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Kapitel 1 Eine Reise endet – eine andere beginnt
ОглавлениеEndlich tat sich etwas. Jeldrik spähte über den breiten Rücken ihres Führers und sah etwas in der gleißenden Sonne aufblitzen. Seit Wochen hatten sie nach dem Aufstieg auf die Hochebene Moranns nichts anderes gesehen als Steppe, Steppe und nochmals Steppe. Keinen Baum, ja, kaum einen Strauch, keinen Fluss, einfach nur ein großes, weites Nichts.
Jeldrik wischte sich mit dem Tuch, das er zum Schutz gegen die gleißende Sonne und den Staub trug, die Augen aus und versuchte, mehr zu erkennen. Aber das blitzende Etwas war schon wieder in der allgegenwärtigen Staubwolke verschwunden, die ihren Tross begleitete. Der Staub war einfach überall, in ihren Haaren, der Kleidung, zwischen ihren Zähnen. Langsam begann er ihn zu hassen und sehnte sich nichts sehnlicher herbei als Wasser zum Waschen, aber dies war streng rationiert. Sie hatten eine Menge Packpferde dabei, die allein dieses kostbare Gut trugen, denn die Wasserstellen unterwegs waren rar. Er seufzte und biss sich auf die Zunge, wollte er doch seinen Vater nicht schon wieder fragen, wann sie endlich ankommen würden, und sich damit zum Gespött der anderen Männer machen.
Sie waren auf dem Weg zu König Aietan von Morann, durch dessen karges Land sie seit Wochen ritten und von dessen Führer und Soldaten sie seitdem begleitet wurden. Oder bewacht? Das vermochte er nicht wirklich zu ergründen. Sämtliche Siedlungen und Städte auf dem Weg hatten sie ausgelassen, allenfalls an Wasserstellen in der Nähe gerastet. Es schien, als wollte man nicht, dass sie sich unbeaufsichtigt im Lande bewegten.
Jeldrik wusste um den oberflächlichen Zweck dieser Reise. Sein Vater, Fürst Roar von Saran, wollte mit dem König ein Handelsabkommen schließen. Sie führten ein noch wertvolleres Gut als das Wasser mit sich, so wertvoll, dass sie seit Ankunft ihres Führers auf Befehl seines Vaters nicht mehr darüber sprachen. Aber Jeldrik vermutete – auch wenn ihm niemand etwas sagte – dass diese Reise noch einen anderen Grund hatte, denn sie hatten einen hochrangigen Begleiter. Meister Anwyll von Temora war es, der Hohepriester der Völker des Westens. Dass er in seinem hohen Alter noch einmal auf eine derart weite Reise ging, konnte nur einen gewichtigen Grund haben.
Jeldrik hatte sehr schnell seine Scheu vor Anwyll verloren, seit er herausgefunden hatte, dass er von dem weisen alten Mann eine Menge lernen konnte. Dieser beantwortete geduldig und mit viel Humor seine vielen Fragen, anders als die Männer seines Vaters, die manchmal schon entnervt die Augen verdrehten und abwinkten. Nur nach diesem einen, besonderen Grund wagte Jeldrik nicht zu fragen, vielleicht, weil sein Vater auch im Vorfelde nicht darüber gesprochen hatte. Ein Geheimnis lag über dieser Reise, und nach der manchmal sehr in sich gekehrten Miene des alten Priesters zu urteilen, ein sehr gefährliches noch dazu. Was das wohl sein mochte? Jeldrik hatte jedenfalls beschlossen, Augen und Ohren offenzuhalten, um alles zu erfahren, worüber die Erwachsenen so hartnäckig schwiegen.
Plötzlich begann seine Stute zu scheuen, und auch die anderen Pferde wurden nervös. „Schscht, Jerika, was ist denn?“ Er zog die Zügel etwas straffer. Da hörte er es auch: Ein vielfaches Glöckchengebimmel erklang vor ihnen, gleich darauf tauchte aus dem Staub eine Schaf- und Ziegenherde auf. Sie wurde von Kindern begleitet, die bei ihrem Erscheinen erschrocken stehen blieben. Mit großen Augen starrten sie die Fremden an. Jeldrik fiel auf, dass sie dunkel waren, Haare, Augen und die Haut braun gebrannt, so wie ihre Führer auch.
„Buh!“, machte einer der Männer hinter ihm. Die Kinder schraken zusammen und stoben davon. Die Männer lachten.
„Och schade!“, sagte Jeldrik mit Bedauern, doch er sagte es nicht allzu laut. Gerne hätte er sie noch weiter betrachtet oder gar mit ihnen geredet. Sein Vater, der mit Anwyll vor ihm ritt, drehte sich um und erteilte den Männern eine scharfe, geknurrte Rüge. Sie wollten den Bewohnern dieses Landes keine Angst machen. Er hatte den Männern strenge Regeln auferlegt, und dies wirkte auch jetzt. Das Lachen verstummte augenblicklich und sie ritten schweigend weiter die Straße entlang.
Kurz darauf sahen sie, wohin die Kinder verschwunden waren. Vor ihnen öffnete sich eine breite, flache Senke in der Steppe. Darin musste sich ein See befinden, auch wenn sie kein Wasser sahen, dafür aber eine große Menge Schilf. Um ihn herum waren ausgedehnte Felder angelegt und – einer der Männer entdeckte ihn zuerst - es gab einen von niedrigen Bäumen und Gebüsch bestandenen Zufluss. Dies war das erste fließende Gewässer, das sie seit Langem zu sehen bekamen. Gleich daneben befand sich eine Siedlung, aber leider auf der anderen Seite des Sees, sodass nicht viel zu erkennen war, außer noch mehr Felder und Bewässerungsgräben.
Jeldrik sog den Anblick des Wassers in sich auf und bedauerte, dass sie an dem See vorbeiritten. „Vater, können wir nicht ..“ Er verrenkte den Hals in Richtung der Siedlung.
„Hab Geduld, die Stadt ist nicht mehr weit.“ Roar schmunzelte heimlich in seinen Bart, als er sich wieder nach vorne wandte. Er wusste genau, was sein Junge wollte, und er konnte es ihm nicht verdenken. Seine erste große Reise – da wollte er so viel sehen und erleben, wie es nur möglich war. Aber bald würden sie am Ziel sein: Gilda, Handelsstadt und Lebensader mit den einzigen größeren Quellen in der weiten Steppe des Landes. Der Sitz des Königs von Morann.
Der Führer drehte sich zu ihm um. „Fürst, gleich kommt sie in Sicht.“
Roar winkte Jeldrik neben sich und fing einen amüsierten Blick von Anwyll auf. Er wollte es nicht zugeben, aber auch er war gespannt. Viele Legenden rankten sich um diese Stadt, von ihren Reichtümern und Bauten, ausgeschmückt auch von den Händlern ihres Volkes, die bereits hier gewesen waren. Nun würden sie selbst erfahren, was der Wahrheit entsprach und was nicht.
Sie ritten aus der Senke heraus, immer begleitet von dem grün bewachsenen Rinnsal des Zuflusses, erklommen eine Anhöhe und da lag sie endlich vor ihnen.
Wie auf Kommando hielten die Männer an.
„Seht euch das an!“
„Bei den Göttern!“ So tönte es aus ihren Mündern.
Jeldrik blieb der Selbige nur offen stehen. Zu mehr brachte er es nicht, so gebannt war er von dem Anblick, und dabei war die Stadt noch weit entfernt. Erst als ein Windstoß ihm einen Schwall Staub in den Mund schickte, wurde ihm bewusst, dass er ein wahrhaft kindisches Verhalten an den Tag legte. Hastig presste er die Lippen zusammen und versuchte, eine unbewegte und, wie er hoffte, erwachsene Miene zu machen.
„Das ist ein Anblick, den man wahrlich nicht alle Tage zu sehen bekommt“, sagte Anwyll. Niemand erwiderte etwas. Dies würden sie alle bis an ihr Lebensende nicht vergessen.
Alle zugleich setzten sie sich wieder in Bewegung. Nun schälten sich immer mehr Details heraus. Jeldrik schaute auf die Stadt und wusste gar nicht, was er als Erstes benennen sollte. Alles stürmte auf ihn ein, die wehrhaften Mauern, die hellen, gleißenden Häuser und darüber auf einem hohen, steil zur Stadt hin abfallenden Tafelberg thronend, die riesige Festung. „Das höchste Gebäude ganz oben in der Mitte, Meister Anwyll, ist das die Halle des Königs?“, fragte er und lenkte seine Stute um seinen Vater herum an Anwylls Seite.
„Ja, das ist sie“, antwortete Anwyll.
„Und oben drauf, dieses runde ..“ Jeldrik suchte das gildaische Wort dafür und fand keines.
„Kuppel, mein Junge.“ Die Stille hinter ihnen verriet ihm, dass auch die Männer seinen Worten lauschten.
„Eine Kuppel ..“ So eine Riesige hatte Jeldrik noch nie gesehen. „Aber warum ist sie so merkwürdig verfärbt?“, wunderte er sich.
Auch darauf hatte Anwyll eine Antwort: „Denk doch einmal daran, wofür ist Gilda berühmt?“
„Natürlich, für sein Kupfer und seine Bronze! Dann ist die Kuppel damit beschlagen? Sie hat sich mit der Zeit verfärbt?“ Jeldrik schüttelte ungläubig den Kopf angesichts dieser Möglichkeit. Was für eine Verschwendung! Seine Augen suchten weiter den Berg ab. „Seht nur, sie haben zwei, nein, drei Stadtmauern“, rief er. Eine außen um die Stadt herum, eine oben um die Festung und die Mittlere hätte er fast nicht gesehen. Sie ragte ganz knapp am Fuße des Berges über das Häusermeer hinaus und schützte den Zugang zur Festung.
„Das nenne ich wahrhaft mächtige Mauern“, sagte einer der Männer hinter ihm. Jeldrik pflichtete ihm im Stillen bei. Sie schienen ihm unüberwindlich zu sein, besonders mit dem tiefen Wehrgraben vor der äußersten Mauer.
„Ihr wisst ja, dass mein ehemaliger Schüler Thorald seit mehr als zehn Jahren hier liebt. Er hat mir geschrieben, dass die Gebäude, die innerhalb der mittleren Mauer an der Straße den Berg hinauf liegen, ebenfalls zur Festung gehören. Die eigentliche Stadt beginnt erst außerhalb davon“, erklärte Meister Anwyll.
Roar hörte mit unbeweglichem Gesicht zu. Er war dabei, die strategische Anlage der Stadt in Augenschein zu nehmen. „Wisst Ihr, ob diese Gebäude das Heer beherbergen?“ Sie schienen ihm groß genug, das gildaische Heer aufzunehmen, das bewundert und gefürchtet zugleich in allen Ländern diesseits des großen Meeres war.
Anwyll runzelte die Stirn und kramte in seinem Gedächtnis. „Ich meine ja, aber sicher bin ich mir nicht. Schließlich hat Thorald es mir ganz am Anfang seiner Zeit hier beschrieben. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste“, sagte er mit einem übertriebenen Seufzer in Jeldriks Richtung.
Der Junge ging prompt darauf ein: „Aber Ihr behaltet doch wirklich alles!“ Es war für ihn keine Frage.
Roar schnaubte nur und rollte mit den Augen, und Anwyll lachte. „Ich danke dir, mein Junge, aber kein Mensch weiß alles. Aber über eines bin ich mir gewiss: Das Gebäude dort auf halber Höhe des Berges mit dem runden Turm beherbergt das Haus des Wissens. Dort wohnt und lehrt Thorald. Er unterrichtet die Söhne des Königs.“
Jeldrik folgte seinem Blick. Ohne sich bewusst zu sein, dass er damit erneut sein fast noch kindliches Staunen verriet, rief er: „Oh seht nur, auf der anderen Seite der Straße! Dort ist es alles ganz grün, und es gibt sogar Bäume!“ Jetzt hatten es auch die Männer entdeckt. Sie waren schon ziemlich nahe an die Stadt herangekommen.
„Das sind die hängenden Gärten der Häuser der heiligen Asklepia. Siehst du an der Bergflanke den Wasserfall? Deswegen ist es so grün.“
Jeldrik hätte sich am liebsten sofort darunter gestellt, so sehr lechzte ihm nach einem Bad. „Was sind das für Häuser? Diesen Namen habe ich noch nie gehört.“
Anwyll sah aus den Augenwinkeln, dass Roar sich langsam von ihnen absetzte. Der Junge fragte wirklich eine Menge. „Es sind Heilerinnen.“
„So etwas wie Eure Priestergemeinschaft in Temora?“
„Nein, nicht ganz. Es sind nur Heilerinnen, keine Priesterinnen. So etwas wie Priester kennen die Gildaer gar nicht, das Wort gibt es in ihrer Sprache nicht. Dieses Amt haben die Mönche des Einen Tempels inne“, sagte Anwyll ernst.
„Wie, nur einen Tempel für all die Menschen?“ Das konnte sich Jeldrik kaum vorstellen.
„Nein, nein“, Anwyll lachte, „nicht ein Gebäude, es gibt viele Heiligtümer in der Stadt. Er heißt einfach so, so wie sich die Gemeinschaft Temoras einfach die Gemeinschaft nennt. Das dort oben ist ihr wichtigstes Heiligtum. Der Tempel des Einen Herrn Urian.“
„Oh ja, sie kennen nur einen Gott.“ Es klang etwas verächtlich, wie Roar dies hinter ihnen knurrte, gerade so laut, dass der Führer es nicht hörte.
„Trotzdem sind die Gildaer sehr gläubige Menschen, Roar“, mahnte Anwyll ebenso leise.
Darüber musste Jeldrik erst einmal nachdenken. Seine Fragen verstummten. Aber er kam nicht mehr dazu, sich allzu sehr damit zu beschäftigen. Sie ritten erneut über eine Kuppe, und jetzt lag die Stadt in voller Ausdehnung vor ihnen.
„Sie geht vor den Mauern noch weiter!“ Jeldriks erstaunter Ausruf ging unter. Hütten, Verschläge, umzäunte Areale, eine dichte Staubwolke darüber und ein unglaublicher Lärm, der ihnen mit einem Mal entgegen schallte, verurteilten jeden Versuch einer weiteren Unterhaltung zum Scheitern. Sie beeilten sich, mit ihrem Tross dort hindurchzukommen, und strebten geradewegs auf ein mächtiges Stadttor zu.
Nur der Staub hielt Jeldrik davon ab, den Mund offen stehen zu lassen. Erst jetzt, als sie so dicht an das Tor heran waren, dass sie hineinsehen konnten, erkannten sie die vollen Ausmaße der Mauer. Sie war so dick, dass sich mindestens fünf Männer an den Händen fassen konnten und trotzdem nicht hindurch reichten. Menschen strömten durch das Tor aus und ein, verschwanden mit ihren Lasten in dem Wirrwarr der Hütten und Verschläge. Mehr bekam Jeldrik nicht zu sehen. Ihr Führer hielt vor einer Gruppe von Leuten an, die Jeldrik erst jetzt wahrnahm, so sehr hatte die Stadt ihn in seinen Bann geschlagen.
Sie wurden von einer Abordnung erwartet. Sein Vater und Anwyll saßen ab und auch Jeldrik wollte sich anschicken ihnen zu folgen, aber er blieb völlig verblüfft sitzen. Eine Reihe Sänften waren aufgestellt, doch das war nicht das, was ihn so erstaunte, sondern der Mann, der sich vor den beiden verbeugte.
„Im Namen König Aietans von Gilda heiße ich Euch willkommen“, sagte dieser in fließendem Temorisch. „Ich bin der Herold des Königs und stehe zu Eurer Verfügung.“
Roar erwiderte den Gruß, warf jedoch einen strengen Blick hinter sich, denn von seinen Männern erklang leises Gebrumm. Es verstummte sofort. Jeldrik musste sich sehr anstrengen, beim Anblick des Herolds nicht loszulachen, und die regungslosen Mienen der Männer sagten ihm, dass es ihnen ähnlich erging. Sie amüsierten sich köstlich.
Der Herold bemerkte davon nichts. „Seine Hoheit, König Aietan, lädt Euch und Eure Berater zu sich in den Palast. Dort soll alles zu Eurer Zufriedenheit bereitet sein. Doch erst einmal ..“ Er bedeutete zwei Dienern vorzutreten. Der eine trug eine große Schale, in die der andere aus einer Amphore frisches, klares Wasser füllte. So verheißungsvoll plätscherte es, dass alle wie auf Kommando absaßen, doch als der zweite Diener ein Tuch über die ausgestreckten Arme des ersten breitete und dieser mit einer Verbeugung auf Roar zu trat, wurde ihnen klar, dass dieses Wasser nicht zum Trinken gedacht war.
Mit leisem Bedauern zerstörte Roar die glatte, saubere Wasseroberfläche, verstand jedoch, dass dies offensichtlich zur gildaischen Gastfreundschaft dazugehörte. In aller Ruhe wusch er sich Hände und Gesicht. Dann nahm er dem Diener die Schale aus der Hand und hielt sie seinen Männern hin. Damit war der Rangfolge Genüge getan. Alle drängten sich begeistert vor, wuschen sich und spülten sich den Staub aus Augen, Mund und Nase. Jeldrik wollte es ihnen gleichtun, da spürte er eine Hand auf seinem Arm. Anwyll schüttelte warnend den Kopf und nickte zu dem Herold und seinen zwei Dienern hinüber. Diese sahen dem Treiben der Saraner mit offenen Mündern, der Herold sogar mit kaum verhohlener Verachtung zu. Jeldrik blickte zu der wartend gehaltenen Amphore, und plötzlich begriff er. Als sein Vater zu ihm kam, nahm er die Schale an sich und brachte sie mit einem entschuldigenden Lächeln zu den Dienern zurück. Diese erwachten aus ihrer Starre, spülten die Schale gründlich aus und befüllten sie neu. So kamen erst Anwyll und dann Jeldrik in den vollen Genuss des frischen Wassers, und als Jeldrik abschließend dem Herold mit einer leichten Verbeugung dankte, trug es ihm ein huldvolles Nicken des Mannes ein.
„Nun denn, wenn Ihr mir folgen würdet?“ Der Herold deutete auf die bereitstehenden Sänften.
„Unser Gepäck können die Pferde weiterhin tragen, wir danken Euch“, erwiderte Roar und wollte sich wieder auf sein Pferd schwingen, froh darüber, dass sie dank Jeldrik noch einmal um diesen gastlichen Fallstrick herumgekommen waren.
„Verzeiht, Fürst, ich habe mich wohl etwas unglücklich ausgedrückt. Die Sänften sind für Euch.“ Der Herold stand stocksteif, als er das sagte.
„Ich soll mich tragen lassen!?“, grollte einer der Männer entrüstet.
Ihr Führer griff beschwichtigend ein: „Fürst, in der Stadt sind keine Tiere gestattet. Für Eure Pferde ist ein Lager am Fluss bereitet, es wird ihnen dort an nichts fehlen.“
Roar sah sich schon zum zweiten Mal vor einem Dilemma, und dabei waren sie noch nicht einmal in der Stadt. Das fing ja gut an! Man erwies ihnen alle Ehrerbietung, aber ein Saraner, der sich tragen ließ .. besser, er sorgte gleich für klare Verhältnisse.
„Die Männer meines Volkes lassen sich nur dreimal im Leben tragen“, dröhnte seine Stimme, „in die Wiege, vom Schlachtfeld und vom Totenbett. Habt Dank für die Ehre, die Ihr uns erweisen wollt, aber wir schreiten lieber zu Fuß. Erweist uns stattdessen den Dienst, Euch unseres Gepäckes anzunehmen.“
Den Herold wunderte bei diesen Gästen nichts mehr. Er verneigte sich knapp. „Wie Ihr wünscht.“
Roar machte sich daran, seine Männer einzuteilen. Nur die engsten Vertrauten würden ihn begleiten, alle anderen sollten im Lager am Fluss bleiben, teilte er dem Herold mit.
Jeldrik zupfte unterdessen Anwyll am Ärmel. „Meister Anwyll, was ..“ Er deutete auf die den Herold und die Träger, die das Gepäck verluden.
„Das nennt man eine Tunika. Es ist das Kleid des gildaischen Mannes“, erwiderte Anwyll. „Du kannst davon ausgehen, dass unsere Begleiter unter ihren Umhängen und Tüchern Ähnliches tragen. Lass dich davon nicht täuschen, auch wenn sie fast so lang sind wie die Kleider unserer Frauen.“ Jeldrik setzte zur nächsten Frage an, aber der alte Mann schüttelte warnend den Kopf. Jeldrik verstand und fragte nicht weiter.
„Roar, noch ein Wort zu Euch und Euren Männern“, rief Anwyll sie zusammen. Ihm machte die zunehmend ablehnende Haltung des Herolds Sorgen. Sich vergewissernd, dass dieser in hörbarer Entfernung war und es auch mitbekam, sah er alle eindringlich an. „Die Sitten und Gebräuche dieses Volkes sind den unseren sehr fremd, wie Ihr bereits gesehen habt. Seid jedoch versichert, die Gildaer sind – trotz ihrer .. ungewöhnlichen Kleidung“, die Männer lachten leise, „ebenso furchtlose Kämpfer wie Ihr. Wenn Ihr durch die Stadt geht, tut es zügig und lasst Euch nicht durch Blicke beleidigen. Sie sind zwar ein Händlervolk, aber den Anblick saranischer Krieger nicht gewöhnt. Und noch eines – richtet niemals unaufgefordert das Wort an ihre Frauen, starrt sie auch nicht an. Es wäre ein ernsthafter Verstoß gegen ihre Sitten.“
Die Männer nickten knapp auf die Worte ihres geistigen Oberhauptes. Sein Wort war Gesetz. Anwyll drehte sich um und machte dem Herold eine auffordernde Handbewegung, sie zu führen.
Jeldriks Ungeduld, endlich in die Stadt zu kommen, stieg ins Unermessliche. Nur widerwillig reihte er sich neben seinem Vater ein, der ihm als Anerkennung für sein Eingreifen kurz auf die Schulter klopfte und dadurch eine neue Staubwolke erzeugte, die alle vorhergehenden Waschversuche zunichtemachte. Sie tauschten ein Grinsen und folgten dem Herold, der ihnen voraus durch das Stadttor schritt. Die Wachen standen alle auf einen Schlag stramm vor den Gästen des Königs, Lanzen und Schilde knallten auf den Boden, dass es nur so in den Tiefen des Tores widerhallte. Jeldrik wunderte sich, dass sie keine Schwerter trugen. Die Rüstung jedoch war auch nicht viel anders, als er sie kannte – bis auf jenes Kleidungsstück, das sie alle so sehr erheiterte.
Sie traten durch das Stadttor. Vor ihnen erstreckte sich eine Straße, gepflastert und schnurgerade ansteigend bis zu einem weiteren mächtigen Tor in der mittleren Stadtmauer. Hohe Häuser säumten sie dicht an dicht. Jeldrik staunte über die Fassaden. Sie waren alle aus Stein und hell verputzt. Daher also das Strahlen, das sie schon von Weitem gesehen hatten. Ansonsten fand er die Häuser sehr merkwürdig. Kein Fenster, ja kaum einen Schlitz nach außen gab es, zumindest nicht im unteren Stockwerk. Die Häuser sahen aus wie kleine Festungen. Lebten sie so abgeschottet? Oder hatten sie Angst, bestohlen zu werden? Die mächtigen, sehr kunstvoll beschlagenen und verzierten Eingangstore sprachen dafür.
Er legte den Kopf in den Nacken und versuchte, einen Blick auf die oberen Stockwerke zu erhaschen, vergebens. Sie waren so zurückgesetzt, dass man von unten keinen Einblick hatte. Lediglich einen Teil der Dächer konnte er sehen, und er wäre beinahe stehen geblieben, spürte aber gerade noch rechtzeitig die nachrückenden Männer hinter sich. „Seht nur, Meister Anwyll, sogar die Dächer sind aus Stein.“ Niedrig waren sie, teils mit einer kleinen Kuppel, teils flach.
„Und, kannst du dir vorstellen, warum das so ist?“, brummte Roar über seine Schulter.
Jeldrik brauchte nicht lange nachzudenken. Er rief sich die baumlose Steppe in Erinnerung. „Sie haben kein Holz.“
„So ist es. Erinnere dich daran, unser Volk verdient eine Menge Gold damit, ihnen dieses rare Gut zu liefern.“
„Wie könnte ich das vergessen, Vater“, erwiderte Jeldrik ergeben. „Aber seht doch, ihre Tore sind aber trotzdem aus Holz“, rief er aus, als er sich an eines etwas näher heranwagte. Er fand es merkwürdig, aber er bewunderte die vielen Farben und Formen und die wertvollen bronzenen Beschläge. Manche der Tore standen auch offen. Wenn er weit und lange genug den Kopf verdrehte, konnte er einen Blick auf prächtige Innenhöfe mit allerlei Ständen und Waren erhaschen. Wie gerne hätte er dort gestöbert! Doch es ging ohne Halt weiter.
Rasch wandte er wieder seinem Vater seine ganze Aufmerksamkeit zu, der ihm gerade zuraunte: „Sieh nur genau hin, Sohn. Du kannst davon ausgehen, dass hier, an der Hauptstraße der Stadt, nur die reichsten Gildaer wohnen. Wie die Häuser der ärmeren Bewohner aussehen, das wirst du wohl erst in den nächsten Tagen erfahren. Vielleicht die Gelegenheit, mancherlei zu erfragen, hmm?“
Jeldrik grinste in sich hinein, sehr zufrieden auf einmal. Damit gab sein Vater ihm indirekt die Erlaubnis, durch die Stadt zu streifen. Er riss sich von den Häusern los und wandte sich den Menschen zu. Nein, arm sahen die Gildaer wirklich nicht aus. Jeldrik sah feine Stoffe in allen möglichen Farben und Verarbeitungen, selbst die einfacheren Träger wirkten wohlgenährt und gut gekleidet.
Die Gildaer waren kleiner als sie. Auch er mit seinen noch nicht einmal vierzehn Jahren überragte die meisten bereits um Haupteslänge. Sein Vater und dessen Männer mussten ihnen wie Riesen vorkommen. Hatte auf der Straße eben noch ein Gewühl aus Menschen, Karren, Sänften und Trägern geherrscht, so leerte sie sich bei ihrem Erscheinen merklich. Dafür erspähte er plötzlich in den Gassen und an allen Ecken schattenhafte Gestalten. Die waren doch eben noch nicht dort gewesen? Unauffällig rückte Jeldrik näher an seinen Vater heran. Es war ihm irgendwie unheimlich. Sein Verdacht, sie wurden überwacht, bekam neue Nahrung und verdarb ihm ein wenig die Freude beim Anblick der Stadt.
Der Herold schien dies zu bestätigen. Er schritt derart zügig aus, als wolle er die Stadt möglichst schnell hinter sich lassen. Ein Mann in einer schwarzen Kutte starrte sie an, schlug hastig ein Zeichen mit seiner rechten Hand und verschwand eilig in einer Gasse. Frauen zogen ihre Kinder beiseite, wenn keine Gasse in der Nähe war. Jeldrik fiel auf, dass alle Frauen ihr Haar mit großen, hüftlangen Tüchern bedeckt hatten und diese sogar anhoben, um ihr Gesicht darin zu verbergen. Er nahm sich zusammen und versuchte, sie nicht allzu offen anzustarren. Er fand sie schön – klein und zierlich, mit glutvollen Augen. Ein Blick hinter sich sagte ihm, dass auch die Männer seines Vaters sichtlich Mühe hatten, ihnen nicht doch hinterherzustarren, aber Anwylls Worte zeigten Wirkung. Sie beherrschten sich.
Sie ließen die Stadt hinter sich. Wieder standen die Wachen stramm. Jetzt zeigte sich, dass Roar richtig mit seiner Vermutung lag: Das große Gebäude auf der rechten Straßenseite hinter dem Tor war eine Kaserne, denn es strömten Soldaten aus und ein. Im Gegensatz zu den Bewohnern schienen sie sich nicht an den Fremden zu stören, sondern gingen ohne zu Zögern ihrem Tagewerk nach. Ihre Ankunft schien sich hier bereits herumgesprochen zu haben.
In dem Gebäude auf der linken Seite – Jeldrik blieb abrupt stehen, sodass die Männer auf ihn aufliefen – kämpften Jungen in einem großen Innenhof. Sie waren jeden Alters, von etwa zehn Jahren bis ins Erwachsenenalter, soweit er dies auf die Schnelle beurteilen konnte. Er wäre am liebsten hinzugetreten, aber sein Vater zog ihn mit festem Griff weiter. Der Innenhof entschwand seinem Blick, so sehr er auch den Kopf verdrehte.
Jetzt ging es steil bergauf. In vielen Serpentinen wand sich die Straße den Fels hinauf, immer noch gepflastert und durch eine halbhohe Mauer begrenzt. Jetzt musste der Herold doch etwas langsamer werden, denn Anwyll geriet schell außer Atem. So hatte Jeldrik mehr Zeit, die Dinge um sich herum zu betrachten. Das Haus des Wissens auf halber Höhe ließen sie ohne Halt hinter sich, obwohl es jetzt Anwyll war, der suchend den Kopf wandte, doch das Tor neben dem trutzig wirkenden Turm war verschlossen. Dafür hörten sie aus der Ferne das Plätschern des Wasserfalls und wurden daran erinnert, wie sehr sie sich nach Wasser sehnten. Der Herold führte sie zügig weiter, sie durchschritten das Festungstor, aber Jeldrik scherte aus ihrer Reihe aus und wandte sich noch einmal zur Stadt um. Der Ausblick war atemberaubend. Unter ihm erstreckte sich das Meer der Häuser, dahinter die endlose Steppe. Wie musste es erst von der Mauer oder von einem der vielen Türme aussehen, welche die obere Mauer krönten?
„Jeldrik! Komm jetzt!“ Der barsche Ruf seines Vaters holte ihn aus seiner Versunkenheit. Er beeilte sich, hinter den Männern herzukommen. Als er sie einholte, wäre er fast wieder stehen geblieben. Vor ihnen öffnete sich ein großer, weiter Platz, der sich auf die große Halle zu verjüngte. Wie sie so dicht davor standen, wirkte die Halle einfach nur riesig. Wie mochte es erst von innen sein?
Aber auch linker Hand wartete ein nicht minder beeindruckendes Gebäude. Die hohen schlanken Doppeltürme glänzten im Sonnenlicht. Sie waren doch tatsächlich mit Gold verkleidet. Jeldrik musste die Augen zusammenkneifen, so sehr gleißten sie im Sonnenlicht.
„Ah, dies ist ihr wichtigstes Heiligtum. Der Eine Tempel und Sitz ihres obersten Mönches, Seiner Exzellenz Nusair“, raunte Anwyll ihm zu, bevor er zu einer Frage ansetzen konnte.
Auch die Kuppel der großen Halle blendete sie, aber anders. „Meister Anwyll, was ist das dort an der Kuppel?“
Der alte Mann war sich nicht sicher. Sie taten ein paar Schritte, bis die Sonne nicht mehr so reflektiert wurde. „Oh, das ist Glas, in die Mauer eingelassene Glassteine. Das ist auch etwas, was nur die Gildaer herzustellen vermögen. Es ist sehr kostbar.“
Beeindruckt drehte sich Jeldrik um die eigene Achse. Doch dann beschlich ihn auf einmal ein ungutes Gefühl. Er hielt inne.
„Was hast du?“ Anwyll wandte sich fragend zu ihm um.
Auch Roar bemerkte, dass sein Junge auf einmal merkwürdig wachsam wirkte. „Jeldrik?“
Dieser konnte es selbst nicht beschreiben. „Etwas ist hier merkwürdig ..“ Er sah sich suchend um. Was war es nur? Plötzlich durchzuckte ihn die Erkenntnis. Er dachte an das stete Kommen und Gehen in seinem Zuhause, von Menschen, Sklaven und Boten, und fand diesen Ort einfach verlassen. Er war wie tot. „Wo sind denn all die Menschen?“
Jetzt fiel es auch Roars Männern auf, dass der Platz völlig leer war. Es war nicht lebendig, nicht wie in der Stadt. So viel Jeldrik manchmal auch fragte, er hatte ein untrügliches Gespür für die Dinge um sich herum, wie sich jetzt einmal mehr zeigte.
Roar konnte es genauer benennen: Wenn dies der wichtigste Ort des gildaischen Volkes war, warum lag er verlassen? Fürchteten sie den Anblick der Fremden so, dass sie ihn geräumt hatten? Sie konnten sich keinen Reim darauf machen. „Gehen wir“, sagte er auf Temorisch, damit es auch der Herold verstand.
„Folgt mir bitte.“ Der Herold schritt weiter. Er führte sie zu einem kleineren Tor rechts neben der großen Halle, durch das man in die eigentlichen Gebäude des Palastes zu gelangen schien. Gleich darauf standen sie in der kühlen Dämmerung eines kleinen Durchganges.
„Hier entlang.“ Der Herold wandte sich einen kurzen, mit Fackeln beleuchteten Gang hinunter. Seine Stimme und ihre Schritte hallten an den Wänden wider.
Jeldrik legte den Kopf in den Nacken. Die Decke war hoch, mindestens fünf Mannhöhen, schätzte er. Im Vorbeigehen fuhr er mit der Hand über die Oberfläche einer Säule. An der Kühle erkannte er es sofort. „Marmor“, flüsterte er Anwyll zu, der mit einem Nicken antwortete. So wie die Statue, die sein Vater zu Hause hatte, aber wie viel mehr war es hier! Allein um die vielen verschiedenen Farben des Bodens zu erfassen, hätte er sich am liebsten an Ort und Stelle niedergelassen. Obwohl – dafür brauchte er hier wohl eine warme Decke. Es war kühl, angenehm nach der Hitze des Tages, aber er mochte sich nicht vorstellen, wie es hier nachts oder gar im Winter war. Fast wie in einer Höhle und völlig verlassen. Wieder beschlich ihn dieses merkwürdige Gefühl, und er erschauderte.
Sie durchschritten einen mit einem wunderbar plätschernden Brunnen und grünen Pflanzen ausgestatteten Innenhof. Ginge es nach Jeldrik, er wäre hiergeblieben, doch der Herold durchquerte den Innenhof ebenso zügig wie alles andere und öffnete eine doppelflügelige Tür am anderen Ende. Er verbeugte sich. „Dies ist der Gästetrakt. Es ist alles zu Eurer Zufriedenheit bereitet.“ Er wies auf die nächste Tür, hinter der sie eine lang gestreckte Tafel mit allerlei Speisen und Getränken erkennen konnten. Die Männer brachen in anerkennendes Gemurmel aus. Roar dankte ihm.
„Bei Sonnenuntergang empfängt Euch Seine Majestät in der großen Halle. Wir werden Euch zu ihm geleiten.“ Mit einer Verbeugung schloss der Herold die Tür.
„Was dann wohl heißt, wir dürfen uns nicht frei bewegen“, knurrte Roar ihm durch die geschlossene Tür hinterher. Er wechselte einen ernsten Blick mit Anwyll, der nur die Augenbrauen hochzog.
Die Männer schien es indes nicht zu stören. Hungrig machten sie sich über die köstlichen Speisen her, ließen sich Pasteten, Fleisch und das wunderbar knusprige Brot schmecken. Nachdem der erste Hunger und Durst gestillt war, nahmen sie ihre mit zahlreichen Kissen und Decken verschwenderisch ausgestatteten Schlafkammern in Augenschein. Jeldrik mochte sich nicht in seiner staubigen Kleidung auf das Bett werfen und ließ sein Gepäck neben der Tür liegen, weit entfernt von den kostbaren Teppichen.
„Männer, seht euch das an!“ Ein Ruf schallte durch den Gang. Jeldrik beeilte sich, zu der Tür zu gelangen, vor der sich die anderen drängten.
„Die Götter haben ein Einsehen mit uns!“, rief jemand.
„Wohl eher der König von Gilda!“ Die Männer lachten.
„Lasst mich durch!“ Jeldrik drängte sich zwischen sie. „Was ist .. oohhh!“ Er blieb mit großen Augen stehen. Vor ihm öffnete sich ein weiter Raum. Bunte Steine leuchteten ihm entgegen und in der Mitte .. „Ist das .. ein Bad?“ Jeldrik deutete auf das große flache Becken voller Wasser.
„Oh ja!“ Sichtlich zufrieden steckte Anwyll seine Hand ins Wasser. „Es ist sogar warmes Wasser. Nun, die Zeit bis zu dem Empfang wird uns nicht lang werden.“ Er richtete sich wieder auf. „Worauf wartet Ihr noch? Ich lasse Euch gerne den Vortritt.“ Das ließen sich die Männer nicht zweimal sagen.
„Pst, mach schnell! Die Luft ist rein, niemand zu sehen.“ Althea zog ihren Cousin Phelan rasch durch das Tor zum Haus des Wissens. „Hast du die Sachen? Warum hat das so lange gedauert?“
„Ich musste mich verstecken, irgend so eine Abordnung ist die Straße heraufgekommen.“ Phelan hielt triumphierend ein Bündel hoch. „Keiner hat mich gesehen. Hast du die Schere?“ Althea nickte und zerrte ihn mit sich.
Hätten die beiden gewusst, wer da eben vor ihrer Tür vorbeigekommen war, sie hätten gewiss ihr Vorhaben sofort aufgegeben, aber so blieben sie völlig ahnungslos. Sie liefen durch den Torgang zur ersten Säule im Innenhof.
Phelan stemmte die dahinter verborgene Tür auf. Wieder einmal fragte er sich, wer so dumm war, eine Säule derart dicht vor eine Tür zu bauen, sodass kein Erwachsener mehr hindurchpasste. Einerlei. Sie taten es, wenn es auch mit zunehmendem Alter immer mühsamer wurde. Der dahinter liegende Raum war seit Jahren ihre geheime Kammer, ihr Rückzugsort, der Platz, wo sie Abenteuer erlebten, den sie ganz für sich hatten. Niemand außer ihnen kannte ihn, und das sollte auch so bleiben.
Althea drängte sich an ihm vorbei. Sie begann sogleich, in einem großen Haufen bunt durcheinanderliegender Schilde, Speere, Lanzen und anderer Dinge zu wühlen. Schließlich hatte sie einen Korb gefunden, kippte die darin verwahrten Pfeile achtlos auf den Boden und setzte sich rittlings darauf.
„Vorsicht, so schnell komme ich nicht an neue Pfeile heran!“, mahnte Phelan, aber Althea überhörte es einfach. Sie war in Gedanken bereits ganz bei ihrem Vorhaben. Energisch drückte sie Phelan die schwere Schere in die Hand und beugte ihren Kopf nach vorne. „Los, mach schon!“
Er fasste zögerlich mit beiden Händen in ihr Haar. „Thea, bist du wirklich sicher?“, fragte er, unsicher, ob er der langen roten Lockenpracht wirklich den Garaus machen sollte.
„Ja!“ Althea presste wild entschlossen die Lippen zusammen. „Das wird Currann mir büßen! Schickt einfach irgendeinen Lehrer, um mich abzufangen, wie einen Dienstboten. Was bildet er sich eigentlich ein?“ Sie schnaubte immer noch vor Wut.
Phelan verkniff sich ein Grinsen. Es war wie immer ein Erlebnis, wenn seine Cousine und sein älterer Bruder aneinandergerieten. In ihrem Temperament waren sie sich ziemlich ähnlich. „Tja, so als Thronfolger .. immerhin habt ihr eine Wette abgeschlossen, also wird er alles tun, um zu verhindern, dass du doch noch an der Reitstunde teilnimmst. Warum bist du auch einfach losgerannt? War doch klar, dass sie dich in der Heerschule entdecken und zurückschicken!“
‚Frag mich doch gleich!’ Althea hörte den unausgesprochenen Vorwurf wohl. Sie seufzte. „Du hast ja recht. Dein Einfall ist wirklich besser, aber mit der Jungenkleidung ist es nicht getan. Fang endlich an, sonst ist die Reitstunde noch vorbei!“ Jetzt war sie wie Currann bereit, alles zu tun.
„Also gut.“ Phelan packte mit einer Hand ihr Haar, mit der anderen die Schere, drückte die beiden gegenläufigen Messer zusammen und schnitt, bevor er es sich anders überlegen konnte. Nachdem die ersten Strähnen herunter waren, fiel es ihm wesentlich leichter. Nicht einmal besonders sorgfältig brauchte er vorgehen, denn die kurzen roten Locken standen wirr in alle Richtungen. Er schnitt kräftig drauflos.
Althea rührte sich nicht. Kein Bedauern, nichts fühlte sie, außer eine wilde Entschlossenheit, ihr Ziel doch noch zu erreichen: endlich reiten zu lernen.
„So, fertig.“ Phelan kämmte ihr mit den Fingern die letzten losen Strähnen heraus.
Althea sprang auf. Sie schüttelte ihren Kopf, sodass die kurzen Locken kreuz und quer abstanden. „Es fühlt sich so leicht an!“, rief sie erstaunt aus.
„Hier, probier sie an. Die trage ich normalerweise beim Reiten.“
Phelan hielt sich nicht auf, sondern warf ihr eine Tunika zu. Als Althea schließlich samt Umhang und hochgeschlagener Kapuze vor ihm stand, betrachtete er sie abschätzend. „Dein Haar sieht man immer noch. Dann erkennen sie dich sofort. Und gewiss wird die Kapuze beim Reiten nach unten rutschen. Wir müssen die Farbe verändern.“ Er kaute nachdenklich an seiner Unterlippe. Da blitzte es in seinen Augen auf. „Ich weiß etwas: Asche!“
So schnell sie konnten, liefen sie über den Innenhof in den Wohntrakt des Hauses, nicht ohne jedoch vorher nach verdächtigen Geräuschen von den übrigen Bewohnern gelauscht zu haben. Sie hatten Glück, es war nach wie vor niemand zu sehen. Althea wollte in der Küche selbst zugreifen, aber Phelan hielt sie gerade noch zurück. „Nein, halt, lass mich das machen. Du bekommst deine Finger sonst nie rechtzeitig sauber!“
Mit der Asche und etwas Wasser waren ihre Haare im Handumdrehen in eine undefinierbare, graubraune Masse verwandelt. „Jetzt ist es wirklich gut.“ Zufrieden betrachtete Phelan sie. „Keiner wird dir zu nahe kommen, weil alle denken, dass man sich bei dir Läuse holt.“ Sie tauschten ein Grinsen. „Beeile dich lieber, sonst sind sie schon fort“, drängte er und schob sie hinaus in Richtung Tor.
Doch Althea sträubte sich: „Soll ich mich nicht doch lieber über die untere Stadtmauer in die Heerschule schleichen?“ Es war nur eine einfache Kletterpartie auf ihrer Gartenmauer entlang und ein kurzer Sprung hinunter, ein Leichtes für sie.
„Bloß nicht!“ Phelan schüttelte entschieden den Kopf. „Wenn du vom Innern der Heerschule kommst, schöpfen sie sofort Verdacht. Nein, misch dich einfach unter die Jungen, die vor dem Tor warten“, riet er und spähte durch das Tor auf die Straße. Schließlich hatte er wie alle Jungen der Stadt gelegentlich Unterricht in der Heerschule und kannte sich daher bestens aus, genauso wie sein zwei Jahre älterer Bruder Currann. Phelan freute sich jetzt schon diebisch darüber, ihm ein Schnippchen schlagen zu können.
Nun kamen Althea doch Zweifel. „Und du bist sicher, dass Currann nicht mehr dort ist?“
„Nein, er ist mit Heerführer Bajan irgendwo hin, keine Sorge. Nun geh schon, die Luft ist rein!“ Er schob sie durch das Tor.
Althea grinste ihm zu. „Beeile dich, dass du..“
„Phelan!“, tönte da eine strenge Stimme durch den Innenhof.
„Oh nein, das ist Vater! Lauf zu ihm!“, zischte Althea und drückte das Tor bis auf einen Spalt zu. Phelan rannte bereits. Sie lauschte mit angehaltenem Atem.
„Wo hast du gesteckt?“, hörte sie ihren Vater tadeln. „Deine Aufgaben warten noch auf dich, junger Mann ..“ Mehr hörte sie nicht mehr. Sie rannte los.
Drei Stunden später kam eine triumphierende Althea die Straße hinauf. Nicht nur, dass es ihr gelungen war, unerkannt in der Menge der Jungen bis zu den königlichen Stallungen vor der Stadt zu gelangen. Nein, sie war auch als Einzige nicht einmal vom Pferd gefallen. Nie würde sie das Gefühl vergessen, wie es war, das erste Mal auf einem Pferd zu sitzen. Ihr Überschwang ließ sie alle Vorsicht vergessen. „Phelan!“ Sie stürmte durch den Torgang und rannte in jemanden hinein. Leider nicht in ihren Cousin.
Sie wurde energisch gepackt. „Althea .. bei allen Heiligen, wie siehst du denn aus?!“ Lusela, die Dienstmagd ihres Vaters und der gute Geist des Hauses, meistens jedenfalls, stemmte entsetzt die Hände in ihre umfangreichen Hüften.
Althea hätte sich ohrfeigen mögen. Warum hatte sie nur nicht daran gedacht nachzusehen, ob die Luft rein war? Ihren Fehler bekam sie sogleich zu spüren. Lusela riss ihr mit einem Ruck die Kapuze herunter. Sprachlos starrte sie auf das Mädchen herab. Dann lief ihr sonst so gutmütiges Gesicht rot an. Sie atmete heftig aus und ein, als würde sie keine Luft mehr bekommen. Althea wurde ganz klein. Lusela packte sie rüde und zerrte sie hinter sich her zu dem Turm, der das königliche Archiv beherbergte. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?! Nichts als Dummheiten im Kopf! Was hast du dir nur dabei gedacht?! Sieh dich nur an! Eine schöne Bescherung. Na warte, was dein Vater dazu sagen wird!“
Althea wagte nicht zu protestieren. Jetzt würde es gewaltigen Ärger geben, und sie war selbst schuld daran. Ärgerlich verbarg sie ihre ganz und gar nicht bußfertige Miene hinter Luselas breitem Rücken, als sie im ersten Stockwerk des Turmes den Studierraum betraten.
Dort saß ihr Vater Thorald mit Archivar Meno über wahre Berge von Pergamenten gebeugt. Beide Männer sahen auf, doch während Meno die Brauen hochzog und erstaunt seine Augengläser absetzte, wandte Thorald den Blick gleich wieder den Pergamenten zu, offensichtlich in Gedanken ganz darin versunken. „Was ist denn, Lusela?“, fragte er, hörbar ungehalten über die Störung.
Menos Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das von einem abstehenden Ohr zum anderen ging und sein Gesicht in tausend Lachfältchen legte. Lusela warf ihm einen erbosten Blick zu, sodass er lieber gleich wieder seine Augengläser aufsetzte und sich geschäftig über die Pergamente beugte. Mit Lusela war in diesem Zustand nicht zu spaßen, das wusste er genauso gut wie Althea.
„Seht Euch Eure Tochter an, Meister Thorald. Seht, was sie angerichtet hat!“ Anklagend schob Lusela das Mädchen nach vorne.
Thorald seufzte, sah aber immer noch nicht auf. „Hat das nicht Zeit bis nachher? Wir sind hier gerade bei einem schwerwiegenden Problem..“
„Problem ist das richtige Wort, jawohl!“, unterbrach ihn Lusela.
Doch Thorald war nicht gewillt, sich so schnell ablenken zu lassen. Stirnrunzelnd fuhr er mit dem Finger über die Zeilen vor sich. Althea hielt die Luft an. Würde er abbrechen? Einerseits hoffte sie nicht, aber andererseits .. doch Thorald sah nicht einmal auf. „Althea, du wirst jetzt in den Schulraum gehen. Dort wirst du mir genauestens niederschreiben, weshalb Lusela so verärgert ist und wie es dazu gekommen ist. Und vergiss nicht die einleitenden Angaben, du weißt ja..“
Althea senkte den Kopf. „Ja, Vater“, sagte sie leise. ‚Alles hat einen historischen Wert, selbst deine Aufsätze.’ Wie oft hatte sie diesen Satz schon gehört?
Lusela begriff, dass mit ihrem Brotgeber so nichts mehr anzufangen war. Sie schnaubte und zerrte das Mädchen hinter sich her die Treppe hinunter. Menos schallendes Gelächter folgte ihnen bis in den Innenhof. „Der hat gut Lachen!“, schimpfte sie. Kurzerhand schob sie Althea durch die nächste Tür. „Los, hinauf in den Schulraum. Und dass du mir ja nicht herunterkommst, bevor ich dich hole!“
Althea floh geradezu. Gedrückt lief sie die Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses, wo der Schulraum lag, und ließ sich auf ihren Platz fallen.
Pergament, Rohrfeder und Tinte lagen wie immer bereit. Mutlos spitzte sie die Feder. So wie heute war es in letzter Zeit häufig. Ihr Vater verbrachte außerhalb des Unterrichts kaum noch Zeit mit ihr, ja, er nahm sie manchmal nicht einmal mehr wahr. Ständig saß er mit Meno, dem Heerführer Fürst Bajan und ihrer Tante, Königin Naluri, zusammen und besprach irgendwelche Neuigkeiten aus dem hohen Norden. Aus ihren Mienen war zu schließen, dass dort ernste Dinge vor sich gehen mussten. Die übrige Zeit war er mit seinen Studien und ihrem Unterricht beschäftigt. Hier bekam Thronfolger Currann momentan die meiste Aufmerksamkeit. Ihr Vater hatte sie und Phelan sogar schon einige Male aus dem Raum geschickt, um Currann Dinge zu lehren, die sie nicht wissen durften. Ganz ernst war Currann danach gewesen, hatte aber nichts verraten. Phelan und sie rätselten noch jetzt, Wochen später, über den Inhalt dieser Stunden. All ihre Versuche, mehr zu erfahren, waren bislang gescheitert. Aber sie dachten nicht daran aufzugeben, ganz gewiss nicht!
Althea seufzte und wandte den Kopf. Das goldene Herbstlicht warf ein Mosaik aus Licht und Schatten an die Wand, nur zu verlockend, den Schulraum doch zu verlassen und draußen anderen Abenteuern nachzugehen. Traurig wandte Althea den Blick vom Lichterspiel ab und starrte unschlüssig auf das vor ihr liegende, leere Pergament, als wolle sie die Worte zwingen, von selbst dort zu erscheinen.
Bald waren ihre Hände von Tintenflecken übersät, so oft hatte sie die Rohrfeder in ihrer Hand hin und her gedreht. Es half nichts. Sie sollte einen historisch korrekten Aufsatz schreiben.
„Im Jahre des Einen Herrn .., das achtzehnte Jahr der Herrschaft von König Aietan. Althea, Tochter des Thoralds und der Amaya, Schwester der Königin Naluri ..’ Es folgte eine Aufzählung all ihrer Titel und Verwandtschaftsgrade, wie sich das für ein richtiges gildaisches Dokument gehörte. Wie sie dies hasste! Ihre Hand war ganz verkrampft, als sie endlich mit den säuberlichen Buchstaben der Einleitung fertig war. Wollte sie etwa so weitermachen? Nein! Ein mutwilliges Blitzen erschien in ihren Augen. Sie tauchte die Feder in das Tintenfass. Da würde sie zukünftigen Historikern etwas zu rätseln geben!
‚Mein Name ist Althea, ich bin zehn Jahre alt, fast schon elf, und leider ein Mädchen“, schrieb sie in großen Buchstaben unter die Einleitung auf das Pergament. Die Feder kratzte und hinterließ Tintenflecke, die sie mit einem nachlässigen Wisch verteilte. Dann wusste sie nicht mehr weiter. Wie sollte sie das erklären?
Sollte sie etwa von den ständigen Sticheleien Curranns berichten, die heute Morgen einen weiteren Höhepunkt erreicht hatten? Denn heute hatte ein neuer Jahrgang Jungen mit dem Reitunterricht an der Heerschule angefangen. Er wusste genau, dass Phelan ihr heimlich viele der Dinge beibrachte, die er wie alle Jungen Gildas in der Heerschule lernte, aber Reiten lernen konnte man eben nur mit einem echten Pferd. Ihre Cousins waren mit ihren dreizehn und fünfzehn Jahren bereits geschickte Reiter und Wagenlenker und Althea wollte ihnen in Nichts nachstehen. Es gab dabei nur ein Problem: Sie war ein Mädchen, und Mädchen lernten in Gilda niemals reiten.
‚Nun, diese Wette hat Currann verloren’, dachte Althea und kaute nachdenklich an ihrer Feder herum. Sie wischte sich über den Mundwinkel. „Ach, verd…!“ Sie besah sich ihre Hand. Jetzt hatte sie auch noch Tinte im Gesicht. Sie begann einen vergeblichen Versuch, sich zu reinigen, und gab es gleich wieder auf.
Das hatte ihr Vater wirklich geschickt angestellt! Trotz seiner Abwesenheit hatte er sie bereits jetzt dazu gebracht zu erkennen, dass sie völlig überstürzt und töricht gehandelt hatte. Auf den Gedanken, ihn einfach um den Reitunterricht zu bitten, war sie nämlich noch nicht gekommen. Er hätte gewiss einen Weg gefunden, die gildaischen Bräuche zu umgehen, wie so oft.
Althea schrak aus ihren Gedanken auf. Sie hatte bisher nur einen Satz geschrieben, und die Sonne stand schon viel tiefer als vorher. ‚Beeile dich!’, dachte sie, ‚Vater wird den Aufsatz sicherlich nachher lesen wollen’. Also beschloss sie, einfach die Wahrheit aufzuschreiben, denn alles andere würde ihn nur beleidigen.
„Ich halte es für sehr ungerecht, dass in Gilda Mädchen nicht dasselbe lernen dürfen wie Jungen. Ich weiß, dass Vater mich schon viel mehr lehrt, als alle anderen Mädchen in Gilda lernen, und dass er dafür schon viel Ärger mit den anderen Erwachsenen bekommen hat. Dennoch lernen Phelan und Currann noch mehr als ich. Currann zieht ständig über mich her, wenn Vater nicht hinhört. Er sagt, dass Mädchen zu schwach zum Kämpfen und zu dumm für mehr als ein bisschen Lesen und Schreiben sind. Das ist nicht wahr, aber in Gilda denken das sehr viele Menschen. Ich möchte jedoch all das können, was meine Cousins auch können.
Ich kann eh kein richtiges gildaisches Mädchen sein, das sagen alle, auch meine Cousinen Lelia und Leanna, denn ich bin viel zu groß und zu anders dafür. Das stimmt, ich bin schon genauso groß wie Phelan, der ist zwei Jahre älter ist als ich. Und welches Mädchen in Gilda hat schon solche Augen und Haare wie ich? Keines!
Ich möchte ein Gelehrter werden wie mein Vater oder ein Soldat wie Fürst Bajan, deshalb habe ich mir heute die Haare abgeschnitten, habe mich verkleidet und bin in die Reitstunde geschlichen. Vielleicht kann ich dann auch so kämpfen lernen wie die anderen Jungen, ich habe es von der Gartenmauer aus beobachtet. Wenn man Gelehrter oder Krieger ist, spielt das Aussehen keine Rolle, und ich brauche auch niemals zu heiraten wie meine albernen Cousinen. Ich werde alles lernen, was es zu lernen gibt, ohne Einschränkung. Dann wird mein Vater gewiss sehr stolz auf mich sein.“
Bei diesem Gedanken angekommen, hörte sie schwere Schritte auf der Treppe zum Schulraum.
„Althea, wo steckst du nur, du dummes Mädchen?“, ertönte die sichtlich atemlose, tiefe Stimme Luselas, die gleich darauf in der Tür zum Schulraum erschien. Ihr Kopftuch war verrutscht, und die Schwitzflecken auf ihrem einfachen Kleid zeigten deutlich, wie sehr sie sich angestrengt hatte. Keuchend holte sie ein paar Mal tief Luft und zerrte Althea von ihrem Stuhl. Althea gelang es gerade noch, die Feder sicher ins Tintenfass zu stecken, dann wurde sie auch schon aus dem Raum geschoben.
„Hast du vergessen, dass ihr heute Abend bei Hofe erscheinen müsst? Was soll bloß deine Tante von dir denken?“, rief Lusela verzweifelt mit einem Blick auf das Mädchen. Sie hatte sich noch immer nicht beruhigt. „Sieh dich an, wie soll ich so schnell den ganzen Schmutz und die Tinte von dir herunterbekommen? Und eine Chadra kannst du auch nicht tragen, sie hält nicht auf deinem kurzen Haar!“
Althea verkniff sich ein Grinsen. Jenes große Tuch, mit dem alle sittsamen Mädchen und Frauen ihre Haare und Hände verbargen, verabscheute sie aus vollem Herzen. Sie vermied es, dies zu tragen, wo sie nur konnte. Also hatte sich ihr Abenteuer noch mehr gelohnt, dachte sie und bemühte sich, ihre mutwillig blitzenden Augen vor Lusela zu verbergen.
„Aber du hast doch gesagt, ich soll hierbleiben, bis du mich holen kommst ..“, brachte sie stattdessen kleinlaut hervor, denn den Empfang heute Abend hatte sie in der Tat völlig vergessen. Das würde ein schönes Gerede geben!
Aber Lusela hörte ihr gar nicht mehr zu, sondern zerrte sie vor sich hinschimpfend die Treppe hinunter. Als ob sie nicht selber laufen könnte, dachte Althea und beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. In der Diele des Wohntraktes warteten bereits ihr Vater und Meno auf sie. Meno konnte ein Lachen ob dieses kleinen Unholdes nicht unterdrücken.
„Was gibt’s da zu grinsen, Herr Meno!“, rief Lusela. „Nicht nur, dass wir bereits spät dran sind, was fangen wir nur mit Eurer Tochter an, Meister Thorald?“
Thorald besah sich Althea genauer, denn vorhin war er so beschäftigt gewesen, dass er sie in der Tat kaum wahrgenommen hatte. Nun konnte er die Misere durchaus verstehen. Altheas Aussehen würde bei Hofe einiges an Aufsehen erregen. Da kam ihm ein Einfall: „Lauf rasch hinauf zum Palast der Königin und hole einige von Phelans abgelegten Festtagskleidern. Wenn wir schon nicht ein braves Mädchen aus dir machen können“, sagte er zu Althea, „einen wohlgestalteten Jungen wirst du wohl abgeben. Die Gäste werden es kaum bemerken, und wie ich die Höflinge und Mönche kenne, werden sie aus Angst vor dem Gerede der Leute schweigen. Und nun komm mit mir!“, befahl er ihr streng.
Lusela riss erstaunt die Augen auf, und Meno fing lauthals an zu lachen. Nur das Mädchen schwieg und schämte sich zutiefst seines unbedachten Verhaltens, denn es erkannte erst jetzt, in was für eine Lage es ihren Vater gebracht hatte. Dies währte aber nicht lange. Thorald erhob sich rasch auf seine ganze beachtliche Länge und stieß sich dabei wieder einmal den Kopf an dem über dem Tisch hängenden Leuchter. Fluchend klemmte er sich Althea unter den Arm und verschwand mit dem quietschenden Mädchen in die Küche, wo bereits ein mit warmen Wasser gefüllter Zuber auf sie wartete.
„Und ich darf dann hinterher auch noch die Überschwemmung beseitigen!“, schimpfte Lusela und machte sich notgedrungen auf den Weg, das Gewünschte zu besorgen.
Meno lehnte sich genüsslich in seinem Sitz zurück, trank noch einen Schluck von Thoralds hervorragendem Wein und lauschte amüsiert der Schlacht, die sich in der Küche abspielte. So wie heute verbrachte er den größten Teil seiner Zeit im Archivturm des Hauses, wo er sich ein gemütliches Quartier eingerichtet hatte, oder in Thoralds Wohntrakt, denn hier fühlte er sich wahrhaft wohl. Lediglich zu den offiziellen Anlässen bei Hofe musste er sein Refugium verlassen, da er dort als Schriftführer fungierte.
Geraume Zeit später kam Althea in ein großes Tuch gewickelt und zusammen mit ihrem Vater, der mit Wasserflecken auf der Kleidung und im Bart reichlich mitgenommen aussah, wieder zum Vorschein.
„Erinnert mich daran, dass ich morgen diesen unsäglichen Leuchter höher hänge“, sagte Thorald zu Meno und rieb sich den Kopf, wo wieder einmal eine Beule am Entstehen war.
„Das habt Ihr doch die letzten zehn Jahre nicht geschafft, Meister Thorald, und Ihr schafft es auch morgen nicht“, schnaufte Lusela, die in diesem Moment wieder zur Tür hereinkam. Sie war noch ganz außer Atem von ihrem Gang, hielt aber ein paar Lederschuhe, eine Tunika aus dunkelgrünem Samt und eine wunderschöne, mit dem Wappen von Gilda bestickte Chadra in der Hand. „Hier, diese habe ich für dich bekommen.“ Sie drückte Althea die Kleidungsstücke in den Arm.
Althea seufzte innerlich. Auch die Jungen trugen die Chadra zu offiziellen Anlässen, bis sie das Erwachsenenalter erreicht hatten, allerdings war sie kürzer und wurde um die Schultern geschlagen getragen. Also würde sie doch nicht um sie herumkommen.
Lusela packte sie am Arm. „Los, Kleines, ab in deine Kammer, wir haben nicht mehr viel Zeit. Und Ihr“, sagte sie mit einem Blick auf Thorald, „zieht Euch am besten auch noch einmal um, so könnt Ihr nicht bei Hofe erscheinen.“ Schon war sie mit Althea durch die angrenzende Tür verschwunden. Thorald folgte ihr mit einem entschuldigenden Blick in Menos Richtung.
Der Wohntrakt im Hause des Wissens war sehr bescheiden. Neben der Diele, der Küche, der Vorratskammer und der daneben liegenden Kammer Luselas gab es nur einen langen Gang mit zwei Räumen für ihn und seine Tochter, von denen seiner nach hinten auf den kleinen Garten hinausging, sowie eine Gästekammer. Diese bescheidene Wohnstatt war ihm aber alle Mal lieber als die großartigen, aber intrigenverseuchten Räume des Palastes, die ihm als Schwager der Königin eigentlich zugestanden hätten.
In seiner Kammer angelangt, besah er sich den Schaden. Lusela hatte wie immer recht, er musste sich wirklich noch einmal umkleiden. Seufzend richtete er seine Ratsherrenrobe und schaute anschließend in Altheas Kammer, wo diese sich gerade bewundernd vor dem Spiegel drehte.
„So möchte ich immer aussehen“, rief sie und strahlte ihren Vater glücklich an. Ihm schmolz das Herz dahin, denn sie sah wirklich süß aus, wie ein richtiger Junge. Sogar die Haare hatte Lusela sorgfältig gekürzt.
Lusela aber verpasste ihr eine sanfte Kopfnuss. „Das wird das erste und das letzte Mal sein, dass du so aussiehst. Also wirklich, alle können dein Haar sehen! Und außerdem drehen sich Jungen nicht so vorm Spiegel hin und her!“ Sie blickte streng zu ihrem Brotgeber. „Meister Thorald, wir müssen uns heute Abend wirklich unterhalten. So kann es mit ihr nicht weitergehen.“
„Du hast ja recht, Lusela, ich habe kaum noch Zeit für sie, und sie schlägt über alle Stränge“, sagte Thorald leise zu ihr, als sie den Raum verließen und Althea vorauslief, um sich ein paar bewundernde Komplimente von Meno einzuholen. „Lass uns heute Abend, wenn der Empfang vorbei ist und wir nicht zu spät zu Hause sind, darüber sprechen.“ Er forderte Meno mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen.
Dieser zwinkerte Althea zu und streckte ihr galant den Arm hin. Althea hakte sich bei beiden Männern ein. Gemeinsam verließen sie das Haus des Wissens. Bereits auf der Straße davor gab sie die unbequeme Haltung wieder auf, war Meno doch erheblich kleiner als ihr Vater und hinkte zudem stark, ein Gebrechen, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Die Sonne stand bereits recht tief, was sie daran erinnerte, dass sie bereits spät dran waren. Eilig lief sie den Männern voraus die große Straße hinauf.
Althea hob lauschend den Kopf. Ein Brausen erfüllte die Luft, denn auf den Türmen der Festungsmauer wurden die Signalfeuer angezündet, welche spät eintreffenden Reisenden den Weg durch die Steppe wiesen. Sie wusste nur zu gut, dass man von den Festungstürmen einen großartigen Blick auf die gesamte Stadt und das umliegende Hügelland hatte. Ihr Vater war sich nicht einmal ansatzweise im Klaren darüber, in welche Bereiche der Festung sie und Phelan bereits vorgedrungen waren, die ein wahres Labyrinth an versteckten Durchgängen, Tunneln und geheimen Beobachtungsposten beherbergte. Was auch gut so war.
Althea spähte sofort, als sie das Tor durchschritten, nach rechts zum Palast der Königin hinüber, aber dort rührte sich niemand mehr. Sie waren wohl alle schon hinter der großen Halle. Stattdessen wartete am Fuß der Treppe, die zum Palast der Königin hinaufführte, eine zierliche Frau, die in kostbare, aber schlicht geschnittene Gewänder gekleidet war. Yola, die Zofe und persönliche Vertraute der Königin, erwartete sie bereits.
„Na, was haben wir denn hier für einen kleinen frechen Jungen!“ Sie blinzelte Althea zu. „Wie sollen wir dich denn nennen? Etwa Althan?“
Nachdem sie sich vor Thorald verbeugt hatte und er ihren Gruß erwidert hatte, fuhr sie weitaus ernster fort: „Ihre Majestät ist mit ihren Kindern bereits auf dem Weg in die große Halle, Meister Thorald. Eilt Euch bitte, Ihr seid spät dran!“ Noch einen Blick auf Meno werfend, der errötete und seinen Blick senkte, drehte sie sich um und eilte die Treppe hinauf, zurück in den Palast der Königin.
Thorald nahm seine Tochter fest an die Hand. Das tat er immer, wenn sie sich dem Palast näherten, und er hatte gute Gründe dafür. Zügig überquerten sie den Platz vor der großen Halle und traten links davon in einen langen Säulengang, der auf die Rückseite der Halle führte. Von dort gelangten sie zu dem Raum hinter der großen Halle, durch den die Mitglieder der königlichen Familie und des Rates in die Halle einzuziehen pflegten.
Sie trafen gleichzeitig mit Seiner Exzellenz Nusair und dessen Schreiber Stiig ein. Nusair maß Thorald nur mit einem verächtlichen Blick und rauschte an ihnen vorbei in den Raum, während Stiig sich seiner Manieren besann und Thorald mit einer leichten Verbeugung die Tür aufhielt und ihm den Vortritt ließ. Er streifte Althea mit einem flüchtigen Blick, riss dann aber entsetzt die Augen auf und ließ vor Schreck die Tür los, die Meno prompt im Kreuz traf. Althea grinste und folgte ihrem Vater so schnell sie konnte. Sich hastig bei Meno entschuldigend, eilte Stiig seinem Herrn hinterher.
Meno musste einen Augenblick nach Luft ringend vor der Tür stehen bleiben. Ein Fehler, wie er sogleich feststellte, denn er wurde von der einen Person entdeckt, der er eigentlich heute nicht begegnen wollte. Brida, die Haushofmeisterin und leider seine Mutter, beobachtete ganz genau, wer in ihrem Reich kam und ging.
„Warum seid ihr so spät dran?“ Sie war eine kleine Frau mit grauen Haaren, spitzem Gesicht und harten Augen und näherte sich ihm genauso hinkend, wie er selbst stets lief. „Hat dich dieser Heide aufgehalten?“ Sie wollte ihn am Arm fassen, aber Meno packte kurz entschlossen den Griff der Tür.
„Nein, Mutter, hat er nicht, aber ich werde wirklich zu spät sein, wenn ich mich nicht beeile“, sagte er rasch und brachte eilig die Tür zwischen sie beide.
Aufatmend blieb er stehen. Hierher würde sie ihm nicht folgen. Seine Mutter hatte wahrlich ihre Augen, Ohren und Finger überall im Palast. Lediglich der Palast der Königin und die unteren Ebenen der Festung entzogen sich ihrem Zugriff. Er fand sie – der Eine Herr möge ihm verzeihen – wahrhaft schrecklich, und das hing auch damit zusammen, wie sie über seine Freunde dachte. Meno holte tief Luft, nickte grüßend in alle Richtungen und machte sich dann an sein Amt.
Sie waren wirklich als Letzte eingetroffen. König Aietan und Königin Naluri warteten mit ihren vier Kindern vor einer geschlossenen mächtigen doppelflügeligen Tür zur großen Halle. Auch Heerführer Bajan und die übrigen Ratsmitglieder waren vollzählig anwesend und in leise Gespräche vertieft. Durch die Tür war Stimmengewirr aus der großen Halle zu hören. Nusair eilte sogleich an die Seite des Königs und begann nach der Verbeugung, leise und eindringlich auf ihn einzureden.
Königin Naluri dagegen hörte auf damit, die Kleider ihrer Kinder zu ordnen, und kam ihnen entgegen. Auch Heerführer Bajan unterbrach sein Gespräch mit den anderen Ratsherren und begrüßte sie. Er warf Althea einen undurchdringlichen Blick zu, was sie jedoch nicht weiter störte. Durch die lange Freundschaft zu ihrem Vater wusste sie, dass sich hinter seinem strengen Äußeren ein warmer Charakter und viel Humor verbarg. So beantwortete sie seinen Blick mit einem Lächeln. Bajan blinzelte ihr zu, während Königin Naluri und Thorald sich mit einem leichten Nicken begrüßten. Naluri zog die Augenbrauen hoch, als sie Altheas ansichtig wurde, sagte aber nichts. Es war nicht auszumachen, was sie dachte, und sicherlich war sie bereits bestens über den neuesten Streich ihrer Nichte unterrichtet.
Als nächste begrüßten Altheas jüngere Cousinen Lelia und Leanna schüchtern ihren Onkel und ihre Cousine. Sie waren Zwillinge, und Althea ließ sich von dem braven Verhalten nicht täuschen. Besonders mit Lelia verstand sie sich überhaupt nicht, während sie mit Leanna sogar hätte befreundet sein können, wäre nicht ihre Schwester gewesen. Schadenfroh bemerkte sie, dass Lelia in ihren dünnen Seidenschuhen von einem Fuß auf den anderen trat. Der Boden war eiskalt, das wusste sie aus eigener Erfahrung, und sie war sehr dankbar für Phelans Lederschuhe. Lelias Blick schoss zwischen Althea und ihrer Mutter hin und her. Die Enttäuschung darüber, dass Altheas ungewöhnliche Erscheinung keine sofortige Strafe nach sich zog, war ihr deutlich anzusehen. Althea ignorierte ihren giftigen Blick geflissentlich.
Die beiden Brüder Currann und Phelan kamen zuletzt heran. Sie waren sichtlich ungeduldig, endlich in die Halle eingelassen zu werden, wobei Currann sich wesentlich mehr Mühe gab, dies zu verbergen.
‚Er hält sich wohl schon für zu erwachsen’, dachte Althea verächtlich und bewegte sich langsam um die Erwachsenen herum in ihre Richtung.
Phelan begann sofort, übertrieben an seiner Kleidung herumzunesteln. Mit einem kaum unterdrückten Grinsen sah er die Reaktion seines Bruders, als dieser Althea entdeckte.
Currann fielen fast die Augen aus dem Kopf. Alle Versuche, erwachsen zu wirken, waren vergessen. Er packte Althea nicht gerade sanft beim Arm und zerrte sie von den Erwachsenen fort. „Hast du es tatsächlich geschafft, an der Reitstunde teilzunehmen!“, zischte er und schoss einen eisigen Blick in Richtung seines jüngeren Bruders, der es aufgab, sein Grinsen zu verbergen.
Althea machte sich behände von ihm los und reckte frech den Kopf. „Natürlich habe ich es geschafft, und du hast die Wette verloren! Jetzt schuldest du mir einen Ritt auf deinem Hengst!“
Currann schnaubte verächtlich. „Du schaffst es nie, dich auf ihm zu halten, und fällst nur herunter. Du wirst dir wehtun!“
„Ich bin heute als Einzige nicht vom Pferd gefallen, nur damit du es weißt! Der Rittmeister hat mich sogar vor allen anderen gelobt!“ Althea konnte es nicht lassen dagegenzuhalten. Endlich einmal war sie an der Reihe.
„Das hat er nur gemacht, weil er nicht wusste, dass du ein Mädchen bist. Sonst hätte er dich gleich wieder nach Hause geschickt“, schoss Currann zurück.
„Das zeigt doch, dass Mädchen genauso gut reiten können wie Jungen, nicht wahr?“, stichelte Althea weiter.
Die Schwestern waren ihnen neugierig gefolgt und kicherten los. Lelia sagte schadenfroh: „Wenn die Gäste erfahren, dass du ein Mädchen bist, wird es ein schönes Gerede geben!“
„Pah, du sorgst dich doch nur darum, dass du mit einer solchen Cousine ausgelacht wirst“, sprang Leanna Althea hilfreich zur Seite.
Althea musste ihren Cousinen aber insgeheim recht geben. Die beiden hatten oft, obwohl sie ein Jahr jünger waren, einen weitsichtigeren Blick auf die Dinge bei Hofe als sie selbst. „Wenn wir alle Stillschweigen bewahren und ihr mich Althan nennt“, sie dankte im Stillen Yola für den Einfall, „erfahren sie es gar nicht. Einverstanden?“ Alle Geschwister nickten, wenn auch Currann erst nach einigem Zögern.
„Worum geht es heute überhaupt?“, fragte Althea, die in der ganzen Aufregung den Anlass des Empfangs vergessen hatte.
Da ertönte hinter ihr eine höhnische Stimme, die alle zusammenfahren ließ. „Dass ausgerechnet du den äußerst wichtigen Anlass für diesen Empfang nicht kennst, ist bezeichnend!“ Unvermittelt war Nusair hinter ihnen erschienen, die schmalen Augen fest auf Althea gerichtet. Unheilvoll ragte er in seiner schwarzen Kutte über ihr auf.
Sofort nahmen die Jungen die Mädchen schützend in die Mitte. So zerstritten sie manchmal waren, so sehr hielten sie alle zusammen, wenn die Gefahr von außen kam.
Naluri hob beunruhigt den Kopf, und auch Thorald wandte sich zu ihnen um, bereit, jederzeit einzugreifen. Nusair nahm diese Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und zischte: „Was kann man schon von einem derartig verzogenen Heidenmädchen erwarten?“
Phelan sprang ihr helfend bei: „Heute Abend wird eine Gesandtschaft aus Temora erwartet und einige Vertreter des Volkes der Saraner, die mit Gilda ein Handelsabkommen schließen wollen“, sagte er schnell.
„Ach ja“, fiel es Althea wieder ein, die mit blitzenden Augen dem Blick Nusairs standhielt, „und Vaters alter Freund und Lehrmeister Anwyll ist unter ihnen. Sie wollen dem König wichtige Dinge vortragen, und Vater sagt, dass Ihr diese Dinge gewiss nicht gerne hören werdet. Sie sind übrigens auch Heiden!“
Nusair machte einen Schritt auf sie zu, wurde aber von der Stimme der Königin unterbrochen. „Es ist Zeit für den Einzug. Meno, bitte sagt dem Herold bescheid!“ Dieser verbeugte sich vor der Königin und führte das Gewünschte aus. Nusair schritt umgehend an die Seite des Königs.
Die Brüder und Althea sahen sich an, und die Zwillinge stießen unwillkürlich die angehaltene Luft aus. Sie machten sich bereit, aber Thorald nahm seine Tochter noch kurz beiseite. „Althea, sprich niemals mit anderen Leuten über Dinge, die du nicht zur Gänze verstehst. Du könntest uns in eine ungünstige Lage bringen, indem du Dinge verrätst, die gewisse Personen nicht hören sollen. Unsere Lage ist schon schwierig genug. Lerne, dich zu beherrschen, auch wenn du von jemandem angegriffen wirst!“, flüsterte er ihr eindringlich zu. Aber insgeheim war er sehr stolz auf sie. Sie hatte sich sehr gut gegen Nusair behauptet.
„Tut mir leid, Vater“, sagte Althea, „ich werde mich nicht mehr von dem Mönch ärgern lassen.“ Er nahm sie bei der Hand, strich ihr beruhigend über den Kopf und sie reihten sich hinter der Königsfamilie ein.
In der Halle schlug der Herold mit seinem Stab dreimal auf den Boden und rief aus: „Seine Majestät, König Aietan, Königin Naluri, die königliche Familie und der königliche Rat!“
Sofort verstummte das Stimmengewirr. Fanfaren und Trommeln ertönten, die Flügel der Tür schwangen auf und die Prozession setzte sich in Bewegung.
Gerade noch rechtzeitig erinnerte Thorald sie mit einem leichten Stoß seiner Hand daran, ja nicht zu vergessen, ihre Finger in das neben dem Eingang stehende Wasserbecken zu tauchen und damit ihre Stirn zu benetzen. Dieses Zeichen dafür, dass man die große Halle des Königs mit reinem Gewissen und ohne böse Absichten betrat, war ein wichtiger Bestandteil des Protokolls, das Althea nur allzu gern vergaß.
Die nächsten Bestandteile des Protokolls jedoch ignorierten sie beide bewusst. Sämtliche Mitglieder der königlichen Familie und des Rates wandten sich zur Mitte der großen Halle. Dort stand der Altar des Einen Herrn Urian, ein massiver Steinblock, geschmückt mit einem goldenen Baum, dem Symbol des Lebens. Alle verneigten sich ehrerbietig davor und schlugen das Zeichen des Baumes.
Althea beobachtete es nur beiläufig. Die Tatsache, dass sie und ihr Vater als Heiden galten, begleitete sie seit ihrer Geburt und störte sie nicht sonderlich. Stattdessen versuchte sie, um die Erwachsenen herum etwas zu erkennen, aber sie nahmen ihr die Sicht. So musste sie notgedrungen warten, bis sich der König und die Königin auf ihren leicht erhöhten Thronsitzen an der Stirnseite der Halle niedergelassen hatten. Beide Sitze waren mächtig und reich verziert mit den Elementen des gildaischen Wappens, der Sitz des Königs in der Form eines wilden Löwen und der Sitz der Königin mit den Blüten wilder Rosen. Althea hatte wie jedes Kind in Gilda gelernt, dass sie die Stärke und die Zähigkeit, aber auch die Schönheit des gildaischen Volkes symbolisieren sollten.
Die Königskinder warteten, bis die Ratsmitglieder rechts und links davon auf hochlehnigen, aber wesentlich schlichteren Stühlen Platz genommen hatten. Erst dann durften sie zu ihren etwas abseits stehenden Plätzen hinten in der Halle gehen und sich setzen. Von hier konnte Althea endlich die gesamte Versammlung überblicken.
Sie kam sich unter der alles überspannenden Kuppel immer ganz klein vor, und sie wusste, dass es vielen anderen Leuten ähnlich erging. Wenn sie den Kopf ganz in den Nacken legte, konnte sie hoch oben die vielen Glassteine in der Kuppel erkennen, die jetzt eine Vielzahl an Sprenkeln von der Abendsonne auf die Wände warfen. Trotzdem war es in der Halle bereits so dunkel, dass man alle Fackeln und Leuchter entzündet hatte. Sie spiegelten sich in den Wasserbecken, die an allen Eingängen verteilt waren, und warfen flackernde Lichter an die Wände. Es verlieh der Halle einen geradezu magischen Glanz.
Das Stimmengewirr war zwischenzeitlich wieder aufgekommen, denn man wartete auf das Eintreffen der Gesandtschaft. Althea ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Ihre Gedanken waren mit dem eigentlichen Anlass des Empfangs beschäftigt. Heute würde sie zum ersten Mal Bewohner aus der Heimat ihres Vaters aus der Nähe zu sehen bekommen. Bisher hatte sie nur von weitem, bei einem der seltenen Ausflüge in die Stadt, Händler aus seinem Volk gesehen. Aber es würden gewiss, wie so oft, wohl nur Männer und keine Frauen darunter sein.
‚Schade eigentlich, dann kann ich auch keine Ahnung davon bekommen, wie die Frauen aus Vaters Volk wohl aussehen. Hoffentlich nicht so hässlich wie ich’, dachte sie und warf Phelan einen Blick zu, der ihn mit einem Blitzen erwiderte und mit dem Kopf leicht zum Thron hinübernickte. Althea sah, dass der König bereits ausgiebig dem Wein zu gesprochen hatte und gerade erneut einen Becher eingeschenkt bekam. Sein massiver Körper saß bedenklich schief auf dem Thron. Schweiß lief ihm das teigige Gesicht herunter, seine vorstehenden Augen blickten glasig. Ihre Tante versuchte, so gut wie es ging darüber hinwegzusehen, und hielt die Konversation mit den Ratsmitgliedern aufrecht. Zum Glück waren ihr Vater und Heerführer Bajan darunter, sodass das Gespräch recht angenehm verlief.
Althea lächelte Phelan verschwörerisch zu und beugte sich zu ihm hinüber, aber bevor sie ein Wort sagen konnte, klopfte der Herold erneut auf den Boden und kündigte an:
„Seine Exzellenz Anwyll von Temora sowie Fürst Roar von Saran, sein Sohn Jeldrik und Gefolgschaft!“
Eine große Anspannung legte sich über die Versammlung, und alle Gespräche verstummten. Der König schaffte es, sich aufrecht hinzusetzen, und selbst die Königskinder hielten still.
Erneut ertönten die Fanfaren und Trommeln. Die Tore schwangen auf. Herein kam langsam eine Gruppe Menschen in fremdartiger Kleidung. Voran schritt ein großer Mann mit weitem, weißem Gewand und langem Haar und Bart in derselben Farbe. Er hielt einen langen, mit merkwürdiger Spitze geformten Stab in der Hand und stützte sich beim Gehen auf ihn. Althea konnte von ihrem Platz aus nicht erkennen, was an der Spitze des Stabes war, und beugte sich offenen Mundes vor.
Phelan stieß sie an. „Als wenn ein großer Schneemann auf einen zukommt“, flüsterte er und grinste über ihre Miene. Die Zwillinge kicherten.
Althea jedoch nahm keine Notiz von seinem Geflüster, zu sehr war sie von den dahinter folgenden Personen gefesselt. Der riesenhafte Mann musste Roar von Saran sein, dachte sie. Er hatte langes, hellblondes oder ergrautes Haar, das konnte sie nicht so genau erkennen, und einen ebenso langen Bart, der aber zu sehr vielen Zöpfen geflochten war. Er war sogar noch größer als ihr Vater, wirkte sehr stark und machte einen wahrhaft wilden Eindruck. Die Größe wurde noch verstärkt durch seinen Brustpanzer und die Arm- und Beinschienen, deren mit vielerlei Metall verziertes Leder im Licht der Fackeln glänzte und sehr kunstvoll gearbeitet war. Auch Currann hatte es bereits entdeckt, und ihm entfuhr ein bewundernder Laut. Welch ein Unterschied zu seinem Vater!
Hinter ihnen schritt zunächst ein Junge, der in etwa so alt zu sein schien wie Currann. Es war schwer zu sagen, denn er war bereits sehr hochgewachsen, hatte ebenso wie sein Vater langes, zu Zöpfen geflochtenes blondes Haar, aber der Bart fehlte noch völlig. Auch er war angetan mit derselben Rüstung, die wie die Miniaturausgabe der von Roar wirkte. Außerdem trug er ein Kurzschwert, was Currann und auch Phelan einen neidvollen Seufzer entlockte, denn dies war ihnen außerhalb der Heerschule verwehrt. Hinter dem Jungen folgten offensichtlich die Berater des Fürsten, deren wilde Ausstrahlung von den weniger kunstvoll gearbeiteten Rüstungen keinesfalls geschmälert wurde.
Altheas Blick blieb an der Kleidung hängen. Fast hätte sie es übersehen, die Rüstungen lenkten doch sehr ab, aber dann sah sie, dass sich unter den Beinschienen eine zweite Haut an ihre Beine zu schmiegen schien. Sie reichte bis zum Ansatz der Brustpanzer, eine Tunika fehlte völlig.
„Sind das etwa Beinlinge?“, flüsterte Althea, wurde aber durch ein warnendes „Pst!“ von Currann unterbrochen.
Sie schritten auf den Thron zu und verneigten sich vor dem König und der Königin.
„Seid gegrüßt, Freunde aus Temora und dem Lande Saran“, brachte König Aietan zum Erstaunen aller Königskinder klar hervor. „Unser Haus sei das Eurige, solange Ihr seiner bedürft.“
Anwyll verbeugte sich erneut und antwortete: „Wir danken Euch, König Aietan von Morann, und nehmen Eure Gastfreundschaft gerne an.“ Er hatte eine klare, weitreichende Stimme, sodass ihn auch die hintersten Personen in der Halle verstehen konnten. „Die Gemeinschaft von Temora entsendet Euch Grüße und Freundschaft, die da währt seit dem Anbeginn unserer Tage. Viele Dinge sind geschehen und weiser Ratschluss tut not.“
Naluri erhob sich mit einem Blick auf ihren Mann. „Die Herren werden müde sein von der langen Reise, so lasset die Botschaften und Arbeiten, so wichtig sie sind, bis morgen ruhen, und seid willkommen zu unserem Festmahl, das zu Eurem Empfang bereitet wurde.“
Anwyll verneigte sich vor ihr. „Weise sprecht Ihr, verehrte Königin, denn mit leerem Magen lässt es sich nicht gut beraten. Wir werden morgen die ernsten Dinge besprechen, doch heute lasst uns fröhlich sein.“ Hatte Althea da ein Blinzeln in seinen Augen gesehen? Sie war sich nicht sicher, aber dem weisen Mann konnte der Zustand des Königs nicht verborgen geblieben sein.
Auch Roar verbeugte sich nun und ergriff zum ersten Mal das Wort: „Auch das Volk von Saran entbietet dem Volke Gildas und seinem Königshaus Grüße. Schwer war die Reise bis hierher, und wir danken Euch, Königin Naluri, für Eure Umsicht und Gastfreundschaft. Möge diese Versammlung in den folgenden Tagen zur allseitigen Zufriedenheit verlaufen.“
Die Kinder staunten. Was hatte dieser Mann für eine tiefe Stimme und einen starken Akzent. Wie er das R rollte! Er wirkt wie ein grollender Bär, und die Worte kamen recht mühsam von seinen Lippen, fand Althea und tauschte einen amüsierten Blick mit Phelan.
Unterdessen nahm Naluri ein goldenes Trinkhorn, befüllte es aus einem bereitstehenden Krug und bot es den beiden Männern dar. Sie verneigten sich zum Dank. Dann klatschte Naluri zweimal in die Hände. „Traget das Mahl auf!“
Sogleich kam Bewegung in die Menge. Diener trugen lange Bretter und Böcke herein, die an den Seiten der Halle aufgestellt wurden. Am Kopfende wurde für den König, seinen Rat und die Gäste ein großer Tisch aufgestellt und sogleich eingedeckt.
Alle Ratsmitglieder erhoben sich und man begann, sich einzeln der Gesandtschaft vorzustellen. Nur der König blieb sitzen und beobachtete das Geschehen aus trüben Augen.
„Jetzt beginnt wieder die große Verbeugung, und wir müssen ewig auf das Essen warten!“, beschwerte sich Currann. Althea und Phelan warfen sich einen kurzen Blick zu und erhoben sich gleichzeitig von ihren Stühlen, um sich der Gesandtschaft zu nähern, zu groß war ihre Neugierde.
Naluri schritt sogleich auf Roar und seinen Sohn zu. Sie sprach Jeldrik selbst an: „Möchtest du dich zu meinen Söhnen gesellen, sie sind in etwa in deinem Alter, und dort ist es mit Sicherheit viel interessanter für dich als zwischen uns Erwachsenen.“ Jeldrik nickte nur stumm mit dem Kopf, zu erstaunt war er, dass die Königin ihn selbst und noch dazu auf Temorisch ansprach. Sie blicke zu Roar auf und musste den Kopf dabei weit zurücklegen. „Euer Einverständnis vorausgesetzt natürlich.“
Roar dankte ihr mit einer leichten Verneigung und nickte seinem Sohn knapp zu. Mit unbewegter Miene sah er ihnen hinterher. Königin Naluri gefiel ihm auf Anhieb. Sie war ausgesprochen zierlich und bewegte sich in einer Anmut in diesem kostbaren, ungeheuer kompliziert aussehenden Gewand, wie er es noch nie gesehen hatte. Außerdem hatte sie als so ziemlich einzige Frau im ganzen Raum ihre Haare nicht vollständig bedeckt, sondern kostbar geschmückt. Sie schien ihm furchtlos zu sein und hatte den ausgesprochen schwächlichen Zustand ihres Mannes geschickt überspielt. Roar sah mit Bedauern, dass die Zeit harte Linien in ihr Gesicht gegraben hatte. Sie musste einst sehr schön gewesen sein. Gewiss hatte sie keinen leichten Stand bei Hofe, und wenn man den Gerüchten trauen konnte, die im Laufe der Reise zu ihnen gedrungen waren, hatte sie sich inoffiziell von ihrem Mann getrennt. Wen verwundert es, dachte er verächtlich und warf ein Blick auf den König, der mithilfe eines schwarz gekleideten Mannes, der nur ein Mönch sein konnte, auf seinen Platz bei Tisch gelangte. Der Mönch erinnerte ihn mit seinem schmalen, dunklen Gesicht mit den extrem eng zusammenstehenden, schmalen Augen und der Hakennase an einen Geier. Roar war bei seinem Anblick versucht, Hand an seine Waffe zu legen.
Dann wandte er sich Anwyll zu, der freudig auf Temorisch von einem großen Mann mit roten Haaren und in der Robe der Ratsherren begrüßt wurde. Das musste Thorald sein. Irgendwie kam ihm der Mann bekannt vor, war seine erste, erstaunte Regung. Er wusste nicht, weshalb, aber es würde interessant werden, es zu ergründen, dachte er und näherte sich ihnen unauffällig.
„Meister Anwyll, es freut mich, Euch bei so guter Gesundheit anzutreffen. Einige Eurer Briefe ließen mich schon das Schlimmste befürchten“, sagte Thorald gerade.
Dieser umarmte seinen ehemaligen Schüler und guten Freund. „Du weißt doch, mein Junge, Unkraut vergeht nicht, und wenn sich das Alter auch ab und zu bei mir bemerkbar macht, so waren doch die Heiler der Gemeinschaft immer wieder in der Lage, mich auf die Beine zu bringen. Wie lange ist es her, dass wir uns nicht gesehen haben, mehr als zehn Jahre? Es hat mich betrübt, vom Tode deiner Frau zu erfahren, aber hast du nicht ein Kind? Ich würde mich sehr freuen, es kennenzulernen, denn Mischlingskinder zwischen Gildaern und uns sind sehr selten, und es werden ihnen besondere Fähigkeiten zugeschrieben.“
Thorald lachte. „Das ist wohl nur allzu wahr, meines ist ein echter Wildfang und kaum zu bändigen. Ihr werdet es heute Abend kennenlernen.“
Anwyll wandte sich zu Roar um und stellte die beiden einander vor. Wieder hatte Roar dieses merkwürdige Gefühl des Wiedererkennens. Er würde warten, danach zu fragen, wenn er mit Anwyll allein war oder näher mit dem Ratsherrn bekannt war, beschloss er.
Thorald seinerseits übernahm es in Abwesenheit der Königin, Roar und Anwyll herumzuführen. Zuerst brachte er sie zu einem Mann, der Roar schon vorher aufgefallen war, denn er war als einziger Gildaer in der ganzen Halle bewaffnet und trug eine Rüstung statt der Ratsherrenrobe. Das musste der Heerführer der Gildaer sein, Fürst Bajan. Roar hatte mit großer Erwartung ihrem Zusammentreffen entgegengesehen, war doch sein Ruf bis weit über die Grenzen des Landes hinaus außerordentlich. Nachdem sie sich verneigt und einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten, wandte sich Anwyll dem Heerführer zu, und Roar konnte ihn in aller Ruhe beobachten. Er wollte kaum glauben, was ihr Führer ihnen berichtet hatte, nämlich dass Bajan und der König alte Kampfgefährten waren. Im Gegensatz zum König wirkte der Heerführer mit seinen kurzen Haaren und Bart und der aufrechten Haltung durch und durch diszipliniert. Zudem sah er erheblich jünger aus als der König, dessen Haare bereits stark zurückgingen und vollständig ergraut waren. Das konnte noch sehr interessant werden, dachte Roar. Er war sich bereits jetzt völlig sicher, wem der Heerführer treu ergeben war. Rasch wandte er seine Aufmerksamkeit den Personen zu, die ihm nun vorgestellt wurden.
Die Königin führte unterdessen Jeldrik zu einer Gruppe Kinder hinüber. „Kinder, dies ist Jeldrik. Sein Vater ist Fürst Roar von Saran, und er wird einige Tage hier bei Hofe verbringen. Ich erwarte von euch, dass ihr freundlich zu ihm seid und ihm alles zeigt. Aber keine Dummheiten und keine Mutproben, verstanden?“ Alle fünf nickten, und die Jungen begannen zu grinsen.
Jeldrik betrachtete die Königskinder aufmerksam. Den Ältesten, ein stämmiger Junge mit breitem Gesicht und kohlschwarzen Augen, erkannte er sofort als Sohn des Königs. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.
Seinen jüngeren Bruder dagegen wusste man nicht zuzuordnen, sah man nicht die Königin unmittelbar neben ihm. Er hatte ihre Augen und war genauso zartgliedrig gebaut wie sie. Dennoch erkannte Jeldrik sofort, dass man mit diesem genauso rechnen musste wie mit seinem älteren Bruder. Die braunen Augen blickten ihn klug und aufmerksam an, und er machte einen flinken Eindruck.
Mit dem merkwürdigen Jungen daneben wusste Jeldrik allerdings überhaupt nichts anzufangen. Er war unverkennbar ein Mischling. Das dunkle, schmale, von Sommersprossen übersäte Gesicht mit den schräg stehenden, hellen Augen und den wirren, roten Haaren erinnerte ihn an einen Kobold, wie sie in den Märchen seiner Heimat beschrieben wurden. Gerade noch rechtzeitig verkniff er sich ein Grinsen, aber der Junge hatte es bereits bemerkt. Er setzte sich mit einem Ruck aufrechter hin.
Die beiden Mädchen sagten Jeldrik nichts. Sie blickten schüchtern zu Boden. Er sah, dass es Zwillinge waren, aber keine eineiigen. Das eine Mädchen war etwas dunkler wie der Vater, das andere eher heller wie die Mutter. Die Gesichter ähnelten stark dem des jüngeren Bruders.
Die Königin schob Jeldrik auf sie zu. „Ich lasse dich jetzt in der Obhut meiner Söhne. Der Älteste ist Currann, dann kommt Phelan, und dies ist .. ihr Cousin Althan. Die beiden Mädchen sind Lelia und Leanna. Ich gehe davon aus, dass du selber für dich einstehen kannst, wenn es zu hart wird“, fügte sie mit spöttischem Ton hinzu und warf ihrem Ältesten einen warnenden Blick zu. Dann ging sie zurück zum Thron, um die restliche Gesandtschaft zu begrüßen und größere Fehler ihres Gemahls zu verhindern.
Etwas unschlüssig standen die Kinder herum. Althea beschloss, sich sogleich für den merkwürdigen Blick des Jungen zu revanchieren, und ergriff als Erste das Wort: „Warum tragt ihr euer Haar lang und flechtet Zöpfe hinein?“, fragte sie herausfordernd.
Jeldrik wusste gleich, warum der Junge dies fragte, und suchte fieberhaft nach einer passenden Antwort. Mit dem durfte man sich nicht anlegen, das merkte er sofort. Doch dann kam ihm ein guter Einfall. „Bei uns ist das Wetter oft so rau und stürmisch, dass man mit langen Haaren am Kopf nicht so sehr friert. Die Zöpfe sind dazu da, dass der Wind die Haare nicht umherwehen kann. Das hat sich so eingebürgert und ist für alle Männer Brauch.“ Staunend hörten die vier Geschwister Jeldrik zu. Er hatte denselben rollenden Akzent wie sein Vater, sprach aber sehr viel fließender die gildaische Sprache. Zufrieden mit dieser Antwort setzte sich Althea, die den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, an den für die Kinder bestimmten Tisch. Die anderen folgten ihr.
Currann fragte Jeldrik: „Weißt du, worum es in dem Treffen geht, das morgen stattfindet? Uns will man nichts Genaues sagen, und ich dachte, dass du vielleicht etwas mehr weißt.“ Althea und Phelan wechselten einen erstaunten Blick. Dass Currann zugab, etwas nicht zu wissen, konnte nur bedeuten, dass er sehr, sehr neugierig war.
„Nein, leider auch nicht. Ich bin auf diese Reise mitgekommen, um, wie mein Vater sagt, etwas von der Welt zu sehen. Meister Anwyll hat mir zwar vieles über die Dinge beigebracht, die wir unterwegs gesehen haben, aber über den Zweck seiner Reise hierher hat er geschwiegen.“
Phelan war neidisch. „Ich möchte auch mal so weit reisen, wir durften noch nie von Gilda weg. Wie lange wart ihr unterwegs?“
„Mehrere Wochen bis nach Temora und noch einmal doppelt so viele bis Gilda“, sagte Jeldrik. Dass sie dabei natürlich auch viele Freunde, Verwandte und Bekannte besucht hatten, verriet er nicht. Er hatte die Tage genau festgehalten und alles Besondere notiert. „Und wir haben eine Menge merkwürdige Leute, Tiere und Pflanzen unterwegs gesehen, ich habe mir viel aufgeschrieben und gezeichnet.“
„Waren da auch die Sumpfleute aus dem Lir-Delta dabei?“, fragte Althea sofort interessiert. „Die haben wir noch nie gesehen.“
„Natürlich haben wir auch diese gesehen..“
Und schon waren die vier Älteren in eine spannende Unterhaltung über allerlei fremde Völker und Tiere vertieft. Die beiden Schwestern saßen mit staunenden Augen dabei.
Jeldrik war beeindruckt von dem umfangreichen Wissen der drei Jungen, das trotz ihres unterschiedlichen Alters fast gleich war. Da fiel ihm ein, dass ja Thorald, der ein Freund und Schüler Anwylls war, der Lehrer der beiden Königssöhne war und auch sein Sohn Althan gewiss von ihm unterrichtet wurde. Mit leisem Neid dachte er an die vielen Bücher und Pergamente, zu denen sie Zugang haben mussten.
Er drängte den Gedanken beiseite und berichtete ihnen, welche Dinge Anwyll ihm unterwegs beigebracht hatte, und sie beschlossen, da der alte Mann im Hause Thoralds zu Gast sein würde, ihn mit allerlei Fragen zu behelligen.
Dann aber konnte es Currann nicht lassen, sich wichtig zu tun. „Ich habe einen Hengst von Vater geschenkt bekommen. Möchtest du ihn gerne sehen?“
Jeldrik lachte. „Aber nur, wenn wir gemeinsam ausreiten und ein Wettrennen veranstalten, denn meine Stute ist garantiert schneller als dein Hengst. Mit ihr habe ich schon das Pferderennen der Jungen gewonnen.“
„Ausreiten?!“ Currann schnaubte. Es klang ziemlich verächtlich, sodass Phelan ihn warnend mit dem Fuß unter dem Tisch anstieß. Er nahm sich sofort zusammen. „Ich dachte eigentlich eher an ein Wagenrennen“, erklärte er etwas höflicher.
Jeldrik stutzte. „Meinst du einen Streitwagen? Ich habe noch nie einen gesehen, geschweige denn, dass meine Stute je vor einem gegangen ist.“
Jetzt starrten ihn die Geschwister offenen Mundes an. „Ihr kennt keine Streitwagen?!“, rief Phelan. Jeldrik schüttelte den Kopf.
„Ja, aber .. wie zieht ihr dann in den Krieg?“ Currann konnte es nicht glauben. Er wurde schon sehr lange in der Heerschule von Fürst Bajan persönlich unterrichtet und verstand seiner Meinung nach eine Menge davon.
„Und wie geht ihr auf die Jagd?“, setzte Phelan nach, der nicht hinter ihm zurückstehen wollte.
Jeldrik sah wachsam von einem zum anderen, aber sie sagten es nicht überheblich, sondern schienen ehrlich interessiert zu sein. Er entspannte sich etwas. „Wir sind ein Seefahrervolk. Streitwagen brauchen wir nicht“, sagte er, als würde dies alles erklären.
Jetzt wurde Althea lebhaft. „Ihr fahrt mit Schiffen auf dem Meer?“ Jeldrik nickte. „Das haben wir nun noch nie gesehen, zumindest nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in Büchern“, sagte sie, stellte damit bewusst das Gleichgewicht wieder her und bedachte Currann mit einem fordernden Blick. Er sollte es sich nicht gleich mit dem fremden Jungen verderben, dafür bot er zu viel Neues.
Der Junge ist ausgesprochen gerecht, dachte Jeldrik achtungsvoll. „Habe ich euch richtig verstanden, ihr kämpft und jagt im Wagen? Wie stellt ihr das an? Ihr könnt doch nicht gleichzeitig lenken und die Beute erlegen, geschweige denn kämpfen?“
„Du hast einen Diener dabei, der für dich lenkt. Aber dies machen nur noch die Adeligen, Vater geht schon lange nicht mehr auf die Jagd, und wir dürfen nicht“, erklärte Currann.
Jeldrik hörte aufmerksam zu. Es war für ihn wie eine andere Welt. „Warum nicht?“
„Vaters Bruder ist bei der Jagd ums Leben gekommen. Er hätte eigentlich König werden sollen“, sagte Phelan.
„Und im Krieg?“ Bei diesen Worten zuckten die Zwillinge ängstlich zusammen. Jeldrik lächelte ihnen entschuldigend zu.
„Auf dem Wagen kämpfen nur die Offiziere. Du hast einen Lenker und oft noch einen Schildträger dabei“, sagte Currann.
Jeldrik verstand immer noch nicht ganz. „Aber reiten könnt ihr doch?“
„Natürlich!“, riefen die beiden Jungen. Althea dagegen schwieg betreten. „Es sind die Kundschafter und Boten, die im Heer beritten sind. Alle Jungen müssen es lernen“, beeilte sich Currann zu erklären. „Alle anderen Soldaten kämpfen zu Fuß und die Offiziere im Wagen.“
Jetzt begann Jeldrik zu verstehen: „Bei uns wäre ein Wagen nicht zweckmäßig. Wir greifen von der See aus an und legen die Strecken an Land zu Pferde zurück. Gekämpft wird aber auch zu Fuß, Mann gegen Mann.“
„So nun auch wieder nicht.“ Currann versuchte, es ihm besser zu erklären. „Unsere Soldaten bilden eine undurchdringliche Masse aus Schilden und Lanzen. Diese kann etliche Hundert Mann stark sein.“ Jetzt zeigte sich, wie weit er in der Heerschule bereits war. Phelan überließ ihm gerne das Feld. „Wir nennen sie eine Horde. Sie hat in der Vergangenheit alle Feinde besiegt, die sich uns in den Weg gestellt hatten.“
„Das muss beeindruckend aussehen.“ Allein sich eine solche Masse Soldaten vorzustellen, fiel Jeldrik schwer.
„Ja, und furchterregend“, sagte Althea, die von der Stadtmauer aus schon etliche dieser Manöver beobachtet hatte. „Die Feinde laufen davor davon.“
Currann lächelte milde. In der Tat musste einem Mädchen wie Althea die gildaische Streitmacht wie eine undurchdringliche Masse vorkommen. „Na ja, ganz so nicht, aber sie bricht den Widerstand ziemlich schnell“, meinte er vage. Ganz gewiss nicht würde er vor einem Fremden die Geheimnisse des gildaischen Heeres ausbreiten. Bajan hatte ihm immer wieder gesagt, dass es der beste Vorteil war, wenn man die anderen in Unkenntnis über die eigene Stärke lässt. Er fand, sie hatten schon viel zu viel verraten, und verschränkte mit einem mahnenden Blick an seinen Bruder die Arme.
Für Jeldrik, der aufmerksam von einem zum anderen sah, war diese Geste eindeutig. Er merkte sich das soeben Erfahrene sorgfältig und ließ davon ab, genauer nachzufragen. Stattdessen sagte er: „Ich würde gerne einmal einen solchen Streitwagen lenken. Im Gegenzug reiten wir dann ein Rennen“, fügte er mit einem Grinsen in Altheas Richtung hinzu. Wenn sie schon beim Gleichgewicht waren ..
Currann war begeistert. „Fein, wo habt ihr eure Tiere untergestellt?“, fragte er.
„Wir haben unser Lager draußen vor der Stadt an dem kleinen Fluss aufgeschlagen. Wo steht dein Tier?“, fragte Jeldrik ebenso begeistert.
„Natürlich in den königlichen Stallungen außen an der Stadtmauer. Dann also morgen, in Ordnung?“
Jeldrik nickte, aber Althea verdrehte die Augen. „Habt ihr Helden euch auch schon überlegt, wie ihr ungesehen aus der Stadt herauskommen, Curranns Hengst und den Streitwagen an den Wachen im Stall vorbeischmuggeln und dann noch unbemerkt ein Rennen an der belebten Hauptstraße austragen wollt? Das wird wohl kaum möglich sein.“
Currann schüttelte den Kopf und fluchte innerlich, aber er musste Althea recht geben.
„Wir werden das so nicht hinbekommen“, pflichtete ihr Phelan bei, „zwar kennen wir viele Wege aus der Stadt, aber den Hengst von Currann und einen Streitwagen werden wir niemals unbemerkt herausbekommen. Aber was haltet ihr davon, wenn wir einfach kein Rennen machen, aber in euer Lager gehen und ein wenig so reiten?“ Er dachte dabei auch an Althea, die gewiss noch kein Rennen bestreiten konnte.
Althea nickte begeistert, auch Jeldrik stimmte zu, und Currann war versöhnt. Der morgige Tag versprach trotzdem, spannend zu werden.
„Und ihr zwei“, wandte sich Currann so plötzlich zu seinen Schwestern um, dass diese zusammenzuckten, „verratet kein Wort an Mutter und Yola. Wenn ihr gefragt werdet, sagt einfach, wir zeigen Jeldrik den Palast oder wir sind bei Althe.. Au!“ Althea hatte einen zielsicheren Treffer gelandet. „Äh .. bei Althan. Du musst das Gleiche natürlich eurer Lusela erzählen“, wandte er sich zornig an Althea, die bei seinem Beinaheschnitzer die Luft angehalten hatte.
Sie schnappte zurück: „Natürlich, für wen hältst du mich!“
Während die beiden Brüder und Althea über der Planung des nächsten Tages schnell Freundschaft mit dem fremden Jungen schlossen und sich lebhaft unterhielten, verlief das Mahl am Tisch des Königs gänzlich anders. Roar war angespannt, obwohl nichts in seiner regungslosen Miene darauf schließen ließ. Allein von dem goldenen Teller, den er vor sich liegen hatte, konnte manch einer seine ganze Familie für ein Jahr ernähren! Und die aufgetischten Speisen erst! Noch nie hatte er eine solche Pracht gesehen. Er hatte seine Männer eindringlich ermahnt, ja auf die Sitten bei Tisch und auch sonst in der großen Halle zu achten und sich strikt an den Gildaern zu orientieren. Auf keinen Fall wollte er, dass sich die Vorkommnisse bei ihrer Ankunft wiederholten. Um Jeldrik dagegen machte er sich keine Sorgen. Sein Junge besaß für solche Dinge das richtige Gespür, und er war sich sicher, dass er ihm keine Schande bereiten würde. Als nun seine Männer nach einigem Zögern und heimlichen Blicken selbst zu diesen merkwürdigen Messern und Zinken griffen und etwas umständlich zu essen begannen, wusste er, dass sie alles richtig gemacht hatten, und er konnte sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit dem Gespräch bei Tisch widmen.
Königin Naluri bestritt den größten Teil der Konversation mit den Gästen, während König Aietan trübe vor sich hinstarrte und seine Umgebung kaum wahrnahm. Roar, der dem König nun nahe genug war, um seine getrübten Augen zu erkennen, vermutete, dass nicht nur zu viel Wein, sondern auch etwas anderes seine Sinne benebelte, denn die Pupillen des Königs waren unnatürlich geweitet.
Naluri entging sein forschender Blick nicht, und sie wandte das Wort an ihn: „Fürst Roar, man berichtete mir, dass in Eurem Land das ewige Eis auf das Meer trifft. Ich kann es mir kaum vorstellen. Ist es wahrhaftig so?“
Die Ratsherren wandten interessiert die Köpfe. Nusair runzelte dagegen die Stirn, sagte aber nichts. Ihm drängte die Königin sich entschieden zu sehr in den Vordergrund, aber auch er musste zugeben, dass der König heute Abend wohl kaum in der Lage war, seine repräsentativen Pflichten zu erfüllen.
„Das ist richtig, Euer Majestät“, antwortete Roar, nachdem er sich sorgfältig mit dem bereitliegenden Tuch den Mund und Bart abgetupft hatte. „Wie Ihr sicherlich wisst, wird unser Land im Osten begrenzt von den Bergen von Nador, von denen das ewige Eis ins Tal fließt. Die Berge bilden nördlich von uns eine natürliche Grenze zu Temora, und obwohl es dort recht warm ist, reichen die Gletscher dort bis fast in das Meer hinab.“
„Ja, diese Gletscher sind ein gewaltiges Wunder“, fuhr Anwyll fort, „im hohen Norden stürzen manchmal ganze Berge ins Meer und erzeugen große Flutwellen, die wir sogar bis Temora zu spüren bekommen. Deshalb gibt es keine Siedlung am Meer, die nicht auf einer Anhöhe liegt.“
Nusair ließ es sich nicht nehmen anzumerken: „Ist dies nicht sehr ungünstig für ein Volk, das sich hauptsächlich mit der Seefahrt befasst?“
Anwyll lächelte nachsichtig. „Nein, überhaupt nicht. Die geschützte Lage hat den Vorteil, die Siedlungen besser gegen Feinde verteidigen zu können. Nicht, dass dies in den letzten Jahrhunderten nötig gewesen wäre. Temora hat mit keinem Volke Hader.“
Roar nickte bestätigend. „Temora befindet sich in der Tat in der glücklichen Lage, zwischen zwei befreundeten Nachbarn angesiedelt zu sein. Uns dagegen haben die südlichen Nachbarn schon so manches Mal zu schaffen gemacht.“
„Ich würde gerne einmal selbst die Wunder Eures Landes mit eigenen Augen sehen“, sagte Naluri, und ihrer sonst so gelassenen Stimme war echte Begeisterung anzuhören. „Es fällt mir schwer, mir eine so große Fläche Wasser und Eis vorzustellen.“
Der König gab darauf ein Schnauben von sich. Alle wandten erstaunt den Kopf. „Ihr bleibt besser dort, wo Ihr hingehört“, stieß er aus.
Hoch erhobenen Hauptes saß Naluri da. Die Freude aus ihren Augen war erloschen, ihr Gesicht hatte sich so schnell verschlossen wie eine heftig zugeworfene Tür. Betretendes Schweigen machte sich breit. Naluri sah genau, wie Nusair dieses Schweigen voll auskostete und wie Thorald nach Worten suchte, ihr beizustehen. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Betont freundlich sagte sie: „Aber ja, mein Gemahl, wie könnte ich Euch allein lassen!“ Dann richtete sie wieder das Wort an Roar: „Aber sagt mir, Fürst, welcher Anlass Euch dazu bringt, uns persönlich mit Eurer Anwesenheit zu beehren. Es kann sich doch nicht nur um simple Handelsdinge handeln.“
„Nein, es gibt etwas, das ich persönlich Eurem Gemahl und dem Rat vorführen möchte. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber mein Volk wurde vor einiger Zeit von einem auf den südlichen Inseln lebenden Stamm angegriffen. Wir konnten sie schlagen, jedoch nur knapp, denn ihre Waffen waren aus einem ungewöhnlichen Metall, gegen das unsere Bronzewaffen machtlos waren. Sie wurden einfach unbrauchbar.“ Erstaunte Laute entfuhren den Menschen bei Tisch. „Nur durch all unser militärisches Können“, fuhr Roar fort, „gelang ein Sieg gegen die Wilden.“
Bajan hatte sich schon bei seinen ersten Worten angespannt vorgebeugt. „Wollt Ihr damit andeuten, dass Ihr dieses Metall ausfindig gemacht habt und in der Lage seid, es zu verarbeiten?“
Roar machte eine leichte Verbeugung in Bajans Richtung, beeindruckt von seiner Scharfsicht. „So ist es. Wir werden Euch morgen eine kleine Kostprobe bieten.“
Nun wurde auch der König lebhaft. „Ha, diese neuen Waffen werden unserem Heer bestens zu Stehen bekommen“, nuschelte er in seinen Bart, „und sie werden ihren Preis wert sein, wenn sie halten, was sie versprechen.“ Bajan runzelte unmerklich die Stirn. Der König handelte nicht klug, wenn er schon so früh seine Begeisterung kundtat. Er selbst hielt gesunde Skepsis für angebrachter und hielt sich dementsprechend zurück, und er sah auch, dass einige der Handelsherren irritiert die Stirn runzelten.
„Darüber zu verhandeln sind wir gekommen“, antwortete Roar, „denn alt ist die Freundschaft zwischen unseren Völkern, und der Fortschritt soll Euch ebenso zuteilwerden wie uns.“
Nusair hatte Bedenken. „Mit dem neuen Metall hat es doch kein Zauberwerk auf sich? Die dunklen Mächte versuchen stets, sich der Seelen der Menschen zu bemächtigen.“
Roar überlegte kurz, wie er diesen Mönch anreden sollte. Schließlich erinnerte er sich. „Keine Sorge, Euer Exzellenz, dies hat nichts mit Zauberei zu tun. Als Bedingung für den Frieden haben uns die Wilden die Verarbeitung des Metalls gezeigt. Es ist lediglich ein neues Verfahren mit einem anderen Metall, das allerdings einige Zeit erfordert, es zu erlernen.“
Sofort war die Runde in eine angeregte Diskussion über die Vor- und Nachteile verschiedener Waffen vertieft, zu der sogar der König einen Beitrag aus seiner Zeit als Kämpfer leistete.
Naluri lehnte sich etwas entspannter zurück und überließ die Männer ihrem Gespräch. Thorald warf ihr einen tröstenden Blick zu und zwinkerte unmerklich.
Anwyll entging dieser Blick nicht, und er beugte sich zu Thorald. „Gehe ich recht in der Annahme, dass die Königin in unsere Dinge eingeweiht und unserem Ansinnen freundlich gesinnt ist?“, raunte er ihm leise zu.
Thorald nickte. „Sie war von Anfang an auf unserer Seite und ist in alles eingeweiht. Aber bitte sprecht nicht hier darüber, es könnte ungebetene Zuhörer geben.“ Anwyll nickte daraufhin ernst.
Inzwischen waren sie am Ende des Mahls angekommen, als sich Aietan mit einem Mal ohne jede Hilfe erhob. „Verehrte Gäste, Ratsherren und Bürger Gildas, es ist mir eine besondere Ehre, Euch Alia, die Perle unseres Königreiches, vorzustellen.“ Er klatschte in die Hände.
Die Königin zuckte zusammen. Thorald runzelte beunruhigt die Stirn, und die Königskinder verstummten wie auf Kommando.
„Was ist denn los?“, flüsterte Jeldrik. In der gesamten Halle war es totenstill geworden.
Plötzlich öffneten sich die Doppeltüren des hinteren Eingangs, und eine Reihe Musiker erschienen. Dahinter kam mit langsamem Schritt eine sehr schöne Frau mit unnatürlich hellem, sehr langem Haar und in einem schulter- und bauchfreien Gewand, das bei jedem Schritt die Beine hervorblitzen ließ. Sie verbeugte sich vor dem König und gab den Musikern ein Zeichen. Naluri saß wie erstarrt. Noch nie hatte der König es gewagt, seine Mätresse bei einem offiziellen Empfang vorzuführen.
Die Musik spielte auf, und Alia begann mit ihrem verführerischen Tanz. Das kann sie wirklich, dachte Thorald grimmig. Die Besucher waren von der Darbietung zunächst sehr gefesselt, aber die meisten Gildaer waren sich des Affronts gegen die Königin mehr als bewusst und wanden sich unbehaglich auf ihren Sitzen. Die Königin starrte aufrecht und unbeweglich auf die gegenüberliegende Tür. Die anhaltende Stille ließ die Gäste langsam begreifen, was hier vor sich ging.
Als Alia ihren Tanz beendet hatte und mit einer eleganten Verbeugung vor dem König auf die Knie gesunken war, nahm Aietan sie bei der Hand und wandte sich an seine Gäste: „Und nun, meine Herren, wende ich mich anderen Genüssen zu.“ Er erhob sich schnaufend und verließ mit ihr den Raum.
Nach einer kleinen Ewigkeit, in der Totenstille herrschte, erhob sich Naluri mühsam. „Lasst uns dies Mahl beenden, Ihr werdet müde sein“, sagte sie zu den Besuchern und klatschte in die Hände. Es erschien Brida, deren Augen eigentümlich glänzten. Sie verneigte sich scheinbar unterwürfig vor der Königin. Nur wer ganz nahe war, erkannte, dass es in Wahrheit Spott war.
„Brida wird Euch zurück in Euer Quartier geleiten“, sagte Naluri kalt.
Alle Anwesenden erhoben sich nun ebenfalls, dankten der Königin und machten sich zum Aufbruch fertig. Eine gedrückte Stimmung herrschte in der Halle.
Brida scharte die Gäste um sich. Phelan beobachtete sie und raunte den anderen zu: „Seht sie euch nur an, wie sie frohlockt. Wetten, dass dies ihr Einfall war?“
Althea flüsterte zurück: „Alia, die Schlange, auf einem offiziellen Empfang! Eure Mutter muss sehr wütend sein.“
Jeldrik wollte gerade Genaueres erfragen, als er sah, dass ihn sein Vater mit einem Kopfrucken zu sich befahl. Er stand auf und verabschiedete sich von den anderen. „Wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang. Wo wollen wir uns treffen?“
„Komm zum Palast unserer Mutter“, wies Currann ihn an und beschrieb ihm das Gebäude, „von dort werden wir leicht aus der Stadt verschwinden können.“ Jeldrik nickte, verabschiedete sich von ihnen und gesellte sich zu seinem Vater.
Thorald nahm unterdessen Naluri am Arm und führte sie zu den Kindern. „Lasst uns nach Hause gehen“, sagte Naluri müde. Sie wirkte wie geschlagen, auch wenn sie es meisterhaft verbarg. Die Zwillinge fassten sie tröstend bei der Hand, und sie lächelte ihnen zu. Currann ereiferte sich noch immer über den Zwischenfall. „Lass gut sein, mein Sohn“, mahnte sie ihn. „Nicht hier. Lass uns später darüber sprechen.“ Er musste noch lernen, seine Gefühle besser vor den anderen zu verbergen.
Thorald nahm Althea bei der Hand und zog sie zu Anwyll. „Mein Kind, dies ist Meister Anwyll, mein alter Lehrmeister und langjähriger Freund.“ Althea begrüßte ihn artig, riss aber dann erstaunt die Augen auf, als sie sein Gesicht von Nahem erblickte. Die Stirn war übersät von blauen Malen! Es waren Tätowierungen.
Anwyll lächelte ihr zu, doch dann schauten die gütigen Augen mit einem Mal durchdringend. „Für wahr, du bist wirklich ein Vertreter beider Völker“, murmelte er erstaunt. Althea fühlte sich unter diesem Blick irgendwie unwohl. Es schien, als blickte er bis ganz tief in sie hinein. Rasch trat sie einen Schritt zurück, und der alte Mann zwinkerte ihr zu, als hätte sie ihm Antwort auf eine Frage gegeben, die nur sie beide hatten hören können.
Thorald bemerkte es nicht, er hatte sich an Naluri gewandt: „Meister Anwyll wird bei uns zu Gast sein, ich hoffe, Ihr seid einverstanden?“
„Natürlich“, nickte Naluri, „Ihr habt sicherlich viel zu bereden“, fügte sie mit einem bedeutsamen Blick auf Bajan und Meno hinzu, die sich nun ebenfalls der Gruppe näherten.
Sie verließen gemeinsam die große Halle. Nachdem sie die Familie der Königin an der Treppe zu ihrem Palast verabschiedet hatten, machten sie sich an den Abstieg zum Haus des Wissens. Alle Signalfeuer waren inzwischen entzündet und ihr Weg ausreichend beleuchtet. Althea stolperte fast vor Müdigkeit, sodass Thorald sie kurzerhand in den Arm nahm und sie sich dankbar an seine Seite kuschelte. Bajan verabschiedete sich am Tor zum Haus des Wissens und machte sich auf den Weg in seine Kommandantur in der Kaserne.
Anwyll trat mit Meno und Thorald in den Innenhof des Hauses, wo Lusela die Fackeln entzündet hatte und der Hof in einen warmen Schein getaucht war. Nun verabschiedete sich auch Meno und verschwand im Treppenhaus des Archivturms.
Anwyll blickte sich um. „Dies ist also dein Zuhause. Wie ich sehe, hast du dir ein ruhiges, kleines Refugium fernab des Palastes geschaffen. Eine kluge Wahl, wie ich nach dem heutigen Abend sagen muss.“
„Es ist ein bescheidenes, aber gemütliches Heim“, sagte Thorald und öffnete mit der inzwischen halb schlafenden Althea im Arm die Tür zur Diele. Lusela saß über eine Handarbeit gebeugt am Tisch und erhob sich, als sie eintraten.
„Meister Anwyll, dies ist Lusela, der gute Geist in unserem Hause. Es sei Euch geraten, Euch nicht mit ihr anzulegen“, zwinkerte Thorald und blickte auf Althea herab, „doch lasst mich nun erst einmal den kleinen Kobold hier ins Bett bringen. Lusela, würdest du unseren Gast mit etwas Wein versorgen?“ Er verschwand mit Althea im angrenzenden Gang.
Lusela und Anwyll begrüßten sich. „Ach, die Kleine!“, spöttelte sie, während sie Anwyll aufforderte, Platz zu nehmen, und ihm Wein einschenkte. „Hat sich heute wohl ein wenig verausgabt, wie mir scheint.“
Anwyll hob den Kopf. „Das Kind ist ein Mädchen?!?“, fragte er ungläubig.
„An Eurem Ausruf sehe ich, dass unsere Täuschung gelungen ist. Dieser kleine Wildfang hat sich in den Kopf gesetzt, reiten zu lernen.“ Lusela konnte inzwischen schon wieder darüber lachen und erzählte ihrem Gast die ganze Geschichte, die sie nach einigem Nachforschen bei Yola herausbekommen hatte. Sie schloss mit den Worten: „Ich weiß nicht, wo sie das her hat, kein Mädchen in Gilda verhält sich so!“
Anwyll schmunzelte: „Aber ich weiß es, es ist das Blut unseres Volkes in ihren Adern. Alle Frauen unserer Völker lernen reiten, manche lernen sogar das Kämpfen. Da die Männer oft auf See sind, ist dies der einzige Schutz, den die Siedlungen vor Feinden haben. Seht es also Eurem kleinen Mädchen nach, wenn dies Erbe mit ihr durchgeht. Wie heißt sie übrigens?“
„Althea.“ Sie blickte auf, denn Thorald betrat den Raum.
„Ihr seid also bereits beim Thema, und nach Eurer Miene zu schließen, habt Ihr bereits die Wahrheit über meinen Sohn erfahren. Verzeiht, Meister Anwyll, ich habe Lusela versprochen, heute Abend mit ihr zu bereden, was wir wegen meiner Tochter unternehmen sollen. Sie wächst einfach zu wild für die hiesigen Sitten auf, und die jüngsten Ereignisse, derentwillen Ihr ja auch hier seid, lassen mir kaum Zeit, mich außerhalb des Unterrichts um sie zu kümmern.“
Er trat an den Tisch, auf dem Lusela das Pergament abgelegt hatte, an dem Althea am Nachmittag geschrieben hatte. Lusela schaute fragend auf, denn sie konnte nicht lesen. Thorald verstand ihren Blick und las den Inhalt vor. Alle drei amüsierten sich köstlich, und Anwyll sagte anerkennend: „Sie ist für ihre zehn“, er blickte Thorald fragend an und dieser nickte, „zehn Jahre schon sehr weit, was Ausdruck und Schrift angeht. Zumindest im ersten Teil. Im zweiten Teil ist es dann wohl mit ihr durchgegangen.“ Er lachte leise beim Anblick der verschmierten Schrift.
„Sie braucht aber mehr Schliff, sich in diese Gesellschaft zu fügen“, sagte Lusela und nahm damit Bezug auf Anwylls Worte. „Ich mache Euch einen Vorschlag, Meister Thorald. Wie wäre es, wenn sie wie bisher am Vormittag von Euch unterrichtet würde, aber an den Nachmittagen, wo sie bisher herumgestromert ist, mit ihren Cousinen Unterricht in häuslichen Dingen und Etikette bekommen würde? Yola erzählte mir, dass die Königin die Zwillinge nun mehr und mehr an ihre Aufgaben heranführt und sogar plant, sie in die Häuser der hl. Asklepia mitzunehmen. Auch wenn es unserem Kobold nicht schmecken wird, diese Dinge muss sie auf jeden Fall lernen.“
„Ein guter Vorschlag, Lusela“, stimmte Thorald ihr zu.
„Ich werde gleich morgen früh zur Königin gehen und um Audienz ersuchen“, versprach Lusela.
„Das brauchst du nicht, wir treffen uns morgen früh alle hier. Sie wird gewiss einen Augenblick Zeit für unser Anliegen haben.“ Thorald blickte Anwyll an. „Wir hielten es für angeraten, uns vor der Ratssitzung morgen Mittag noch im kleinen Kreis zu beraten. Fürst Bajan und Meno werden auch dabei sein. Seid Ihr einverstanden?“ Anwyll nickte. „Dann lasst uns nun den Tag beenden und schlafen gehen“, schloss Thorald und erhob sich, um seinen Gast in die Gästekammer zu geleiten.
Im Palast war trotz der späten Stunde auch noch jemand wach. Alia lag nackt auf einem riesigen, mit seidenen Kissen und Decken überhäuften Bett und lauschte auf das Schnarchen des Königs.
Er hatte sie nach dem verführerischen Tanz geradewegs in seine Gemächer gezerrt und sie noch auf dem Fußboden genommen. Dann waren sie zum Bett gestolpert und hatten ihr Liebesspiel fortgesetzt, bis der König, berauscht von dem Wein, den sie ihm gereicht hatte, eingeschlafen war. So lag sie da und sonnte sich in dem triumphierenden Gefühl, das sie überkommen hatte, als sie vor dem entsetzten Hofstaat getanzt hatte. Den starren Blick der Königin würde sie nie vergessen. Der König gehörte ihr, ihr allein. Sie hatte die Macht über ihn, dies war heute wieder einmal überdeutlich geworden. Dank der Hilfe Bridas hatte sie sich an den Wachen vorbeischleichen und ihren Plan ausführen können.
Es war Ironie des Schicksals, dass sie es ausgerechnet einem als Mönch verkleideten Unbekannten zu verdanken hatte, der Gosse von Gildas Hurenviertel entkommen zu sein. Auch Mönche müssen sich einmal erleichtern, und sie kamen oft maskiert in die Hurenhäuser der Stadt. Alia schüttelte sich, als sie an die ungeschickten Versuche, sie zu erregen, dachte. Sie wusste bis heute nicht genau, wer ihr Gönner war. Sie vermutete einen der Ratsmitglieder oder hochrangigen Mönch dahinter.
Dabei fiel ihr ein, dass der Mann bald wieder eine seiner Stunden einfordern würde. Sie schnaubte verächtlich. Armer kleiner Mann hinter seiner Maske. Er war sicherlich nicht der Traum einer Frau mit seinem dürren Körper und den klammen kalten, gelblichen Fingern. Sie schüttelte sich, als sie an diese kalten Hände dachte. Aber was wollte man machen, jeder Erfolg hat seinen Preis.
Die heute eingetroffenen Gäste waren da schon eher nach ihrem Geschmack, besonders der stattliche Krieger in der aufwendig verzierten Rüstung. Vielleicht sollte sie ihm inkognito einen Besuch abstatten, es gelüstete sie danach, wieder von einem richtigen Mann in den Armen gehalten zu werden und nicht von einem schwabbeligen Fettberg – sie warf einen Blick auf den schnarchenden König – oder einem kalten Eisblock.
Sie erhob sich. Zeit, ihre Gemächer aufzusuchen. Der König würde vor morgen früh nicht erwachen, und falls er es doch wieder Erwarten tun würde, mischte sie ihm noch rasch einen Becher Wein mit speziellem Inhalt zurecht.
Dann zog sie sich ihr Seidengewand über, verließ das Gemach des Königs durch eine getarnte Verbindungstür und eilte durch den dahinter liegenden Gang in ihr eigenes Reich.
Kaum hatte sie die Tür geöffnet, wurde sie plötzlich von einer Hand gepackt und in den Raum gezerrt. Die Tür fiel zu. Anhand der kalten Finger wusste sie sofort, wer ihr aufgelauert hatte, und schloss die Augen. So schnell hatte sie ihn nicht erwartet.
„Nun meine Schöne“, kratze seine Stimme, und er drängte sie gegen den Türpfosten, „willst du auch für mich einen Tanz wagen?“ Er riss gierig ihr Gewand auf und begann sie zu küssen. Seine kalten Finger waren überall auf ihrer nackten Haut. Alia stöhnte auf, machte sich von ihm los und zwang sich zu einem Lächeln.
„Meine Zeit gehört Euch, aber zunächst möchte ich mich in eine andere Ebene versetzen, um Euch alle Freuden bereiten zu können.“ Der Mann lachte kalt und reichte ihr einen bereits vorbereiteten Becher Wein. Sie trank ihn in einem Zug aus und spürte sogleich, wie sich eine wohlige Wärme in ihr ausbreitete. Sie drehte sich um und streifte ihrem Gönner geschickt die Kutte ab. Er lehnte sich erwartungsvoll auf dem großen Bett zurück, als sie mit ihrem Tanz begann.
In ihrem eigenen Palast setzte sich Naluri, nachdem sie ihre Töchter mit Yola ins Bett gebracht hatte, erschöpft auf einen Stuhl in ihrem Schlafgemach und blickte ihre Vertraute ernst an.
„Es war eine gezielte Attacke, um mich bloß zu stellen und meine Stellung bei Hofe weiter zu schwächen“, berichtete sie. „Diese Schlange muss dem König etwas eingeflößt haben, er wirkte völlig benebelt. Und an den Wachen kann sie nur mit Bridas Hilfe vorbeigekommen sein. Yola, was sollen wir nur tun? Ich fürchte langsam um unsere Sicherheit, besonders um die von Currann. Er ist als Thronfolger am meisten gefährdet. Wenigstens auf Fürst Bajan und das Heer ist Verlass. Aber wie lange noch?“
Yola drückte tröstend ihre Hand. „Vielleicht solltet Ihr Fürst Bajan bitten, Currann gänzlich in seine Obhut zu nehmen. Bis in das Heer reicht ihr Einfluss zum Glück noch nicht. Um Phelan würde ich mir aber keine Sorgen machen, der geht den richtigen Leuten schon aus dem Weg. Ich vermute, er und Althea“, hier lachten beide auf, „wissen längst, was vor sich geht, so gut kennen sie sich in der Festung aus.“
„Ich möchte gar nicht wissen, wo sie sich überall herumtreiben“, sagte Naluri, „und ganz besonders morgen nicht. Wie schnell sie Jeldrik, den Sohn von Fürst Roar, vereinnahmt haben! Ich wette mit dir, dass sie morgen zum Lager der Saraner davonschleichen werden. Sei es ihnen gegönnt, mit einem Gast wird ihnen nichts geschehen, und außerdem wird Fürst Bajan über sie wachen lassen. Aber du hast recht, Yola, ich werde morgen mit Fürst Bajan über Currann sprechen, und auch Phelan möchte ich in seiner Obhut wissen.“ Sie stand auf. „Nun hilf mir mit dem Entkleiden und lass uns zu Bett gehen, der Abend hat mich völlig erschöpft.“
Yola nickte verständnisvoll und half ihrer Herrin aus dem komplizierten Gewand. Danach schloss sie leise die Tür zu ihrem Gemach, obwohl sie wusste, dass die Königin noch lange keine Ruhe finden würde. Sie überprüfte alle Ausgänge, ob diese fest verschlossen waren, und begab sich selbst zur Ruhe.
Naluri wartete, bis sie die Tür ihrer Zofe zuklappen hörte, verriegelte dann ihre eigene Tür von innen und ging an die Wand hinter ihrem Schreibpult. Mit geübtem Griff drückte sie drei bestimmte Punkte auf der Holzverkleidung, worauf ein Paneel zur Seite glitt. Dem dahinter liegenden Fach entnahm sie ein dickes, in Leder gebundenes Buch, zu fast dreiviertel gefüllt mit ihren Aufzeichnungen. Sie setzte sich an das Schreibpult, spitzte ihre Feder, ließ sie dann aber wieder sinken, zu frisch waren noch die schmerzlichen Erinnerungen an den heutigen Tag.
Sie seufzte. Es war in Gilda schon lange kein Geheimnis mehr, dass der König und sie getrennt lebten. Seit dem Beginn ihrer schwierigen und lieblosen Ehe, die von ihren Eltern arrangiert worden war, hatte der König Geliebte gehabt, aber dies war niemals an die Öffentlichkeit gedrungen. Nach der Geburt der Zwillinge hatte er sich schließlich mit der Begründung, sie könne wohl nur noch Mädchen zustande bringen, endgültig von ihr abgewandt.
Zunächst hatte sie es sehr genossen, völlig unbelästigt von ihm leben zu können, aber als Alia in den Palast eingezogen war, hatte das Blatt sich gewendet. Sie würde bis zuletzt um ihre Stellung und die Sicherheit ihrer Kinder kämpfen, das hatte sie sich geschworen.
Entschlossen hob sie die Feder und begann, die Ereignisse des Tages zusammenzufassen.
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