianino Platz nahm, um den Sängern etwas vorzuspielen, wirkte er hochkonzentriert. Und wenn er sprach, versteinerte sein Körper. Wir beginnen ein neues Stück. Hier der Text. Erst nachdem er fertiggesprochen hatte, begann er damit, die Kopien auszuteilen. Dann ging er zum Klavier und legte die Hände auf die Tasten, sie waren aufeinander eingestimmt wie Zwillinge – zwar eine gewisse Rivalität zwischen ihnen, die es aber zu brauchen schien für jede Dissonanz und jede Auflösung. Und im Spiel sahen sie aus, als gehörten sie nicht zu dem Körper, der sich über sie beugte, nicht zu diesem Mann, der älter wirkte, als er vermutlich war. Sarah schaute hinauf zu Alexandr und zu seinen Händen, aus sicherer Distanz. Und dann hoben sich auch noch die Ohren vom Rest der Gestalt ab, es schien ihr, als wüchsen sie unmerklich. Aber Sarah war sicher: Hätte das Stück länger gedauert, dann hätten auch die anderen es bemerken müssen, dass Alexandr dem eigenen Spiel derart wachsam zuhörte, wie es ganz unnatürlich war. Ein Sträußchen auf dem Hute, den Stabe i-in der Hand, zieht einsam so der Wandrer von Lande-e zu Land. So trug er die erste Phrase in einer Art Sprechgesang vor und spielte dazu. Die zweiten Tenöre sangen ihm nach – sie waren die erste Gruppe, mit der er die Strophe im Detail durchging, Phrase um Phrase einstudierte.

Sarah hatte nicht gehört, dass sich die Tür geöffnet hatte, auch die Blicke der Sänger hatten es nicht verraten. Lana war so plötzlich aufgetaucht und hatte sich auf den Stuhl neben ihr sinken lassen, dass sie richtig erschrocken war. Sie spürte einen Stich in der Schulter. Er hätte mir schon sagen können, dass er in Begleitung kommt. Alexandr mag das Flüstern übrigens überhaupt nicht, er hört alles. Sarah nickte in Lanas Lächeln und fand es sehr betörend. Hätte sie ihr eine Verschwörung aufgetischt, sie hätte sich ihr sofort angeschlossen. Es war nicht ihr Flüstern gewesen, das Alexandr jetzt zum Schreien brachte. Sarah, die noch einen Moment lang Lanas Stimme nachhörte, konnte sich nicht erklären, was den Chorleiter so plötzlich in Rage versetzt hatte. Das passiert fast jedes Mal, sagte Lana erklärend. Ist ganz normal. Tatsächlich ertrugen die Sänger, Alexandrs Ausbrüche gewohnt, seine Schimpftirade in der Gruppe leicht, der Außenseiter schien der Chorleiter selbst zu sein. Es stimmte sicher, was ihr Vater ihr erzählt hatte. Es gab einige Mitglieder, die Alexandrs Eignung infrage stellten. Er mochte alt aussehen, aber jetzt in der Aufregung und da er schrie, war er gar nicht mehr steinern, sondern fuchtelte mit den Armen herum. Wo ist euer Kopf, wenn ihr singt?, fuhr er sie an, als hätten alle Männer, sobald sie zusammen sangen, nur noch einen großen Kopf, als wären sie dann nur noch eine Kreatur. Ich bin ja nicht euer Hampelmann, versteht ihr das nicht? Ich gebe ja nicht nur die Einsätze, ich zeige alles. Wie das gesungen werden muss. Wie! In manchen Gesichtern entstand ein Lächeln, das konnten sie sich nicht verkneifen. Sarah bemerkte, wie unter Alexandrs silbernem Haar die Kopfhaut durchschimmerte. Er hat es faustdick hinter den Ohren, sagte Lana. Und in Bezug auf die Sänger fügte sie hinzu: So sind sie, schau sie dir an, ein Schwarm stummer Fische, wie sie schauen und grinsen, für sich genommen alles Schwächlinge. Den Ellbogen hatte Lana auf die Lehne des Stuhls gelegt, auf dem Sarah saß. Ein starker Geruch nach Flieder stob auf, als hätte jemand ein neues Buch unter ihrer Nase aufgeschlagen und wolle sie verführen. Aber welches Tier ist Alexandr?, murmelte Lana. Sarah schaute sie erst nur verständnislos an, dann besah sie sich ihren Vater, der tatsächlich sehr runde Augen hatte. Wie ein Fisch. Sie nickte und überlegte ein bisschen. Alexandr ... könnte ein Wolf sein, mutmaßte sie. Lana kicherte und wischte sich die Hände an der Schürze ab, vielleicht weil sie feucht waren. Das würde ihm wahrscheinlich gefallen, sagte sie noch, erhob sich und ging zur Tür. Das Glas war wie aus Milch. Sarah, in die Richtung ihres Verschwindens gewandt, fragte sich, was sie selbst in Lanas Augen war. Jetzt ärgerte sie sich, dass ihr Vater zuhause fast nie von ihr erzählte. Er war so anders geworden – tat so, als müsse er Sarah immerzu beschützen und zurückpfeifen. Allmählich kehrte wieder Ruhe ein im Raum, der Chorleiter gab den Auftakt. Er zeigte auf die Stimmgruppen und benannte sie. Erste und zweite Tenöre zusammen, bitte! Die anderen waren für dieses Mal noch ausgespart. Sarahs Vater hatte zu schweigen und doch stand ihm der Mund leicht offen wie in Erwartung eines Strohhalms.

Nach dem Ende der Probe floss der Alkohol. Wie eine Erlösung. Sie erhob sich vom Tisch. Ihrem Vater hatte sie ein Zeichen gegeben, als ginge sie auf die Toilette, aber in Wirklichkeit schlich sie zum Podium. Alexandr wandte sich ihr nicht zu, bis sie den letzten Schritt gemacht hatte und neben ihm stand. Weil sie nicht recht wusste, wie sie ihn ansprechen sollte, sagte sie einen Satz zu dem Lied, das der Chor geübt hatte – vielleicht fragte sie auch irgendetwas –, doch es war, als hätte sie kein einziges Wort von sich gegeben, als sie gleich darauf mit der Frage herausplatzte: Geben Sie mir Klavierunterricht? Ich habe zuhaus kein Klavier, aber hier lässt man mich sicher üben, fügte sie noch hinzu. Der Chorleiter, der sie einen Moment eindringlich gemustert hatte, wurde wieder steif, steinern, schien auf der Suche nach einer Antwort auf ihre Frage, die anscheinend eine äußerst schwierige war und Sarah fast peinlich wurde. Doch nun musste sie beharren. Ich würde gern Klavier spielen lernen. Es war ihr ganz ernst. Ich denke, das kann ich nicht, bin ja selbst ein Amateur, dazu nicht ausgebildet, murmelte er, und da hatte Sarah keine Angst mehr vor ihm. So brauchte er ihr nicht zu kommen, es war die falsche Antwort. Du unterschätzt dich doch, Alexandr! – Lana, die Sarah Rückendeckung gegeben hatte, kam ein paar Schritte näher. Wir können es ja einmal versuchen, sagte er dann und schloss den Tastendeckel ohne das leiseste Geräusch.

Den ersten Flügel hatte sie ihm schon abgerissen. Auch der schlanke Körper des einseitig gewordenen Insekts begann sich vom Glas zu lösen, ganz von selbst, weil es ja keinen Sinn mehr hatte festzuhalten. Dann zog Sarah den zweiten Flügel ab. Ganz oben klebte schließlich noch ein Papierrest an der Scheibe, den sie mit dem Fingernagel abkratzen musste. Keine Rückstände verblieben am Glas, spurlos verschwunden. Nur an den Fingerspitzen noch ein paar Reste Schmetterling. Die Scherenschnitte am Fenster entfernte sie auf diese Weise einen nach dem anderen. Zwar war es nur Papier, doch der Akt des Ablösens war langsam und brutal. Letztlich hatte sie doch ein Stück Klebeband übersehen, das blieb zurück und hielt nur noch sich selbst fest.

Wolgaland

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