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Kapitel 4 Neue Welten

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Nur wenige Tage später war Naluri mit ihrer Geduld bereits restlos am Ende. Sie saß mit Yola, ihren beiden Töchtern und Althea in der kleinen Halle ihres Palastes, wo sich die Familie während des Tages und des Abends aufzuhalten pflegte. Wohl zum dutzendsten Mal verfluchte sie sich innerlich, dass sie Thoralds Vorschlag zugestimmt hatte, Althea zu unterweisen. Langsam merkte sie, wie sich der Druck in ihrer Stirn in einen handfesten Kopfschmerz verwandelte. Der eigentliche Grund war die Sorge um ihren Ältesten, musste sie gerechterweise eingestehen, aber dieses widerspenstige Mädchen brachte ihre nur noch mäßig dünne Beherrschung endgültig ins Wanken.

Althea warf gerade wieder einmal das Sticktuch, an dem sie gearbeitet hatte, auf den Tisch. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. „Das geht so nicht, die Stiche werden immer schief! Gebt mir etwas anderes!“

Yola hielt ihr das fleckige Tuch unter die Nase. „Es reicht, Althea, du wirst dies fertigstellen, und wenn du einhundert Jahre dafür brauchst! Gib dir mehr Mühe! Schau doch, wie schön Lelia und Leanna ihre Tücher bestickt haben.“

Leanna hatte Mitleid mit ihrer Cousine. „Wir machen das ja auch schon länger. Am Anfang sahen meine Tücher auch so aus.“

Lelia prustete los. „Aber du hast nicht so viel rumgejammert wie Althea“, stichelte sie. „Sie benimmt sich wie ein Kleinkind“, setzte sie hochmütig hinzu.

„Nimm das zurück!“ Erbost sprang Althea auf. Sie wollte sich auf Lelia stürzen, die kreischend von ihrem Stuhl aufsprang und sich hinter Yola versteckte.

„Jetzt ist es aber genug!“, rief Naluri und packte Althea unsanft am Arm. Althea versuchte halbherzig, sich loszureißen, wagte aber nicht allzu heftigen Widerstand. „Du kommst jetzt mit mir! Meine Geduld mit dir ist wahrhaft am Ende! Ich werde wohl deinem Vater berichten müssen, wie du dich hier benommen hast.“ Die Zwillinge schauten mit großen Augen zu. So aufgebracht kannten sie ihre Mutter gar nicht.

„Nein, bitte nicht!“ Althea hörte sofort auf, sich zu wehren. Sie senkte den Kopf. „Tut mir leid, Tante Naluri, ich wollte doch nicht ..“ Lelia streckte ihr die Zunge raus und ließ Althea verstummen. Sie funkelte ihre Cousine aus den Augenwinkeln böse an.

Naluri warf Yola einen resignierten Blick zu, zog Althea hinter sich her in die Eingangshalle und riss ihren Umhang von einem Haken herunter. „Los, anziehen!“ Althea bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun, wagte aber nicht zu widersprechen.

Doch zu ihrer Überraschung wandte sich Naluri nicht dem großen Eingangstor zu, sondern zerrte sie zu dem ihr wohlbekannten Gang. Als sie schließlich in dem Raum mit der Feuerstelle standen, wagte Althea zu fragen: „Warum gehen wir in die Häuser der hl. Asklepia?“

Naluri drehte sich wie vom Donner gerührt um. „Woher weißt du, wohin wir durch diesen Raum gelangen können?!?“

Althea entschied sich für die Wahrheit. Sie hatte ihre Tante genug verärgert. „Phelan und Currann kennen den Gang schon länger. Sie haben ihn mir gezeigt.“ Was machte es schon, dass ihre Tante es erfuhr, Currann war schließlich weg und Phelan auf der Heerschule. Er hatte auch keine Zeit mehr für sie.

„Ich fasse es nicht! Woher habt ihr den Schlüssel zu dem Raum?“

Althea blickte ihre Tante mit ehrlichen Augen an. „Ich weiß es nicht, wirklich. Die Jungen hatten ihn irgendwoher besorgt.“

Naluri schloss die Augen. Hinter ihrer Stirn hämmerte es wie verrückt. „Nun, diese Ausflüge werden ein Ende haben, das ist sicher“, sagte sie entschlossen.

Plötzlich fühlte Althea sich sehr allein. Ihr kamen die Tränen. „Bitte, Tante Naluri, erzähl Vater nichts von meinem Benehmen, ich werde mir mehr Mühe geben, versprochen.“

Naluri wollte sich gerade in die Feuerstelle begeben, zögerte aber und kniete sich dann vor Althea hin, damit sie ihr direkt in die Augen sehen konnte. „Althea, wir versuchen jetzt seit einer Woche, irgendwie mit dir auszukommen, aber es scheint zwecklos zu sein.“ Althea wollte widersprechen, schließlich trug Lelia ihren Teil dazu bei, aber Naluri hielt sie mit einer Handbewegung zurück. „Ich sehe, dass du anders bist als die Zwillinge, aber du kannst dich einfach nicht beherrschen. Ich werde aber das Versprechen, das ich deinem Vater gegeben habe, nicht brechen.“ Sie schloss kurz die Augen.

„Geht es dir nicht gut, Tante Naluri?“, fragte Althea besorgt.

Naluri lächelte sie seltsam an. „Du verursachst mir Kopfschmerzen, deswegen werden wir jetzt die ehrwürdige Mutter Klesa aufsuchen, damit sie mir ein Mittel dagegen gibt.“ Damit stand sie auf und zog Althea hinter sich her in die Feuerstelle.

Während sie den Gang entlanggingen, drehten sich Naluris Gedanken um die letzte Woche. Sie war wahrhaft nervenaufreibend gewesen, angefangen mit dem Tag vor der Abreise der Expedition. Currann und Phelan waren wie ein Sack Flöhe herumgesprungen und hatten dem gesamten Haushalt derart zugesetzt, dass sie sich gezwungen sah, Currann schon am selben Tag ins Lager der Saraner zu schicken, damit er bei Jeldrik übernachten konnte.

Phelan war schmollend zurückgeblieben und den restlichen Tag nicht mehr aus seiner Kammer aufgetaucht. Zur Strafe hatte sie beschlossen, dass Phelan nicht dem Auszug der Expedition zuschauen durfte, sondern nach dem Unterricht bei Thorald gleich in die Heerschule gehen musste. Von dort kam er seitdem abends schmutzig, erschöpft und äußerst einsilbig wieder nach Hause.

Am nächsten Nachmittag war dann Althea erschienen und das Chaos vollends ausgebrochen. Vollkommen rastlos wegen der Abwesenheit der Jungen war sie von ihr und Yola nicht zu bändigen gewesen.

Im Laufe der Woche hatte insbesondere Lelia so manches Scharmützel mit Althea ausgetragen. Naluri dachte an die Szene, in der Althea Lelia derart zugesetzt hatte, dass diese in lautes Weinen ausgebrochen war. Und das alles nur, weil sie über einen Fleck auf Altheas Kleid gelacht hatte. Leanna kam mit ihrer Cousine besser zurecht, sie hatte wesentlich mehr Geduld, versuchte ihr stets zu helfen und ausgleichend zwischen den beiden zu stehen.

Lelia war dafür einfach zu hochmütig und ließ Althea bei jeder Gelegenheit ihre vermeintliche Unterlegenheit spüren. Gezielt traf sie dabei den wunden Punkt in Altheas Charakter, ihren Stolz. Althea wird lernen müssen, sich zu beherrschen, oder sie wird immer verlieren, dachte Naluri, während sie die Treppe hinabstiegen.

Sie musste auch ein verstärktes Auge auf Lelias Entwicklung haben, denn diese glich im Charakter ihrem Vater immer mehr. Um Leanna machte sie sich dagegen keine Sorgen, sie war bereits jetzt ein kluges, ausgeglichenes Mädchen.

‚Wie sehr man bereits in diesem Alter die jeweiligen Charaktere und den weiteren Weg der Kinder erkennen konnte’, sinnierte Naluri.

Die missgünstige Intrigantin, der sanfte Engel und die mutige Kriegerin.

Naluri blieb unvermittelt stehen und blickte abwesend in die Dunkelheit. Diese Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Als hätte sie Lelia bereits verurteilt.

„Tante Naluri, was ist denn?“ Althea zupfte an ihrem Ärmel. Naluri schreckte auf und legte Althea mehr zu ihrer eigenen Beruhigung die Hand auf die Schulter. „Es ist nichts, mir ist nur gerade etwas eingefallen. Komm, dort hinten ist schon der Ausgang.“

Sie traten in eine große Höhle, vor der der Wasserfall den Felsen hinunterstürzte. Ein überdachter Steg führte durch den Wasserfall und endete hinter einem dichten Gebüsch.

An einem Haken davor hingen ein blauer Umhang und ein Vollschleier in derselben Farbe, wie ihn die festen Schwestern des Ordens trugen. Naluri legte beides an und zog Althea ihre Kapuze über. „So erkennt uns niemand“, sagte sie. Althea konnte nur noch ihre Augen durch die Sehschlitze des Schleiers erkennen.

Als sie den Steg überquert und um den Busch herumgeschritten waren, standen sie im hinteren Ende der hängenden Gärten. Althea sah sich aufmerksam um, denn hierher hatte sie sich noch nie gewagt. Zwar hatte sie die Gärten schon oft von der oberen Stadtmauer aus bewundert, aber von innen wirkten sie ganz anders.

Die Felsen waren überwuchert von Flechten, Farnen und Moosen. Efeuranken verteilten sich über die äußere Mauer und schlängelten sich weit am Felsen hoch. Kein Wunder, dass die Gärten von unten wie aufgehängt wirken, dachte Althea. Es roch sehr frisch hier, überall tröpfelte es aus Felsspalten hervor. Die Wassertropfen wurden von einer am Felsen entlanglaufenden, steinernen Rinne aufgefangen.

Sie erblickte mehrere Dutzend Hochbeete, die Umfassungen dicht geflochten aus Schilfrohr und bestückt mit allen möglichen Kräutern. Auch Gemüse war darunter, staunte sie. Kaum jemand in der Stadt baute Gemüse selbst an, es wurde in den umliegenden Senken angebaut und auf den vielen Märkten der Stadt verkauft. Es musste eine besondere Bewandtnis damit haben.

Des weiteren gab es viele Bäume, besonders Weiden und Nadelbäume, von denen sie die Namen nicht wusste. Sie wirkten etwas deplatziert und hässlich, denn um sie herum wuchs nichts, und die unteren Zweige fehlten. Althea wunderte sich, wozu das wohl gut sein sollte. Gespannt folgte sie ihrer Tante.

Naluri ging zügig auf die Gebäude zu, die sich um einen großen, u-förmigen Hof gruppierten. Bänke standen in geschützten Nischen, auf denen auch heute einige Kranke in der warmen Herbstsonne saßen, und es gab sehr viele Blumen und einen Springbrunnen, der beruhigend vor sich hinplätscherte. Staunend blieb Althea davor stehen. Die Figur auf dem Brunnen, eine Frau, wirkte sehr lebensecht. Sie stand in einem Tor und hielt die Hände von mehreren Verwundeten, die sich an ihre Hand klammerten. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Leid, aber auch Güte ab. Sie trug ein weites Gewand, wie es Althea noch nie zuvor gesehen hatte.

„Das ist die hl. Asklepia“, erklärte Naluri. „Wenn Zeit ist, wird dir die ehrwürdige Mutter sicherlich die Legende erzählen. Doch nun komm mit.“

Althea folgte ihrer Tante in den Innenhof des Gebäudes. Die Kranken grüßten die verschleierte Frau ehrfürchtig, wurden doch alle festen Ordensmitglieder vom Volke besonders verehrt. Naluri stieg eine kurze Treppe hoch und gelangte zu einem Gang, von dem nur eine Tür abging. Naluri sah ihre Nichte streng an. „Dies ist der Empfangsraum von Klesa, der ehrwürdigen Mutter des Ordens. Benimm dich!“ Sie klopfte an, und eine tiefe Stimme rief sie herein.

Als sie den Raum betraten, staunte Althea nicht schlecht. An den Wänden war eine Unmenge an Holzfächern angebracht, in denen Hunderte von Schriftrollen lagen und eine wohl noch größere Anzahl an Büchern stand. Es mussten fast so viele sein wie in Menos Archiv! Sie war so von dem Anblick gefesselt, dass sie die kleine, weißhaarige Frau mit dem gütigen Gesicht, die hinter einem Schreibpult stand, erst wahrnahm, als Naluri sie anstieß. Nun staunte sie noch mehr: Die Frau hatte kurze Haare!

Naluri nahm ihren Schleier ab. Die Frau kam auf sie zu und verbeugte sich vor der Königin. „Euer Majestät, was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?“ Sie warf einen neugierigen Blick auf Althea und dachte: ‚Sieh an, das kann nur Meister Thoralds Tochter sein.’

„Ehrwürdige Mutter, ich muss Euch um Hilfe bitten“, setzte Naluri an.

Doch diese hatte sie aufmerksam angesehen und ihre Hand ergriffen. „Ihr habt starke Kopfschmerzen, das sehe ich Euch an. Ich werde eine Schwester bitten, Euch ein Mittel zu geben. Aber dafür habt Ihr mich doch nicht nur deswegen aufgesucht, nicht war?“ Sie führte Naluri sanft zu einem bequemen Stuhl. Althea blieb, wo sie war.

„Nein, meine Kopfschmerzen haben eine Ursache.“ Sie deutete mit dem Kopf auf das Mädchen. „Das ist meine Nichte Althea, die Tochter von Meister Thorald. Ich habe ihm versprochen, mich stärker um ihre Erziehung zu kümmern, aber ich muss gestehen, dass ich mit meiner Weisheit am Ende bin. Wir haben seit einer Woche nur noch Streit im Hause.“

„Komm her, Kind.“ Althea gehorchte. Klesa nahm ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. „Warum machst du deiner Tante solchen Kummer? Siehst du denn nicht, dass sie es schon schwer genug hat?“

Althea senkte beschämt den Kopf. „Ich kann einfach nicht so brav sein wie die anderen Mädchen. Ständig geht alles schief“, schniefte sie, denn ihr kamen wieder die Tränen, wohl zum größten Teil aus Ärger über sich selbst.

Klesa lachte auf. „Wisst Ihr, Majestät, sie erinnert mich an ein anderes Mädchen in ihrem Alter, das genauso war.“ Naluri sah sie an. Lang vergessene Erinnerungen kamen an die Oberfläche. Die ehrwürdige Mutter nickte, als Naluri zu begreifen begann. „Kaum zu bändigen und wild wie ein Junge. Aber das hat sich geändert, als wir uns ihrer angenommen hatten, nicht wahr? Ihr wollt nun, das wir dasselbe mit Althea machen?“

„Nur nachmittags, mehr kann ich Euch wahrlich nicht zumuten“, lenkte Naluri ein. Klesa konnte man so leicht nichts vormachen. „Vormittags wird sie zusammen mit Phelan von ihrem Vater unterrichtet. Dann ist es Euch also recht?“ Sie schloss erleichtert die Augen.

Mitfühlend drückte die alte Heilerin ihre Hand. „Wir werden Euch jetzt erstmal in eine Krankenkammer bringen, wo Ihr ein paar Stunden ruhen könnt. Dann geht es Eurem Kopf bestimmt besser.“ Naluri nickte nur und zog ihren Schleier wieder über. Klesa tat dasselbe, nur dass ihrer nicht blau, sondern weiß war. Gemeinsam verließen sie den Raum. Rasch brachte sie die Königin zu einer abgelegenen, ruhigen Kammer, in der eine schlichte Liege stand. Der herbeieilenden Schwester erteilte sie ein paar knappe Anweisungen, dann bedeutete sie Althea, ihr zu folgen.

„So, und jetzt werden wir beide uns einmal richtig unterhalten“, sagte sie und setzte sich mit Althea auf eine freie Bank. Althea schaute untypisch scheu zu ihr auf.

„Wie du sicherlich weißt, sind wir ein Orden, der sich der Pflege und Heilung von verwundeten und kranken Menschen verschrieben hat. Unsere Frauen arbeiten hart von morgens bis abends, um der Flut der Notleidenden einigermaßen gewachsen zu sein. Wir können daher keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Unartigkeiten von dir nehmen. Entweder du akzeptierst das und gehorchst unseren Anweisungen, oder du wirst wieder gehen. Hast du das verstanden?“

Althea nickte. Ihr wurde unbehaglich zumute. Klesa sah es und fuhr etwas milder fort: „Du erhältst hier die Gelegenheit, das umfangreiche Wissen einer Heilerin zu erwerben. Diese Möglichkeit haben wahrlich nicht viele Mädchen in dieser Stadt, daher solltest du dies zu würdigen wissen.“

Althea sah mit großen Augen zu ihr auf. „Ich soll eine Heilerin werden?“, fragte sie ungläubig.

„Kind, warum bist du sonst hier? Außerdem, deine Mutter war eine sehr begabte Heilerin, und es besteht die Möglichkeit, dass du ihr Talent geerbt hast. Die Gelegenheit, das herauszufinden, wollen wir uns doch nicht entgehen lassen, nicht wahr?“

„Ihr habt meine Mutter gekannt! Sie war das Mädchen, von dem Ihr vorhin geredet habt!“ Nun sah die Sache ganz anders für sie aus. Hier gab es bestimmt noch mehr Frauen, die mit ihrer Mutter hier gelebt hatten und ihr mit Sicherheit eine Menge berichten konnten. Althea sah Klesa feierlich an. „Ich werde Euch bestimmt nicht enttäuschen, das verspreche ich.“

Die alte Frau drückte Althea kurz an sich. Wie ihre Augen bei der Erwähnung der Mutter geleuchtet hatten, dachte sie traurig. Sie stand auf. „Nun, dann komm, ich bringe dich zu Meda. Sie wird sich deiner annehmen.“

Sie nahm Althea an die Hand und ging mit ihr in die gegenüberliegende Ecke des Innenhofes, von wo mehrere Gänge abzweigten. Sie gelangten in einen großen Raum, in dem es wunderbar nach allen möglichen Kräutern duftete. Um einen großen Tisch in der Mitte standen einige Ordens- und Laienschwestern herum und verarbeiten fröhlich plaudernd die dort angehäuften Kräuter. Sie grüßten ihre Ordensvorsteherin, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Diese winkte eine Frau mit vollständigem Schleier zu sich, die mit einer anderen Schwester und einer Liste in der Hand die Vorräte durchging.

„Meda, dies ist Althea, Amayas kleine Tochter.“ Augenblicklich verstummten die Gespräche der anderen Frauen. Die älteren Frauen hatten sich abrupt in Altheas Richtung gewandt, während die jüngeren sich fragend ansahen.

Die Ordensvorsteherin war sich der Wirkung ihrer Worte wohl bewusst. „Sie wird ab heute jeden Nachmittag bei uns sein. Würdest du sie bitte einteilen?“

Lange Zeit sagte niemand etwas, doch schlagartig prasselte ein Sturm von Worten auf Althea ein. Jede der älteren Frauen wollte sie genauer betrachten, die jüngeren drängten neugierig nach. Sie versteifte sich sofort und wich ein wenig zurück.

„Nun ist es aber genug, ihr macht der Kleinen ja Angst!“ Meda klatschte in die Hände und scheuchte die Frauen zurück an den Tisch. „Ihr werdet noch genug Gelegenheit haben, sie näher kennenzulernen. Du kommst erstmal mit mir, einverstanden?“ Meda fasste sie bei der Hand und zog sie von der ehrwürdigen Mutter weg.

Sie schlug ihren Schleier zurück, um Althea ihre Scheu zu nehmen, und lächelte sie warmherzig an. „Die Frauen haben sich so manches Mal gefragt, wann sie dich endlich zu uns bringen. Da bist du nun also. Tja, dann werde ich mir heute Abend wohl etwas überlegen müssen, wie wir dich am besten einteilen. Aber nun, du kannst doch sicherlich lesen und schreiben?“

Althea nickte und bekam gleich darauf die Liste in die Hand gedrückt. „Gut, du notierst links die Namen der Kräuter und rechts die Anzahl der Päckchen, so wie Netis es bereits getan hat. Wir sagen dir zu zweit an, so sind wir schneller mit unserer Bestandsaufnahme durch, verstanden?“ Die zweite Heilerin, eine ältere, mütterlich wirkende Frau, lächelte ihr warm zu. Althea fasste sofort Zutrauen zu ihr und erwiderte es. Geschwind zog sie sich einen Schemel heran, legte die Liste darauf und begann, die Mengen zu notieren.

Abends lag sie vollkommen erschöpft im Bett. Thorald hörte ihren Erzählungen zu, das Buch der tausend Geschichten blieb wieder einmal geschlossen. „Es ist nicht langweilig wie bei Tante Naluri, ich kann dort wirklich etwas tun und ..“, sie suchte nach Worten, „.. irgendwie nützlich sein. Meine Cousinen sind nicht nützlich, sie sind einfach nur da“, stellte sie sachlich fest.

Thorald schmunzelte in sich hinein. Das war eine sehr treffende Charakterisierung vieler Mädchen hoher Abstammung in diesem Land. „Dann hast du wohl deine Berufung entdeckt.“ Er gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn und löschte das Licht.

Die folgenden Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Althea konnte das Ende des Unterrichts bei ihrem Vater kaum abwarten, schlang noch schnell ihr Mittagsmahl herunter und war schon über die Straße in den Häusern der hl. Asklepia verschwunden. In ihrer Eile entging ihr völlig, dass Phelan zunehmend blasser und einsilbiger wurde. Thorald warf ihm häufiger besorgte Blicke zu, aber der Junge schwieg sich aus.

Nach dem Unterricht machte sich Phelan stets missmutig auf den Weg in die Heerschule. Hatte er anfangs noch dem Unterricht mit großer Erwartung entgegengesehen, war ihm die Lust bald vergangen. Die anderen Jungen waren alle ein bis zwei Jahre älter als er, und die Tatsache, dass er vormittags nicht mit den anderen unterrichtet wurde, machte die Sache nicht einfacher. Ständig wurden ihm Streiche gespielt, seine Sachen verschwanden und tauchten auf wundersame Weise woanders wieder auf.

Da Bajan mit seinen Kundschaftern auf Expedition war, wurden sie von einem Hauptmann unterrichtet, der aus seiner Abneigung gegen Söhne adeliger Eltern keinen Hehl machte. Doch Phelan war nicht bereit, so ohne Weiteres aufzugeben. So hatte er schon manchen der Jungen durch geschickte Kniffe und Würfe in den Sand des Hofes geschickt, wenn diese ihn wieder einmal zu sehr ärgerten. Damit fing er sich aber auch Bestrafungen seines Lehrers ein, was wiederum den Spott seiner Mitschüler hervorrief.

Phelan schnaubte verächtlich, als er die Straße zur Heerschule hinunterlief. Dabei waren die anderen Jungen weniger klug als er, das hatte er sofort gemerkt. Er war ihnen dank Meister Thoralds Unterricht im Wissen weit voraus, und im geschickten Taktieren, dem Erfinden von Strategien und neuen Wegen schlug er sie um Längen. Dies hatte auch der Lehrer bereits bemerkt und zollte ihm dafür, wenn auch widerwillig, Anerkennung. Leider wurde dadurch die Kluft zu den anderen nur noch größer. Aber vielleicht muss das so bei einem Königssohn sein, dachte Phelan resigniert.

Heute sammelten sie sich vor dem Tor der Heerschule. Es war eine Lektion im Spurenlesen angesetzt, was bedeutete, dass sie vor die Stadt ziehen würden. Aufgeregt redeten die Jungen durcheinander. Ein besonders großer Junge namens Rynan stieß seine Kameraden an. „Schaut, da kommt Seine Majestät“, spottete er und verbeugte sich übertrieben. Die anderen Jungen lachten. Es war ein Fehler gewesen, seine genaue Herkunft zu verschweigen, das hatte Phelan sehr schnell gelernt. Er hatte den anderen lediglich gesagt, dass er in der Festung wohnte, mehr nicht. Ausgerechnet diese Zurückhaltung nahmen sie nun als Anlass zum Spott, sie dachten, er wolle angeben. Nun saß er in der Klemme und wusste nicht, wie er dort wieder herauskommen sollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu wehren, so gut er konnte.

Doch er bekam keine Gelegenheit mehr, etwas Passendes zu erwidern, denn das Tor schwang auf und der Hauptmann erschien. Sie reihten sich zu zweit hinter ihm ein und folgten ihm aus der Stadt. Phelan stapfte wütend einher. Immer wieder war es Rynan, der ihn ärgerte. Ohne ihn wäre es viel besser in der Gruppe, aber die anderen trauten sich in seiner Gegenwart nicht, freundlich zu ihm zu sein. Ein Junge hatte es einmal gewagt, hatte dafür aber von Rynan böse Prügel bezogen.

Phelan fragte sich wohl schon zum hundertsten Mal, warum Rynan so einen Hass auf ihn hatte. Lag es daran, dass Rynans Vater wegen eines Händels aus der Palastwache ausgeschlossen worden war? Das hatte Yola ihm erzählt. Möglich wäre es. Vertieft in seine Überlegungen merkte er zu spät, dass sie bereits vor der Stadt waren und der Hauptmann ihm eine Frage zu einem Hufabdruck gestellt hatte. Phelan schreckte auf, aber der Hauptmann hatte bereits verächtlich die Frage an Rynan weitergereicht. Dieser beantwortete sie mit einem triumphierenden Blick auf Phelan.

Den ganzen Nachmittag untersuchten sie die Spuren von Tieren und Menschen. Phelan bekam bald die Gelegenheit, seinen Schnitzer vom Anfang wieder wettzumachen. Ratlos standen die Jungen vor einem Fußabdruck, der tief in den Schlamm bei einer Wasserstelle gegraben war.

„Wie alt ist dieser Abdruck?“, fragte der Hauptmann in die Runde. Die Jungen schwiegen. Phelan schaute auf die Sonne und bemerkte, dass der rechte Rand des Fußabdruckes bereits wesentlich stärker eingetrocknet war als der linke.

„Er ist heute Vormittag vor der zehnten Stunde entstanden“, sagte Phelan als Erster.

„Begründe deine Annahme“, forderte der Hauptmann ihn auf.

„Der rechte Rand ist stärker getrocknet als der linke, also muss die Sonne schon einige Zeit vor dem Mittag darauf geschienen haben. Er kann aber auch nicht zu früh entstanden sein, denn morgens werden die Tiere hier getränkt. Sie hätten ihn zertrampelt.“

Der Hauptmann war beeindruckt. „Sehr gut, ich selbst habe diesen Abdruck heute Vormittag kurz vor der zehnten Stunde gemacht. Nehmt euch ein Beispiel an Phelan und achtet stets auf das Wetter und die Sonne, das erleichtert es euch, die Spuren richtig zu lesen!“

Da wurden laute Rufe vor dem Stadttor laut. Der Hauptmann schaute beunruhigt auf die aufgeregte Menge. Männer der Stadtwache erschienen. „Ich sehe mal nach, was dort los ist. Ihr bleibt hier. Und keine Dummheiten, verstanden?“ Die Jungen standen stramm.

Doch kaum war der Hauptmann gegangen, spottete Rynan auch schon los: „Nehmt euch ein Beispiel an Eurer Majestät, dem Besserwisser!“ Alle lachten.

Phelan zögerte nicht und trat ihm mit einem gezielten Tritt die Beine weg. Schmerzhaft landete Rynan mit seinem Hintern auf dem staubigen Boden. Ein wütendes Glitzern stand in seinen Augen. Hämisch grinsend fasste er in seine Tasche und holte einen kleinen Gegenstand heraus. Es war Phelans Federmesser, das er seit einigen Tagen vermisste. „Gib das sofort her!“ Phelan wollte sich auf Rynan stürzen, wurde aber von zwei anderen Jungen festgehalten.

„Mal sehen, wie du mit dieser Aufgabe fertig wirst!“, rief Rynan und warf das Messer in hohem Bogen auf einen großen Haufen Felsquader, die vor der Stadt bis zu ihrer Verarbeitung lagerten. Klappernd fiel es in eine Spalte.

Phelan riss sich los und kletterte unter den spöttischen Rufen der anderen Jungen auf den Haufen. Verzweifelt schaute er in die Spalten zwischen den Quadern. Das Messerchen bedeutete ihm sehr viel, es war ein Geschenk seiner Mutter.

Rynan baute sich vor dem Haufen auf. „Arme Majestät, manche Aufgaben sind wohl doch zu viel für dich!“

Plötzlich sah Phelan etwas in einer Spalte glitzern. Er lehnte sich weit vor und streckte seinen Arm hinein. Triumphierend zog er sein Messer hinaus. Die anderen Jungen jubelten, nur Rynan war das Lachen vergangen. Phelan wollte gerade zu einer passenden Erwiderung ansetzen, als er merkte, wie die Steine unter ihm in Bewegung gerieten. „Zurück!“, rief er und versuchte vergebens, das Gleichgewicht zu halten. Doch es war zu spät, der Haufen geriet ins Rutschen. Phelan schaffte es gerade noch, sich mit einem Sprung in sichere Entfernung zu retten. Geschickt rollte er sich ab und wollte schon in Gelächter ausbrechen, als er einen schmerzhaften Schrei hinter sich hörte. Rynan lag auf dem Boden, das Bein unter einem großen Felsquader begraben.

Schnell liefen die Jungen hin und versuchten, den Brocken von Rynan herunterzuschieben, aber er war zu schwer. Rynan stöhnte bei jeder Bewegung gequält auf. „So geht es nicht!“, rief ein Junge verzweifelt.

Phelan zögerte nicht. „Schnell, holt uns von dort hinten zwei dicke Balken, macht schon!“, trieb er die Jungen an. Es war ihm egal, wie wertvoll sie eigentlich waren, jetzt galt es, Rynan zu helfen. Sie rannten los, während er neben Rynans Bein mit seinem Messer ein Loch unter den Quader grub.

Die Jungen kamen keuchend mit zwei schweren Balken angelaufen. „Wozu soll das gut sein?“, rief einer von ihnen.

„Hast du noch nie etwas von Hebelwirkung gehört?“ Phelan verdrehte ungeduldig die Augen, wies dann aber die Jungen an, einen Balken quer vor das Loch zu legen. Zwei Jungen bedeutete er, Rynan unter die Arme zu fassen.

„Wenn wir den Quader anheben, zieht ihr ihn ganz schnell raus!“ Niemand wagte Phelan zu widersprechen. Er platzierte den anderen Balken in dem Loch, und die übrigen Jungen drückten ihn am anderen Ende mit aller Kraft nach unten. Der Quader hob sich etwa eine Handbreit, rollte dann aber wieder zurück. Rynan schrie gequält auf. Phelan schob den Balken weiter in das Loch. „Noch mal!“, trieb er sie an. Diesmal gelang es ihnen, den Quader so weit anzuheben, dass die Jungen Rynans Bein darunter hervorziehen konnten.

Erstaunt sahen die Jungen auf Phelans Werk. Dieser hatte sich jedoch bereits daran gemacht, das Bein von Rynan zu untersuchen. „Es ist gebrochen“, stellte er fest. „Wir brauchen eine Trage .. und holt den Hauptmann.“ Niemand stellte seine Anordnungen infrage.

Kurze Zeit später kam ein wütender Hauptmann mit zwei Wachen und einer Trage zurück. „Euch kann man aber auch keinen Moment allein lassen!“, polterte er los, beugte sich dann aber besorgt über Rynan. Sein Blick streifte die Balken und richtete sich dann auf Phelan. „Das ist bestimmt dein Werk, nicht wahr?“

Phelan nickte unglücklich. „Ich bin auf den Haufen geklettert, und er ist unter mir ins Rutschen gekommen. Es war meine Schuld, ich hätte vorsichtiger sein müssen.“

Der Hauptmann wollte gerade zu einer scharfen Rüge ansetzen, als er von unten eine gequälte Stimme vernahm. „Nein, es ist meine Schuld, ich habe ihn dazu angestiftet. Phelan hat mich gerettet.“ Rynan sah den Hauptmann flehentlich an.

Dieser seufzte ungeduldig. „Nun, wir bringen dich erstmal in die Häuser der hl. Asklepia. Ihr anderen seid für heute entlassen.“ Die Jungen machten sich bedrückt auf dem Heimweg, aber Phelan hielt der Hauptmann streng zurück. „Du kommst mit uns, es liegt eh auf deinem Weg.“

Die Soldaten legten Rynan vorsichtig auf die Trage, hoben sie an und folgten dem Hauptmann durch die Stadt den Berg hinauf. Phelan lief voraus und läutete die Glocke am Tor zu den Häusern der hl. Asklepia.

Die Tür wurde von Althea geöffnet. Als die Schwestern gemerkt hatten, wie flink und schnell sie war, hatten sie ihr gleich zu Anfang die Aufgabe übertragen, beim Läuten der Glocke die Tore zu öffnen und die Leute in Empfang zu nehmen. Auf diese Weise hatte sie schnell gelernt, welche Schwestern in welchen Bereichen der Häuser zuständig waren und wen sie wann zu holen hatte. Für den steten Strom der Heilssuchenden und ihrer Besucher war das kleine, merkwürdig aussehende Mädchen schon bald ein gewohnter Anblick geworden.

„Hallo Phelan, was machst du denn hier? Bist du krank?“, fragte sie belustigt. Dann jedoch fiel ihr Blick auf die Männer mit der Trage, die gerade um die Ecke bogen. „Oh, kommt herein, ich hole schnell Schwester Meda.“ Eilig machte sie sich auf die Suche, während die Männer die Trage in den Vorhof trugen.

Umgehend kam sie mit Meda zurück. Diese wies die Männer an, den Jungen in einen Behandlungsraum zu bringen. Vorsichtig untersuchte sie Rynans Bein. Er wurde immer unruhiger vor Schmerzen. Althea sah es, nahm seine Hand und drückte sie. „Ganz ruhig, du brauchst keine Angst haben. Sie wird dir gleich etwas gegen die Schmerzen geben, dann merkst du nichts mehr.“ Rynan schloss dankbar die Augen.

Meda wurde erst jetzt bewusst, dass die Kinder noch im Raum waren. Althea hatte bis jetzt noch nicht an der Behandlung von Patienten teilnehmen dürfen, aber da sie so beruhigend auf den Jungen einwirkte, entschloss sich Meda dazu, dass sie bleiben durfte und der Sohn der Königin auch, denn er war offensichtlich der Freund des Patienten.

Meda murmelte vor sich hin: „Mohnsaft für das Richten und später etwas Weidenrindentee .. Althea, lauf bitte schnell in die Kräuterkammer und lass dir von den Schwestern Mohnsaft für einen ..“, sie schätzte den Jungen ab, „Halbwüchsigen geben. Den Tee brauchen wir erst später.“ Althea nickte, winkte Phelan zu sich und bedeutete ihm, Rynans Hand zu nehmen.

Phelan hatte keine Zeit zu widersprechen, denn Schwester Meda begann das Bein abzutasten, woraufhin Rynan sich an seiner Hand festklammerte. „Halt ihn fest, Phelan“, wies Meda ihn an, „er darf sich nicht bewegen.“ Phelan tat wie geheißen, während sie die Untersuchung fortsetzte. Rynan versuchte, sich vor Schmerzen hin und her zu werfen, deshalb musste Phelan alle seine Kraft aufwenden, um ihn ruhig zu halten.

Dankbar überließ er diese Aufgabe einer anderen Schwester, die gleich darauf mit Althea zur Tür hereinkam. Gemeinsam schafften sie es, Rynan zur Einnahme des Mohnsaftes zu bewegen. Es dauerte qualvoll lange, aber endlich war Rynan eingeschlafen.

Was jetzt folgte, daran mochte Phelan später nur ungern zurückdenken. Während er und Althea das gebrochene Bein mit aller Kraft nach vorne ziehen mussten und die andere Schwester den Gegenzug am Knie ausübte, richtete Meda die Knochen wieder ein. Es knirschte fürchterlich. Schließlich lag das Bein geschient und verbunden vor ihnen.

„Zum Glück ist es nur ein einfacher Bruch“, sagte Meda. „Er wird es wieder normal gebrauchen können. Gut gemacht, Kinder, ihr ward mir eine große Hilfe.“ Althea war stolz, sie hatte ihren ersten Patienten behandelt. Phelan dagegen war noch etwas blass um die Nase. Meda wollte ihn trösteten. „Übermorgen, wenn die Wirkung des Mohnsaftes gänzlich nachgelassen hat, darfst du deinen Freund besuchen, einverstanden?“

Phelan nickte und ließ sich von Althea in den Garten ziehen, während die Schwestern sich weiter um den Jungen kümmerten. Gleich darauf waren aufgeregte Stimmen zu hören. Seine Eltern waren wohl eingetroffen.

„Erzähl, was ist passiert?“, wollte Althea wissen, doch Phelan gab sich verschlossen.

„Es war ein Unfall“ sagte er nur. Er musste noch über zu viel nachdenken, als dass er ihr schon einen Bericht abliefern konnte. Außerdem hatte er eben gemerkt, dass seine kleine Cousine offensichtlich gut ohne ihn klarkam, und das passte ihm gar nicht.

Althea war ärgerlich. „Sag mal, willst du nicht mehr mit mir reden?“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. Irgendetwas hatte sich in den letzten Wochen zwischen ihnen verändert, das spürte sie genau.

‚Sei nicht unfair, sie kann ja nichts dafür’, dachte Phelan. „Hör mal, ich muss noch etwas in der Heerschule erledigen. Morgen ist Herrentag, treffen wir uns in unserer Kammer?“

‚Er weicht mir aus’, dachte Althea verletzt, als Phelan ins Haus zurücklief. Verwundert sah sie ihm nach. Schließlich zuckte sie unwirsch mit den Schultern. Sollte er doch schlechte Laune haben, sie würde sich davon gewiss nicht anstecken lassen! Schnell lief sie in die Häuser zurück, denn die Türglocke läutete erneut.

Am nächsten Morgen tauchte ein völlig unausgeschlafener Phelan im Wohntrakt von Altheas Zuhause auf. Die ganze Nacht lang hatte er schlaflos über die Ereignisse nachgedacht und war am Morgen aus dem Haus entkommen, noch bevor Yola ihn für den Gang zum Tempel erwischen konnte. Am Tag des Einen Herrn, der einmal in der Woche war, ruhte alle Arbeit, und alle Frauen und Mädchen hatten traditionell den Einen Tempel oder einen der zahlreichen anderen Schreine und Tempel in der Stadt zum Gebet aufzusuchen. Für Männer galt diese Regel nur bedingt. Schließlich hatten viele anderweitige Pflichten. Böse Zungen behaupteten, viele nutzten die Gelegenheit, lieber eine Schenke zu besuchen, deshalb hieß dieser Tag im Volksmund einfach nur ‚Herrentag’. Ganz so schlimm war es jedoch nicht, auch die Männer folgten dem Ruf der Mönche zahlreich.

Das galt jedoch nicht für die Familie des Temorers. Sie saß gerade beim Frühmahl, aber Thorald erlaubte Althea, gleich mit Phelan zu gehen, nicht jedoch ohne sie zu ermahnen, auf dem Gelände des Hauses zu bleiben.

Schnell schlichen sie in ihren Raum. Althea blieb in der Tür stehen und sah ihren Cousin, der missmutig in einem Haufen hölzerner Übungswaffen wühlte, abschätzend an. „Willst du mir nicht endlich sagen, was passiert ist?“

Phelan antwortete nicht, sondern warf ihr nur wortlos einen Speer und einen Schild zu. Unwirsch wies er sie an, die Grundstellung einzunehmen. Sie übten etwa eine halbe Stunde verbissen, und Althea fand, dass sie sich gar nicht schlecht schlug, aber Phelan hatte immer wieder etwas an ihrer Haltung auszusetzen.

Schließlich warf Althea beides frustriert in die Ecke. Langsam wurde sie richtig wütend. „Du hast doch irgendetwas! Warum erzählst du mir nicht, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, anstatt das an mir auszulassen?“, fauchte sie ihn an.

„Das geht dich gar nichts an! Warum gehst du nicht wieder zu deinen Schwestern und lässt dich dort loben, anstatt mir auf die Nerven zu gehen?!“ Wütend hieb Phelan seinen Speer in einen Schild. Es splitterte.

Althea schaute ihn schlau an. „Ach so ist das also, es läuft wohl nicht so gut in der Heerschule für dich. Du bist neidisch auf mich, weil mich die Schwester gelobt hat.“ Phelan fuhr mit blitzenden Augen zu ihr herum, aber Althea konnte es nicht lassen, in der Wunde zu stochern. „Passt es dir etwa nicht, dass du nicht mehr der Einzige bist, der mir etwas beibringt, sondern dass ich etwas anderes lerne, wovon du nichts verstehst, verehrter großer Herr Cousin?“ Die letzten Worte hatte sie fast ausgespuckt.

Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich Phelan auf Althea. Da sie fast gleich groß und stark waren, war das Kräfteverhältnis mehr als ausgeglichen, und sie rangen geraume Zeit miteinander. Schließlich hatte sich Althea auf seine Beine gesetzt und drückte seine Arme auf den Boden. Phelan versuchte, sich mit einem wütenden Keuchen zu befreien, aber das war gar nicht so einfach. Schließlich schaffte er es, seine Beine unter ihr hervorzuwinden.

Althea merkte, was er vorhatte, und wollte sich noch zur Seite werfen, aber da stieß er sie auch schon mit beiden Füßen von sich. Sie wurde zurückgeworfen und prallte schmerzhaft gegen die hintere Wand. Für kurze Zeit schwanden ihr die Sinne, und sie dachte, dass das schabende Geräusch, das sie hörte, und die anschließende Dunkelheit wohl durch den Schlag auf ihren Kopf entstanden waren.

Erst, als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, bemerkte sie, dass etwas entschieden nicht stimmte. Sie konnte nichts sehen, und es war kalt und feucht und roch irgendwie muffig. Staubig. Sie nieste. Vorsichtig tastete sie um sich und griff in einen Haufen Spinnweben. Etwas Großes krabbelte über ihre Hand. Mit einem Aufschrei fuhr sie zurück und presste sich an die Wand.

Phelan saß völlig verdattert vor einer leeren Wand. Nur langsam begriff er, dass Althea verschwunden war. Dort, wo vorher noch nackter Stein gewesen war, hatte er jetzt einen über und über mit Spinnweben bedeckten Teil vor sich. Auf dem Boden vor der Wand war ein Halbkreis zu sehen. Überall war Staub in der Luft, so sehr, dass er husten musste. Dann hörte er ihren Schrei. Angstvoll rappelte er sich auf und begann, nach ihr zu rufen.

Als keine Antwort kam, schlug er mit der flachen Hand gegen die Mauer. Althea drückte ihr Ohr von der anderen Seite dagegen. Jetzt konnte sie ihn wie aus weiter Ferne rufen hören. „Bleib, wo du bist!“, schrie er laut. Zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, klopfte sie ihr Zeichen von der Gartentür.

Phelan setzte sich zurück. Er begann, fieberhaft zu überlegen, und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie Althea gefallen war. Offensichtlich hatte sie dabei einen Mechanismus ausgelöst, der die Wand in Bewegung brachte. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und ging dann ihre Haltung nachahmend rückwärts an die Wand.

Als er sich wieder umdrehte, fiel ihm auf, dass an drei Steinen, die ziemlich genau die Lage ihres Kopfes und ihrer Hände beim Sturz entsprachen, die Spinnweben nicht ganz so verstaubt wirkten. Vorsichtig drückte er die Stellen und merkte, wie sie unter seinen Fingern nachgaben.

Er sprang zurück, denn die Wand begann sich mit demselben knirschenden Geräusch zu drehen wie vorhin. Gleich darauf saß eine weinende, völlig in Panik geratende Althea vor ihm. Schützend nahm er sie in die Arme, alle Wut war vergessen. „Es tut mir so leid“, flüsterte er und wiegte sie tröstend. Bald darauf hatte sie sich wieder beruhigt.

Phelan setzte sich neben sie an die Wand und beichtete ihr, warum er so wütend gewesen war. Nichts ließ er aus.

„Ich geh zu Rynan und sage ihm, wenn er dich weiter so ärgert, dann sorge ich dafür, dass er noch Monate im Bett bleiben muss.“ Althea war schon fast wieder die Alte und lächelte ihn verweint an.

Vorsichtig wischte er ihre Tränen mit einem Tuch ab. „Nein, das brauchst du nicht. Ich werde ihn morgen einfach erst einmal besuchen. Mal sehen, was er so sagt. Ich glaube, dass ich ihn befreit habe, hat ihn mächtig beeindruckt, auch wenn er sich eher die Hand abhacken würde, als das zuzugeben.“

„Kluger Phelan!“, lächelte Althea. Dann sprang sie auf. „Was meinst du, wohin die Geheimtür führt?“, rief sie aufgeregt. „Als ich geschrien habe, gab es ein mächtiges Echo. Es klang, als ginge es dort noch viel weiter.“ Sie wollte schon wieder den Mechanismus drücken, aber Phelan hielt sie, besonnen, wie er war, zurück.

„Nein warte, du weißt nicht, was uns dahinter erwartet. Wir brauchen Licht, mindestens ein Seil und eine lange Schnur, damit wir wieder zurückfinden. Ich glaube es einfach nicht!“ Aufgeregt sah er Althea an. „Jetzt wissen wir wenigstens, warum der Raum hier mit der Säule verbaut worden ist und von niemandem mehr betreten werden kann.“

„Ob Currann seine kleinen Fackeln und die Schlagsteine mitgenommen hat?“, fragte Althea.

„Nein, hat er nicht. Ich war in seiner Kammer, als er weg war.“ Phelan grinste. Das würde Currann gewiss nicht gefallen.

Beide hoben den Kopf, als sie Lusela von draußen zum Essen rufen hörten. „Geh essen, ich laufe schnell nach Hause und hole die Sachen.“ Vorsichtig blickte er durch die Tür und sah Lusela wieder in die Diele gehen. „Los, die Luft ist rein. Bis gleich.“ Schon war er verschwunden.

Lusela war ärgerlich, denn sowohl Althea als auch Thorald und Meno verspäteten sich. „Was kann an Büchern so wichtig sein, dass man das Essen vergisst?“, schimpfte sie. Althea war viel zu aufgeregt, als darauf einzugehen, und musste all ihre Konzentration zusammennehmen, um dem Gespräch bei Tisch folgen zu können.

Schließlich durfte sie gehen, während die Erwachsenen noch bei einem Becher ihres geliebten Kaffees beisammensaßen. Ungeduldig wartete sie in ihrem geheimen Raum auf Phelan.

Er brauchte über eine Stunde, bis er keuchend vor Anstrengung wieder erschien, im Arm ein langes Seil und eine Decke, in die ein länglicher Gegenstand eingeschlagen war. „Ich konnte kein Seil finden und habe mir eines bei den Wachen geliehen. War gar nicht so einfach, sie wollten genau wissen, wofür und weshalb.“ Althea hielt einen Besen in der Hand. „Wofür brauchst du den denn?“, fragte Phelan belustigt.

„Da drinnen ist alles voller Spinnweben“, ekelte sich Althea. „Ich mache sie damit weg. Außerdem sieht man sonst, wo der Eingang ist.“

„Stimmt, aber ich für meinen Teil bevorzuge lieber das hier“, sagte Phelan und rollte die Decke auseinander.

„Das ist dein Schwert!“, entfuhr es Althea. Es war äußerst kostbar, und er durfte es eigentlich nie tragen.

„Besser so, als wenn es in einer Truhe verrottet.“ Phelan zuckte mit den Schultern und band sich den Schwertgurt um. Feierlich sahen sie sich an. „Na, dann mal los!“ Phelan zündete die Fackel an, bedeutete Althea zurückzutreten, und drückte den Mechanismus.

Aufmerksam sah Althea zu, wie sich die Tür öffnen ließ, und merkte sich die Anordnung der zu drückenden Steine genau. Umsichtig reinigte sie das herumgedrehte Stück Wand von den Spinnenweben, sodass man es nicht mehr von der restlichen unterscheiden konnte.

Dann drückten sie noch einmal und drehten sich mit der Wand nach innen. Sie standen in einem niedrigen Gang, der gerade groß genug war, dass ein groß gewachsener Mensch wie Thorald aufrecht darin stehen konnte. Er war über und über mit Spinnweben bedeckt.

„Uähh!“, machte Phelan „Dein Besen ist wohl doch nützlicher als mein Schwert. Wohin zuerst?“ Er wollte Althea die Wahl lassen, schließlich hatte sie den Gang entdeckt.

Althea deutete nach rechts. „Dort liegen die Häuser der hl. Asklepia. Wäre es nicht spannend, wenn auch sie einen Zugang hätten?“ Sie hob den Besen, aber Phelan hielt sie zurück.

„Zuerst sichern wir uns mit einem Seil“, wies er sie an und band ihr geschickt das eine Ende um. Das andere befestigte er an seinem Schwertgurt. Den Faden allerdings steckte er weg. „Solange wir uns den Weg durch Spinnweben bahnen müssen, wissen wir immer, wo wir langgegangen sind“, erklärte er.

Langsam arbeiteten sie sich durch die Spinnweben vorwärts. „Die Zwillinge wären schon längst kreischend davongerannt“, sagte Althea, als eine besonders fette Spinne vor ihrem Besen Reißaus nahm.

Phelan lachte. „Lelia ganz bestimmt, aber Leanna? Ich glaube, du unterschätzt sie.“

„Kann schon sein, aber die erste Woche bei ihnen war wirklich schrecklich. Nein, nie wieder bleibe ich bei ihnen!“ Sie blieb abrupt stehen, sodass Phelan auf sie auflief. Vor ihnen öffnete sich ein hoher, aber schmaler Raum. Eine Treppe führte zur Decke, wo ein runder Kreis zu sehen war, und es roch noch feuchter und modriger.

„Hörst du das?“, fragte Althea. Es war wie ein regelmäßiges dumpfes Trommeln zu hören.

„Das ist Wasser“, sagte Phelan.

Althea war zu der Treppe gelaufen und sah forschend nach oben. Auf einmal wusste sie, wo sie sich befanden. „Das muss der Brunnen der hl. Asklepia sein. Wir sind unter dem Innenhof der Häuser.“

Phelan folgte ihrem Blick nach oben. Er entdeckte die gleiche Steinformation wie auch an ihrer Tür. „Schade, dass wir sie nicht ausprobieren können, aber die Schwestern wären doch sehr erstaunt, wenn wir plötzlich in ihrem Brunnen auftauchen würden.“ Sie lachten übermütig. Die Sache begann, entschieden Spaß zu machen.

Dann bemerkte er, dass mehrere Gänge von dem Raum abgingen. Aus dem auf der linken Seite abzweigenden Gang wehte feuchte, aber auch frische Luft herein.

„Ich glaube, ich weiß, wohin dieser Gang führt. Komm mit!“ Er zog Althea hinter sich her. Nach einigen Schritten standen sie vor einer Wand aus Wasser, durch die das Tageslicht hereinschimmerte. Es war der Wasserfall.

„Pass auf, dass die Fackel nicht nass wird!“, rief Althea und zog Phelan ein Stück zurück. „Oh nein, hier kommen wir nicht weiter. Na los, dann probieren wir halt die anderen Gänge aus.“

Wenig später standen sie vor einer weiteren Sackgasse. Auch hier gab es eine kurze Treppe, die zu einer höher gelegenen Wand führte. Sie war aus grob behauenen Steinen gefertigt und sah sehr alt aus.

Althea legte die Finger an die Lippen. Sie hörte Stimmen. Vorsichtig schlich sie die Treppe hoch und entdeckte an deren Ende einen schmalen Spalt. Aufgeregt winkte sie Phelan heran, und gemeinsam sahen sie erstaunt den Schwestern beim Arbeiten in der Kräuterkammer zu. Sie mussten sich auf Höhe des Fußbodens befinden, denn unmittelbar vor ihren Nasen liefen Füße vorbei.

Phelan sah auf seine Fackel herab. „Wir dürfen auf keinen Fall nachts mit Licht hier drin unterwegs sein, das könnte man von außen sehen“, legte er augenblicklich fest. Althea nickte. Vorsichtig erkundeten sie noch die beiden anderen Gänge. Sie entdeckten, dass diese in einem Behandlungsraum und in einem Vorhof endeten.

Nachdenklich setzten sie sich auf die Treppe unter dem Brunnen. „Meda hat mir erzählt, dass der Wasserfall früher wirklich anders verlaufen ist“, berichtete Althea.

„Das bedeutet, dass der Gang, den Mutter benutzt, auch hierzu gehört“, spann Phelan die Gedanken fort.

„Das wiederum kann nur bedeuten, dass der Gang in die andere Richtung“, Althea sah Phelan feierlich an, „in den Palast führen muss.“

„Oh Mann, wir könnten Brida belauschen!“ Phelan sprang auf und zog Althea hinter sich her.

„Und Alia eine Geisterstunde bescheren“, kicherte Althea. Übermütig hüpfte sie durch den Gang zurück. Schließlich standen sie wieder vor ihrer Geheimtür.

„Lass mich nur kurz schauen, wie spät es ist“, sagte Phelan und betätigte den Mechanismus. Er schlüpfte in den Innenhof des Hauses und schätzte den Stand der Sonne. Enttäuscht kam er wieder herein. „Es ist schon die fünfte Stunde, mehr schaffen wir heute wohl nicht.“

„Dann halt am nächsten Herrentag“, tröstet Althea. Sie würde die Zeit bis dahin kaum erwarten können.

Schon als Phelan am nächsten Tag die ersten beiden Stunden in der Heerschule verbracht hatte, merkte er, dass sich etwas entscheidend verändert hatte. Zum einen war der Oberstörenfried nicht da. Zum anderen aber begegneten ihm die Mitschüler mit einem, wenn auch etwas widerwilligen, Respekt.

Die Hänseleien hörten gänzlich auf. Phelan entspannte sich zusehends, und der Unterricht begann, ihm richtig Spaß zu machen. Es kehrte eine Ruhe in die Gruppe ein, die dazu führte, dass alle mehr von den Lektionen hatten. Auch der Hauptmann bemerkte, dass sich etwas verändert hatte, und förderte die Entwicklung nach Kräften. Mit Rynan musste er sich allerdings etwas überlegen, wenn der wiederkam, so viel war klar. Daher kam ihm Phelans Bitte, den Jungen besuchen zu dürfen, gerade recht. Gerne entließ er ihn dafür einige Augenblicke früher. Sollten sich die beiden zusammenraufen, damit wäre ihnen allen gedient.

Nachdem Phelan die Glocke am Tor der Heilerinnen geläutet hatte, wurde er erst mit Verzögerung von Althea eingelassen. Diesmal waren ihre Hände ganz schmutzig, und sie war in eine übergroße Schürze gewickelt.

„Wir räumen die Beete ab“, erklärte sie knapp auf seinen verwunderten Blick. Schnell führte sie ihn in Rynans Krankenkammer und machte sich wieder an die Arbeit.

Phelan blieb verlegen in der Tür stehen. Rynan war noch sehr blass, aber sein Blick war klar.

„Hallo“, sagte er und schaute Phelan erwartungsvoll an. Dieser setzte sich vorsichtig auf den Besucherschemel an der Wand.

„Du hast verdammt viel Glück gehabt“, begann Phelan schließlich. Warum nicht in die Offensive gehen? „Der Hauptmann will uns beiden eine saftige Strafe aufbrummen, wenn du wieder gesund bist“, setzte er nach.

Rynan richtete sich weiter in seinem Bett auf. „Ich sollte dir wohl dankbar sein, dass du mich unter dem Stein hervorgezogen hast, was, Majestät?“, schnappte er.

„Ja, das solltest du. Deine hirnlosen Freunde wollten schon aufgeben“, erwiderte Phelan verächtlich.

Rynan lehnte sich grinsend in den Kissen zurück. „Willst du ein Geschenk dafür haben?“, fragte er hinterhältig.

Phelan schnaubte verächtlich. „Das beste Geschenk wäre, wenn ich dein hässliches Gesicht nie wieder sehen müsste!“, spottete er.

„Tja, da gibt es aber ein Problem: Deine kleine Cousine war vorhin hier und hat mir gehörig den Marsch geblasen. Sie hat mir angedroht, ich würde noch Monate hier verbringen, wenn ich nicht nett zu dir bin. Sie ist ein freches kleines Biest, aber Frauen soll man ja nicht widersprechen, nicht wahr?“ Rynan kehrte den Erfahrenen raus.

„Als wenn du viel Erfahrung mit Frauen hast, du wirst ja schon rot, wenn nur die Wäscherin vorbeigeht!“ Treffer, dachte Phelan, als er Rynan rot anlaufen sah. Wütend riss dieser das Kissen hinter sich heraus und warf es nach Phelan, der sich lachend in Sicherheit brachte. Innerlich und äußerlich grinsend lief er nach Hause. Ein Anfang war gemacht.

Königin Naluri beobachtete heimlich unter ihrem Schleier heraus, wie Althea fleißig mit den anderen Frauen im Garten arbeitete. Alles wendet sich zum Guten, dachte sie erleichtert. Die ehrwürdige Mutter hatte ihr gestern berichtet, dass Althea sehr lernbegierig und nicht ein einziges Mal unangenehm aufgefallen war. Ein kleiner Wehmutstropfen blieb allerdings: Mit leiser Trauer hatte Naluri erfahren, dass Althea keine Gelegenheit ausließ, etwas über ihre Mutter zu erfahren. Dazu hatte sie und vor allem Thorald aus guten Gründen immer geschwiegen.

Rasch schob sie diese unangenehmen Gedanken von sich und dachte an ihren jüngeren Sohn. Auch Phelan wirkte seit gestern wieder glücklicher und ausgeglichener, dachte sie erleichtert. Sie hatte sich bereits ernstlich Sorgen um ihn gemacht, so blass und still war er die letzten Wochen gewesen. Aber sie war in dem ganzen Trubel um Althea nicht in der Lage gewesen, an ihn heranzukommen. Nun kam er jeden Abend lebhaft aufgekratzt von der Heerschule heim, vertilgte wahre Berge an Essen und schlief derart viel, dass es erstaunlich war. Sie erkannte ihren jüngeren Sohn nicht wieder.

Eine drückende Last blieb ihr jedoch, denn sie hatte noch nichts von der Expedition gehört. Voller Sorge fragte sie sich in schlaflosen Nächten, ob Currann wohlauf war. Schreckliche Bilder von Unfällen und anderen Katastrophen drehten sich in ihrem Kopf. Sie traute Alia und ihrem Klüngel alles zu. Zum Glück aber wachte Bajan wie stets über ihn, es würde schon alles gut gehen, beruhigte sie sich. Schweren Herzens machte sie sich auf zum Sterbehospiz, um ihren Dienst bei den alten Menschen zu leisten.

Am nächsten Herrentag war Althea schon früh auf den Beinen. Heimlich stibitzte sie Lusela ein großes Wollknäuel und machte sich auf den Weg in die geheime Kammer. Sie war nicht überrascht, dass Phelan bereits auf sie wartete. Er schwenkte einen Beutel. „Ich habe etwas zu essen mitgebracht, dann brauchen wir zwischendrin nicht aufzuhören. Hast du dich bei Lusela zum Essen abgemeldet?“

Althea winkte ab und spähte vorsichtig in den Beutel. Wie sie die Köchin kannte, hatte sie Phelan bestimmt etwas Leckeres eingepackt. Und richtig, sie entdeckte frische gefüllte Fladen, ein paar Pasteten und Äpfel. Außerdem hatte Phelan seine Feldflasche eingepackt.

Wieder banden sie das Seil zwischen sich fest, aber diesmal nahm Phelan neben seinem eigenen noch ein Übungsschwert mit. Althea, die mit ihrem Besen schon genug zu tragen hatte, wollte schon protestieren, ließ es dann aber bleiben, denn Phelan hatte mit Sicherheit etwas Bestimmtes damit im Sinn.

Kaum hatten sie die Tür hinter sich gelassen, klemmte er das zweite Schwert auch schon in eine Felsspalte. „Hier gibt es nichts, wo wir den Faden richtig festbinden könnten“, erklärte er Althea und band das lose Ende des Wollknäuels um den Schwertknauf. „Sicher ist sicher“, sagte er und überprüfte die Festigkeit des Knotens.

Langsam kämpften sie sich durch die Spinnweben, bis sie schließlich vor einer Abzweigung ankamen. Links von ihnen verschwand der Gang in einem Loch im Boden, rechts führte eine grobe, in den Fels gehauene Wendeltreppe nach oben. Es war kalt hier, kälter als auf der anderen Seite.

„Das muss das Gegenstück zu Mutters Gang sein.“ Phelans Echo rollte unheimlich hin und her. „Was meinst du, Thea, Stadt oder Festung?“

„Die Festung natürlich, die Stadt kann warten“, entschied Althea. Kurz entschlossen marschierte sie die Treppe hinauf. Phelan leuchtete ihr.

Die Treppe wand sich in unheimlich vielen Windungen durch den Fels. Ihre Stufen waren alt und ausgetreten, sie mussten aufpassen, dass sie nicht stürzten. Nach einiger Zeit, Phelan schätzte etwa, dass sie die Hälfte der Strecke bis oben zurückgelegt hatten, knirschte es plötzlich unter Altheas Füßen.

„He, wo kommt denn der Sand her? Hier muss es irgendwo eine Öffnung nach draußen geben“, rief Phelan und schob sich an ihr vorbei. Er beschleunigte seine Schritte und behielt recht. Kurze Zeit später kamen sie an eine Abzweigung. Fahles Tageslicht ließ sie einen lang gestreckten Gang erkennen, dessen Ende wieder im Dunkeln verschwand. Überall waren kleine Sandhaufen zusammengeweht, sodass es aussah wie in einer Wüste.

Neugierig schauten sie nach, wo das Licht herkam. Gleich darauf standen sie in einer kleinen Höhle, die nach außen hin einen schmalen Durchgang hatte. Dieser erweiterte sich an der Decke zu einem breiten Fenster. Staunend bemerkten die beiden eine aus dem Felsen herausgearbeitete, breite Schlafstätte und einen Fackelhalter an der Wand. Alles war fast unter dem über die vielen Jahre hereingewehten Sand begraben, sodass sie sich regelrecht zur Öffnung vorarbeiten mussten.

„Was meinst du, wer hier wohl mal gewohnt hat?“, fragte Althea und zwängte sich durch die Öffnung nach draußen. Eine lange Sandfontäne rieselte nach unten und wehte mit dem Wind davon.

Phelan wollte die Fackel in den Halter stecken, doch dieser zerbröckelte unter dem Gewicht. „Oh, der ist alt.“ Es gelang ihm noch, die Fackel aufzufangen, bevor sie in den Sand fiel und ausging.

Aber Althea hörte ihn nicht mehr. Als er hinter ihr herdrängte, fuhr er überrascht zurück. Vor ihnen öffnete sich ein Abgrund, der ihnen einen freien Blick bis auf den Fuß des Tafelberges erlaubte. Links von ihnen, etwas weiter vorne, begann die äußere Stadtmauer, doch hier hatten sie nur die Steppe vor sich.

Althea lehnte sich immer weiter vor und ließ sich den Wind um die Nase wehen. „Das ist toll!“, rief sie begeistert. Mit einer Hand hielt sie sich an einem Felsvorsprung fest.

„Sei bloß vorsichtig!“ Phelan hatte schon immer etwas Höhenangst gehabt. Er packte sie an der Schulter und zog sie vom Abgrund fort. Wie zur Bestätigung ertönte über ihnen ein hoher Schrei. Gleich darauf ließ sich eine Falkenmutter in ihrem Felsennest nieder und beäugte die beiden misstrauisch, bevor sie mit der Fütterung ihrer Jungen begann.

Phelan beugte sich heraus und riskierte einen Blick nach oben. „Wir sind unmittelbar unter dem ersten Turm. Los, lass uns nachsehen, wohin der Gang weiter führt.“ Er zog Althea mit sich. „Ich habe da so eine Ahnung..“

Althea folgte ihm verständnislos. Als sie jedoch sah, dass in Abstand der beiden hinteren Türme zwei in den Fels gehauene Treppen nach oben führten, ging ihr ein Licht auf. „Sie müssen zu den Türmen führen. Lass uns nachsehen. Wir können den Öffnungsmechanismus ausprobieren, dort drin ist eh niemand.“

Im ersten Turm fanden sie heraus, dass die Türen alle nach demselben Prinzip funktionierten. Zur Sicherheit blieb Althea im Gang, falls Phelan drinnen im Raum es nicht schaffte, den Mechanismus zu betätigen.

„Man muss es sogar von außen sehen können.“ Phelan deutete auf die Steinformation, die sie in der Turmkammer vor sich hatten. Sie sah genauso aus wie die in ihrer geheimen Kammer.

„Diese Türen können überall im Palast versteckt sein, ohne dass es jemand ahnt“, spann Althea den Gedanken aufgeregt fort. „Wir müssen darauf achten, wenn wir das nächste Mal dort sind.“ Auch hier vergaß sie nicht, die Tür von den Spinnweben zu befreien.

Der hintere Turm interessierte sie besonders, denn dies war derjenige, den Bajan hatte versiegeln lassen.

Stumm stand Althea schließlich vor dem Hexagramm. Eine unheimliche Kälte kroch ihr das Rückgrat hoch. Sie wurde ganz blass. Schnell öffnete sie wieder den Durchgang und blieb aufatmend im Gang stehen. Phelan folgte ihr verwundert. „Was ist denn?“

„Lass uns den anderen Gang erforschen, es ist mir unheimlich hier.“ Sie stürzte davon, wusste nur noch, dass sie so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und diesen Ort bringen musste. Phelan blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, denn sie waren immer noch durch das Seil verbunden.

Er hielt mühsam die Fackel in die Höhe, als sie die gewundene Treppe weiter hinaufrannten, damit Althea vor ihm genug sehen konnte. Schließlich wurde sie langsamer, die Treppe war zu Ende. Entschlossen trat sie in den nächsten Raum, blieb dann aber mit einem angstvollen Schrei abrupt stehen.

Phelan drängte sich an ihr vorbei, zückte sein Schwert und hielt die Fackel weit von sich gestreckt. Hunderte von kleinen Augen warfen das Licht der Fackel zurück. Altheas Schrei wurde von einer Kakofonie von dumpfen Rufen beantwortet, deren Widerhall von überall herzukommen schien.

„Was sind das für Wesen?“, rief Althea. Sie drückte sich an Phelan. Eines der Augenpaare begann, auf sie zuzuhüpfen. Althea merkte, wie Phelan sich neben ihr anspannte. Im Lichtschein der Fackel war jedoch noch nichts zu erkennen. Plötzlich schnellte aus dem Dunkel eine lange Zunge hervor und verschlang eine große Spinne, die vor ihnen über den Boden lief. Vorsichtig näherte sich Phelan dem Wesen, sodass es schließlich im Lichtkreis der Fackel erschien.

Er atmete erleichtert auf. Das Wesen glich einer Kröte, war aber viel größer, hatte eine fahle Haut und ganz weiße Augen. Althea stieß es mit ihrem Besen an. Es gab einen dumpfen Laut von, der irgendwie empört klang, und hüpfte von ihnen weg.

„Hast du eine Ahnung, wie die heißen?“, fragte sie Phelan, während sie sich langsam weiter in den Raum vorwagten. Die Wesen störten sich nicht an ihnen. Doch dann stieß Althea mit ihrem Fuß an einen großen Stein, der polternd zur Seite rollte. Mit einem leisen Wuschen waren die Wesen verschwunden.

Phelan war sich nicht sicher. „Wir sollten in den Büchern nachschauen. Sie scheinen ziemlich blind zu sein und reagieren wohl nur auf Erschütterungen, aber sonst weiß ich noch nichts über sie.“ Althea stocherte mit ihrem Besenstiel in einem Loch herum, doch Phelan zog sie weiter. „Lass sie in Ruhe. Wir sind mit Sicherheit seit vielen Jahren die ersten fremden Wesen, die hier waren. Das ängstigt sie bestimmt schon genug.“ Betreten gehorchte Althea.

Sie kamen an einer kleinen Mulde vorbei, in der sich Tropfwasser angesammelt hatte. Auf einmal hielt Phelan die Fackel so hoch, wie er konnte. „Sieh dir das an!“, rief er. Sein Echo hallte von den Wänden wieder.

Althea blickte hoch. Dann sah auch sie es: Sie standen in einem lang gestreckten Gewölbe, aber anders als sie es kannten, war die Decke zwischen den vielen Pfeilern nicht gerundet, sondern bestand aus glatten Steinplatten. Der Boden stieg nun merklich an und endete vor einer aus glatten Steinen bestehenden Wand. Rechts und links davon waren zwei Durchgänge im Felsen zu erkennen.

Phelan war sich ziemlich sicher, dass sie unter dem Vorplatz der großen Halle standen. „Die Mauer dort muss zu den Fundamenten der großen Halle gehören.“

Althea sagte nichts, sondern starrte stumm auf die Wand. Bisher war sie von den Wesen so abgelenkt worden, dass sie es kaum wahrgenommen hatte. Irgendetwas schien sie anzuziehen. Sie wusste nicht, was oder warum, nur, dass dort etwas war. Es war ein unbestimmtes Gefühl, eines, das sie rasch wieder verdrängte, denn sie wollte nicht, dass Phelan über sie spottete.

Hastig riskierte sie einen Blick in den linken Gang. „Sieht so aus, als wären die Wesen hier sehr gründlich gewesen, keine Spinne weit und breit.“ Sie war erleichtert. Die beiden gingen den linken Gang weiter, der eine leichte Rechtskurve beschrieb. Dann und wann zweigten andere Gänge ab, aber Phelan bestimmte mit einem Blick auf ihr rasch dahinschwindendes Wollknäuel, dem Hauptgang zu folgen. Althea spürte immer noch dieses unbestimmte Gefühl und wollte schon fragen, wann sie endlich ein Ende fanden, als sich plötzlich vor ihnen eine große Höhle öffnete.

Phelan blieb verdattert stehen. „Das gibt es doch nicht!“, rief er.

„Was ist denn?“ Althea konnte nicht an ihm vorbei und schob ihn schließlich zur Seite. Dann sah auch sie, dass vor ihnen ihr Faden auf dem Boden lag.

„Wir sind im Kreis gelaufen! Der Weg muss um die große Halle herumführen.“

„Wie viele Abzweigungen mögen das gewesen sein?“, überlegte Althea.

„Es waren sieben, ich habe sie gezählt.“ Phelan betrachtete frustriert das Wollknäuel in seiner Hand. „Oh nein, jetzt müssen wir entweder noch eines holen oder es den ganzen Weg um die Halle herum wieder aufrollen.“

Althea wollte jedoch nicht solange warten. Froh, sich von dem unbestimmten Gefühl ablenken zu können, drängte sie vorwärts. „Komm, wir versuchen es einfach mit der ersten Abzweigung. Wir wissen doch eh, wo wir uns befinden, oder?“ Widerwillig ließ Phelan sich mitziehen. Er war lieber auf der sicheren Seite.

Der erste Gang gabelte sich bald, war dahinter aber so kurz, dass sie mit ihrer Fackel schon zu beiden Enden sehen konnten. Wie auch in den Häusern der hl. Asklepia führten an beiden Enden alt aussehende Stufen zur Decke. Ein schmaler Streifen Licht sickerte in den Gang.

Vorsichtshalber ließ Phelan die Fackel an der Abzweigung liegen. Sie entdeckten, dass sie unter dem Kloster standen, Phelan vermutete, in dem vordersten der vielen Innenhöfe.

Althea gluckste plötzlich los. „Da ist Nusair“, flüsterte sie.

„Pst, leise“, ermahnte sie Phelan. Gespannt spähten sie durch den Spalt. Nusair lief wütend hin und her und bellte einem anderen Mönch, der mit einem Pergament neben ihm stand, Anweisungen zu. Von ihrem Standort aus konnten sie außerdem hinter einer Säule zwei Mönche sehen, die sich ganz offensichtlich nicht trauten, den Hof vor ihrem Oberhaupt zu überqueren. „Man kann jedes Wort verstehen.“ Phelan war beeindruckt. Sie überließen Nusair seinem Diktat und fanden heraus, dass die andere Abzweigung unter dem Altar des Tempels endete.

„Zu schade, dass wir nicht in Nusairs Schreibkammer waren“, meinte Phelan bedauernd, als sie wieder in der Höhle standen. Er ritzte mit seinem Schwert eine grobe Zeichnung der Gänge in den Boden und kennzeichnete den eben entdeckten mit dem heiligen Baum. „So, jetzt wissen wir genau, wo wir schon waren.“

Der nächste Gang führte in Alias Empfangsraum, der übernächste in den Studierraum des Königs. Der vierte Gang führte sie zu einer Vorratskammer hinter der Palastküche. Ein verführerischer Duft strömte ihnen aus der Ritze entgegen. Da merkten sie erst, dass es schon längst Mittag sein musste. Phelan wollte Althea mit sich ziehen, um das Essen auszupacken, doch sie starrte durch die Ritze hindurch und winkte ihn zu sich. „Sieh doch nur, Phelan, da arbeiten ja nur Kinder.“

„Lass mal sehen, das kann nicht sein.“ Phelan schob Althea beiseite. „Wo sind denn die Mägde hin?“ Schulterzuckend sahen sie sich an. Das Rätsel konnten sie hier und jetzt nicht lösen, aber Phelan beschloss, seine Mutter oder Yola danach zu fragen.

Sie teilten sich das Mittagsmahl auf den Stufen zur Küche, dann nahmen sie den nächsten Gang in Angriff. Dieser führte im Gegensatz zu den anderen auf die große Halle zu und endete zu ihrer Überraschung an der Stelle, wo sie sich mit Jeldrik vor Brida versteckt hatten.

„Wir hätten so einfach verschwinden können!“ Althea war enttäuscht, dass ihr Abenteuer mit Jeldrik ein so unnötiges Ende gefunden hatte.

Der nächste Gang führte in den Speisesaal des Gästetraktes, doch Phelan schenkte ihm nur wenig Beachtung. Er wurde immer aufgeregter, denn es blieb nur noch eine Möglichkeit für den letzten Gang übrig: sein Zuhause.

Voller Erwartung liefen sie in den letzten Gang. Dieser gabelte sich wie der zum Kloster in zwei Richtungen. Der eine Gang führte sie unter die Küche des Hauses.

Althea blickte fasziniert durch den Schlitz des letzten Ganges. „Das glaubst du nie“, sagte sie und ließ Phelan mit einem breiten Grinsen vorbei.

Er bekam große Augen. „Das ist meine Kammer!“

„Los, denk nach, wo sind deine Leute heute hin?“, drängte Althea ihn.

„Yola ist mit den Mädchen hoffentlich noch im Tempel, und Mutter .. keine Ahnung. Aber sie kommt selten tagsüber zu unseren Räumen. Wollen wir die Tür ausprobieren?“ Er wartete die Antwort nicht ab, sondern drückte die Steine. Augenblicklich ertönte ein Knirschen, und sie sprangen vorsichtshalber ein paar Schritte zurück.

Nichts rührte sich. Sie probierten, die Platte anzuheben, aber diese war zu schwer.

„Verflucht, wie funktioniert das nur? Irgendwie muss doch die Platte von dort weg!“ Phelan betrachtete frustriert die Decke. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. „Schau, sie kann nicht weg, denn sie ist in der Wand. Nach oben geht es also nicht. Aber vielleicht zurück ..“ Er klemmte sein Schwert in den Spalt und begann zu hebeln.

„Pass auf, dass es nicht verbiegt oder zerbricht!“, rief Althea.

Phelan winkte ab, denn die Platte begann, sich langsam nach hinten zu bewegen. „Hilf mir mal!“ Gemeinsam zogen sie an der Platte. Jetzt entdeckten sie auch die Grifflöcher, die so versteckt angebracht waren, dass man sie nicht ohne Weiteres fand. Ab da war es ganz einfach. Sie zogen die Platte so weit beiseite, dass sie hindurchschlüpfen konnten.

Phelan sprang sofort zur Tür und verriegelte sie von innen. Strahlend sahen sie sich an. „Das war das Abenteuer des Jahres! Currann wird grün vor Neid sein!“ Althea hüpfte übermütig auf das Bett.

„Pst, leise, niemand darf uns hören“, mahnte Phelan sie. Er überlegte schon weiter. „Ich würde Currann erstmal nichts davon erzählen wollen, glaube ich. Was meinst du?“

„Mir ist es recht, denn dann erfährt er auch nicht von unserer Kammer.“ Althea beäugte schon wieder die Geheimtür. „Wie macht man die von außen zu?“

Wie Phelan richtig vermutete hatte, war die Platte nicht nach oben aufgegangen, sondern hatte sich in der Wand nach hinten bewegt. Er sah genauer hin. Dabei fiel ihm auf, dass zwei Kissen, die vorher auf dem Bett gelegen hatten, heruntergefallen waren. Das konnte nicht Althea gewesen sein, dachte er und untersuchte die Wand hinter seinem Bett genauer. Schließlich begann er zu tasten. Ein kleiner Stein ließ sich hereindrücken, und knirschend schloss sich die Wand wieder. Er wollte noch einmal drücken, aber der Stein ließ sich nicht mehr bewegen. „Wo ist das Gegenstück?“

Althea sah erschreckt auf, denn draußen auf dem Gang waren die Stimmen der Zwillinge zu hören. „Beeil dich!“, flüsterte sie.

Aber zu spät, die beiden Mädchen waren vor Phelans Kammertür stehen geblieben. Phelan zog lautlos den Riegel zurück und wollte die Tür schon aufreißen, da fiel Althea auf, dass sie ja noch Schwert, Seil und den Besen bei sich hatten. Schnell schoben sie die Sachen unter das Bett und versteckten sich dann hinter der Tür.

Die beiden Mädchen schoben kichernd und flüsternd die Tür auf. Leanna war die Erste, die in den Raum blickte. „Und du glaubst wirklich, dass er das Messer hier versteckt hält?“

„Bestimmt, in der Heerschule hätten sie es ihm sofort weggenommen. Ich möchte es unbedingt mal sehen. Currann hat es uns nicht einmal anfassen lassen. Komm, wir schauen in seiner Truhe nach.“

Althea merkte, dass Phelan neben ihr vor Wut rot anschwoll. Sie nickte ihm zu, warf die Tür zu, und gemeinsam stürzten sie sich auf die überraschten Zwillinge. Mit einem Griff hatten sie den Mädchen den Mund zugehalten und zu Boden gerungen.

Phelan blickte mit blitzenden Augen auf Leanna herunter. „In meiner Kammer werdet ihr gar nichts suchen. Das war Lelias Einfall, stimmt’s?“ Leanna konnte nicht antworten, denn er hielt ihr immer noch den Mund zu. Sie nickte.

Althea hatte drückte Lelia auf den Boden. „Wenn ihr euch noch einmal ohne Erlaubnis in Phelans Kammer wagt, dann verhaue ich euch so, dass ihr eine Woche nicht sitzen könnt, verstanden?“ Lelia fauchte wütend los. Althea begann es zu genießen. Diese Abreibung war längst fällig gewesen. „Und es ist mir egal, ob das deiner Mutter gefällt oder nicht!“ Lelia begann, sich zu wehren, und wollte Althea in die Hand beißen, doch diese verstärkte nur ihren Griff.

Phelan grollte: „Wir werden euch jetzt loslassen, aber wehe, ihr schreit los. Dann bekommt ihr die Prügel gleich.“ Die beiden kletterten von den Zwillingen herunter. „Und jetzt raus hier!“, fauchte er.

Die Zwillinge rannten zur Tür und brachten sich in Sicherheit. Lelia drehte sich aber noch einmal um und sah Althea hasserfüllt an. „Das wird dir noch leidtun!“

„Hau endlich ab!“ Althea gab der Tür einen Stoß, und Lelia landete unsanft im Gang. Rasch schob sie den Riegel wieder vor. Sie ließ sich an der Tür hinabgleiten und brach in Gelächter aus. „Hast du ihre Gesichter gesehen?“, gluckste sie.

Phelan war gar nicht zum Lachen zumute. Er drängte sie beiseite und versicherte sich, dass die Zwillinge wirklich fort waren. „Ich fasse es nicht, dass sie einfach so in meine Kammer gehen und meine Sachen durchwühlen!“ Er fasste sich an den linken Arm und fühlte den beruhigenden Druck seines Messers. „Das werden sie niemals berühren, das schwöre ich dir!“ Er blickte auf die Wand. „Oh nein, die Fackel ist noch im Gang und mein Proviantbeutel auch.“

„Den holen wir ein anderes Mal“, beruhigte ihn Althea.

Phelan sah sie zweifelnd an. „Und wie kommst du nun nach Hause, ohne dass dein Vater bemerkt, dass du das Haus verlassen hast?“

„Lass uns noch mal versuchen, den Gang zu öffnen“, schlug Althea vor, denn sie musste ihm recht geben. Doch ihre Suche an der Wand blieb erfolglos.

Frustriert versetzte Phelan seinem Bett einen Tritt. Dabei fiel sein Blick auf den Fußboden. „Natürlich, wie einfach!“ Er zog das Fell vor seinem Bett zur Seite. Dort sahen sie ein wohlbekanntes Muster aus Steinen vor sich. Sie lachten auf und hatten die Tür im Nu geöffnet.

„Jetzt wissen wir, wie es geht.“ Althea reichte Phelan die Provianttasche nach oben, während sie den Besen entgegennahm.

„Warte“, hielt er sie zurück. Feierlich zog er sein Messer unter dem Ärmel hervor. Althea tat das Gleiche mit ihrem. „Schwöre“, sagte Phelan und ritzte sich den Daumen ein. Ein Tropfen Blut erschien.

Althea tat es ihm nach und drückte ihren gegen seinen. „Niemals ein Wort!“

„Niemals ein Wort!“, wiederholte Phelan. Dann drehte sie sich um und verschwand die Stufen hinunter, allen Mut zusammennehmend, diesem unheimlichen Gefühl dort unten allein zu begegnen.

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Trägerin des Lichts - Erwachen

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