Читать книгу Wolgaland - Lydia Steinbacher - Страница 6

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Die Frau hält die Hand in einer merkwürdigen Position, sie steckt mitten in einer fahrigen Bewegung, womöglich auch erst an deren Beginn oder schon am Ende. Da könnte eine Mücke in der Luft sein, die sie verscheucht. Nein, das ist es nicht. Es ist eine bewusste Geste, ein Zeichen, eine Mahnung, zugleich eine Frage. Der Bub sieht dennoch nicht auf. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Stück Holz, das der Form nach Ähnlichkeit mit einer Gurke oder einer Banane hat, entweder ein merkwürdig gebogener Ast oder das Stück einer Wurzel. Kein Hinweis darauf, dass er aus dem Holz eine Spielfigur schnitzen will, und kein Hinweis auf etwas anderes. Oder ist die Handbewegung der Frau (seiner Mutter?) in Wahrheit etwas wie ein Wischen oder das Zufächern von Luft – auch das könnte es sein . Auf ihrer Stirn drei Sorgenfalten. Hinten in der Ecke kann man einen Blick in den nächsten Raum erhaschen. Dort sitzt noch jemand. Sein Kopf ist nicht mehr zu sehen, aber der Blick dieses Mannes ist wichtig. Die Mutter und das Kind im Vordergrund verlangen nach seinem Urteil, Anerkennung oder Missbilligung, viel gibt es nicht dazwischen. Er trägt dunkle Lederschuhe, die an mehreren Stellen geflickt sind, eine dicke Hose, eine Weste, und außerdem hält er einen Stock, aber der Mann ist nicht alt, die Haut am Hals nicht schlaff, nur merkwürdig fleckig. Für jede ihm widerfahrene Demütigung solch ein Fleck. Die Frau wirkt um einiges größer und lebendiger als der kopflose Mann im Hintergrund. Jetzt ist ihre Geste eine Bewegung hin zu dem Mann geworden, obwohl sie sich keinen Millimeter bewegt hat, und ihr Gesicht ist auch ganz leicht in diese Richtung gekippt, der Blick geht an dem Kind mit dem Holz vorbei, haarscharf. Der Bub starrt weiter auf die Tischplatte. Die Kulisse ist ärmlich. Das Fenster auf Brusthöhe der Frau ist geschlossen, die Welt draußen überbelichtet.

Jonathan legte den Stift beiseite und erhob sich vom Schreibtisch, sah mit ein bisschen mehr Abstand zweifelnd auf seine Arbeit hinunter, auf seine Kritzeleien unter diesem alten Schwarz-Weiß-Foto. Dabei war das schon seine Reinschrift; er machte stets mehrere Entwürfe im Geiste, ehe er mit der Beschreibung des Bildes begann. Er übte sich im Sehen. Schnell nahm er das Blatt und steckte es in den Ordner neben der Schreibtischlampe. Vielleicht würde er noch ein weiteres Foto fertigstellen heute. Er kniete sich hin und zog die unterste Schublade des Rollwagens auf, der sich unter dem Schreibtisch befand. Darin zum Vorschein kamen unzählige Fotografien, wirr übereinanderliegend rutschten sie bei jedem Mal Öffnen oder Schließen der Lade hin und her, schlugen sich die Kanten weich, wenn diese es nicht schon längst waren, schon gewesen waren, bevor die Fotos in Jonathans Besitz übergegangen waren. Dem Chaos entgegen wirkte allein die Tatsache, dass jedes einzelne mit der Bildseite nach oben lag – die Motive der Fotos waren jedoch grundverschieden, auch was Farbigkeit, Qualität und Format betraf, hätten sie sich kaum stärker voneinander abheben können. Jonathans kleine Raritätensammlung. Nach eingehender Begutachtung – mit den Fingern der linken Hand strich er die oberste Schicht an Bildern auseinander, sodass nach und nach verschiedene Motive sichtbar wurden – nahm Jonathan eines von ihnen heraus und schob die Lade wieder zu. Zumindest diesbezüglich war er zufrieden. Er hatte genügend Stoff, ganz offenbar waren fast alle Personen, die er um ein paar ausrangierte Fotos gebeten hatte, seiner Bitte nachgekommen. Aus einem anderen Fach zog er jetzt ein neues weißes Blatt Papier, auf dessen obere Hälfte er das ausgewählte Bild klebte.

Es zeigte eine junge Frau, vielleicht noch keine zwanzig Jahre alt. Ihre rechte Hand ruhte auf der Lenkstange eines Motorrollers. Das Blech war von dem gleichen Weiß wie die Wolken am Himmel, die Sonne verzog sich, unter ihr die Fassaden weißer Häuser – das war ein anderes Weiß. Es musste ein sehr heißer Tag gewesen sein, aus dem jetzt die Luft entwich. Vielleicht hatte es ein Geräusch dazu gegeben, das man nie würde rekonstruieren können. Jonathan mutmaßte sofort, dass nicht das abgebildete Mädchen die Besitzerin des Gefährts war, dass sie nur Beifahrerin war, die man im Wind nicht hörte. Das Bild so gestellt, unnatürlich, wie die Hand auf dem Lenker lag, auch das Lachen war nicht echt. Vielleicht wurde es gleich nach dem Auslösen der Kamera wieder echt, nur auf dem Foto wollte man etwas Künstliches haben. Sicher war der Freund kurz abgestiegen, um seine Begleiterin abzulichten, vielleicht weil er stolz auf sie war und nicht glauben konnte, dass sie ihn liebte, weil ihm gerade das Echte unecht vorkam. Später hatte er das Foto womöglich betrachtet und sich bestätigt gefühlt wegen ihres Lachens, das künstlich war wie die Positionierung der Hand am Griff. Dann war sie wieder hinter ihn auf den Motorroller gestiegen. Jonathan hielt kurz inne. Sein Schulfreund Oliver war früher manchmal auf dem Gepäckträger gesessen, wenn sie nachmittags zum Baden an den Fluss fuhren, wo er eine tiefe Stelle verbarg. Er hätte doch die Arme um seine Taille legen können. Insgeheim hatte Jonathan ihn darum gebeten. Er begann zu schreiben, was er auf der Fotografie sah oder sich einbildete zu sehen, seine Sicht der Dinge.

Dass Jonathan keine oder kaum Ahnung hatte von den auf den Fotos abgebildeten Begebenheiten, zumindest nicht von den genauen Zusammenhängen, war unbedingte Voraussetzung für seine selbstauferlegte Arbeit. Deswegen hatte er auch immer unterbrechen müssen, sobald der Spender eines oder mehrerer Fotos ein Wort über deren Entstehung oder die abgebildeten Personen, Landschaften und Gegenstände hatte anbringen wollen. Außerdem hatte Jonathan darum gebeten, ihm die Fotos in einem verschlossenen weißen Briefkuvert zu überreichen, besser noch, das Kuvert einfach in seinen Briefkasten zu werfen. Zudem hatte er, ehe er mit dem Öffnen begonnen hatte, gewartet, bis ein großes Päckchen zusammengekommen war, um möglichst nicht in Versuchung zu kommen, sich etwas über die Herkunft der Fotos zusammenzureimen. Natürlich erkannte er auf manchen Fotografien die jüngeren Gesichter der Spender wieder – oder meinte es zumindest –, doch viele waren auch von diesem Wiedererkennen frei. Aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und den Blicken eines Fremden offenbart, der Jonathan ihnen gegenüber war, lagen sie nackt unter seinen Augen und gleichzeitig bereit für einen ganz neuen Blick, einen neuen Deutungsversuch. Jonathan fühlte sich gut und groß, als wäre ihm ein Wirbel mehr gewachsen, er konnte weiter sehen.

Wenn er morgens mit dem Rad zur Arbeit fuhr, standen ihm acht Stunden der Pflichterfüllung bevor. Sie standen ihm eigentlich im Weg. Erst abends würde er ein zweites Mal erwachen. Mit dem Gefühl der innerlichen Zweiteilung hatte er zu leben gelernt. Doch waren es nicht zwei klar und starr voneinander abgegrenzte Massen, die ihn ausmachten, es war nicht so, als bestünde sein Rumpf nur aus Zement und die Beine aus Lehm, das Dasein schien ihm gerade der fortwährende und immer neue Verteilungsprozess dieser Massen, die um die Vorherrschaft in bestimmten Gebieten zu bestimmten Zeiten kämpften – Siege und Niederlagen, die er beherrschen wollte, musste. Sieben Uhr in der Früh war überhaupt keine richtige Tageszeit für ihn, eine Zeit für nichts außer für den Schlaf, der ihn stets erst in den Stunden nach Mitternacht überfiel. Doch er hatte sich damit abgefunden und vertröstete sich mit dem Gedanken an den Feierabend, wenn er sich in sein Zweitbüro, wie er es nannte, zurückziehen konnte. Wenn seine Arme und der Kopf wieder Lehm wurden, er den Zement in die Beine zurückdrängen konnte und die Handgriffe nicht mehr so schwerfielen. Tagsüber besahen die Eltern ihn sich genau in seinen Aufgaben, und Jonathan machte sich nicht schlecht als Maschinenbauer, Konstrukteur, Produktmanager – die Aufgabenbereiche waren ständig gewachsen in den letzten Jahren. Irgendwann, hatte sein Vater gesagt, sei es wieder umgekehrt und man würde ihn nicht mehr recht zu etwas brauchen können. Was sind schon ein paar Jahrzehnte. Damit hatte er sich selbst gemeint, natürlich. Jonathan hatte hinter seinem Rücken die Handgelenke kreisen lassen. Auf dem Firmengelände gab es ein kleines Gebäude, in dessen vorderem Teil Galvanisierungsarbeiten vorgenommen wurden, den hinteren Raum, der lange als Abstellraum für Verpackungsmaterial benutzt worden war – aber auch nur dann, wenn in der Lagerhalle kein Platz mehr gewesen war –, hatte Jonathan sich vor zwei Jahren erkämpft. Er hatte ihn sein Zweitbüro geheißen, obwohl allen schon recht bald klar gewesen sein musste, dass es ein Raum für ganz Privates wurde, eine Art Atelier. Dort stand auch der Schreibtisch mit dem darunter befindlichen Rollkasten, die kleinste Wunderkammer der Welt. Jonathan lächelte immer, wenn er daran dachte.

Man ging sehr diskret mit seinen Leidenschaften um. Die anderen Mitarbeiter des Betriebs, die von Zeit zu Zeit heimlich einen Blick in den besetzten Raum warfen – natürlich wusste er davon, bemerkte es an den kleinsten Veränderungen –, ließen im Gespräch mit Jonathan nie ein Wort darüber fallen. Die Eltern duldeten die bescheidene Eroberung, irgendwo waren sie auch nachsichtig. Und hin und wieder musste die Mutter auch ein bisschen stolz sein, einen Sohn mit einer künstlerischen Ader zu haben. Wie sonst hätte sie seine Schweigsamkeit, die für sie nur unhöfliche Verschlossenheit war, entschuldigt. Jonathan war froh, dass sie diese Möglichkeit für sich gefunden hatte, eine kleine Geschichte, die sie erzählen konnte und die ihr das Gefühl gab, etwas zu besitzen, das andere neugierig machte, und Jonathan hatte ein wenig Ruhe. Die Vorwürfe nämlich trug die Mutter wie einen Schlüsselbund am Gürtel, und während sie mit ihm sprach, schaute sie, welcher heute sperrte – einer sperrte immer, wenn auch nur der ganz kleine, so etwas wie ein Briefkastenschlüssel. Jeden Tag nach der Arbeit, um fünf Uhr nachmittags, verschloss Jonathan sich in seinem Zweitbüro, er legte sich dann kurz auf die schmale Bettbank neben dem Schreibtisch, während die Massen sich neu zu verteilen begannen. Der Lehm wanderte im Körper umher, auch hinter seine Augen. So lag er umgeben von unzähligen Schrauben und Nägeln, Drähten, Blechabfällen, Zugfedern, Klemmen und Rohren, die er für seine Skulpturen brauchte, bis zur ersten Traumphase. Dann war es Zeit. Abends fing Jonathan an, die Teile zusammenzusetzen, zu gekrümmten Leibern, rissigen Gesichtern oder traurigen Meerestieren. Manchmal war er so in die Arbeit vertieft, dass er vergaß zu trinken und zu essen. Die eben noch ans Brot gedrückte Alufolie hatte er öfters schon verwenden können – sie wurde Brautschleier, Halskrause oder Patronenhülse. An den Skulpturen war nichts Lebendiges, sie schienen gar so tot, dass man sich ängstigte, wenn sich in manchen Augenblicken unweigerlich das Gefühl einstellte, dass eine der Figuren sich ein Stück bewegt hatte, den entstellten Kopf nach links gedreht, die Schultern fallen gelassen, den Fuß nach dem Licht ausgestreckt hatte. Hätten die Figuren lebendiger ausgesehen, wären sie nicht so überraschend gekommen, die Zeichen, Bewegungen, die Hirngespinste eines Mannes, der allein die Nacht bearbeitete. Jonathan wanderte häufig in der Finsternis übers Gelände, warf in der Halle die Schweißmaschine an, dann musste er darauf achten, die Alarmanlage nicht auszulösen. Oder er widmete sich stattdessen seinen Fotografien, seinem zweiten Steckenpferd, wie die Mutter sagen und gleich darauf hektisch lachen würde. Es war meist schon nach dreiundzwanzig Uhr, wenn Jonathan die Tür hinter sich versperrte, sich aufs Rad schwang und sich auf den Weg zu seiner Wohnung machte.

Die Beamtin nahm den Brief des alten Herrn Stauffer entgegen und frankierte ihn. Jonathan hatte eben das Postamt betreten und reihte sich in die kurze Schlange. Er hatte es nicht eilig, wollte lediglich etwas abholen, doch nun erregte der junge Mann vor ihm, der in diesem Moment zum Schalter trat, seine Aufmerksamkeit. Er hatte ihn noch nie gesehen, dabei kannte Jonathan fast alle Dorfbewohner, zumindest vom Sehen und Weitergehen. Der Fremde war groß und trug eine kurze Jacke aus einem groben, schweren Stoff – Jonathan glaubte sich dunkel zu erinnern, dass er den Vater einmal Tweed dazu hatte sagen hören. An einem Ärmel ragte der Stoff eines grauen Hemds darunter hervor, soweit nichts Außergewöhnliches, doch etwas an dem Mann war irritierend, nein, besonders. Jetzt reichte er der Beamtin eine Ansichtskarte und bat um eine Briefmarke. Die Frau kramte das Gewünschte hervor und – es gab wohl keinen zweiten Ort in der Welt, wo dies praktiziert wurde – leckte selbst mit der Zunge über die Rückseite der Marke, um sie anzubringen. Vielleicht war ihre Reaktion nur natürlich und entschuldbar ob der Verwirrung, die die Angelegenheit auslösen musste. Auch Jonathan, der reglos wartete, bis er an der Reihe war, wunderte sich. Zwar besaß er selbst eine ganze Schublade voll alter Postkarten mit Urlaubsgrüßen von irgendwelchen Fernverwandten, aber er konnte sich nicht erklären, warum man eine solche hier aufgeben würde, denn die Richtung der Sendung war das eigentlich Verwunderliche, wo doch ins Dorf keine Touristen kamen, auch kaum Tagesausflügler. Was konnte diese Karte dem Empfänger zeigen? Und: Welches Ziel konnte sie haben? Von Jonathans Position aus war das Bild auf der Vorderseite nicht zu erkennen. Die Beamtin ließ die Karte in eine Kiste fallen. Etwas Blaues blitzte auf. Wasser oder Himmel als Motiv waren naheliegend, aber das hieß nicht, dass es nicht etwas ganz anderes sein konnte, was da verschickt wurde. Und noch etwas wies diesen Mann eindeutig als Fremden aus. Auf dem Kopf trug er eine Kappe mit Ohrenklappen, höchst ungewöhnlich, sie passte nicht an diesen Ort. Niemand trug hier solche Kappen. Die Postbeamtin schien es auch zu bemerken. Was sie vielleicht nicht bemerkte, waren der schöne gerade Rücken und die großen Hände mit den schlanken Fingern – solche Hände hier wofür? Der junge Mann verabschiedete sich, drehte sich um und verließ das Gebäude. Einfach so. Jonathan hatte nur einen kurzen Blick in sein Gesicht erhaschen können. Das Lächeln war ein Eukalyptusblatt, nicht übermäßig geschwungen, ein bisschen einseitig, aber trotzdem verschwenderisch aromatisch.

Die nächsten Tage musste Jonathan immer wieder an den Fremden mit der Ansichtskarte denken. Die blaue Farbe – was wohl in ihr zu sehen gewesen sein mochte?

Komm ruhig herein. Der Vater saß über den Schreibtisch gebeugt im Zimmer, als Jonathan eintrat und ihn von schräg hinten musterte. Aus der Entfernung konnte er nicht sehen, was auf den Papieren klein geschrieben stand, aber ganz sicher waren es Zahlen, die die rechte Spalte füllten. Jonathan war misstrauisch; am Tonfall des Vaters erkannte er sofort, dass dieser sich wieder in ein Sprachrohr für die Mutter verwandelt hatte. Die anderen hörten den Unterton nicht, aber irgendetwas musste ihre Beziehung ja von jenen, die der Vater mit den übrigen Angestellten pflegte, unterscheiden. Draußen begann es zu regnen, die Tropfen liefen die Scheiben hinunter wie armselige Tiere, deren Leben endete, sobald sie den Fensterrahmen erreichten. Als Kind hatte er das manchmal mit sich selbst gespielt, das Einzelkindspiel – er hatte die Tropfen auf dem Glas angesehen und gemutmaßt, welcher sich als Erstes mit einem zweiten vereinigen würde, nur um sich dann loszureißen, schneller als die anderen ganz hinunterzurinnen, wo er scheinbar verschwand. Man hätte sie hereinlassen und ihnen die letzten Minuten im Warmen gönnen können, bis sie sich auflösten. Jonathan stand unbeweglich im Zimmer, in manchen Augenblicken hätte er nur zu gern das Schicksal der Tropfen geteilt. Er heftete den Blick auf die glanzlosen Haare des Vaters, als dieser sich mit einem Mal umwandte. Weißt du, Jonathan, fing er an und sah über die Ränder der Brillengläser hinweg. Wir sind sehr stolz auf dich. Was folgte, war eine hohle Rede über seine Leistungen im Betrieb im vergangenen Jahr. Zuletzt hatte Jonathan zusätzlich zu all seinen Aufgaben noch Personalverantwortung übernommen. Doch alle von ihm getroffenen Entscheidungen und den Kollegen kundgetanen Botschaften waren von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet transparent, dahinter sah man jemand anderen nicken. So gesehen war auch er ein Sprachrohr. Jonathan drehte gerade ein Bonbonpapier zwischen den Fingern – die rote Süßigkeit hatte er schon im Mund –, als der Vater ihm eine Gehaltserhöhung versprach und ansatzlos fragte: Was ist eigentlich mit Laura? Jonathan erstarrte. Mit wem?, sagte er, obwohl er sich da schon an sie erinnerte. Laura war früher in seiner Parallelklasse gewesen, er konnte sich aber nicht entsinnen, wann er ihr das letzte Mal begegnet war. Das letzte Bild von ihr in seinem Kopf war gut zehn Jahre alt. Sie arbeitet jetzt beim Zahnarzt, hat nach dir gefragt, sagte der Vater. Seine Hände lagen ganz komisch auf dem Stapel Papier voller Zahlen auf dem Tisch, weiß und aufgedunsen wie schon tot. Jonathan konnte sich nicht von dem Anblick lösen. Wie er diese Gespräche hasste, und wie er sich dabei beherrschen musste! Er versuchte eine beiläufige Antwort: So so, das habe ich ganz vergessen. Liebe Grüße, wenn du wieder dort bist. Aber es funktionierte nicht. Der Vater ließ sich nicht beirren, gleichsam als sei es seine Pflicht, bestand er darauf, wie nett sie nicht sei, sehr beflissen und intelligent. Die Mundhygiene sei ein Traum gewesen. Just bei diesem Satz biss Jonathan vor lauter Wut die Zähne aufeinander, links hinten zwischen den Backenzähnen zermalmte er das Bonbon. Er schluckte die scharfkantigen Splitter hinunter, hustete. Der Vater wollte schon aufstehen und ihm auf den Rücken klopfen, blieb aber sitzen. Die toten Hände verrutschten auf dem Papier, der gute Rat war teuer. Nachdem Jonathan sich einigermaßen gefasst hatte – seine Augen tränten ein wenig –, steckte er den Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und tastete über die Backenzähe. Der Vater lachte und aus seinem Mund sprach es: Irgendwann muss jeder die Liebe finden, so ist das.

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