Читать книгу Trägerin des Lichts - Erwachen - Lydie Man - Страница 7

Kapitel 3 Spur des Bösen

Оглавление

<=

Als Phelan am nächsten Morgen in den Wohntrakt vom Haus des Wissens kam, wunderte er sich sehr. Niemand war wach. In der sonst so geschäftigen Küche glühte nur noch ein Rest Torf in der Feuerstelle, ein paar benutzte Becher standen auf dem Tisch, ansonsten war es gespenstisch still. Nanu, dachte er, sonst ist Lusela nach einem solchen Sturm doch immer emsig dabei, das Haus von dem durch alle Ritzen gedrungenen Staub zu befreien? Ratlos sah er sich um.

Die Bewohner hatten allesamt verschlafen. Thorald hatte noch lange wach gelegen und unruhig über das nachgedacht, was seine Tochter von sich gegeben hatte. Auch Lusela war nicht zur Ruhe gekommen, immer wieder war sie aufgestanden und hatte nach Althea gesehen. Anwyll, in schwere Gedanken versunken, hatte gar nicht erst den Versuch unternommen, ins Bett zu gehen, sondern über seinen Aufzeichnungen gebrütet.

Und Althea, Althea schlief wie eine Tote, von unruhigen Träumen geplagt.

Leise machte sich Phelan auf den Weg in Altheas Kammer. Vorsichtig lugte er hinein. Sie war doch tatsächlich noch im Bett, amüsierte er sich und wollte sie schon aus herauskitzeln, als ihm auffiel, dass sie ungewöhnlich blass war und dunkle Ringe unter den Augen hatte. ‚Ist sie etwa krank?’, fragte er sich besorgt und rüttelte sie sachte an der Schulter.

Mit einem plötzlichen Schrei fuhr Althea aus dem Schlaf hoch, sodass Phelan vor Schreck auf seinem Hintern an der gegenüberliegenden Wand landete.

„Oh, musst du mich so erschrecken?!“, rief Althea, die sich sogleich wieder beruhigte, als sie Phelan erkannte.

„Das gilt wohl auch für dich! Was ist denn bloß los bei euch, alle schlafen ..?“ Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn die Tür wurde plötzlich aufgerissen. Die beiden zuckten erneut zusammen.

Lusela stand nur mit Nachtgewand und einer Schlafhaube bekleidet in der Tür. „Alles in Ordnung mit dir, Kind?“, rief sie besorgt. Dann sah sie Phelan. „Was tust du denn schon hier, du weckst uns alle auf!“

Phelan erhob sich und rieb sich die schmerzende Kehrseite. „Was heißt hier schon, es ist die neunte Stunde vorbei, und ich soll doch heute hierher kommen!“, verteidigte er sich.

Lusela entfuhr ein Schreckensausruf. „Was, so spät schon? Barmherziger Urian, wir haben verschlafen! Nun, dann rasch alle angezogen! Phelan, würdest du etwas Torf aufs Feuer legen, während ich mich anziehe? Dann geht es mit dem Frühmahl schneller.“ Sie warf noch einen prüfenden Blick auf Althea, die aber mit der ganzen Aufregung schon wieder Farbe im Gesicht hatte und nach ihrer Kleidung suchte. „Nein, nicht die Jungenkleidung!“ Lusela riss die ausgesuchten Stücke an sich und verschwand in ihre eigene Kammer.

Phelan grinste Althea an. „Willst du mir erzählen, was passiert ist?“

„Später, wenn wir alleine sind“, sagte sie und scheuchte ihn aus dem Raum. Phelan lief in die Küche und führte Luselas Auftrag aus. Er fegte sogar den Tisch sauber und deckte ihn, holte einen Kübel frisches Wasser aus dem Brunnen im Garten und setzte das Wasser auf die Feuerstelle, die inzwischen wieder zu munterem Leben erwacht war.

Thorald kam verschlafen in die Diele und betrachte verwundert den Jungen, der die Hausarbeit verrichtete. „Ein denkwürdiger Tag folgt einer denkwürdigen Nacht“, orakelte er und verwuschelte Phelan den kurzen Haarschopf. „Das erzähle ich Yola, dann hat sie bestimmt Arbeit für dich.“ Thorald lachte, als er Phelans entsetzten Blick sah. „Wo ist Lusela?“, fragte er.

„Hier, und .. oh, du hast ja sogar den Tisch gedeckt und Wasser aufgesetzt. Es tut mir schrecklich leid, Meister Thorald“, entschuldigte sie sich hastig und ordnete ihr Kopftuch, „es war eine wahrhaft schlimme Nacht, ich habe kein Auge zugetan.“

Thorald beruhigte sie: „Doch, hast du, wie wir alle, aber erst sehr spät. Ist nicht weiter schlimm, wir müssen ja erst zur Mittagsstunde wieder in der großen Halle sein. Nun denn, ich wecke mal Meister Anwyll auf, von ihm habe ich noch nichts gehört. Und dann essen wir erst einmal in Ruhe.“

„Nicht nötig, das Geschrei der Kinder kann Tote aufwecken.“ Anwyll kam in den Raum. Er sog die Luft ein, denn Lusela hatte inzwischen den Kaffee aufgesetzt. „Hmm, den kann ich jetzt gebrauchen. Meine Kehle ist von all dem Staub wie ausgedörrt. Warum trinken die Gildaer eigentlich keinen Kaffee, Thorald? Ein belebenderes Getränk gibt es morgens nicht.“

Thorald setzte sich und nahm seinen Becher von Lusela entgegen. „Das ist eines der Mysterien, die ich bisher nicht ergründen konnte. Sogar Lusela kommt ohne ihren Kaffee morgens nicht mehr aus. Wenn ich mir vorstelle, morgens verdünntes Bier zu trinken, pfui!“ Anwyll lachte und wandte den Kopf. In der Tür war Althea erschienen und blickte die Erwachsenen merkwürdig verschüchtert an.

„Komm her, kleiner Kobold“, sagte Thorald und steckte die Hand aus. Schnell lief sie in seine Arme und kuschelte sich an ihn. „Alles wieder in Ordnung?“, fragte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ja, Vater“, sagte sie leise und setzte sich auf ihren Platz. Phelan blickte sie verwundert an. So kannte er sie ja gar nicht!

Als sie das Frühmahl beendet hatten, brachte Thorald Althea und Phelan hinauf in den Schulraum. „Ihr beide werdet euch heute Vormittag mit den Mathematikaufgaben beschäftigen, die ich euch vorbereitet habe. Ich denke, bis wir aufbrechen, werdet ihr es geschafft haben. Danach widmet euch dem Geschichtsbuch, wir waren beim Dreikönigsjahr stehen geblieben. Lest das Kapitel bis zum Ende durch, morgen werde ich euch abfragen. Wenn ihr dann noch Zeit habt, könnt ihr im Garten spielen. Aber, Phelan, Althea, ihr verlasst nicht das Haus, verstanden?“

Althea nickte. Phelan schaute sie erstaunt an. Keine Widerworte? Es musste wahrhaft etwas Wichtiges passiert sein. Als Thorald den Raum verlassen hatte und auch unten nicht mehr zu hören war, stieß er sie sachte an. „Thea, was ist denn los?“

Althea blickte ihn nicht an, in ihren Augen standen Tränen, und sie schämte sich. Hastig erhob sie sich und lief ans Fenster, damit er nicht sehen konnte, dass sie weinte. Aber Phelan ließ sich nicht täuschen, dafür kannte er sie zu gut. Vorsichtig legte er ihr den Arm um die Schultern. Sie brach in wildes Schluchzen aus. Sie setzten sich unter dem Fenster auf den Boden, und Althea ließ, den Kopf auf Phelans Schoss gelegt, ihren Tränen freien Lauf.

Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder beruhigt und konnte ihm in stockenden, aber zusammenhängenden Sätzen erzählen, was sie gestern erfahren und in der Nacht geträumt hatte.

Phelan war wie vom Donner gerührt. „Das hat Mutter uns nie gesagt“, flüsterte er leise. „Jetzt verstehe ich auch, warum sie solche Angst um uns haben. Wir waren wirklich leichtsinnig, weißt du?“ Althea nickte und putzte sich geräuschvoll die Nase mit einem Taschentuch. „Und ich habe mich schon gewundert, warum du heute so schnell den Anordnungen deines Vaters zugestimmt hast“, fügte er neckend hinzu und stand auf. „Na gut, dann lass uns mal die Aufgaben machen. Die eine Hälfte du, die andere ich, und dann schreiben wir ab, in Ordnung?“ Althea lächelte ihn an. Er hatte so eine Art, ihr über den Kummer hinwegzuhelfen, obwohl er selbst tief getroffen von den Neuigkeiten sein musste.

„Wenn wir fertig sind, gehen wir in unsere geheime Kammer und üben“, schlug sie schon etwas fröhlicher vor. Phelan nickte, froh, dass seine List funktioniert hatte, aber er wusste auch, dass er heute Abend lange über das Erfahrene nachdenken musste. Vielleicht würde er auch Currann einweihen müssen, da war er sich aber noch nicht sicher. Emsig machten die beiden sich daran, die Aufgaben zu lösen.

In der Diele saßen Thorald und Anwyll zusammen und analysieren Altheas Traum. Jedweder Art von Träumen wurde von allen Temorern eine große Bedeutung beigemessen, und dementsprechend erst nahmen die beiden es.

„Ich glaube, dass es eine wirkliche Vision war“, meinte Anwyll nachdenklich. „Sie war kalt, das kommt nur bei der Berührung mit dem Übersinnlichen vor.“

„Meister Anwyll, sie ist doch noch viel zu jung für solche Dinge“, wandte Thorald ein.

„Du weißt, dass das nicht stimmt“, tadelte Anwyll nachsichtig. „Dir ist nur nicht wohl bei dem Gedanken, sie bald fortzugeben, gib es zu. Schließlich gibt es in der Gemeinschaft eine Vielzahl Kinder, die schon in wesentlich jüngeren Jahren derartige Begabungen erkennen lassen, und außerdem, unsere Gelehrten schreiben Mischlingen zwischen den Gildaern und unserem Volke besondere Fähigkeiten zu. Sie sollte auf jeden Fall in der Gemeinschaft unterrichtet werden, wenn sie älter ist. Ich bin mir völlig sicher, dass sie die Aufnahmeprüfung bestehen wird.“

Thorald gab sich geschlagen, ließ sich aber nicht festlegen. „Das wird auf jeden Fall geschehen“, sagte er ausweichend und schenkte sich noch einen Kaffee ein.

Lusela räumte derweil das Frühmahl ab. „Ich glaube, dass es nur ein böser Traum war, ausgelöst durch die Geschichte ihrer Mutter. Also ehrlich, Meister Thorald, sie ist noch viel zu jung für dieses Wissen!“, entrüstete sie sich und ging in die Küche.

Anwyll nickte. „Jung ist sie in der Tat noch für eine solche Last. Aber das, was sie geträumt hat, schien mir doch merkwürdig real. Du musst sie, sobald sie alt genug ist, nach Temora schicken. Daran geht kein Weg vorbei. Spätestens mit zwölf Jahren sollte sie bei uns sein, wie alle anderen auch, die von uns ausgebildet werden.“

„Wir werden sehen .. Ich denke, wir sollten jetzt zu der Ratssitzung aufbrechen. Seid Ihr einverstanden?“, lenkte Thorald von dem ihm unliebsamen Thema ab. Anwyll sah ein, dass es keinen Zweck hatte, weiter in ihn zu dringen, und nickte. Sie verließen das Haus.

Lusela blieb unbehaglich in der Küche zurück. Dass der fremde Priester ihrer Kleinen heidnische Kräfte zutraute, fand sie einfach unglaublich. Sie liebte sie über alles, als wäre sie ihre eigene Tochter. Trotzdem oder gerade deshalb beschloss sie, künftig ein wachsameres Auge auf das Mädchen zu haben.

Currann befand sich derweil in der Heerschule und lauschte Bajan, der ihm erläuterte, wie größere bewegliche Heere verpflegt wurden. Sie saßen in einer geschützten Ecke des Innenhofes, denn nach dem gestrigen Sturm schien zwar die Sonne, aber der Wind pfiff unangenehm kühl den Berg hinauf. Der Herbst war endgültig gekommen, soviel stand fest. Sie waren gerade dabei, die verschiedenen Verpflegungsarten zu erörtern, als sich der Hauptmann der Wache den beiden näherte.

„Verzeiht die Unterbrechung, Fürst“, sagte der Hauptmann steif und entbot Bajan den Heeresgruß. Dieser forderte den Hauptmann mit einer Handbewegung zu sprechen auf.

„Einer unserer Wachsoldaten hatte gestern Nacht bei dem Sturm etwas Ungewöhnliches beobachtet. Er musste austreten und ging zu diesem Zweck auf die Palastmauer. Selbstverständlich habe ich ihm einen Tadel dafür erteilt, aber es war viel zu stürmisch zu dem Zeitpunkt, um ganz bis in die Kaserne zu laufen“, wandte er hastig ein, als er sah, dass Bajan die Stirn runzelte.

„Berichtet weiter, aber fasst Euch kurz“, forderte er den Hauptmann auf. Er kannte die weitschweifigen Erzählungen seines Untergebenen.

„Der Soldat sah eine dunkle Gestalt, die ohne Licht durch die Gärten des Palastes lief.“

„Und dafür sucht Ihr mich auf?“, fragte Bajan ungläubig.

Der Hauptmann verteidigte sein Handeln: „Kurze Zeit später sahen die Soldaten blaue Lichter auf der Mauer tanzen, ziemlich genau in der Nähe der Stelle, wo die Gestalt gesichtet worden ist. Es war wie mitten im Gewitter, aber ganz sicher keine Blitze.“

„Hmm, das ist in der Tat merkwürdig“, sagte Bajan und strich sich nachdenklich über seinen Bart. Dann sah er Currann an. „Was würdest du tun?“, fragte er ihn.

Currann dachte kurz nach. „Die Lichter müssen die Männer geängstigt haben, daher würde ich persönlich nach dem Rechten sehen, um sie zu beruhigen“, sagte er schließlich, um auch seine eigene Neugier zu befriedigen.

„Sehr gut“, nickte Bajan und zwinkerte ihm unmerklich zu, „und dann?“

Currann sprang aufgeregt auf. „Ich möchte den Wachsoldaten sprechen, der die Gestalt gesehen hat!“, forderte er den Hauptmann auf.

Dieser stellte die Anordnung des Thronfolgers nicht infrage, denn Bajan hatte ihn schon oft vor solche Aufgaben gestellt. „Folgt mir bitte, Hoheit, er ist in der Kaserne.“

Sie gingen zügig in das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Im Erdgeschoss des mehrstöckigen Gebäudes drang Lärm aus den Mannschaftsräumen. Der Hauptmann verschwand und kam kurz darauf mit einem untersetzten, älteren Mann zurück, der verlegen vor der Ansammlung so wichtiger Persönlichkeiten grüßte. Bajan sah Currann auffordernd an.

„Zeigt uns bitte die Stelle, an der Ihr gestern Nacht die Gestalt gesehen habt, und am besten auch gleich, wo die Lichter aufgetaucht sind“, richtete Currann das Wort an den Soldaten.

Dieser nickte und führte Currann und Bajan die Straße hinauf. Sie passierten das große Tor der Festung und stiegen eine enge Treppe links vom Tor hinauf auf die Festungsmauer.

Er führte sie zu dem vordersten Turm auf der linken Seite. Das Gebäude des Einen Tempels lag schräg vor ihnen. Currann konnte von hier sowohl in den Innenhof des neben dem Tempel gelegenen Klosters als auch über die Palastgebäude und die Festungsmauer entlang bis hin zu dem letzten Turm sehen, der ganz hinten im Palastgarten lag. Es gab auf der ganzen Festungsmauer insgesamt neun dieser mächtigen Türme, jeweils drei auf der Nord- und Südseite, einer ganz hinten in der Mitte und zwei, welche den Zugang zu der Festung bewachten. Sie waren Schutz für die Bewohner wie für Reisende gleichermaßen mit ihren weithin sichtbaren Signalfeuern.

„Wir vier Wachhabende für diesen Abschnitt hatten uns in den Schutzraum des Turmes zurückgezogen, als der Sturm losbrach“, erläuterte der Soldat. „Ich bin gegen Mitternacht kurz raus, da war der Sturm richtig schlimm, und habe etwa hier vorne gestanden und .. naja, auf jeden Fall sah ich, wie jemand mit einem langen Umhang dort drüben zwischen den Arkaden erschien und nach hinten in den Palastgarten verschwand. Mehr konnte ich nicht erkennen, es war zu dunkel und stürmisch.“

Currann überlegte und sah dann Bajan an. „Dort befindet sich der hintere Ausgang aus der großen Halle, gleichzeitig aber auch der Zugang zu den Gemächern des Königs.“ Er wandte sich wieder an den Soldaten: „Und wo sind die Lichter dann erschienen?“

Der Soldat wand sich sichtlich verlegen. „Dort hinten, in etwa der Höhe des letzten Turmes, ungefähr eine halbe Stunde später. Es waren keine Blitze, sie waren zu lang dort. Sie waren blau, Hoheit. Das war das Unheimliche. Grüne Elmsfeuer oder helle Kugelblitze haben wir ja schon eher mal während eines Staubsturms oder eines Gewitters gehabt, aber so etwas noch nicht.“

„Es ist gut, ich danke Euch“, sagte Currann und entließ sowohl den Hauptmann als auch den Wachsoldaten.

„Gut gemacht“, lobte ihn Bajan. „Du hast ihnen zugehört, ihnen die Sorgen abgenommen, sie aber nicht an Dingen teilhaben lassen, die sie nichts angehen. Was schlägst du nun vor?“

„Ich denke, wir sollten uns dort hinten einmal umsehen. Es liegt eine Menge Sand dort, vielleicht haben wir Glück und die Gestalt hat Spuren hinterlassen, nicht wahr?“

Bajan stimmte zu. Sie gingen zunächst auf der Mauer entlang bis zu dem Turm in der hinteren Ecke. Er war wie alle anderen Türme auch mit einem Schutzraum auf Höhe der Mauerkrone versehen, hatte oben drauf einen Brennplatz für das Signalfeuer, und unten führte eine Tür ins Erdgeschoss des Turmes.

Die beiden spähten hinunter. „Da!“, rief Currann und streckte den Finger in Richtung der Tür. „Ein paar deutliche Fußabdrücke.“

Bajan kniff die Augen zusammen. „Ja, dies sind welche. Lass uns hinunter gehen, aber Vorsicht, dass keine Spuren verwischen.“

Als sie halb die Treppe am Turm herunter waren, konnte auch Bajan mehrere Fußabdrücke im Sand erkennen. Er kniete nieder und sah seinen Schüler auffordernd an. Dieser betrachtete die Spuren genauer. „Es war auf jeden Fall ein Mann, und er ist nach Ende des Sturms wieder zum Palast gegangen, sonst könnte man die Spuren nicht mehr erkennen“, sagte er. Dann aber blieb er ratlos.

„Sieh dir die Ränder der Spuren an. Dieser Mann hat keine Stiefel getragen, es war also kein Soldat, sondern weiche Lederschuhe wie ein Palastangehöriger“, sagte Bajan und deutete auf die Spuren. „Sie müssen staubig sein, vielleicht hatte heute Morgen eine der Mägde einen Auftrag zur Schuhreinigung. Ich werde mich mal umhören.“ Er sah sich aufmerksam um. „Hier kann man nur zu diesem Turm hin, etwas anderes gibt es hier nicht. Lasst uns mal hineinschauen.“ Er rüttelte an der Tür, aber sie war verschlossen. Bajan war verblüfft. „Jeder Turmraum hat offen zu sein, hier werden die Waffen für die Verteidigung gelagert. Warum ist dieser zu? Ich werde mit dem Hauptmann reden, es muss einen Schlüssel geben.“

Currann stieß einen erstaunten Ruf aus und zeigte nach oben. Bajan blickte hoch, da sah auch er es: Der Turm war etwa ein Drittel unter dem Schutzraum von einem weißen Ring umgeben. „Was zum .. geht hier vor?“, fragte er ungläubig.

„Was ist das, Fürst?“, fragte Currann mit seltsam belegter Stimme. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Bajan sah Currann kurz forschend an, dann sagte er ruhig: „Ich lasse es untersuchen. Komm, schauen wir noch, wo die Spuren in den Palast hinführen, aber innen werden wir, wie ich die fleißigen Mägde dort kenne, nichts mehr finden.“

So war es auch, die Spuren führten genau in den Bereich, wo man zu dem hinteren Eingang in die Halle gelangen konnte. Leider konnte man von hier auch überall hinlaufen, sodass sie nicht weiterkamen.

„Wir werden die Königin aufsuchen, noch ist Zeit vor der Sitzung“, beschloss Bajan sogleich.

Sie machten sich umgehend auf den Weg und trafen vor der Treppe zum Palast auf Anwyll und Thorald, die gerade denselben Weg eingeschlagen hatten. Thorald sah die beiden spekulierend an. „Ihr seid bestimmt nicht hier, um einen Höflichkeitsbesuch zu machen, oder?“

„Nein, wir haben etwas entdeckt. Kommt, lasst uns dies drinnen besprechen“, sagte Bajan oben angekommen, als eine erstaunte Yola ihnen die Tür öffnete.

Die Königin war ebenfalls überrascht, sie alle schon zu sehen. Nacheinander berichteten Bajan und Currann, was sie gefunden hatten. Currann, der stolz war, in der Runde der Erwachsenen dabei zu sein, erzählte davon, wie er die Spuren im Garten und am Turm entdeckt hatte.

Anwyll war aufs Höchste beunruhigt: „Und die Soldaten sind sich sicher, dass die Lichter blau waren?“

„Ja, ganz sicher. Sie sehen viele Lichter, die den meisten Stadtbewohnern große Angst einjagen würden, Elmsfeuer und solche Dinge. Aber dieses fanden sie so ungewöhnlich, dass sie mich benachrichtigt haben“, sagte Bajan.

Anwyll wechselte einen Blick mit Thorald. „Das ist entschieden merkwürdig. Blaue Lichter sind Zeichen für die Geisterwelt“, erklärte er. Thorald nickte, aber Currann keuchte auf.

Den Erwachsenen wurde jetzt erst richtig bewusst, dass Currann mit im Raum war. Naluri sah ihren Ältesten fest an. „Mein Sohn, du wirst nichts, aber auch gar nichts weitergeben, was du hier in diesem Raum hörst, hast du mich verstanden? Nicht einmal an deine Geschwister und auch nicht an Althea, verstanden?“

Currann setzte sich aufrechter hin. „Selbstverständlich Mutter, wofür hältst du mich?“, fragte er entrüstet.

Naluri seufzte. „Entschuldige bitte, ich muss mich wohl damit abfinden, dass meine Kinder langsam erwachsen werden.“

Anwyll sah Currann zwingend an. „Du weißt über den Pakt zwischen Temora und Gilda bescheid“, stellte er fest. Currann nickte vorsichtig. Was wohl jetzt kam? „Ich bin hier, um deinen Vater davon zu überzeugen, dass der Pakt eingelöst werden muss. Wir müssen herausfinden, was dort im Norden vor sich geht“, sagte Anwyll.

Currann sah ihn unbehaglich mit großen Augen an, er verstand noch nicht ganz. Bajan erklärte ihm, was sie herausgefunden hatten. Da erschrak er zutiefst. „Und Ihr glaubt, dass unser Feind wieder erwacht ist?!“, keuchte er.

„Auf jeden Fall müssen wir ausschließen, dass es so ist, deshalb müssen wir heute unbedingt den Rat dazu bringen, diese Expedition zu entsenden“, endete Bajan grimmig. „Ich schicke einen der Wachleute los, den Schlüssel für diesen Turm zu besorgen. Nach der Sitzung sehen wir uns dort einmal um.“

„Wir kommen mit“, sagte Thorald. Er hob die Hand, als Bajan protestierte. „Nein, sicher ist sicher. Ihr könntet auf etwas stoßen, dem Ihr nicht gewachsen seid.“

„Also gut“, stimmte Bajan zu.

Currann wagte die Gunst der Stunde zu nutzen und fragte: „Mutter, darf ich an der Ratssitzung teilnehmen?“

„Das geht noch nicht, das weißt du doch, du bist noch nicht protokollarisch zugelassen“, erinnerte Naluri ihren Sohn.

„Aber Alia ist es?“, erwiderte er trotzig.

„Stell dich nicht mit deinem Gegner auf die gleiche niedrige Stufe, mein Sohn“, tadelte ihn Naluri. „Du bleibst hier im Palast und gehst Yola zur Hand. Sie wollen die hohen Leuchter von der Decke holen und neu bestücken. Da wird ein Mann für die schwere Arbeit gebraucht. Und was deine nächste Frage angeht“, kam sie ihm zuvor, „ich weiß nicht, was die Männer in dem Turm vorfinden werden, daher möchte ich, dass du hierbleibst.“

„Hoheit, ich denke, wir werden auf ihn aufpassen können. Schließlich hat er bereits wesentliche Teile aufgedeckt, sodass er auch an der restlichen Expedition beteiligt sein sollte“, wandte Anwyll ein, dem Curranns enttäuschtes Gesicht nicht entgangen war.

„Also gut, dorthin darfst du mitgehen“, stimmte Naluri schweren Herzens zu. Currann war halbwegs versöhnt und trollte sich, ohne zu murren, in Richtung der Frauenstimmen aus der Eingangshalle. Die anderen brachen in Richtung Palast auf.

Phelan und Althea hatten ihre Aufgaben in der gewohnten halben Zeit erledigt. Ihre List funktionierte hervorragend, solange Thorald nicht in der Nähe war.

Althea lief zu Lusela in die Küche. „Lusela, wir sind fertig. Was sollen wir jetzt tun?“ Lusela sah von dem Brotteig auf, den sie gerade knetete. „Du hast noch ein Beet übrig, das noch nicht von Unkraut befreit ist, und bei der Gelegenheit kannst du auch gleich den Sand im Garten beseitigen. Danach könnt ihr euch zu euren Büchern trollen oder im Hof spielen, aber ihr verlasst nicht das Haus, verstanden? Nehmt euch von den Brötchen dort drüben, sie sind frisch. Äpfel sind auch noch da.“

Althea nickte und lief mit Phelan in den Garten. Diese Aufgabe hatten sie zu zweit schnell fertig. Sie stellen die Gartengeräte wieder in die kleine Nische an dem Durchgang zum Hof und schauten vorsichtig um die Ecke. „Die Luft ist rein, Lusela ist gerade in die Schlafkammern gegangen“, wisperte Althea. Schnell liefen sie über den Hof zum Tor. Hinter der linken Säule stemmten sie die kleine Tür auf und zwängten sich hindurch.

Ihr geheimer Raum war sehr lang, fast über die gesamte Breite vom Tor bis an den Felsen, aber schmal. Althea blickte ratlos auf die Gerätschaften, die dort wild durcheinander lagen. „Was üben wir jetzt?“, fragte sie.

Phelan überlegte kurz. „Die Speere hatten wir letzte Woche, aber ich hab ein paar neue Griffe im Ringkampf gelernt, die zeige ich dir, in Ordnung?“

„Du brauchst gar nicht so besorgt zu tun, mir geht es wieder gut“, wehrte Althea ab und zog die große Matte von der Wand, die sie zur Abmilderung der Stürze benutzten.

Im Gästetrakt des Palastes machte sich Roar mit seinen Gefolgsleuten zum Aufbruch fertig. Jeldrik war gar nicht begeistert, schon gehen zu müssen. „Vater, können wir nicht noch ein paar Tage bleiben? Ich hab die anderen doch gerade erst kennengelernt!“

„Ich weiß, dass du mit den Söhnen der Königin Freundschaft geschlossen hast, aber der Zweck unserer Reise ist erfüllt. Außerdem gefällt mir die Stimmung in diesem Palast nicht“, meinte Roar zu seinem Sohn, während er den Verschluss seines Waffengurtes überprüfte. „Du hast es selber gemerkt, nicht wahr? Es ist besser, wir verbringen die restliche Zeit im Lager, bis auch Meister Anwyll bereit zum Aufbruch ist.“

„Ja, Vater, schon, aber ich möchte mich von den anderen zumindest noch verabschieden.“ Jeldrik sah seinen Vater bittend an.

„Natürlich solltest du dich von ihnen verabschieden, vielleicht haben wir auch noch ein Geschenk für sie, was meinst du?“

Jeldriks Augen leuchteten auf. „Ich weiß auch schon welches!“, rief er und machte sich auf die Suche nach einem bestimmten Lederbeutel. Kurze Zeit später lief ein sichtlich zufriedener Jeldrik mit einem Päckchen in der Tasche zum Palast der Königin. Diesmal klopfte er vorne an.

Eine staubbedeckte Magd öffnete ihm. „Oh, der junge Herr Jeldrik, Euch haben wir gar nicht erwartet. Currann ist im Festsaal, kommt herein!“

Neugierig folgte ihr Jeldrik durch die hohen, mit wunderschönem Marmor verkleideten Gänge. Sie kamen in einen langen Saal, nicht so groß wie die große Halle, aber dennoch beeindruckend, vor allem wegen der reich bemalten Wände. Er war doch sehr verwundert, als er Currann ganz oben auf einer Leiter erblickte. Dieser hievte gerade einen der Leuchter mit einem langen Seil wieder an seinen Platz, während die anderen Mägde die restlichen auf den Boden herabgelassenen Leuchter entstaubten und mit neuen Kerzen bestückten.

„Hallo Jeldrik, wen suchst du?“, keuchte Currann angestrengt. „Phelan ist nicht hier, und mich haben die Frauen rekrutiert!“

„Das ist nicht zu übersehen!“, grinste Jeldrik fröhlich zu ihm hinauf. Die Frauen lachten. „Hast du einen Augenblick Zeit für mich?“

Yola, die die Arbeiten überwachte, erhob Einspruch: „Erst wenn alle Leuchter wieder hängen, könnt ihr euch trollen“, sagte sie bestimmt und stemmte nachdrücklich die Arme in die Hüften.

„Na gut, dann helfe ich eben mit“, sagte Jeldrik. Gemeinsam hatten sie die Leuchter schnell wieder an Ort und Stelle. Die Frauen bedankten sich fröhlich, und die Jungen gingen in Curranns Kammer.

„Wann kommen die anderen beiden wieder?“, fragte Jeldrik, während er es sich auf einem weichen Kissen bequem machte. Aufmerksam sah er sich um. Wie viel schlichter es hier war, ganz anders als im Festsaal, in der Eingangshalle und im Palast. Es gefiel ihm, und das sagte er Currann auch.

Der tat verlegen: „Normalerweise würde ein Fremder diese Räume nie zu Gesicht bekommen. Sie sind der Familie vorbehalten, so wie in allen anderen Häusern auch. Gäste werden vorne empfangen und eigentlich .. ich hätte das auch mit dir machen sollen, aber ..“ Auf einmal wirkte der sonst so selbstsichere Currann sehr unsicher.

„Du bekommst nicht allzu viel Besuch?“, riet Jeldrik und lag mit der Vermutung völlig richtig.

„Gar keinen“, gab Currann zu.

„Weil deine Mutter fürchtet, dass jemand euch etwas antun kann?“ Jeldrik hatte das zwar schon gestern gehört, fand es aber immer noch unglaublich. „Und deswegen musst du Frauenarbeit machen?“

„Nein, nein ..“ Currann grinste. „Mutter und Meister Thorald haben herausbekommen, dass wir gestern in der großen Halle waren. Phelan und Althan müssen Strafarbeiten machen, und ich muss hier im Haus bleiben, bis Fürst Bajan aus der Ratssitzung zurück ist.“

„Euch lässt man wohl nicht mehr aus den Augen, was?“, fragte Jeldrik mitfühlend.

„Nein, wir werden fast wie Gefangene behandelt.“ Currann versetzte dem Bettpfosten einen wütenden Tritt. „Jede Küchenmagd hat mehr Freiheiten – nicht, dass ich unter Brida arbeiten möchte – bloß nicht! Aber ich beneide dich, du darfst mit deinem Vater weite Reisen unternehmen, überall mit hin. Wir hocken bloß hier zu Hause herum.“

Jeldrik nickte. Das verstand er nur zu gut. „Ich habe ein Geschenk für euch“, sagte er und holte das Päckchen aus seiner Tasche. Er war auf einmal sehr traurig. „Vater möchte die restliche Zeit hier im Lager verbringen. Ich glaube daher nicht, dass wir uns noch einmal sehen werden“, fügte er erklärend hinzu.

Vorsichtig nahm Currann das Päckchen entgegen. Es war überraschend schwer. Er zupfte an den Lederbändern. „Nein, warte, bis ihr alle drei es zusammen öffnen könnt“, hielt Jeldrik ihn auf. „Es ist für jeden etwas dabei. Versprochen?“

„In Ordnung“, nickte Currann. Verlegen sah er Jeldrik an. „Ich komme dich bestimmt mal besuchen, wenn ich selber bestimmen kann, wohin ich gehe.“ Er schloss kurz die Augen und seufzte. „Wenn ich der König von Gilda bin und du der Fürst von Saran. Danke für das Geschenk.“ Er hielt Jeldrik die Hand hin.

Jeldrik stand auf und wollte einschlagen, doch plötzlich wurden sie abgelenkt. Auf dem Vorplatz ertönten Hufschläge. Schnell stürzten die Jungen ans Fenster, alle Verlegenheit war vergessen.

„Das muss ein berittener Bote mit wichtigen Neuigkeiten sein!“, rief Currann aufgeregt. „Nur sie dürfen zu Pferde hier herauf. Oh, verdammt, warum sind wir nicht wieder in der großen Halle dabei?“

Sie stürmten durch die Eingangshalle nach draußen und sahen gerade noch, wie der Bote in der großen Halle verschwand. Currann ärgerte sich. „Die Erwachsenen erzählen uns nachher bestimmt nicht, was geschehen ist!“

Jeldrik sah seinen Vater aus dem Gästetrakt kommen. Diener trugen das Gepäck. „Da kommt Vater, ich muss los.“ Rasch drückte er Curranns Hand und lief dann zu seinem Vater. Dieser hob grüßend die Hand. Currann winkte zum Abschied und hielt das Päckchen mit der anderen Hand umklammert. Traurig sah er ihnen nach. In dieser kurzen Zeit hatte er einen Freund gewonnen, und davon hatte er wahrlich nicht viele. Eben gar keinen.

Leise ging er in seine Kammer zurück und versteckte das Päckchen unter seinem Bett. Dann legte er sich hin, schloss die Augen und erträumte sich die Abenteuer, die er und Jeldrik gemeinsam erleben könnten.

In der Ratssitzung war eigentlich alles geklärt. Nusair hatte die Entsendung einer Expedition verkündet, man hatte sich noch ein wenig um die Kostenverteilung zwischen dem Land Morann und Temora gestritten, dann aber eine Einigung erzielt. Eigentlich gab es nichts mehr zu tun. Anwyll hatte seine Mission erfüllt, die Königin lehnte sich erleichtert in ihrem Stuhl zurück, und der König freute sich auf seine freien Stunden.

Doch dann wurden plötzlich die Vordertüren der großen Halle aufgerissen. Der Herold führte einen verstaubten und völlig erschöpften Boten herein. „Euer Majestät, dieser Bote bringt eine äußerst wichtige Botschaft aus der Nordprovinz.“

Der Bote schaffte es noch, sich zu verbeugen und dem König ein versiegeltes, aber völlig zerknittertes Pergament zu überreichen, dann brach er zusammen. Bestürzte Ausrufe wurden laut, aber die Königin handelte als Einzige besonnen. Sie erhob sich und beugte sich über den erschöpften Mann. Nach einer kurzen Untersuchung rief sie nach Brida. „Bringt ihn sofort in die Häuser der hl. Asklepia. Dort soll er ruhen und bestens verpflegt werden. Eilt Euch!“, trieb sie Brida an. Zwei Diener legten den Mann auf eine Trage, und Brida geleitete sie hinaus.

Der König hatte das Schreiben inzwischen an Nusair weiter gereicht, denn seine Augen waren in letzter Zeit nicht mehr die besten. Nachdem Nusair das Siegel gebrochen hatte, begann er zu lesen. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn.

„Meine Herren, hört Euch das an. Das Schreiben ist von Abt des Klosters auf der Lobar -Höhe. Wie Ihr wisst, ist dies unser letzter Außenposten vor der Wildnis des Lir-Deltas. Meno, lest vor!“ Er strecke Meno das Schreiben hin.

Dieser las mit lauter Stimme vor, wie es sein Amt war: „Ehrwürdiger Vater, dies ist unsere schwerste Stunde, denn schlimme Dinge sind geschehen, der große Urian möge uns helfen. Tagelang haben schwere Unwetter über dem Kohinor Massiv getobt, in deren Folge es zu starken Schneeschmelzen und Erdrutschen gekommen ist. Daraus entstand eine reißende Flut, die das gesamte Delta überschwemmt hat. Soweit wir es überblicken konnten, wurde die gesamte Bevölkerung des Deltas getötet. Auch von unseren Missionsaußenposten haben wir keinerlei Lebenszeichen erhalten. Für unsere Brüder im Herrn befürchten wir das Schlimmste.

Wir erbitten Anweisung und Hilfe. Hochachtungsvoll ..“

Lange Zeit lastete eine schwere Stille über der Versammlung. Anwyll und Thorald tauschten einen langen Blick aus. Thoralds Gedanken rasten.

„Eine Naturkatastrophe“, vernahm man schließlich die ungläubige Stimme eines Ratsherrn.

Auf einmal redeten alle durcheinander. „Ruhe!“, donnerte der König. „Nusair, wie schätzt ihr die Lage Euer Leute dort draußen ein?“

„Euer Majestät, der Abt hat nicht erwähnt, wie schwer das Kloster selbst getroffen worden ist, aber ich gehe davon aus, dass sie ohne Hilfe den Winter dort draußen nicht überstehen werden.“ Nachdenklich verstummte er.

Bajan erhob sich. „Euer Majestät, ich schlage vor, dass wir trotzdem unsere Kundschafter auf eine Expedition dorthin entsenden und die verbleibenden Mönche evakuieren. Wenn Ihr einverstanden seid, Nusair, werde ich diese persönlich leiten und für die sichere Überführung Euer Leute sorgen.“

Nusair nickte. „Ich gebe Euch ein paar Mönche mit, die bereits dort draußen im Dienste des Herrn gestanden haben. Sie kennen sich in der Gegend bestens aus.“

„Wie schnell könnt Ihr die Mannschaft und Ausrüstung zusammenstellen?“, wollte der König wissen.

Bajan machte eine unbestimmte Handbewegung. „In spätestens zwei Tagen sind wir aufbruchbereit, Euer Majestät.“

„Erklärt sich der Rat mit dieser Maßnahme einverstanden?“, fragte der König. Alle hoben die Hand. „Meno, haltet diesen Beschluss im Protokoll fest. Ach, und Bajan, Ihr werdet auf diese Expedition meinen Sohn mitnehmen. Es ist Zeit, dass er Erfahrung im Feld sammelt!“

Die Hand der Königin verkrampfte sich um die Lehne ihres Sitzes. Es war das einzige Zeichen ihrer Anspannung. Bajan warf einen kurzen Blick in ihre Richtung, nickte aber dann. „Diese Expedition ist für den Anfang genau das Richtige. Ich werde alles Nötige veranlassen.“

Die Versammlung löste sich auf, und es wurde noch auf der Außentreppe heftig darüber diskutiert, was dort draußen vorgefallen sein könnte.

Bajan ging gleich zu dem Hauptmann der Wache, der vor dem Festungstor auf ihn wartete. Er hielt eine große Axt in der Hand. Bajan warf einen kurzen Blick auf sie. „Ich sehe, dass Ihr den Schlüssel zu dem Turm nicht gefunden habt.“

Der Hauptmann nickte bestätigend. „Der Schlüssel ist verschwunden, wir werden die Tür aufbrechen müssen, Fürst.“

Sie warteten, bis die anderen neugierig herangekommen waren. Bajan erklärte ihnen kurz, was vorgefallen war. Die Königin wandte sich ihrem Palast zu. „Ich schicke Euch Currann heraus, wartet noch solange. Das wird er nicht verpassen wollen.“

Anwyll dachte indes immer noch über die Ratssitzung nach. Er fasste einen Entschluss und nahm Bajan kurz beiseite. „Mir kommt diese Sache nicht geheuer vor. Zu viele Zufälle auf einmal, wenn Ihr mich fragt. Fürst Bajan, ich möchte die Fähigkeiten Euer Männer nicht infrage stellen, aber ich würde gerne Fürst Roar bitten, einen kleinen Umweg in unserer Reise einzuplanen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Was haltet Ihr davon?“

Bajan hatte bereits Ähnliches im Sinn gehabt. „Ich hätte Euch ebenfalls gerne dabei, denn ich muss gestehen, mir kommt das Ganze ebenfalls merkwürdig vor. Daher ist mir jemand, der mit den – sagen wir mal – Mächten der Natur umgehen kann, äußerst willkommen.“

Sie drehten sich um, denn Currann kam im Laufschritt herangeeilt. „Mutter sagt, ich darf mit auf die Expedition?“, rief er aufgeregt. „Habt Ihr das vorgeschlagen, Fürst Bajan?“

„Nein, das kam von deinem Vater. Freu dich nicht zu früh, du wirst Schreckliches zu sehen bekommen. Aber später davon mehr, jetzt gehen wir erst einmal zum Turm.“

Kurze Zeit später blieben sie verblüfft vor dem Turm stehen. In der Tür steckte der Schlüssel! „Scheint, als wurde da jemand gewarnt“, brummte Bajan ärgerlich. Er zog sein Schwert und riss die Tür auf.

Enttäuscht sahen sich die Männer im Vorraum um. Es waren nur die üblichen Waffen zu finden, nichts fehlte. Sie stiegen die Treppe hinauf. Oben fanden sie nichts außer einem leeren Tisch und einer alten Strohmatte auf dem Boden.

„Der Vogel ist ausgeflogen“, knurrte der Hauptmann ungehalten. Sie sahen sich noch einmal gründlich um und machten sich wieder an den Abstieg, Currann als Letzter. Er war sehr enttäuscht. Doch plötzlich blieb er stehen und sog die Luft ein. „Es riecht hier so komisch. Wie nach .. Metall“, meinte er.

Bajan, der schon halb im Untergeschoss war, sah seinen Schüler aufmerksam an. „Woher kommt der Geruch?“

Currann schloss die Augen und konzentrierte sich. „Von unten“, bestimmte er schließlich. Vorsichtig ließ er sich auf die Knie nieder und zog die Strohmatte beiseite. Fassungslos starrte er auf das getrocknete Blut in den Steinrillen.

Bajan hatte sich bereits die Treppe hinuntergebeugt. „Meister Anwyll, Thorald, das solltet Ihr Euch ansehen!“

Die beiden kamen die Treppe wieder hinauf, Anwyll aber nur unter großen Mühen. „Meine alten Knochen sind für solche .. oh, was haben wir denn hier?“

„Es wurde mit Blut benutzt“, stellt Thorald fest, der mit seinem Finger durch eine Rille gefahren war und nun daran roch.

„Was hat das zu bedeuten? Sprecht, was ist das hier?“ Bajan verstand kein Wort.

„Das ist ein Hexagramm“, erklärte Anwyll. „Mit Wasser gefüllt dient es als Schutz, aber mit Blut kann man damit Schwarze Magie ausüben.“ Currann gab einen erschreckten Laut von sich und sprang vom Boden auf.

Anwyll legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Keine Angst, so ist es harmlos. Dafür braucht es schon ein bisschen mehr als ein paar Linien und Flüssigkeit auf dem Boden.“

Er beugte sich zu dem Hauptmann hinunter, der an der Treppe wartete. „Lasst bitte einen Kübel Wasser bringen und einen Besen“, wies er den Hauptmann an. Er drehte sich zu Bajan um. „Wir sollten diesen Ort reinigen und dann den Turm verschließen.“

Thorald blickte besorgt. „Unser Unbekannter ist bewandert in Schwarzer Magie, soviel steht fest. Dieses Hexagramm einzurichten dauert seine Zeit.“

Bajan wandte sich indes praktischeren Überlegungen zu. „Am besten versiegeln wir den Turm, indem wir das Schloss zuschmieden. Das fällt nicht gleich auf, und es kann niemand mehr hinein.“ Er erteilte dem Hauptmann, der gerade mit zweien seiner Leute herankam, entsprechende Anweisungen.

Thorald und Anwyll reinigten das Hexagramm gründlich mit Wasser und, was Currann mit großen Augen beobachtete, mit einem Ritual in einer Sprache, die er nicht verstand. „Und das wirkt?“, schluckte er.

„Keine Sorge, es ist eine Art Gebet“, erklärte Anwyll. „Althea wird dies auch irgendwann lernen.“ Currann nickte erleichtert. Wenn Althea das lernen konnte, war es bestimmt kein Hexenwerk.

Anwyll erhob sich aufstöhnend. „Oh meine Knie! Komm, mein Sohn, hilf mir die Treppe hinunter. Wir verlassen nun diesen Ort.“

Currann bat Bajan darum, den Rest des Nachmittags im Haus des Wissens verbringen zu dürfen. Es war eine Bitte, die ihm gerne gewährt wurde, wollte Bajan sich doch mit der Königin besprechen. So folgte der Junge den beiden Gelehrten nach Hause. Er wollte endlich sein Päckchen loswerden. Aufgeregt stürmte er den Männern voraus in die Diele des Wohntraktes.

„Musst du mich so erschrecken?“, rief Lusela und stellte den Becher wieder hin, der ihr umgefallen war.

„Wo sind die anderen?“, fragte er ungeduldig.

„Na wo schon, entweder im Garten oder im Schulraum. Den Weg wirst du wohl noch kennen, oder?“

Kopfschütteln sah Lusela ihm hinterher, wie er laut rufend in den Garten rannte. Der ältere Sohn der Königin war ihr entschieden zu fordernd, befand sie. Aber das musste er wohl auch sein, wenn er König werden wollte. Sie zuckte mit den Schultern und begrüßte die Männer.

Currann hatte unterdessen seine kurze Suche im Garten erfolglos beendet. Als er zurück in den Innenhof lief, erschienen Phelan und Althea gerade im Torgang.

„Was ist denn los? Warum schreist du so rum?“, wollte Phelan wissen. Sie hatten genau den Zeitpunkt abgepasst, ungesehen aus ihrer Tür zu kommen, als er im Garten gewesen war.

„Los, kommt!“ Currann zerrte sie die Treppe zum Schulraum hinauf. „Ihr ratet nie, was heute alles passiert ist!“

Atemlos ließen sie sich auf ihren Stühlen nieder. Currann berichtete ihnen, was sie im Turm entdeckt hatten. Nur die Besprechung bei der Königin ließ er wegen seines Versprechens aus.

Althea unterdrückte ein Schaudern, als sie von dem Hexagramm hörte. Doch Phelan war mit seinen Gedanken ganz woanders. „Du darfst mit auf die Expedition?“ Er war fassungslos. „Warum ich nicht?“

„Du bist noch zu jung“, erwiderte Currann, und es gelang ihm nicht ganz, seine Zufriedenheit darüber zu verbergen. Phelan blitzte ihn wütend an. „Mutter wollte auch erst nicht, dass ich mitgehe, aber Vater hat darauf bestanden.“ Phelan verschränkte schmollend die Arme und sagte nichts.

Althea sah ihren älteren Cousin misstrauisch an. „Du bist doch nicht nur hierher gekommen, um Phelan das unter die Nase zu reiben, oder?“

Currann musste grinsen. „Jaaa, stimmt. Jeldrik hat sich bei mir verabschiedet, sie wollen die restliche Zeit im Lager verbringen.“

„Ach schade!“ Althea war enttäuscht. „Es fing gerade an, so richtig Spaß zu machen. Aber warum freust du dich darüber so? Magst du ihn nicht?“

„Doch, natürlich. Es ist nur so ..“, er zog das Päcken hervor, das er die ganze Zeit vor ihnen verborgen hatte, „er hat mir ein Geschenk für uns alle mitgegeben.“

Phelan und Althea machten große Augen. „Und das sagst du erst jetzt?!“ Vorsichtig hob Althea das Päckchen an. „Es ist schwer!“

„Los, schnell aufmachen!“ Phelan vergaß, dass er eigentlich schmollte. Ungeduldig zog er an den Lederschnüren. „Oh, seht euch das an!“, rief er, als er das Leder vorsichtig auseinander wickelte. Drei identische kleine Messer mit Holzgriffen lagen vor ihnen auf dem Tisch. Sie steckten in schlichten, aber sehr aufwendig verarbeiten Lederscheiden, die mit einem schmalen Gurt verbunden waren.

„Das ist doch nicht etwa ..“ Currann zog ein Messer heraus. „Doch, seht nur, sie sind aus Ferrium!“

Augenblicklich hatte jeder von ihnen ein Messer in der Hand und drehte die wie magisch glitzernden Waffen bewundernd im Sonnenlicht hin und her.

„Das darf Lusela niemals zu Gesicht bekommen, sie nimmt es mir sofort weg“, stellte Althea nüchtern fest. „Wollen wir unsere Namen in den Griff ritzen, damit wir sie nicht verwechseln?“

„Der Anfangsbuchstabe genügt.“ Phelan schritt gleich zur Tat und hatte im Nu die Buchstaben in die Griffe geritzt.

„Wo trägt man so etwas, Currann?“, fragte Althea.

„Das ist eine versteckte Waffe“, überlegte er. „Entweder im Stiefel oder an der Hüfte unter der Kleidung verborgen. Einige Männer tragen ihn auch am Arm. Lass mal sehen.“

Sie hielten Althea das Messer an und entschieden sich dann, dass sie es an ihrem Oberarm befestigen sollte.

„Mit deinem Kleid kommst du an die anderen Stellen nicht schnell genug heran, ohne dass es unschicklich ist“, stellte Phelan fest. Er selbst hatte ebenfalls das Messer am Arm unter seiner Tunika befestigt, und auch Currann entschied sich für diese Variante. Sie überprüften gegenseitig, ob man es nicht sehen konnte. Zufrieden sahen sie sich an. „Das Messer werden wir ab jetzt immer tragen“, sagte Phelan. Currann und Althea nickten feierlich.

Während die drei im Schulraum ihren neuen Schatz ausprobierten, packte Anwyll im Gästequartier seine Sachen. Thorald lehnte an der Wand und unterhielt sich mit ihm. „Ich werde Roar noch heute aufsuchen, tut mir leid, mein Junge, die Sache duldet keinen Aufschub.“

„Selbstverständlich, Meister Anwyll, das sehe ich ein, auch wenn es mir schwerfällt. Unsere Gespräche haben mir in den letzten Jahren sehr gefehlt. Eure Zeit war viel zu kurz hier.“

Lusela brachte Anwyll einen Stapel frisch gewaschener Kleidung. „Aber du bist hier ja in guten Händen“, meinte dieser mit einem freundlichen Blick auf Lusela. Sie errötete und verschwand wieder in die Küche.

Thorald wartete, bis er sicher war, dass sie nichts mehr hören konnte. „Mir geht Altheas Traum nicht aus dem Kopf, Meister Anwyll. Ich muss gestehen, dass ich zutiefst erschrocken bin.“ Er rieb sein Gesicht zwischen den Händen.

Anwyll hielt mit dem Packen inne und sah ihn verständnisvoll an. „Das wäre ich auch, wenn es meine Tochter wäre.“

„Aber warum träumt sie es ausgerechnet jetzt?“, fragte Thorald.

„Jemand hat heute Nacht Schwarze Magie angewendet, soviel steht fest. Vielleicht ist sie empfänglich für solche Strömungen, wer weiß? Wenn das wahr sein sollte, dann hat deine Tochter weit mehr Fähigkeiten, als wir uns bisher vorstellen können. Das ist dir doch klar? Selbst ich habe heute Nacht nichts gespürt.“ Anwyll beobachtete Thoralds Reaktion aufmerksam. „Althea muss spätestens mit zwölf Jahren zu uns kommen. Versprichst du mir das?“, forderte er.

Thorald schloss kurz die Augen und nickte dann. „So schwer es mir fällt ..“ Er hielt inne, denn auf dem Gang waren schnelle Schritte zu hören.

„Was ist mit mir?“, rief Althea.

„Ich soll gut auf dich aufpassen, hat Meister Anwyll befohlen.“ Thorald wuselte ihr durchs Haar.

„Kann ich doch selbst, oder etwa nicht?“ Sie lachte zu Anwyll auf. „Wollt Ihr schon fort?“

„Ja, Mädchen, die Pflicht ruft. Aber du musst mir etwas versprechen.“ Althea blickte ihn aufmerksam an und nickte. Dem weisen Mann konnte sie nichts abschlagen. „Schreibe alles auf, was du träumst, und gib es an deinen Vater weiter. Er wird dafür sorgen, dass ich es bekomme. Und lasse nichts aus, auch wenn es noch so abwegig ist, versprochen?“ Die alten Augen blickten gütig auf sie herab, aber auch irgendwie zwingend. Es war ein Blick, dem man nicht widerstehen konnte.

Althea wagte es dennoch, eine Frage zu stellen. Wissbegierig wie ihr Vater früher, dachte Anwyll wehmütig. „Warum sind meine Träume so wichtig, dass Ihr sie über eine so weite Strecke schicken wollt?“, fragte sie und setzte sich aufs Bett.

Thorald setzte sich neben sie. „Das, was du gestern geträumt hast, ist wirklich eingetreten. Die Flut hat es wirklich gegeben.“

„Dorthin geht Currann also mit“, verstand Althea plötzlich. Sie wurde blass. „Es ist gefährlich an diesem Ort! Er sollte nicht dorthin gehen!“

„Keine Angst“, beruhigte Anwyll sie, „ich werde ihn begleiten.“

Vertrauensvoll sah sie zu ihm auf. „Wenn Ihr dabei seid, dann kann ihm nichts geschehen. Das weiß ich.“ Davon war sie felsenfest überzeugt.

Anwyll machte sich auf zum Lager der Saraner. Obwohl er Thoralds Angebot, eine Sänfte für ihn zu rufen, abgelehnt hatte, war er froh, dass zwei Diener sein Gepäck trugen, sonst hätte er den Weg wohl nur mühsam bewältigt. So aber kam er rasch voran, schließlich ging es bergab. Die Sonne ging gerade unter, der eh schon kühle Wind war weiter aufgefrischt. Ehrfürchtig machten die Bewohner Gildas dem weiß gekleideten Mann auf seinem Weg durch die Stadt Platz.

Schon von Weitem sah er, dass im Lager der Saraner bereits die Feuer brannten. Roar war nicht überrascht, ihn zu sehen. Erfreut stellte Anwyll fest, dass sein Zelt aufgebaut war, und wärmte seine alten Knochen dankbar an einem Feuer.

„Ich nehme an, Ihr wollt mich bitten, mit zu dem Außenposten zu reiten“, brummte Roar, als sie später bei einem Becher Wein zusammensaßen. Es war eine Feststellung, keine Frage. Schon bevor der alte Mann im Lager eingetroffen war, waren die Gerüchte über das Unglück durch die Stadt bis zu ihnen gedrungen. Jeldrik hörte den beiden Männern aufmerksam zu.

„Ja, das stimmt.“ Anwyll war sich durchaus im Klaren darüber, dass er als geistliches Oberhaupt jedes Recht hatte, die Reise zu befehlen. Schließlich hatten alle Völker des Westens vor Urzeiten den Schwur geleistet, der Gemeinschaft stets zu Diensten zu sein, doch Anwyll hatte dieses Recht noch nie ausgenutzt.

Roar brummte in seinen Bart und schenkte seinem Gast Wein nach. „Ich muss gestehen, dass ich selbst neugierig bin, was dort vorgefallen ist. Habt Ihr eine ungefähre Vorstellung?“ Anwyll schaute schnell zu Jeldrik hinüber. Roar hob die Hand. „Mein Sohn wird alles erfahren, was ich auch erfahre. Er ist alt genug“, sagte er bestimmt.

Anwyll entschied sich, die volle Wahrheit zu erzählen. Roar hörte äußerlich ruhig zu, aber innerlich wuchs seine Besorgnis. Auch er kannte die Legende von Phileas, denn auch er war als Fürst von Saran Teil des Paktes. Jeldrik überlief es kalt, als der davon hörte. So hatte er sich das Geheimnis ganz gewiss nicht vorgestellt!

„Ich stimme Euch zu, wir sollten wirklich mitkommen“, sagte sein Vater schließlich. „Und Ihr sagt, Fürst Bajan sei auch der Meinung? Dann ist es gut, ich halte sehr viel von ihm. Er ist ein kluger Mann, vielleicht zu klug für uns. Ich möchte aber Jeldrik aus der Sache heraushalten.“

„Aber Vater, warum darf ich nicht mit?“ Jeldrik war enttäuscht.

„Der König schickt ebenfalls seinen Ältesten mit auf die Reise“, wandte Anwyll ein, „er meint, es wäre eine gute Erfahrung für ihn.“

„Was, Currann kommt auch mit?“, rief Jeldrik. „Darf ich dann auch mit? Bitte, Vater!“

„Sohn, diese Reise wird kein Vergnügen! Wir werden wahrscheinlich Schreckliches zu Gesicht bekommen. Bist du bereit dafür?“

„Natürlich!“ Er hörte selbst, dass das ein wenig zu schnell kam, und setzte nach: „Außerdem, wie willst du mich denn nach Hause schicken, wenn alle Männer mitgehen?“

Der Logik seines Sohnes konnte sich Roar nicht verschließen. „Gut gesprochen, das stimmt natürlich. Eine Aufteilung kommt nicht infrage. Also gut, aber ich verlasse mich darauf, dass du dich nicht in Schwierigkeiten begibst, verstanden?“

Jeldrik war glücklich. „Versprochen, Vater!“

„Dann ab in dein Zelt, morgen wird ein langer Tag.“ Der Junge trollte sich ohne Widerspruch, war er doch sehr zufrieden mit dem Ausgang seiner Verhandlung.

Die beiden Männer warteten, bis seine Schritte verklungen waren, und begannen die Sache genauer zu erörtern. Sie wechselten dabei ins Saranische, damit kein zufällig vorbeikommender Gildaer sie belauschen konnte. Außerdem hatte Roars Muttersprache den Vorteil, dass sie wesentlich weniger formell war, was beiden Männern sehr gelegen kam.

„Das wirft all deine Pläne über den Haufen, nicht wahr, Roar Magnarsfalir?“

Das Gesicht des Anführers verzog sich finster. „Auch wenn ich von Bajan viel halte, vor ihm müssen wir uns in Acht nehmen. Er sieht viel zu viel. Nicht umsonst ist er als Heerführer geachtet und gefürchtet zugleich.“

Anwyll gluckste belustigt in sich hinein. „Es stellt deine Männer vor ganz andere Herausforderungen als gedacht. Ein Fehler von ihnen, und all deine Pläne sind gescheitert. Sie werden sich gehörig zusammennehmen müssen.“ Er streckte sich erleichtert aufatmend auf seinem Sitz und nahm einen Schluck Wein. Sinnierend starrte er in den Becher und die klare rote Flüssigkeit. „Mal abgesehen von den ernsten Ereignissen, die uns erwarten, ich denke, diese Reise hat sich schon jetzt auf mehr als eine Art gelohnt“, sagte er nach einer Weile.

„Du meinst den Ratsherrn Thorald?“ Roar gelang es nur mühsam, seine sorgenvollen Gedanken abzuschütteln. „Er war einst dein Schüler, nicht wahr?“ Mit dem Temorer hatte er bis auf ein paar Belanglosigkeiten kein Wort gewechselt. „Irgendwie erinnert er mich an jemanden. Ich weiß nur nicht, an wen.“

Erstaunt wandte Roar den Kopf, als Anwyll leise zu lachen begann. „Oh ja, das tut er, aber dies Rätsel zu lösen überlasse ich dir, Clansführer.“

Der Rufer lief wütend in seiner Kammer hin und her. Nicht nur, dass er den Meister durch sein eigenmächtiges Handeln erzürnt hatte, nein, sein geheimer Raum war auch noch entdeckt worden. Als er heute Morgen Heerführer Bajan und den Thronfolger bei ihren Nachforschungen beobachtet hatte, war er zu Tode erschrocken gewesen. Sobald sie fort gewesen waren, hatte er, so schnell er konnte, den Turm geräumt. Zum Glück waren die Wachen alle beim Hauptmann gewesen und hatten seinen Erzählungen gelauscht. Um das Ganze noch zu krönen, fand die Expedition trotzdem statt, seine Intervention war also völlig umsonst gewesen. Der Meister hatte recht gehabt.

Nun brauchte er einen neuen Unterschlupf. Dies war aber nicht einfach, denn im Palast waren die Möglichkeiten, unentdeckt zu bleiben, rar. Er würde sich wohl ein Haus in der Stadt suchen müssen. Das hieß aber auch, dass er jeweils für längere Zeit abwesend war, und dies könnte jemandem auffallen.

Dieser verfluchte Bajan! Das würde er ihm büßen! Doch halt – ihm fiel eine andere Möglichkeit ein. Schnell legte er seinen Umhang um und holte die Maske aus seinem Versteck hervor. Es war an der Zeit, Alia einen weiteren Besuch abzustatten.

Alia hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Sie lag in einem mit warmem duftendem Wasser gefüllten Becken und genoss die ruhigen Momente ohne irgendeine Gesellschaft. Träge strich sie mit der Hand über das kostbare Mosaik. Ihr Plan war gelungen, Currann würde auf Expedition gehen. Geschehen konnte auf einer solchen Reise viel, es wäre daher nicht verwunderlich, wenn sich irgendein Unfall ereignen und er zu Schaden kommen würde.

Aber geschickt einfädeln musste sie es, damit kein Verdacht auf sie fiel. Alia lachte auf. Wenn Nusair dachte, sie würde sich ewig mit der Rolle der Geliebten des Königs zufriedengeben und seinem Zweck dienen, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Sie wollte mehr, sie wollte herrschen. Dazu gehörte aber auch, dass sie die legitimen Herrscher ausschalten musste. Und eigene Nachkommen gebar.

Eine perfekte Verbündete, voller Hass auf die Königin und ihre Kinder, hatte sie bereits gefunden. Sie hob den Kopf, denn im Vorraum war zu hören, dass die Dienerin jemanden einließ. Brida war mal wieder überpünktlich, dachte sie und verließ bedauernd ihr warmes Bad. Heute Abend würde sich zeigen, wie perfekt sie geeignet war.

Als sie sich abgetrocknet und angekleidet hatte, entließ sie die Dienerin und forderte Brida auf, ihr in ihren Studierraum zu folgen. Hier gab es, anders als sonst in solchen Räumen, keine Fenster oder gar versteckte Zugänge, die einen heimlichen Zuhörer verbergen konnten.

Alia reichte Brida einen Becher Wein, aber ohne speziellen Inhalt. Brida ließ sich nicht so einfach täuschen wie die anderen, dachte Alia, das machte sie als Verbündete so wertvoll.

„Ihr seht erschöpft aus“, sagte sie zu Brida und setzte sich ihr gegenüber an ihr Schreibpult.

Brida nickte. Ihre kleinen Augen huschten hin und her, sie war in Gedanken noch bei ihren vielen Aufgaben. Unruhig wand sie ihre mageren Hände ineinander. „Ja, heute ist eine neue Lieferung eingetroffen, es gab viel Aufregung und Geschrei. Ich musste wieder sehr hart durchgreifen. Begreifen diese Gören nicht, dass es eine Ehre für sie ist, hier zu arbeiten? Wo sollten sie sonst auch hin? Ihre Eltern wollen sie nicht mehr, wenn sie überhaupt noch welche haben! Ich werde wohl mit Stiig sprechen müssen, dass die Mönche mir das nächste Mal etwas besser erzogene Kinder schicken.“

„Dann sind sie wohl noch sehr jung gewesen, oder?“, fragte Alia. Es interessierte sie überhaupt nicht, wie Brida ihre Bediensteten einteilte, aber schließlich hatte sie ein Anliegen, deshalb war etwas Verständnis angebracht.

„Ja, das Jüngste war erst vier Jahre alt. Aber was sollen wir machen, es gibt viel Wechsel unter den Bediensteten. Undankbares Pack! Wenn es nach mir ginge, dürften die Mägde nicht heiraten und wegziehen, dann bliebe mir die Mühe erspart. Aber so .. Nachwuchs muss her, sonst haben wir bald nur noch Alte und Lahme hier herumstehen. Aber ich langweile Euch gewiss. Womit kann ich Euch dienen?“

Alia kam gleich zur Sache: „Dass Currann mit auf die Expedition geht, habt Ihr sicherlich schon vernommen.“ Brida nickte wie erwartet. „Wisst Ihr auch, wer die Leute sind, die Nusair entsenden wird?“

„Nein, das tut mir leid. Als dies besprochen wurde, war ich bereits mit der unsäglichen Lieferung beschäftigt.“ Brida beobachtete Alia aufmerksam. Es hatte etwas Berechnendes. „Was habt Ihr vor?“

Alia zeichnete mit ihren gepflegten Fingern die Holzmaserung auf ihrem Schreibpult nach und warf Brida einen abschätzenden Blick zu. „Ist es nicht leichtsinnig von dem König, seinen Sohn auf eine solch gefährliche Reise zu schicken? Es kann alles Mögliche passieren, denkt Ihr nicht auch?“ Sie sah Brida direkt an.

Deren Augen weiteten sich. Bedächtig sagte sie: „In der Tat, eine solche Reise ist für einen Jungen lang und gefährlich. Wie leicht geschehen Unfälle. Ich erinnere mich an den unglücklichen Sohn von König Atheas, der bei einem Jagdausflug ums Leben kam. Die Königslinie wäre damals fast erloschen, hätte die Königin nicht noch spät unseren jetzigen König geboren.“ Brida verfiel in Schweigen. Alia sah ihr an, wie ihre Gedanken arbeiteten.

Da hob Brida plötzlich den Kopf. Sie hatte ein Geräusch hinter sich gehört. Alia blickte angespannt an ihr vorbei auf einen Punkt irgendwo hinter ihr. Brida wollte sich umdrehen, aber dazu kam sie nicht mehr, denn eine kalte Hand legte sich um ihren Hals, und auf der anderen Seite wurde ihr ein Messer vor das Gesicht gehalten.

„Ganz ruhig“, schnarrte eine männliche Stimme. „Meine Schöne, ich wusste gar nicht, dass du heute Besuch hast. Welch angenehme Überraschung.“ Seine Stimme troff vor Ironie. Brida wagte nicht, sich zu rühren. „Ich kam nicht umhin, den letzten Teil eures Gespräches mit anzuhören. Es enttäuscht mich sehr, dass du mit einem solchen wichtigen Anliegen nicht zu mir gekommen bist.“ Der Mann stieß ein trockenes Hüsteln aus, das Messer bewegte sich gefährlich nah vor Bridas Gesicht.

Alia hob beschwichtigend die Hand. „Ich wollte lediglich einige Dinge von Brida wissen, das ist alles. Für den Rest hätte ich mich vertrauensvoll an Euch gewandt.“

„Das will ich auch hoffen!“ Der Mann schien verärgert. „Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich benötige für gewisse Dinge einen Raum, den ich ungesehen betreten und wieder verlassen kann, möglichst hier im Palast. Ohne Fenster und nicht belauschbar. Ihr könnt mir helfen, einen zu finden, oder“, er strich mit der Hand über Bridas Hals, und sie begann zu keuchen, „dein Gast kann dies tun. Sag mir, kennst du einen solchen Raum, altes Weib?“

Wäre Brida nicht in einer solchen Lage gewesen, hätte sie ihm für diese Anrede eine scharfe Rüge erteilt. So aber schluckte sie nur trocken. „Hinter dem Küchentrakt gibt es eine Reihe unbenutzter Lagerräume, die seit Jahren leerstehen“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Man kann sie auch vom Palastgarten aus betreten. Diese wären für Eure Zwecke bestens geeignet.“

Das Messer zuckte an ihren Hals „Wage es ja nicht, über meine Zwecke zu spekulieren. Du wirst den Schlüssel für diese Räume umgehend bei Alia abgeben. Und ..“, diesmal fuhr das Messer an ihrem Hals entlang, „.. sollte ich je entdecken, dass du hinter mir her spionierst oder über unser kleines Treffen ein Wort verlierst, wirst du dies bitter bereuen, hast du das verstanden, Weib!“ Brida wagte nicht zu nicken, sondern schloss nur die Augen.

„Sie hat verstanden“, übersetzte Alia mit Genugtuung. Die Sache begann, ihr sichtlich Spaß zu machen. Brida, die Unbesiegbare, derartig in der Zwickmühle, das war ein Anblick, den man nicht alle Tage zu sehen bekam.

Der Mann zog sich hinter einen Vorhang zurück. „Verlass den Raum!“ Brida gehorchte umgehend. Sie warf nicht einen Blick zurück, als sie humpelnd hinauseilte.

Alia lachte gehässig. Als sie sicher waren, dass Brida weit genug fort war, begannen sie, über die bevorstehende Expedition zu sprechen.

--------------------

Trägerin des Lichts - Erwachen

Подняться наверх