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Kapitel 2 Der erste Traum
ОглавлениеAm nächsten Morgen war Althea bereits vor Sonnenaufgang wach. Schnell erledigte sie ihre Morgenwäsche und lief hinüber in die Küche, wo Lusela bereits das Feuer entfacht, eine Kanne Kaffee aufgesetzt und den Hirsebrei angerührt hatte.
„Du bist ja schon wach“, rief sie erstaunt und maß sie mit einem durchdringenden Blick, „und Phelans alte Tunika hast du auch schon wieder an!“
„Och, Lusela, nur noch dieses eine Mal .. bitte!“ Althea setzte sich an den Tisch. „Wir treffen uns gleich drüben bei Tante Naluris Palast und wollen dem fremden Jungen die Festung zeigen. Er weiß doch nicht, dass ich ein Mädchen bin. Sie nehmen mich sonst bestimmt nicht mit!“
„Welcher fremde Junge?“, fragte Lusela erstaunt und stellte Althea eine Schale mit Brei hin.
„Na der, der gestern mit seinem Vater, dem Fürsten von Saran angekommen ist. Hast du das noch nicht gehört?“, brachte Althea zwischen zwei Bissen undeutlich hervor.
„Man spricht nicht mit vollem Mund, und außerdem war ich gestern vollauf mit der Wäsche und dem Unkrautjäten hinten im Garten beschäftigt, was eigentlich deine Aufgabe wäre, junge Dame, oder etwa nicht?“
„Entschuldigung, das habe ich ganz vergessen“, sagte Althea kleinlaut. Sie hatte ihre Schale leer geschlungen, als gälte es, eine Wette zu gewinnen. „Ich mach’s wieder gut. Kann ich jetzt gehen?“
„Aber nur, wenn du mir heute Abend mit den Äpfeln hilfst! Du weißt, es friert nachts schon bitter, und es dauert gewiss nicht mehr lange, bis das auch unseren Äpfeln den Garaus macht. Nun verschwinde schon!“, sagte Lusela liebevoll, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schickte sie mit einem Klaps auf den Hintern vor die Tür. Althea schnappte sich noch ihren alten Umhang und war schon verschwunden. „Geh du nur und genieße deine Abenteuer“, lächelte Lusela in sich hinein. „Bald werden neue Zeiten für dich anbrechen!“
Althea rannte durch das Tor auf die Straße hinaus und so schnell sie konnte hinauf zur Festung. Die Morgensonne schien ihr warm entgegen, obwohl es bereits Herbst war und es – Lusela hatte recht - nachts bitter gefroren hatte. Vorbei an den Wachen am oberen Tor, die sie mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ begrüßten, stürmte sie zur Treppe am Eingang des Palastes der Königin.
Dort prallte sie mit Jeldrik zusammen, der sie lachend mit den Armen abfing. Althea war zunächst erschrocken, denn sie dachte, Brida oder einer der Schergen Nusairs hätten ihr aufgelauert. Aber als sie Jeldrik erkannte, lachte sie erleichtert. Auch er hatte einfache Kleidung angelegt und einen weiten Umhang mitgebracht, der sich nicht von ihrem eigenen unterschied und seine fremdartige Kleidung vortrefflich verbarg.
Doch dann stutzte sie plötzlich. Jeldrik hatte sich bereits weiter die Treppe hinaufgewandt und blickte jetzt, da sie ihm nicht folgte, fragend zu ihr zurück. Gestern in der dämmrigen Halle waren ihr seine Augen gar nicht so aufgefallen, sie hatten einfach grau gewirkt, doch jetzt, als die Morgensonne direkt hineinschien, leuchteten sie in dem faszinierendsten Blau auf, das Althea je gesehen hatte. Dass es noch hellere Augen gab als ihre eigenen, hätte sie nicht für möglich gehalten, schon gar nicht in dieser leuchtenden Farbe.
Sie schüttelte erstaunt den Kopf und folgte ihm die Treppe hinauf. Schon wollte er den Klopfer am Haupteingang betätigen, aber Althea rief eilig: „Nein, nicht! Hier entlang.“ Sie zog ihn hinter sich her, wandte sich nach rechts und lief um das Gebäude herum. Hinten führte ein schmales Tor in einen kleinen, üppig begrünten Garten mit einer Laube. Begrenzt wurde dieser von einem Anbau, der sich nahtlos zwischen Palast und Festungsmauer einfügte. Althea lief an der Laube vorbei zu einem großen Strauch, hinter dem sich halb verborgen eine schmale Tür befand, und klopfte ein vereinbartes Zeichen. Zweimal kurz, einmal lang, zweimal kurz. Phelan öffnete ihnen sofort.
„Currann kommt gleich“, begrüßte er die beiden und ließ sie ein. „Er überredet gerade die Köchin, uns etwas zu essen einzupacken. Mutter und die Mädchen sind noch nicht auf.“
„Ein Glück, dass ich noch rechtzeitig gekommen bin“, berichtete Althea. „Jeldrik wollte schon vorne anklopfen, dann hätten wir unseren Plan vergessen können!“
Phelan rollte mit den Augen. „Stimmt, das hat Currann vergessen, dir zu sagen. Na ja, ist ja noch mal gut gegangen!“
Jeldrik sah sich in dem langen Gang um. Er war völlig kahl und aus schlichtem, hellen Stein. „Was wollen wir eigentlich hier?“
„Warte ab“, sagte Althea, als plötzlich hastige Schritte aus dem Gang zu hören waren. Sie legte die Finger an die Lippen, und die drei drückten sich in die Türöffnung. Aber es war nur Currann, der mit einem prall gefüllten Beutel angelaufen kam.
„Sieg!“, verkündete er triumphierend. „Die Köchin wünscht uns viel Spaß, wobei auch immer. Keine Sorge, sie wird bestimmt nichts sagen“, meinte er zu Phelan, der die Stirn gerunzelt hatte. Die Jungen und Althea liefen den Gang weiter hinunter, an dessen Ende sich eine einzelne Tür befand.
„Warum dürft ihr eigentlich nicht alleine weg?“, wollte Jeldrik wissen.
„Mutter befürchtet, dass man uns etwas antun könnte“, sagte Phelan, zog einen großen, schweren Gegenstand aus der Tasche und machte sich daran, die Tür zu öffnen.
„Du hast ja gesehen, welche Querelen es bei Hofe gibt“, fügte Currann hinzu, „aber keine Sorge, wir wissen den falschen Leuten schon aus dem Wege zu gehen.“
Jeldrik gab keine Antwort, sondern bestaunte den schweren, bronzenen Gegenstand in Phelans Hand. „Was ist das denn?“
Verwundert hielt Phelan inne. „Was? Dies hier? Oh, das ist ein Schlüssel. Damit kannst du Türen sicher verschließen. Niemand kommt dann in den Raum hinein. Na ja, zumindest fast niemand.“ Er grinste schief, und Currann lachte.
„Phelan ist ein Meister darin, diese Schlösser aufzubrechen, aber wir machen es nicht allzu oft, weil du dann die Spuren siehst.“
„Das .. darf ich mal?“ Jeldrik streckte neugierig die Hand aus, und Phelan gab ihm bereitwillig den Schlüssel. „Oh, der ist schwer! Und unhandlich. Ist das nicht mühsam, den mit sich herumzutragen?“ Er wog den Schlüssel in der Hand.
„Ja, schon“, gab Currann zu, „aber einige Beamte tragen ihn sogar offen, es ist das Zeichen ihres Amtes. Dann wissen alle, dass sie einen wichtigen Stand innehaben. Es ist sehr kompliziert.“
„Hmm..“, Jeldrik sah nachdenklich auf den Schlüssel herunter, „damit kannst du nicht nur von außen absperren, sondern auch deine Verfolger aussperren, habe ich recht? Haben eure Türen auch solche Schlösser? Die würde ich an der Stelle eurer Mutter einbauen lassen, wenn sie so etwas fürchtet.“ Die beiden Brüder nickten finster. Sogleich bereute Jeldrik seine Worte. Er sah, dass Altheas Augen auf einmal ganz dunkel vor Furcht wurden. Sieh an, dachte er, von Graugrün zu Dunkel und wohin noch? Er reichte Phelan den Schlüssel zurück.
Während Phelan die Tür öffnete und sie wieder abschloss, meinte Althea zu Jeldrik: „Was sie nicht wissen, ist, dass Brida schon oft sehr gemein zu mir war, vor allem, wenn Vater nicht dabei war.“ Sie erinnerte sich besonders an einen Vorfall, als sie sechs Jahre alt gewesen war, und spürte noch heute die blauen Flecken auf ihren Armen. Lusela hatte Phelan die Schuld an den blauen Flecken gegeben, und Althea hatte sie in dem Glauben gelassen. Seither war sie nie wieder allein in den Gängen umhergestreift. Jeldrik warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie befreite sich von den unangenehmen Erinnerungen mit einem Kopfschütteln und wandte sich wieder der Gegenwart zu.
Sie standen in einem leeren Raum, an dessen Ende eine lange nicht mehr benutzte Feuerstelle mit einem riesigen Rauchabzug gähnte. Currann wandte sich der Öffnung zu. Jeldrik stutzte. „Und nun?“, fragte er und blickte Phelan an. Doch dann fuhr er überrascht herum. Currann war verschwunden!
„Das gibt’s doch nicht!“, rief er und fügte einen saftigen Fluch in seiner Sprache hinzu.
Althea und Phelan brachen in Gelächter aus. „Versuch es mal“, forderte Althea ihn auf.
Ratlos ging Jeldrik auf die Feuerstelle zu und steckte schließlich seinen ganzen Körper hinein, als er von außen nichts entdecken konnte. Da sah er es sofort. Die hinteren Steine auf der rechten Seite reichten nicht ganz bis an die Rückwand heran. Sie waren so geschickt angelegt, dass man dies von außen nicht sehen konnte.
„Das werde ich mir merken“, sagte Jeldrik beeindruckt und trat durch die Öffnung zu Currann. Althea und Phelan folgten. „Mutter benutzt diesen Gang, um ungesehen in die Häuser der heiligen Asklepia zu kommen. Sie hilft dort oft den Kranken“, erklärte ihm Phelan. „Wir wussten lange nichts von ihm, bis Currann und ich uns hier geprügelt haben und er kopfüber in die Feuerstelle gefallen ist.“ Currann verpasste ihm eine Kopfnuss. Phelan rächte sich und schubste zurück.
„Hört auf damit!“, tadelte Althea. Sie folgten dem Gang, der durch Schlitze in der Außenmauer genug Tageslicht bekam, sodass sie ihren Weg erkennen konnten.
Currann fuhr fort: „Wir sind jetzt direkt in der Stadtmauer. Dort hinten geht eine Treppe in den Fels hinab und mündet in die hängenden Gärten.“ Sie stiegen die Treppe hinab, die ebenfalls durch die Spalten in der Außenwand genügend beleuchtet wurde.
Jeldrik sinnierte immer noch darüber nach, was er eben gesehen hatte. Schließlich beschloss er, seine neuen Freunde einfach auszufragen. „Wisst ihr, das ist die erste Feuerstelle, die ich in diesem Palast zu sehen bekommen habe. Warum gibt es im Gästetrakt keine? Müssen eure Gäste im Winter frieren?“
„Nein“, rief Currann von weiter unten, während Althea und Phelan auflachten. „Alle großen Häuser in Gilda werden aus dem Keller beheizt, auch der Gästetrakt. Die warme Luft strömt durch Löcher und Kanäle in den Wänden nach oben. Eine Feuerstelle in jedem Raum haben nur noch die kleinen, älteren Häuser, so wie das von .. Althans Vater.“
„Diese Kanäle sind der beste Weg, ungesehen durch den Palast zu gelangen“, erklärte Phelan und lachte über Jeldriks verdutzte Miene. „Es gibt Hunderte davon in der Festung, und wir kennen sie fast alle“, raunte er ihm etwas leiser zu, weil Currann das nicht unbedingt hören sollte. In der Tat kannten Althea und er sich wesentlich besser aus als Seine Hoheit.
Sie traten neben Currann ans Ende der Treppe. Von rechts fiel helleres Tageslicht hinein. „Dort drüben geht es in die Grotte der hängenden Gärten“, erklärte Currann.
Sie hörten Wasser rauschen, und da wusste Jeldrik, dass sie sich hinter dem Wasserfall befanden. „Wo kommt nur all das Wasser her? Hier oben auf dem Felsen gibt es doch sicherlich keine derart ergiebige Quelle?“
„Nein“, sagte Phelan und wollte es erklären, doch Currann stieß ihn warnend an.
Das entging Jeldrik nicht. „Warum willst du es nicht, dass ich das erfahre?“, fragte er herausfordernd.
Althea rollte mit den Augen. „Lass nur, du kannst es ruhig wissen. Jeldrik ist unser Gast und Freund“, mahnte sie in Curranns Richtung. „Das ist eines der größten Geheimnisse und Wunder dieser Stadt. Vater hat es uns einmal gezeigt“, erklärte sie Jeldrik. „Die Quelle entspringt tief unten im Felsen. Dort gibt es eine große Höhle, wo das Wasser gesammelt und dann in die Festung hinaufgebracht wird.“
„Nur wenige Leute haben dort Zutritt“, fiel ihr Currann ungehalten ins Wort, dass sie einfach so wichtige Geheimnisse ausplauderte.
Das fand Jeldrik nicht gerecht. Althan war schon wieder in seiner Achtung gestiegen, und er sprang ihm helfend bei. „Ihr habt mein Wort, dass ich es niemandem erzählen werde, selbst meinem Vater und Meister Anwyll nicht. Aber wenn nur so wenige Leute dort Zutritt haben, wer trägt es dann nach oben?“
Da umspielte ein überlegenes Lächeln Curranns Lippen. „Es wird nicht getragen. Aus der Festung führt ein tiefer Brunnenschacht bis ganz unten. An langen Seilen hängen kleine Kübel, die das Wasser über mehrere Ebenen nach oben transportieren. Durch die Festung läuft es in Kanälen und..“
„Wird erhitzt?“ Jeldrik dachte an ihr warmes Bad.
„Das auch“, nickte Currann. „Zum Schluss wird das Abwasser gesammelt und treibt beim Herabfließen in die Stadt die Seile an, die das Wasser nach oben ziehen. Es ist einfach genial. Einmal in Gang gebracht, braucht man es nie wieder anzutreiben.“ Ihm war der Stolz über diese Erfindung seines Volkes deutlich anzuhören.
Phelan dagegen machte ein eher betretenes Gesicht. Er fand, Currann spiele sich ihrem Freund gegenüber zu sehr auf. Daher sagte er einschränkend: „Der Wasserfall hier ist allerdings einem Unfall zu verdanken oder vielmehr mehreren. Manchmal gibt es hier Erdbeben, und dabei sind Risse in den Kanälen entstanden.“
„Und da man schlecht die ganze Festung abtragen und es reparieren konnte, hat man sich gedacht, man leitet es hier durch die Gärten in die Stadt“, ergänzte Althea, die genau merkte, weshalb Phelan das tat. Manchmal war Currann wirklich unerträglich!
„Ich würde das zu gerne einmal sehen“, sagte Jeldrik mit einem bedauernden Unterton in der Stimme, denn dafür war die Zeit ihres Besuches viel zu kurz. „Wo gehen wir jetzt hin?“
„Wir gehen hier weiter“, sagte Currann und zeigte in eine dunkle Ecke. Ein modriger Geruch schlug ihnen entgegen, und es wurde unangenehm kühl. Plötzlich war Jeldrik dankbar für seinen Umhang.
Currann öffnete sein Bündel und brachte eine kleine Fackel zum Vorschein, die er mit seinen Schlagsteinen und Zunder entzündete. Sofort sah Jeldrik, dass in der hinteren Ecke eine weitere Treppe in die Tiefe führte. „Diese Treppe geht durch den nackten Fels bis hinunter in die Stadt“, erklärte Currann, der die Gruppe weiterhin anführte. Als sie an deren Ende angelangt waren, flüsterte er: „Still jetzt!“
Von Ferne waren Stimmen und Gelächter zu hören. Currann löschte die Fackel, wartete einen Augenblick, bis er sie in sein Bündel stecken konnte, und schlug seine Kapuze hoch. Jeldrik konnte die Bewegung zu seinem Erstaunen erkennen, denn als sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er, dass fahles Tageslicht in den Tunnel fiel.
Phelan flüsterte ihm zu: „Wir befinden uns hinter einem unbenutzten Kellerraum der Schenke zum Goldenen Rad. Nur damit du weißt, wohin du dich wenden musst, falls du uns verlierst. Setz deine Kapuze auf, du fällst zu sehr auf.“ Jeldrik nickte, und die vier Freunde traten, nachdem Currann vorsichtig die Lage erkundet hatte, aus einer ganz ähnlichen Feuerstelle wie im Palast in den Kellerraum. Am anderen Ende befand sich eine Tür und daneben, halb verdeckt von Gerümpel, eine Fensterklappe, die nicht verschlossen war.
„Ich bin mir nicht sicher, ob Mutter einen Schlüssel für diese Tür hat“, meinte Currann leise, „wir haben sie jedenfalls noch nie geöffnet gesehen.“ Vorsichtig stieg er durch das Fenster und half, nachdem er überprüft hatte, ob die Luft rein war, auch den anderen hindurch. Sie befanden sich im Innenhof eines hohen Gebäudes, das unmittelbar am Felsen gelegen war. Durch das offene Hoftor konnten sie auf eine belebte Gasse hinausblicken. Schnell mischten sie sich unter den Menschenstrom, Althea und Jeldrik die Köpfe tief gesenkt, damit sie niemandem auffielen.
Jeldrik hatte schon gestern auf ihrem Weg in den Palast über die vielen Menschen gestaunt, und dabei waren sie nur die breite Hauptstraße entlanggekommen. Nun aber wurde er von dem Gewühl nahezu erschlagen. Schleunigst sah er zu, dass er den Anschluss an die anderen nicht verlor, denn Currann schritt zügig aus. Er folgte seinen Freunden durch verwinkelte Gassen und verlor sofort jede Orientierung. Sie passierten mindestens drei Märkte, die in alle möglichen Nischen, Dachüberstände und Plätze gequetscht waren und auf denen ein unglaublicher Lärm herrschte. Oder war es nur ein einziger? Oder gar keiner? Auf Jeldrik stürmte eine Vielzahl von Eindrücken und Gerüchen ein, er sah Menschen aus allen Himmelsrichtungen des Landes Morann, sogar einige seiner Landsleute mit ihrer unterschiedlichen Kleidung und ihrem fremden Gebaren und einige Fremde, die er noch nie gesehen hatte. Auf keinem der Märkte waren irgendwelche lebende Tiere zu finden, aber dies war für ihn nach ihrer gestrigen Erfahrung keine Überraschung. Zu seinem Erstaunen wirkte die Stadt trotz des Gewühls sehr sauber. Dies lag wohl vor allem daran, dass er nirgends eine Gosse entdecken konnte. Er nahm sich vor, Currann später zu fragen, ob sie über Abwasserkanäle verfügten. Er war sich dessen fast sicher, denn das gewisse von den Männern bestaunte und ausgiebig ausprobierte Örtchen in ihrem Gästequartier sprach für sich. Jetzt aber war es für Gespräche einfach zu laut.
Dafür besah er sich die Häuser etwas genauer. Es war ein völliger Wirrwarr aus Eingängen, Treppen, Anbauten und Überständen, und wie auch an der Hauptstraße gab es kaum eine Fensteröffnung nach draußen. Wie lebte es sich nur in diesen Häusern?, fragte sich Jeldrik, der sich nicht vorstellen mochte, wie das vor allem im Winter war. Fragen über Fragen, die er jetzt nicht stellen konnte und wohl auch nie stellen würde, denn zur Beantwortung hätten sie Wochen gebraucht.
Schließlich gelangten sie durch einen engen Gang bis an die äußere Stadtmauer. Ein kleineres Tor als das große Haupttor, durch das Jeldrik gestern die Stadt betreten hatte, erhob sich vor ihnen. Ungesehen gelangten sie mit dem Menschenstrom hindurch und fanden sich unmittelbar dahinter in dem sehr staubigen Bereich wieder. Sie banden sich Tücher vor den Mund. Currann wandte sich gleich hinter dem Tor nach rechts und tauchte in ein wahres Labyrinth aus Pferchen, Unterständen und Käfigen ein, in denen es von allen möglichen Tieren nur so wimmelte.
„Hier beginnt das Karawanenareal mit dem Viehmarkt“, rief Currann Jeldrik über den Lärm hinweg zu. Sie durchquerten zügig das Areal. Dahinter öffnete sich die Steppe von Morann. Jeldrik entdeckte weiter im Süden in einiger Entfernung ein paar Gebäude aus Stein, die sich um einen Abhang gruppierten.
„Was ist das dort?“, fragte er in normaler Lautstärke, denn sie hatten Lärm und Staub hinter sich gelassen.
„Das sind der Schlachthof und die Gerbereien und Wäschereien. Dahinter liegt das Gefangenenlager am Steinbruch“, erklärte Phelan. „Wegen des Geruchs liegen der Schlachthof und die anderen Gewerbe außerhalb der Stadt. Die Gefangenen müssen die Abfälle forträumen und andere unangenehme Arbeiten erledigen. Die Leute überlegen es sich daher ganz genau, ob sie gegen die Gesetze verstoßen, denn niemand will gerne dorthin.“
Jeldrik lachte. „Das würde ich mir auch gut überlegen. Bei uns gibt es zwar kein Gefängnis, aber dafür kommt man vor die Clansführer und wird von ihnen bestraft, aber nur bei besonders schweren Vergehen.“
„Oh, Fürst Bajans Männer haben schon einiges zu tun, hauptsächlich mit fremden Trunkenbolden und Gelegenheitsdieben. Schwere Vergehen gibt es aber auch bei uns nur selten“, sagte Currann. „Die Todesstrafe gibt es zwar, sie wurde aber zuletzt vor einigen Hundert Jahren verhängt. Wir leben im Frieden.“
Sie wandten sich ab und liefen weiter um die Stadt herum. Plötzlich blieb Currann stehen und runzelte die Stirn. Im Gebüsch lagerten ein paar heruntergekommene Gestalten mit sehr dunkler Haut. Sie waren mit abgerissenen Fellen bekleidet. Als sie die Freunde sahen, machten sie ein paar drohende Gebärden in ihre Richtung, und sie beeilten sich weiterzukommen.
„Was waren das für Leute?“, fragte Althea. Currann schüttelte den Kopf, und auch Phelan war ratlos.
„Das waren Sumpfleute aus dem Lir-Delta“, sagte Jeldrik.
Currann sah erstaunt zurück, aber sie waren verschwunden. „Die haben wir noch nie hier in Gilda gesehen.“
„Es ist in der Tat ungewöhnlich, sie wagen sich normalerweise nicht so dicht an die großen Städte heran“, berichtete Jeldrik stolz. Das hatte er von Anwyll unterwegs erfahren. „Kein Wunder, denn die Leute fürchten sie, weil sie so dunkel aussehen und nur Felle tragen. Sie handeln gewöhnlich nur mit den Leuten, die bis an den Rand ihres Gebietes reisen und die sie kennen. Warum sie wohl hier sind? In Saran haben wir auch noch nie welche gesehen, aber unterwegs von Temora hierher sind uns ein paar begegnet.“ Doch dann wurde er von seinen Überlegungen abgelenkt, denn hinter ein paar Hügeln tauchten ihm sehr bekannte Zelte auf.
Beeindruckt sah er die anderen an. „Ohne euch hätte ich nie so schnell hierher gefunden.“ Die drei lachten. Als sie sich den Zelten näherten, wurden sie von einer Wache angerufen. Jeldrik schlug seine Kapuze zurück und antwortete ihm in seiner Sprache. Der Wachposten erkannte ihn und grüßte, während Jeldrik erklärend auf seine Begleitung wies und sie passieren durften. „Kommt“, sagte Jeldrik, „die Pferde sind dort drüben.“ Sie kamen an einigen Zelten vorbei und gelangten zu einem großen, freien Areal, auf dem mehrere Tiere an langen Leinen angepflockt waren und friedlich grasten. Auf dem Weg dorthin begegneten sie niemandem.
„Sie sind wohl alle in der Stadt“, vermutete Jeldrik. „Umso besser, dann werden wir nicht gestört.“ Er umrundete das Areal. Etwas abseits standen ein prachtvoller, schwarzer Hengst und eine schöne braune Stute mit weißer Blesse und Fesseln. Beeindruckt blieben sie in sicherer Entfernung stehen, während der Hengst nervös den Kopf hochwarf und wieherte. Die Stute jedoch erkannte Jeldrik sofort, kam sanft schnaubend auf ihn zu und begann, seine Taschen nach Essbarem abzusuchen. Als sie bei ihm nichts fand, setzte sie die Suche bei Althea fort, die lachend ein paar Äpfel aus der Tasche hervorzauberte.
„Das ist Jerika, mein Pferd. Der Hengst dort ist Thror, er gehört meinem Vater. Haltet euch von ihm fern, er ist äußerst bösartig und lässt nur meinen Vater an sich heran.“ Ihm war Curranns sehnsüchtiger Blick nicht entgangen. „Ich habe einmal versucht, ihn zu reiten. Das hat mich fast das Leben gekostet, und mein Vater hat mir derart den Hintern versohlt, dass ich eine Woche lang nicht laufen konnte. Wir nehmen Jerika und suchen uns von den Packpferden ein paar aus.“ Currann runzelte die Stirn. „Tut mir leid, anders geht es nicht“, sagte Jeldrik, dem das nicht entging. „Bei uns werden die Pferde von Geburt an ihren Besitzer gebunden und erhalten sogar eine Abwandlung seines Namens. Es wäre ein Verstoß gegen unsere Sitten, wenn ich euch das Pferd eines anderen geben würde.“
Phelan nickte. „Ich würde auch nicht wollen, dass jemand anderes mein Pferd reitet.“
„Ja, du hast recht“, lenkte Currann versöhnlich ein, „Packpferd hörte sich nur so nach Esel an.“ Alle lachten befreit auf, nur Althea blieb stumm.
Jeldrik sah, dass sie etwas bedrückte. „Was ist denn los?“
Althea druckste verlegen herum, aber Phelan kam ihr zuvor: „Althan kann noch nicht richtig reiten.“ Althea senkte den Kopf.
„Wie, du kannst noch nicht richtig reiten?“, rief Jeldrik verwundert.
Currann begann hämisch zu grinsen, was Althea nicht entging. Wütend blitzte sie ihn an. „Bei uns lernt man erst mit zehn Jahren in der Heerschule reiten, ich habe gerade erst angefangen“, verteidigte sie sich.
Phelan legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. „Du kannst ja hinter mir aufsitzen“, sagte er, aber glücklich war er über die Lösung auch nicht.
Jeldrik entging der Konflikt nicht und fasste einen Entschluss. „Nein, warte“, rief er, „ich habe eine Idee!“
Er nahm die Leine von Jerika und drückte sie Althea in die Hand. „So, jetzt pass mal auf. Bei uns lernen die Kinder reiten, bevor sie laufen können. Wir werden solange üben, bis du es kannst, oder wir reiten alle nicht los. Geht bitte dort rüber, wo wir etwas Platz haben und die anderen Pferde nicht im Wege stehen. Oder hast du etwa Angst?“
„Natürlich nicht!“, erwiderte Althea.
„Dann freunde dich mit Jerika an, ich hole nur schnell eine längere Leine“, rief er und schon war er zwischen den Zelten verschwunden.
„Unglaublich!“, murmelte Currann ungehalten.
„Nein, entweder alle oder keiner“, entgegnete Phelan. „Es ist seine Pflicht als Gastgeber“, wies er seinen großen Bruder zurecht. Currann schnaubte und entfernte sich wütend. Althea streichelte unterdessen Jerika, die hingebungsvoll an ihrer Apfelspenderin herumknabberte.
Dann tauchte Jeldrik mit der versprochenen Leine in der Hand wieder auf. „So, dann wollen wir mal.“ Er nahm Althea die kurze Leine aus der Hand. „Phelan, hilf ihm bitte rauf. Wir fangen mit Schritt an.“ Jerika begann, im Kreis zu gehen. Er wies Althea an: „Setz dich gerade hin, Althan, Rücken durchbiegen, aber locker bleiben, und mach die Beine runter. Nicht so festklammern! Gut so!“
Jeldrik ließ Jerika ein paar Runden im Kreis gehen. „Nun wollen wir es einmal mit Trab probieren.“ Er schnalzte mit der Zunge, und Jerika wechselte in den Trab. Sofort geriet Althea ins Rutschen und landete schließlich im Gras. Geschickt rollte sie sich ab und wollte gleich wieder aufspringen.
„Nein, halt, warte!“ Jeldrik hielt die Stute an und ging zu ihr. Althea ließ den Kopf hängen. Ruhig half er ihr wieder hinauf und blickte mit seinen klaren blauen Augen zu ihr auf. Sie fasste sofort wieder Mut. „Du musst den Rhythmus des Pferdes fühlen. Bleib locker, mach meinetwegen die Augen zu.“ Althea nickte. Currann kam langsam heran und schaute interessiert zu. Der Junge konnte wirklich etwas, war geduldig und einfühlsam, das musste er zugeben. Er selbst hätte wahrscheinlich längst die Geduld verloren.
Jeldrik ließ wieder das Schnalzen hören, und die Stute setzte sich in Bewegung. „Also noch einmal, Rücken gerade, Beine runter und Augen zu!“
Althea tat, wie ihr geheißen. Zuerst war sie etwas unsicher, aber bald spürte sie nur noch die Bewegungen des Pferdes. Jeldrik trieb die Stute vorsichtig in den Trab, und diesmal blieb Althea oben. Jeldrik sagte nichts mehr, sondern überließ sie ganz ihrer Konzentration. Auch Phelan hielt gebannt den Atem an.
Althea war, als würde sie fliegen. Unwillkürlich streckte sie die Arme nach beiden Seiten aus. „Unglaublich!“, murmelte Currann leise. Jeldrik lächelte nur und trieb die Stute vorsichtig in einem leichten Galopp. Althea begann glücklich zu lachen, behielt aber die Augen zu und die Arme ausgestreckt. Sie hielt sich perfekt, das musste sogar Currann zugeben. Jeldrik wechselte noch mehrmals zwischen den Gangarten hin und her, und Althea bewältigte die Übergänge problemlos. Schließlich hielt sie die Stute von selbst an.
„Du warst sehr gut“, lobte Jeldrik. „Im Gelände ist es zwar noch ein wenig anders, aber im Grunde hast du es begriffen.“ Er half Althea herunter. Sie strahlte ihn an. ‚Schau an’, dachte Jeldrik, ‚seine Augen sind ja auf einmal ganz grün!’ Das war wirklich erstaunlich.
Er wandte sich an Currann und Phelan. „Wollen wir uns ein paar Pferde suchen und losreiten? Althan, du reitest am besten auf Jerika, die kennst du ja nun. Ich überlasse sie dir gerne.“ Glücklich schmuste Althea mit der Stute, während die anderen zu den übrigen Pferden gingen und Jeldrik einige Tiere aussuchte. Schnell waren diese aufgezäumt, und sie konnten losreiten.
Althea empfand ein nie gekanntes Gefühl der Freiheit, obwohl sich bereits nach kurzer Zeit all ihre Knochen und besonders ihr Hintern schmerzhaft bemerkbar machten. Doch sie sagte nichts, eher hätte sie sich Zunge abgebissen, als das zuzugeben.
Als sie schließlich nach einer Stunde auf einer Anhöhe anhielten und in der Ferne die Festung auf ihrem Felsen thronen sahen, fühlte sie sich, als ob sie eine neue Welt entdeckt hätte. Auch Currann und Phelan genossen es sichtlich, einmal aus der Stadt herauszukommen.
Als sie abstiegen und sich das Mahl teilten, das ihnen die Köchin eingepackt hatte, blieb Althea ungewöhnlich still, ignorierte ihre schmerzenden Glieder und hing ihren Gedanken nach. Jeldrik gefiel ihr sehr, er behandelte sie genau so wie Phelan. Selbst Currann war seit der Reitstunde ungewöhnlich freundlich zu ihr. Sie hatte ihn wohl beeindruckt, dachte sie zufrieden.
Schließlich kehrten sie am Mittag in das Lager zurück und machten sich auf den Rückweg in die Stadt. Sie wollten Jeldrik am Nachmittag die Festung zeigen, hatten sie unterwegs beschlossen, denn sie wussten nicht, wie lange die Gesandtschaft aus Saran noch bleiben würde. Currann drängt zur Eile, und so stiegen sie bald wieder den dunklen Gang hinauf.
Im Hause Thoralds fand am Morgen ein Treffen ganz anderer Art statt. Sie hatten kaum ihr Frühmahl beendet, als es schon an der Tür klopfte und Meno eintrat, wie üblich ohne vorher etwas gegessen zu haben, wusste er doch genau, dass Lusela immer etwas für ihn übrig hatte. Bald darauf erschien auch die Königin in Begleitung von Heerführer Bajan, der sie in den Häusern der heiligen Asklepia abgeholt hatte. Sie nutzte den geheimen Gang in die Häuser stets, um ungesehen den Palast verlassen zu können, und trug auch das Habit einer Heilerin, einen blauen Vollschleier. Ohne es zu wissen, hatte sie ihre Söhne nur kurz im Geheimgang verpasst.
Lusela, die die ganze Zeit geschäftig herumhantiert hatte, gönnte sich eine Pause von ihren Pflichten und setzte sich mit an den Tisch. In anderen Häusern hätte dies eine Magd nicht gewagt, aber Thorald hatte schon frühzeitig darauf bestanden, Lusela als gleichwertiges Mitglied seines Haushaltes zu behandeln, und so störte sich niemand an ihrer Anwesenheit. Lusela warf Thorald einen erwartungsvollen Blick zu, und dieser räusperte sich.
„Naluri, hättest du wohl einen Augenblick Zeit für ein Anliegen von Lusela und mir?“
Anwyll fiel auf, dass er die formelle Anrede wegließ, was aber niemandem ungewöhnlich erschien.
„Aber natürlich.“ Naluri neigte den Kopf.
„Den neuesten Streich unserer Kleinen hast du ja bereits zu Gesicht bekommen“, begann Thorald. „Sie wird zunehmend aufmüpfiger, und ich habe außerhalb der Unterrichtszeiten kaum noch Zeit, mich um sie zu kümmern.“
Naluri nickte verständnisvoll und seufzte. „Auch ich habe mich nicht so um sie gekümmert, wie es mir als ihrer Tante wohl angestanden hätte.“
Lusela unterbrach sie: „Nein, nein, das denken wir keineswegs. Aber wir meinen, dass Althea ein wenig mehr weibliche Erziehung und Etikette gebrauchen könnte.“
Thorald fuhr fort: „Yola berichtete uns, dass die Zwillinge nun auch unterrichtet werden sollen, und ich wollte dich fragen, ob Althea nachmittags zu euch kommen kann. Das würde sicherlich einen mildernden Einfluss auf sie haben.“
Naluri lachte auf. „Oder sie erzieht die Zwillinge um, was durchaus passieren könnte.“ Sie wurde wieder ernst. „Nein, ich habe die Verantwortung als einzige weibliche Verwandte hier lange genug vor mich hergeschoben. Das bin ich meiner Schwester schuldig“, sagte sie und blickte Thorald traurig an. Sie holte tief Luft. „Solange die Gesandtschaft noch da ist, werden wir alle beschäftigt genug sein, aber danach schickt sie jeden Nachmittag zu uns. Fürst Bajan, wenn wir schon dabei sind, mit Euch möchte ich auch etwas Ähnliches vereinbaren.“ Lusela erhob sich und widmete sich wieder ihrer Arbeit, sie hatte ihr Anliegen vorgebracht.
Die Königin wartete, bis sie gegangen war, und fuhr dann fort: „Nach dem gestrigen Vorfall fürchte ich mehr und mehr um die Sicherheit meiner Söhne. Ich möchte, dass auch Phelan keine Gelegenheit mehr hat, allein herumzustreifen. Ohne Althea wird es ihm eh zu langweilig werden, obwohl ich den beiden durchaus zutraue, den falschen Personen aus dem Wege zu gehen, besonders Nusair und Brida. Würdet Ihr ihn von nun an wie Currann an den Nachmittagen in der Heerschule beschäftigen? Ich weiß, er ist eigentlich noch zu jung“, lenkte sie ein.
Bajan verbarg sein Erstaunen gut. Bisher hatte die Königin sich immer geweigert, ihre Kinder gänzlich aus ihrer und Thoralds Obhut zu entlassen, lediglich Currann hatte er persönlich einige Zeit unterrichtet. Er fand, dass sie ihre Kinder zu stark abschottete, obwohl er es verstehen konnte. Ihm kam ein Einfall. „Versteht mich nicht falsch, aber ich konnte in den letzten Wochen schon für Currann kaum noch genug Zeit erübrigen. Daher lasst mich etwas anderes vorschlagen: Wir fangen nächste Woche an, einen neuen Jahrgang Kundschafter auszubilden. Phelan ist in der Tat noch sehr jung. Da es als Kundschafter aber nicht so sehr auf Körperkraft wie auf Klugheit und Geschicklichkeit ankommt, traue ich ihm durchaus zu, mit den älteren Jungen mitzuhalten. Er ist dort ebenso sicher, als wenn ich ihn persönlich unterrichten würde. Und für Currann .. nun, er ist zwar noch nicht ganz alt genug, aber ich denke, es wird Zeit für ihn, in das Heer einzutreten. Dann schätzt Ihr die Lage ebenso ernst ein wie ich?“ Er sah Naluri fragend an.
„Der gestrige Auftritt Alias war ein gut geplanter Angriff auf meine Stellung bei Hofe“, bestätigte Naluri resigniert. Erklärend fügte sie für Anwyll hinzu: „Wisst Ihr, der Tod meiner Schwester wurde nie aufgeklärt.“
„Offiziell ist sie bei Altheas Geburt gestorben, doch die ehrwürdige Mutter Klesa ist sich sicher, dass Gift mit im Spiel war“, ergänzte Thorald.
Anwyll setzte sich mit einem Ruck aufrechter hin. „Der Name der ehrwürdigen Mutter wird auch in unserer Gemeinschaft stets mit Achtung genannt. Wenn sie es sagt, dann muss es wahr sein“, meinte er, fassungslos das greise Haupt schüttelnd.
Naluri war noch nicht fertig mit ihrer Erklärung. „Seit Alia die Geliebte des Königs ist und Brida auf ihre Seite gezogen hat, wohnen wir in einem eigenen Palast, wo wir unsere eigenen, uns treu ergebenen Diener haben. Ich versuche außerdem, die Kinder möglichst weit von der Gruppe im Palast entfernt zu halten.“
„Ich verstehe“, nickte Anwyll ernst. „Ihr befürchtet also, dass man Euren Kindern etwas antun könnte. Dies macht durchaus Sinn, denn Eure Söhne sind die Thronfolger. Ich halte Euren Entschluss für sehr weise.“
„Zuzutrauen wäre es vor allem Alia und Brida“, sagte Thorald.
Anwyll hob fragend den Kopf. „Warum eigentlich immer wieder Brida? Sie ist eine Dienerin. Wie sind ihre Absichten?“
Naluri erläuterte es ihm: „Seit meiner Heirat mit dem König nimmt sie mir übel, dass ich ihr in die Führung des Palastes hineingeredet habe. Dabei lag wirklich einiges im Argen, sie hat die Bediensteten nicht gut behandelt und ihre Pflichten vernachlässigt. Als der Streit eskalierte, wollte der König sie schon entlassen, aber das schien mir doch etwas hart. Eine Fehlentscheidung, das gebe ich offen zu. Trotzdem hat sie dabei ihr Gesicht verloren und hegt seitdem einen unheimlichen Groll auf mich.“
Thorald fuhr fort: „Sie wollte außerdem ihren Sohn..“
Meno beugte sich vor und sagte grinsend: „Meine Wenigkeit ..“ Alle lachten.
„.. mit Naluris Schwester Amaya verheiraten. Sie nimmt es mir noch heute übel, dass ich Amaya geheiratet habe, und lässt dies auch Althea immer wieder spüren.“
Bajan fand es an der Zeit, die Unterredung auf ihren eigentlichen Zweck zurückzuführen. Er war ein viel beschäftigter Mann und seine Zeit knapp bemessen. „Nusair und seinen Untergebenen traue ich solche Schandtaten aber nicht zu, denn immerhin sind sie Männer des Einen Herrn. Nichtsdestotrotz ist sein Einfluss im Rat fast unbegrenzt gewachsen, seit Alia da ist und der König häufig ‚unpässlich’ ist. Also müssen wir heute genau aufpassen, was wir wie vorbringen. Meister Anwyll, berichtet uns doch bitte über die neuesten Erkenntnisse Eurer Gemeinschaft.“
Anwyll räusperte sich, zu fassungslos war er noch von dem, was er soeben erfahren hatte. „Die Zeichen deuten darauf hin, dass große Umwälzungen bevorstehen. Unsere Wahrsagungen deuten darauf hin, dass sich im Norden eine Macht …“
Meno schnaubte nur. „Entschuldigt, wenn ich etwas taktlos erscheine, aber dies können wir dem Rat wohl kaum vorbringen. Nusair würde es sofort als heidnisches Geschwätz abtun. Versteht mich nicht falsch“, sagte er, als Anwyll empört protestieren wollte, „ich erachte Eure Gelehrten als sehr fähig und weise. Doch müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen: Damit werden wir bei Nusair und dem König nicht weit kommen!“
„Meno hat recht, Meister Anwyll“, stimmte Thorald ihm zu.
„Dann lasst mich berichten, was ich in der letzten Woche von unseren Kundschaftern erfahren habe“, warf Bajan ein. „Die Sumpfleute aus dem Lir-Delta verlassen ihre angestammten Gefilde. Es wurden sogar schon einige Flüchtlinge in den Außenbezirken von Gilda gesehen, und ihr wisst, wie sehr sie die Siedlungen sonst meiden. Händler berichteten uns, dass aus den Sümpfen selbst jedes Leben verschwunden zu sein scheint. Am Berg Kohinor wurden unheimliche Lichter gesichtet. Die Hirten, die in der Nähe des Deltas ihre Herden weiden lassen, berichten von Wesen, halb Mensch, halb Tier, die sich in den Gebirgstälern herumtreiben. Einige Hirten sind spurlos verschwunden, aber niemand weiß etwas Genaues.“
Thorald fuhr fort: „Wir müssen den Rat davon überzeugen, eine Expedition dorthin zu entsenden, die der Sache auf den Grund geht. Besser jetzt als zu spät.“ Alle nickten einhellig.
Meno zog ein Pergament mit Notizen hervor. „Auch wenn die Mönche einen historischen Zusammenhang abstreiten würden, so haben Meister Thorald und ich und wohl auch die Gelehrten von Temora“, er blickte Anwyll fragend an, und dieser nickte, „in den alten Schriften nach Hinweisen geforscht. Leider sind bei einem Brand vor einigen Jahren ein Teil der alten Schriften vernichtet worden, sodass wir bisher nicht fündig geworden sind.“
„Auch bei uns sind trotz aller Sorgfalt nicht alle Schriften erhalten geblieben. Daher bestehen unsere Erkenntnisse hauptsächlich aus mündlichen Überlieferungen“, sagte Anwyll. „Aber lasst mich berichten, was die Mönche nur zu gerne vergessen lassen möchten: Einst war Gilda Sitz der weisen Gemeinschaft.“
Die Königin fuhr erstaunt auf. „Ihr meint, von Euren Vorfahren?“
„So ist es“, bestätigte Thorald. „Der Legende nach besaßen sie große Macht und Weisheit. Aber diese Macht lockte Eroberer an, und dies waren Eure Gründervater Veltan und sein erster Berater, Zoltan, dem Euer Volk die Grundlagen Eures Glaubens verdankt.“
Naluri schüttelte den Kopf. „Einfach unglaublich. Unsere offizielle Geschichtsschreibung besagt, dass Veltan und der heilige Zoltan auszogen, um die primitiven, heidnischen Stämme dieses Landes zu bekehren und den Segen des Einen Herrn über sie zu bringen.“
Anwyll schnaubte erheitert. „Nur, dass es keine primitiven Stämme waren. Die Gemeinschaft war eine weit entwickelte Gesellschaft, wie sie heute noch in Temora ansässig ist. Eure Vorfahren kannten zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal die Schrift, sie haben sie erst später von uns übernommen. Unsere Vorfahren meißelten ihre Worte noch in Stein. Die Völker dieses Landes zogen als Nomaden umher, und dieser Ort war ihr weltliches und geistiges Zentrum.“
Thorald erhob sich und schenkte seinen Gästen zu trinken nach. „Auch waren Veltan und Zoltan keineswegs von dem missionarischen Eifer beseelt, wie es die Mönche gerne darstellen.“
Anwyll nahm den Faden der Erzählung wieder auf: „Thorald hat recht, aber lasst mich ein wenig weiter ausholen, damit ihr den Zusammenhang besser versteht. Die Führung der damaligen Gemeinschaft waren Menschen mit bestimmten, Ihr würdet sagen, übersinnlichen Fähigkeiten. Was genau dies für Fähigkeiten waren, liegt im Dunkeln der Geschichte verborgen, die Gelehrten sind sich jedoch einig, dass es sich um eine gewisse Sensibilität für die Kräfte der Natur gehandelt haben muss.“
Naluri konnte einen Ausruf nicht unterdrücken. „Habt Ihr auch diese Zauberkräfte?“ Sie entschuldigte sich jedoch gleich: „Verzeiht mir.“
„Nein, nein“, beruhigte Anwyll sie, „ich bin nur ein verschrobener alter Bücherwurm mit ein bisschen mehr Aufgaben als andere.“ Alle lachten erheitert auf. „Aber Eure Reaktion zeigt mir, weshalb das Wissen um unsere Vorfahren nicht offen kundgetan wird. Von den Mönchen wird dies leicht als Hexerei abgetan, doch unsere Gemeinschaft ist der festen Überzeugung, dass es solche Fähigkeiten gibt, auch heute noch.“
„Lasst das bloß nicht Nusair hören!“, rief Meno.
„Ganz recht“, nickte Thorald und bedeutete Anwyll, mit der Geschichte fortzufahren.
„Jedenfalls hatten nur diese Gelehrten Zugang zu dem heiligsten Wissen der Gemeinschaft, allen anderen war er verwehrt. Zu jener Zeit wurde in die Gemeinschaft ein junger Mann namens Phileas aufgenommen. Er war sehr klug, aber auch von brennendem Ehrgeiz besessen. Als ihm wegen seiner fehlenden angeborenen Fähigkeiten der oberste Rang der Gelehrten verwehrt blieb, wandte er sich dem Studium der dunklen Mächte zu und versuchte schließlich, sich mit Gewalt Zugang zum heiligsten Wissen zu verschaffen. Doch er wurde entdeckt, verurteilt und aus dem Land gewiesen, weit hinaus in die karge, östliche Steppe.“
„Lasst mich raten“, sagte Meno, „er traf auf unsere Vorfahren, die dort zu jener Zeit lebten?“
„So ist es“, nickte Anwyll.
„Wie sehr dieses alles von der offiziellen Version abweicht!“, entfuhr es Bajan.
„Nun ja“, sagte Thorald wage, weil er oft genug mit der Sichtweise der Mönche zu kämpfen hatte, und setzte die Erzählung fort, „durch sein umfangreiches Wissen machte sich Phileas schnell einen Namen im Volke Veltans. Es gelang ihm, Veltan zu überzeugen, dass die Gemeinschaft finstere Absichten gegen sein Volk hegte.“
Naluri schüttelte ungläubig den Kopf. „Dabei ist Eure Gemeinschaft das friedlichste Volk, was ich kenne.“
Anwyll dankte ihr mit einem Nicken. „Jedenfalls begannen Veltan und Zoltan, angestachelt von Phileas, einen Eroberungsfeldzug. Was dann geschah, liegt teilweise im Dunkeln. Aber es ist sicher, dass die Gemeinschaft gewarnt worden ist. Es gelang ihnen, einen Großteil der Stämme und der Gelehrten mit Kopien ihrer steinernen Schriften in die Berge von Nador zu evakuieren, denn sie verfügten über so gut wie keine Verteidigung. So unglaublich es klingen mag, im Zuge der Fluchtvorbereitungen entdeckten die Menschen damals die Verwendung von Pergament.“
„Not macht erfinderisch“, ergänzte Thorald, und alle nickten.
„So ist es“, fuhr Anwyll fort. „Wie dem auch sei, Veltan hat diesen Ort schließlich erobert und zerstört, aber irgendetwas muss ihn davon überzeugt haben, dass er großes Unrecht getan hat. Auf jeden Fall – und dies ist gesichert – sprachen Veltan, Zoltan und die wenigen, dort gebliebenen Überlebenden der Gemeinschaft einen Fluch über Phileas und seine engsten Helfer aus.“
„Wie bitte, unser Heiliger Vater hat einen heidnischen Fluch ausgesprochen?!“ Naluri zog eine Augenbraue hoch.
„Kaum zu glauben, aber wahr“, sagte Thorald, „und man verurteilte sie zum Tode auf grausamste Weise. Sie wurden auf dem Boden der Schlucht vor der Stadt gefesselt und dort einem langsamen Hungertod überlassen. Als man jedoch ihre Leichen verbrennen wollte, stellte man fest, dass sie spurlos verschwunden waren. Sie wurden nie wieder gefunden. Seitdem geht die Sage, dass ihre verfluchten Seelen sich befreit haben und weit im Norden im Kohinor Gebirge umgehen sollen.“
Bajan merkte auf: „Der Ort passt.“
Anwyll nickte ihm zu. „Das befürchten wir auch. Aber Ihr solltet noch etwas wissen: Seit der Verbannung des Phileas besteht ein Pakt zwischen Veltan und der Gemeinschaft. Dieser Pakt wird nur mündlich übergeben, und zwar an die jeweiligen Thronfolger. Deshalb hat Veltan in der Verfassung Gildas festgelegt, dass die Königssöhne von einem Gelehrten aus der Gemeinschaft unterrichtet werden. Er lautet: Sollte jemals wieder irgendjemand mit dunkler Macht diesen Ort bedrohen, wird man ihn gemeinsam bekämpfen.“
Naluri wurde sehr nachdenklich. „Weiß Currann von dem Pakt?“, fragte sie Thorald.
„Ja, ich habe ihn kürzlich davon unterrichtet. Und dir muss klar sein, dass auch der König davon weiß. Wir wollen ihn daran erinnern, dass der Pakt besteht.“
Plötzlich wurde Naluri so einiges klar. „Jetzt weiß ich auch, warum Currann kürzlich so nachdenklich vom Unterricht nach Hause kam. Und Phelan hat sich lauthals darüber beschwert, dass er und Althea vom Unterricht ausgeschlossen worden waren.“
Thorald nickte. „Ich hielt es für das Beste, ihn über den Pakt aufzuklären, auch wenn er eigentlich noch zu jung dafür ist. Phelan kommt auch noch an die Reihe, keine Sorge. Aber wie gehen wir nachher in der Ratssitzung vor?“
Bajan sagte nachdenklich: „Erstaunlich. Alles, was man uns gelehrt hat, wird plötzlich infrage gestellt. Ich gebe Meno recht, wenn wir die Sache mit den dunklen Mächten im Rat vortragen, wiegelt Nusair sofort ab.“
„Mir kommt da so eine Idee“, sinnierte Thorald mit an die Lippen gelegtem Finger. „Wir müssen eine Expedition in Richtung Kohinor entsenden, soviel steht fest. Wir könnten folgendermaßen argumentieren: Die Sumpfleute gehören zwar nicht zu den Untertanen des Königs, aber sollte eine Gruppe dieser Größenordnung zu einer Völkerwanderung gezwungen sein, würde dies unser Land tüchtig durcheinanderwirbeln. Eine so große Menge Heiden wird von den Mönchen sicherlich nicht in den Städten gewünscht. Von den Kosten, für sie zu sorgen, einmal abgesehen.“
Naluri stimmte ihm zu: „Es könnte gelingen, denn nichts ist Nusair so heilig wie die Ordnung seiner Welt, sei es materiell oder spirituell. Das hat meiner Meinung nach mit Glauben nichts mehr zu tun. Aber noch mal, Ihr müsst vorsichtig sein. Alles, was nach Aberglauben aussieht, lehnt er sofort ab.“
Bajan wollte sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf eine Diskussion über das Für und Wider in den Glaubenshandlungen ihres obersten Mönches einlassen. Davon bekamen sie sonst wahrlich genug zu hören. Daher beendete er das Gespräch in seiner gewohnt knappen Art und stand auf. „Dann ist es ja fast geklärt. Meno, würdet Ihr mir in der Tagesordnung den Vortritt lassen? Ich würde dann mein Anliegen vortragen, und Meister Anwyll hätte eine gute Gelegenheit, sofort einzuhaken.“ Meno nickte.
„Dann werde ich jetzt in die Häuser der hl. Asklepia zurückkehren.“ Auch Naluri stand auf und verabschiedete sich. Sie öffnete die Tür und streifte wieder ihren Schleier über.
„Wir sehen uns heute Mittag“, sagte Bajan und verabschiedete sich ebenfalls, aber er wartete, bis Naluri ungesehen die Straße passiert hatte. Dann erst ging er zurück in die Kaserne.
In der Küche stützte sich Lusela unterdessen schwer auf den Tisch und musste sich schließlich kraftlos auf einen Schemel setzen. Ungewollt hatte sie den Großteil des Gespräches mit angehört. Sie war eine sehr gläubige Frau, die Welt des Einen Herrn gehörte fest zu ihrem Alltag. Sie war zwar einiges durch ihren mehr als zehn Jahre andauernden Dienst bei Meister Thorald gewöhnt, aber das soeben Gehörte ging über ihren Verstand. Sie barg den Kopf in ihren Händen und fragte sich verzweifelt, was mit ihrer eben noch so heilen Welt geschehen war.
Als Naluri die Häuser der heiligen Asklepia erreicht hatte, waren die Freunde bereits wieder aus dem verborgenen Zugang in den Palast der Königin gelangt und beratschlagten, was sie nun unternehmen wollten.
„Ich möchte unbedingt diese neuen Waffen sehen“, sagte Currann. Jeldrik hatte ihnen als Revanche für ihre Geheimnisse erzählt, was der eigentliche Zweck des Besuches der Saraner war. „Sollte nicht um diese Zeit die Ratssitzung beginnen?“
„Ein guter Vorschlag“, meinte Phelan, und damit war auch Althea überzeugt. Er warf einen Blick durch das Fenster auf den Stand der Sonne, denn dies war eine seiner besonderen Fähigkeiten. „Wir haben aber noch ein wenig Zeit.“
Jeldrik war sichtlich stolz über das Interesse an den Waffen seines Vaters, aber er fragte erstaunt: „Dürft ihr denn an den Ratssitzungen teilnehmen?“
„Natürlich nicht“, erwiderte Currann, „aber es gibt immer Mittel und Wege. Wir müssen nur Brida aus dem Wege gehen.“
„Sie wird sich vermutlich irgendwo in der Nähe herumtreiben“, mutmaßte Phelan. „Wie wäre es mit dem Brüderpaar als Beobachtungsposten?“ Jeldrik schaute ihn fragend an. „Das sind zwei Statuen auf der Westseite der Empore, genau gegenüber vom Thron“, erklärte Phelan. „Durch die Beine gibt es einen breiten, aber nicht sehr hohen Spalt, durch den kann man gut schauen, wird aber selbst nicht gesehen.“
Jeldrik lachte. „Klingt gut.“
„Aber lasst uns lieber den kleinen Dienstbotenaufgang von der Küchenseite auf die Empore nehmen, dann ist die Gefahr, dass wir Brida begegnen, nicht so groß“, wandte Althea ein. Die Brüder nickten. Althea kannte von ihnen die Gänge der Festung am besten, und alle wussten, dass Brida Treppen hasste.
„Na, dann los!“, sagte Currann und riss die Tür zum Garten auf. Augenblicklich prallte er zurück. Mit dem Rücken zu ihnen saßen Yola und die Zwillinge in der Laube und unterhielten sich leise. Currann machte die Tür lautlos wieder zu. „Puh, das war knapp. Los, dann gehen wir halt durch die Küche. Vielleicht hat die Köchin auch noch etwas zu essen für uns.“
Sie machten sich auf den Weg durch die Eingangshalle in den Speiseraum, wo es einen schmalen Durchgang in die Wirtschaftsräume des Palastes gab. Anders als im Hauptpalast kam die Königin mit wenigen, ihr treu ergebenen Frauen aus, denen die Königskinder stets willkommen waren. Fröhliches Gelächter und ein leckerer Duft schlugen ihnen entgegen, und sie merkten erst jetzt, wie hungrig sie waren.
„Hallo“, rief die Köchin, eine rundliche, fröhliche Frau, „hungrige Abenteurer überfallen uns.“ Die drei anderen Mägde kicherten und warfen Jeldrik verstohlen neugierige Blicke zu.
Phelan sah gierig zu den Töpfen auf der großen Feuerstelle hinüber, aus denen es verheißungsvoll duftete. „Ist noch was zu essen übrig? Wir sterben vor Hunger!“
„Na, dann setzt euch mal, junge Herren“, sie blinzelte Althea zu, denn ihre Geschichte hatte auch hier schon die Runde gemacht, „wir wollten auch gerade essen. Wenigstens ihr habt Hunger. Die Königin hat erst für später etwas bestellt.“
Die Frauen trugen rasch Teller und dampfende Schüsseln auf, dann setzten sich alle an den Tisch. Jeldrik beäugte neugierig die fremden Speisen, die dort vor ihm standen. Im Palast hatten sie aufs kunstvollste angerichtete Speisen bekommen, aber dies hier, ein einfaches Mittagsmahl, war etwas gänzlich anderes.
Die Frauen begannen, den hungrigen Räubern aufzufüllen. Jeldrik mit seinem fremden Aussehen bekam am meisten zugesteckt, und schließlich wagte ein Mädchen, das Wort an ihn zu richten: „Sprecht Ihr eigentlich unsere Sprache?“
„Hmmm“, brachte Jeldrik nur mit vollem Mund hervor, bekam einen roten Kopf und musste husten. Alle lachten, das Eis war gebrochen. Jeldrik begann zu fragen: „Was ist das hier?“ Er nahm ein flaches Gebilde von einem großen Stapel und biss hinein. „Schmeckt nach fast gar nichts außer Mehl und Rauch“, meinte er schulterzuckend. Die Frauen lachten.
„Das ist ein Fladen“, erklärte die Köchin.
„Aus Hirse“, fügte Currann hinzu, als er Jeldriks verständnislosen Blick sah. „Das essen wir meistens, als Brei zum Frühmahl oder gefüllt, so wie hier.“ Er nahm sich einen Fladen, rollte ihn zusammen und füllte etwas Fleisch mit Gemüse hinein. Dann biss er ab.
„Oh, so macht man das. Bei uns macht man das manchmal mit Brot“, erklärte Jeldrik, während er es Currann nachtat.
„Brot, das ist nur etwas für die Herrschaft“, meinte das Waschmädchen sofort. Die Frauen nickten ernst. „Ihr könnt gerne etwas haben, wenn Ihr wollt“, bot die Köchin an und wollte sich schon erheben.
„Nein, nein, es schmeckt hervorragend, vielen Dank“, hielt Jeldrik sie zurück. Er wollte nicht, dass sie sich besondere Umstände seinetwegen machten. Es war nicht einmal gelogen. So gefüllt schmeckte es wirklich.
„Vater mag die Fladen nicht, bei uns gibt es fast nur Brot zu essen“, warf Althea ein.
„Ja, du bist wirklich verwöhnt“, neckte sie die Köchin.
„Warum ist Brot so etwas Besonderes hier? Habt ihr nicht so viel davon?“ Jeldrik verstand es nicht.
„Weil das Mehl so viel kostet und Hirse nicht. Deshalb!“ Der Junge hatte wirklich komische Fragen, dachte die Köchin. Jeldrik sah, dass sich die Mädchen schon belustigte Blicke zuwarfen, und beschloss, es gut sein zu lassen. Sie wandten sich anderen Dingen zu.
Die Freunde berichteten vom Ausflug in die Stadt. Besonders die Sumpfleute hatten es den Frauen angetan. „Waren sie wirklich so unheimlich, wie man immer sagt?“, fragte das Waschmädchen.
„Ich finde, sie sahen eher erschöpft aus“, meinte Jeldrik, „so, als hätten sie einen schlimmen Weg hinter sich. Versteht mich nicht falsch, natürlich sehen sie anders aus als wir mit ihrer schwarzen Haut und den Fellen. Aber so heruntergekommen wie diese habe ich noch keine gesehen.“
„Wo liegt eigentlich genau das Lir-Delta und wie sieht es dort aus?“, fragte Althea.
„Hast wohl im Unterricht nicht aufgepasst!“, spottete Currann.
Althea streckte ihm heimlich die Zunge raus. „Das hatten wir noch nicht!“
Jeldrik besänftigte sie: „Das Lir-Delta ist ein sehr lang gestrecktes, flaches Gebiet zwischen der Hochebene von Morann und dem Vorgebirge des Kohinor Massivs. Es reicht von weit im Osten an Eurer Landesgrenze bis ganz in den Westen ans Meer heran, ein paar Tagesreisen nördlich von Temora. Es wird bei schlimmer See regelmäßig bis weit ins Landesinnere überspült.“
Die Frauen lauschten mit großen Augen. „Wart Ihr schon einmal dort?“, fragte das Waschmädchen.
„Nein, aber ich habe viel über dieses Land gelesen. Es lässt sich dort nur sehr schwer leben, aber die Sumpfleute lieben ihre Unabhängigkeit.“
„Wovon leben sie denn?“, fragte die Köchin.
Currann wollte auch zur Unterhaltung beitragen und sagte: „Hauptsächlich vom Fischfang, und sie liefern uns Ried, teilweise auch Holz, Zunderschwämme und dergleichen. Aber sie ernten auch einen Pflanzensaft, den sie aus dem Sumpfgras gewinnen. Daraus stellen sie die Droge Mor her und verkaufen sie teuer in alle Länder.“ Er hatte von Bajan einiges über den lukrativen, aber höchst illegalen Handel mit Mor erfahren. „Die Mönche lehnen Drogen strikt ab, aber da die Sumpfleute Heiden sind, stört dies dort niemanden. Sie finden einen reichen Absatz hier in der Stadt, und Fürst Bajans Männer sind so gut wie machtlos dagegen“, erklärte er ihrem Gast.
„Auch bei uns ist der Besitz von Mor verboten“, sagte Jeldrik.
„Was macht so eine Droge?“, fragte Althea neugierig.
„Dafür bist du noch zu jung“, wandte die Köchin ein. Althea blickte Jeldrik trotzig an. Jetzt blitzten die Augen eisgrau.
Er zwinkerte ihr zu. „Sie kann in geringen Dosen als Betäubungsmittel für Schmerzen genommen werden, aber wenn du zu viel oder zu oft etwas davon nimmst, kannst du ohne sie nicht mehr leben.“
Currann ergänzte bissig: „Dann wirst du dumm im Kopf, und irgendwann stirbst du.“
Jeldrik sah, dass Althea sichtlich erschrocken war, und milderte etwas ab: „Du kannst irgendwann nicht mehr klar denken und handeln.“
‚So wie Vater’, dachte Currann und bereute seine Worte sofort. Unbehaglich wand er sich auf seinem Stuhl hin und her.
„Nun ist aber Schluss, ihr macht uns Angst!“, rief die Köchin. „Habt ihr nichts anderes zu tun, als hier noch herumzusitzen?“
Die Freunde verstanden den Wink, bedankten sich artig für das Essen und verließen die Küche. Durch die Lagerräume gelangten sie nach draußen. Currann schaute sich vorsichtig um und drängte die anderen schnell zurück.
„Da geht Mutter“, sagte er leise. „Warten wir ab, bis sie in die große Halle gelangt ist, dann ist die Luft rein.“ Ein paar Augenblicke später war der Platz leer.
Althea übernahm nun die Führung. „Los, dort hinten hin, rasch!“, sagte sie. Sie hielt auf den Teil des Palastes zu, wo der Gästetrakt lag, doch anstatt das Tor zu öffnen, lief sie in einen schmalen Säulengang, der an der großen Halle entlangführte. Als sie den Gang passiert hatten, standen sie vor einem schlichten Tor.
„Leise jetzt“, wies Althea sie an. Unbewusst hatte sie Curranns Kommandoton übernommen. „Hier geht es zu den Küchen und den Dienstbotengängen der großen Halle.“ Vorsichtig öffnete sie eine kleine in das Tor eingefasste Tür und spähte hindurch. Sie winkte die anderen hinein. Sie befanden sich in einer kleinen, mit einem Kuppeldach überspannten Halle. „Geradeaus geht es in die Palastküchen, hier rechts zum Gästetrakt“, erklärte Althea. „Hier links geht es in die große Halle. Da haben sie gestern die Bänke hereingetragen.“ Jeldrik nickte. Er erkannte die Verzierungen des Tores wieder.
Althea ging zu einer kleinen, neben dem Eingang zur Halle gelegenen Tür. Vorsichtig öffnete sie diese und lauschte. Sie legte die Finger auf die Lippen und winkte den anderen. Leise schlichen sie die Treppe nach oben. Am Ende befand sich ebenfalls eine schmale Tür, die Althea jetzt einen Spalt weit öffnete, gerade so, dass sie hindurchpasste.
Jeldrik blickte erstaunt voraus. Sie befanden sich unmittelbar hinter der letzten Sitzreihe der Balustrade, weit oben in der Halle. Der Ausblick war erstaunlich. Von unten waren Stimmen zu hören, und Jeldrik meinte, die seines Vaters herauszuhören. Schnell schlichen die Freunde nacheinander durch die Tür und geduckt hinter der Balustrade bis zu den beiden Statuen.
„Hast du sie gesehen?“, flüsterte Currann.
Phelan nickte. „Sie steht unten auf der anderen Seite hinter einer Säule. Aber sie ist nicht allein.“
„Von wem redet ihr eigentlich?“, fragte Jeldrik.
Althea spähte vorsichtig zwischen dem Spalt hindurch. „Oh, Brida und Alia! Was will die denn hier?“
„Na, wohl dasselbe wie wir, lauschen nämlich!“, spottete Currann.
„Wo denn?“, fragte Jeldrik. Althea drückte ihn vor dem Spalt so zurecht, dass auch er sie entdeckte. Tatsächlich, da waren zwei Schatten in langen Frauengewändern zu sehen.
Unten wurde es nun lebhafter, und die Freunde wandten ihre Aufmerksamkeit der Versammlung zu. Der König schien in etwas besserer Verfassung zu sein als gestern, jedenfalls nahm er rege am Geschehen teil. Roar hatte ein langes, mächtiges Schwert gezogen, das eigentümlich silbern glänzte, und wies einen seiner Leute an, mit einem herkömmlichen Bronzeschwert anzugreifen.
„Was machen sie denn?“, flüsterte Currann aufgeregt. „Wollen sie etwa mit den Klingen aufeinander einschlagen? Das ist nicht gut für die Schwerter! Sie werden über kurz oder lang unbrauchbar werden!“
„Warte es ab!“ Jeldrik musste ein Grinsen unterdrücken und rückte etwas zur Seite, damit Althea besser sehen konnte.
Der Krieger holte aus. Roar parierte mühelos. Es gab einen eigentümlichen Klang, und selbst die Freunde konnten von ihrem Posten aus sehen, dass das Bronzeschwert bereits beim ersten Mal eine tiefe Kerbe bekommen hatte.
Roar und sein Mann tauschten noch ein paar Hiebe aus, für Althea glich das Ganze mehr einem Tanz als einem Kampf, dann brach das Bronzeschwert entzwei. Erschrockene Rufe und Applaus beendeten die Darbietung.
„Wahnsinn!“, flüsterte Phelan. Auch Currann war beeindruckt von der Kraft und Geschmeidigkeit der beiden Krieger, aber noch mehr von der Macht des Schwertes. Jeldrik war sichtlich stolz.
Unten erhob Roar seine Stimme. Sie konnten ihn mühelos verstehen. „Eure Hoheit, Ihr seht, Eure Schwerter sind nahezu machtlos gegen dieses Metall. Es ist härter als herkömmliche Bronze, was uns gestattet, wesentlich längere und dünnere Schwertblätter herzustellen, die nicht brechen. Dem Kämpfer wird dadurch eine gänzlich andere Schlagkraft verliehen. Selbst im Kampf gegen Lanzen und Äxte sind sie weit überlegen. Das verschafft einem Heer völlig neue Möglichkeiten.“
Der König war beeindruckt. „Für wahr, das tut es, und es stimmt mich im höchsten Maße nachdenklich. Ihr sagtet, dass die Verarbeitung nur langwierig zu erlernen ist?“
Roar nickte. „Es sind vor allem zwei Rohstoffe erforderlich, die in Gilda kaum vorkommen, zum einen das Erz und zum anderen Holz. Ohne Holz kann selbst der geschickteste Schmied das Erz nicht verarbeiten.“
Nusair hob die Stimme: „Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr uns fertige Waffen anbieten wollt? Zu welchen Konditionen gedenkt das Volk von Saran, uns diese anzubieten? Wie heißt das Metall überhaupt?“
Roar gestattete sich ein kleines Lächeln. Die Gier in Nusairs Augen hatte er wohl gesehen. „Wir nennen es Ferrium. Weit sind die Wege, auf denen wir es heranschaffen müssen, von den Inseln, die wir eroberten, bis Saran. Dort wird es aufwendig verarbeitet und dann über die Berge nach Temora und von Temora auf die Hochebene bis hierher transportiert. Alles braucht Arbeiter, Tiere und Eskorten, was die Kosten enorm in die Höhe treibt.“
Er nannte einen Preis, bei dem Nusair empört aufsprang. „Das ist unverschämter Wucher!“
Die Königin verspannte sich in ihrem Sitz. Bajan, dem dies nicht entging, überschlug die Kosten rasch im Kopf und fand den Preis nicht so unverschämt wie Nusair, zwar hoch, aber durchaus angemessen. Er erhob sich ebenfalls. „Euer Majestät, wenn wir weiterhin wehrfähig bleiben und den Fortschritt nicht verpassen wollen, werden wir diese Waffen ernsthaft in Erwägung ziehen müssen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis andere Völker ebenfalls davon erfahren und wir in die gleiche Lage wie die Saraner gelangen könnten. Aber ich schlage vor, dass wir zunächst die Waffen einer eingehenden Prüfung unterziehen.“ Er sah eindringlich in die Runde der Ratsherren und erntete zustimmendes Nicken. Derartig umfangreiche Käufe wollten gut überlegt sein.
Einer von ihnen, Ratsherr Doran, ein wohlhabender Handelsherr, erhob sich. „Fürst Roar, seid Ihr bereit, für eine gewisse Zeit uns einen Eurer Schmiede zu überlassen, der für uns Muster anfertigt, sodass wir das Aussehen unserer Waffen bestimmen können?“
Bajan setzte sich zufrieden. Seine Saat war aufgegangen, und er sah aus den Augenwinkeln, dass auch Nusair sich mit denkbar finsterer Miene gesetzt hatte. Zufrieden wandte Bajan seine Aufmerksamkeit wieder Roar zu und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass dessen Miene seltsam regungslos war. Täuschte er sich, oder hatte der Fürst der Saraner sich unmerklich versteift? Es währte nur einen flüchtigen Moment, dann war er wieder so unverbindlich wie vorher. Jetzt wurde Bajan doppelt aufmerksam.
Roar verneigte sich leicht vor Doran. „Selbstverständlich, wir haben bereits einen Mann mitgebracht, des Weiteren die nötigen Materialien.“
Doran fasste nach. „Und diese Probestücke, sie müssten kostenlos sein, denn wir müssen sicherstellen, dass sich die Waffen für unser Heer eignen“, forderte er und vollzog damit denselben Gedankengang wie Bajan. Auch hiermit erklärte sich Roar einverstanden.
Der Ratsherr sah den König fragend an. „Wenn wir ein Abkommen über, sagen wir mal, die nächsten zehn Jahre schließen“, sagte Aietan schlau, „dann müsst Ihr uns noch zehn Prozent vom Preis nachlassen.“
„Fünf Prozent“, sagte Roar, „und wir sind uns einig.“ Der König lachte dröhnend los. ‚Sieh an, er ist nicht wiederzuerkennen’, dachte Roar.
„Ihr versteht es zu handeln, Ratsherr Doran. Ein gutes Ergebnis für uns beide. Meno, setzt den Vertrag auf!“, befahl der König.
Die Versammlung lockerte sich auf, die Königin orderte Speisen und Getränke für die Gäste, und man unterhielt sich angeregt über die Möglichkeiten der neuen Waffe. Nur Nusair grollte vor sich hin. Bajan dagegen sann über dieses Abkommen nach. Er hatte ein ungutes Gefühl, es ging ihm viel zu schnell. Er wechselte einen Blick mit Thorald, doch dieser war in eine angeregte Unterhaltung mit einem der Saraner vertieft und hatte offensichtlich nichts bemerkt. Schweigsam blieb er in seinem Ratsherrenstuhl sitzen, bis das Mahl aufgetragen wurde.
Auf der Balustrade sahen sich die Brüder an. „Diese Runde geht an uns“, sagte Currann, und Jeldrik war sich absolut im Klaren darüber, dass damit nicht Saran und Gilda, sondern die verschiedenen Gruppen im Rat gemeint waren.
Schließlich waren die Verträge unterzeichnet, die Saraner verließen unter vielen Abschiedsgrüßen die Halle, und Meno kündigte Bajan als nächsten Redner an. Dieser stand nun auf und richtete das Wort an die Versammlung: „Euere Majestäten, verehrte Ratsherren, beunruhigende Neuigkeiten erreichen uns in letzter Zeit aus den nördlichen Randbezirken.“ Er fasste kurz und präzise die Geschehnisse zusammen, die sie heute Morgen erörtert hatten. „Wie ich von Meister Anwyll vorhin erfahren habe, ist sein Anliegen ein ganz ähnliches.“
Anwyll erhob sich nun ebenfalls. „Ich danke Heerführer Bajan für seine erläuternden Worte. Die Gemeinschaft von Temora hat mich entsandt, um Rat von Euch, verehrter König, einzuholen.“
Nusair schnaubte hörbar. „Womit können wir, deren Glauben Ihr bisher so hochmütig abgelehnt habt, schon von Rat sein?“ Empörtes Gemurmel erhob sich, ob über Nusairs unhöfliche Worte oder die Tatsache an sich, das vermochten die Freunde nicht zu sagen. Gespannt beugten sie sich vor.
Anwyll aber lächelte nur leicht. „Auch wir verzeichnen dieselben beunruhigen Neuigkeiten, von denen Heerführer Bajan soeben berichtete.“
„Was ist schon Schlimmes daran, wenn ein paar primitive Heiden sich auf die Wanderschaft begeben?“ Nusair war der Hochmut in Person. „Mal abgesehen davon, dass ein paar arme, verlorene Seelen hier in der Stadt nicht mehr ihre Sucht befriedigen können, ein Problem, das Eure Leute, Bajan, bis heute nicht in den Griff bekommen haben!“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich nun. Die Freunde lauschten mit angehaltenem Atem. Für sie, die diese Dinge heute zum ersten Mal hörten, waren solche Botschaften alarmierend.
„Das Problem“, fuhr Bajan, geduldig und ohne auf die Beleidigung Nusairs einzugehen, fort, „könnte entstehen, wenn sich die gesamte Bevölkerung des Lir-Deltas in Bewegung setzt. Ihr wisst, wie scheu sie normalerweise sind. Es muss etwas sehr Ungewöhnliches vorgefallen sein, dass sie sich in die Nähe der Städte wagen. Wir schätzen ihre Bevölkerung auf mehrere Tausend Menschen, vielleicht sogar über zehntausend. Könnt Ihr Euch vorstellen, was es bedeutet, wenn Gilda oder sogar ganz Morann von einer solchen Anzahl von Flüchtlingen überrannt werden?“
Ein Ratsherr aus den Außenbezirken warf ein: „Dies würde uns in der Tat vor erhebliche Probleme stellen. Wie soll eine so große Anzahl Menschen versorgt werden? Und was ist mit Diebstählen und Krankheiten?“
Bajan hob erneut die Stimme: „Ich schlage daher vor, dass eine Expedition entsandt wird, die die Vorfälle vor Ort untersucht und, wenn nötig, den Menschen hilft.“
Nusair wandte ein: „Das wird alles sehr kostspielig werden, und dies alles für einen Haufen Heiden?“ Er schnaubte verächtlich und wie zufällig in Thoralds Richtung.
Dieser ließ den Affront nicht auf sich sitzen: „Nun, vielleicht gibt dies Euch ja die Gelegenheit, einen weiteren Haufen Heiden in den Schoss Eures Glaubens zu holen. Euer Schreiber Stiig soll darin ja sehr begabt sein. Das Gold wäre sicherlich gut angelegt, und spendenwillige, gläubige Bürger gibt es in Gilda zuhauf.“ Stiig, der hinter dem Stuhl seines Herrn stand, lief rot an.
Der König lachte über den Schlagabtausch seiner Untertanen. „Gut gesprochen, Meister Thorald, das ist in der Tat eine gute Gelegenheit. Meister Anwyll, was denkt die Gemeinschaft?“
„Wir denken, dass die Vorfälle auf jeden Fall untersucht werden sollten, denn auch unser Land grenzt an das Lir-Delta, wie Ihr sehr wohl wisst, edle Herren“, sagte Anwyll. „Sind sie natürlichen Ursprungs, bleibt uns nichts anderes zu tun als den bedauernswerten Menschen ein neues Siedlungsgebiet zuzuweisen und ihnen – wie auch immer – zu helfen.“ Er machte eine Pause und blickte Thorald an. Nusair sah es und runzelte die Stirn. Alle warteten, dass er weitersprechen würde, doch nichts geschah. Anwyll schien in tiefes Nachdenken zu verfallen oder einer inneren Stimme zu lauschen, etwas, das den alten Mann ein wenig verwirrt, wenn nicht gar verschroben wirken ließ.
Bajan sah schon all ihre Felle davonschwimmen und überbrückte rasch die peinliche Stille. „Majestät, sollte eine neue, uns unbekannte kriegerische Macht dafür verantwortlich sein, werden wir nach Ende der Expedition auf jeden Fall vorbereitet sein.“
Diese Möglichkeit brachte selbst den König zum Nachdenken. Naluri wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort ihres Mannes. Schließlich erhob er sich. „Wir werden das Für und Wider heute Abend überdenken und Euch morgen Mittag unsere Entscheidung mitteilen. Die Ratsversammlung ist hiermit beendet. Meno, ich erwarte das Protokoll in spätestens einer Stunde.“
Die Königin nickte unmerklich, als hätte sie dies erwartet. Sie erhob sich ebenfalls. „Meine Herren, heute Abend seid Ihr alle wieder herzlich zu einem Festmahl geladen. Wir beginnen bei Sonnenuntergang.“ Alle verbeugten sich und begannen, die Halle zu verlassen.
„Verdammt, jetzt kommen wir hier nicht weg, bis die alle gegangen sind!“, fluchte Currann. Althea gab einen erschreckten Laut von sich.
„Was ist?“, fragte Phelan.
„Brida schaut zu uns hoch. Aber sie kann doch nichts von uns sehen?“, flüsterte Althea.
„Oh nein, wir haben die Tür aufgelassen, das hat sie gesehen!“, ärgerte sich Currann. „Was machen wir nun? Sie wird bestimmt bald heraufkommen.“
„Schnell zur Tür, aber duckt euch. Vielleicht schaffen wir es noch!“, trieb Phelan sie an. Sie machten sich schleunigst auf den Rückweg und hatten schon fast die Außentür erreicht, als sie Bridas typischen schleifenden Gang vernahmen. Die Freunde liefen rasch weiter in Richtung Gästetrakt, um die nächste Ecke herum und drückten sich in eine Nische, in der eine Statue stand. Deren Sockel war groß genug, dass sie sich alle dahinter ducken konnten. Sie hörten, wie Brida die schmale Tür zur Balustrade öffnete, kurz zu lauschen schien und gleich darauf wieder schloss. Langsam kamen ihre Schritte näher.
„Sie wird uns entdecken“, flüsterte Althea, die langsam in Panik geriet. Phelan drückte ihr beruhigend die Schulter, denn er wusste, dass nur wenige Dinge ihr Angst machten, aber Brida gehörte mit Sicherheit dazu.
Jeldrik begriff, dass ihre Lage langsam aussichtslos wurde. „Ich werde zu ihr gehen und sie ablenken, mir kann sie nichts anhaben. Ich tue einfach so, als hätte ich mich verlaufen, dann muss sie mich zu meinem Vater bringen. Wir sehen uns.“ Er wartete keine Erwiderung ab, sondern setzte seinen Plan gleich in die Tat um. Althea schloss die Augen und flehte, er möge gelingen.
„Was hast du hier zu suchen?“, fauchte gleich darauf Brida und beäugte misstrauisch den fremdartigen Jungen, der da vor ihr aufgetaucht war. Obwohl er schon so viel größer als sie war, hatte sie doch etwas sehr Einschüchterndes.
„Verzeiht, Ihr seid doch die Haushofmeisterin? Ich suche meinen Vater und habe mich verlaufen. Könnt Ihr mich zu ihm bringen? Ihr wisst doch bestimmt, wo er sich aufhält.“ Jeldrik sah sie mit einem Unschuldsblick an.
Geschmeichelt wegen dieses vermeintlichen Lobes ihrer Fähigkeiten war Brida gleich viel freundlicher. „Gewiss, gewiss, wie kommst du nur hierher? Folge mir bitte, hier geht es entlang.“ Ihre Schritte entfernten sich in Richtung der großen Halle.
„Puh, heute ist aber auch alles knapp!“, flüsterte Phelan. Schnell liefen sie nach draußen und gelangten ungesehen in den Palast der Königin.
Im Speiseraum waren Stimmen zu hören, und die Königin fragte gerade: „Wo sind die Kinder?“
Currann und Phelan rollten nur mit den Augen bei dem Wort. „Wir sind hier!“ Die drei kamen aus der Küche hervor.
„Ihr habt euch wohl etwas zu Essen stibitzt, was?“, neckte Anwyll sie. Er hatte mit Bajan und Thorald die Königin nach Hause begleitet. Meno war derweil in der Schreibstube des Palastes mit den Protokollen beschäftigt. Auch Yola erschien nun mit den Zwillingen im Speiseraum.
„Das ist ein gutes Stichwort“, sagte Naluri. „Da wir ja nun alle da sind, tragt bitte ein paar Speisen und Getränke auf, ich bin am Verhungern.“ Die Köchin machte sich sofort ans Werk.
„Ihr habt heute nichts gegessen und getrunken“, bemerkte Anwyll.
„Das ist richtig“, gab Naluri zu. „Ich nehme nichts zu mir, was mir einzeln gereicht wird, sondern esse und trinke nur von den auch den anderen Gästen zugänglichen Speisen. Thorald hält es genauso, und die Kinder hatten bisher immer ebenfalls Gäste am Tisch. Heute Mittag bekamen wir einzeln abgefüllte Becher und Teller, daher habe ich nichts angerührt.“ Sie blickte ihre Söhne ernst an. „Kinder, setzt euch bitte, wir haben etwas mit euch zu besprechen.“
Althea und Phelan warfen sich einen unsicheren Blick zu. Hatten die Erwachsenen etwas gemerkt?
Naluri wandte sich ihrem ältesten Sohn zu. „Ich nehme an, dass ihr den Inhalt dessen, was hier in den letzten beiden Tagen geschehen ist, voll und ganz begriffen habt? Und der Ausgang der Ratssitzung ist euch auch nicht unbekannt, ist es nicht so?“ Currann senkte schuldbewusst den Kopf und nickte. „Haben Brida oder Nusair euch gesehen?“, fragte Naluri scharf.
Phelan schüttelte den Kopf. „Dazu ist es nicht gekommen, Mutter, Jeldrik hat sie abgelenkt. Es war aber verdammt knapp!“
„Phelan!“, tadelte Naluri.
Althea verteidigte ihn. „Es stimmt aber. Sie hätte uns fast entdeckt, wir haben nicht aufgepasst. Und sie war nicht allein.“
„Wie bitte?“, merkte Thorald auf.
„Alia war bei ihr“, berichtete Currann, „sie verbargen sich hinten in der Halle und haben alles belauscht.“
„Nun denn“, seufzte Naluri, „wir hatten also recht. Kinder, wir möchten nicht mehr, dass ihr unbeaufsichtigt im Palast umherstreift. Es wird langsam zu gefährlich. Ihr werdet künftig immer unter Aufsicht von einem von uns sein. Das gilt auch für dich, Althea.“
„Dürfen wir nachmittags nicht mehr zusammen sein?“, fragte Phelan traurig. Er sah sich im Geiste bereits den ganzen Tag über den Büchern brüten.
„Nein, oder zumindest werdet ihr dazu kaum noch Gelegenheit haben“, sagte Naluri. „Wenn ihr doch einmal frei habt, und dies wird sich manchmal nicht vermeiden lassen bei all den Sitzungen, werdet ihr in diesem oder in Thoralds Haus bleiben. Habt ihr mich verstanden?“
Die Cousins nickten betrübt. „Was sollen wir nachmittags tun?“, fragte Althea. Sie ahnte, dass dies nichts Gutes für sie bedeutete.
„Phelan, du wirst künftig mit Currann in die Heerschule kommen“, ergriff Bajan das Wort. „Dort werden wir nächste Woche beginnen, einen neuen Jahrgang Kundschafter auszubilden, und dich mit hinzunehmen. Currann wird vorerst weiter von mir ausgebildet.“
‚Das hört sich gar nicht so schrecklich an!’, dachte Phelan. Die Welt war wieder in Ordnung für ihn. Auch Currann war zufrieden mit dem Beschluss der Erwachsenen.
„Und ich?“, fragte Althea.
Naluri gestattete sich ein feines Lächeln. „Du wirst nach Abreise der Gesandtschaft am Unterricht deiner Cousinen teilnehmen. Es wird höchste Zeit, dass du ein paar Manieren lernst.“
Die Zwillinge kicherten. „Wie soll das denn gehen? Sie ist ja ein halber Junge!“, rief Lelia.
‚Genau!’, dachte Althea bei sich und grinste frech.
„Lelia, nimm dich bitte zusammen!“, tadelte Naluri. An Althea gewandt fuhr sie fort: „Ich möchte nicht, Althea, dass sich der Vorfall von gestern noch einmal wiederholt. Du wirst langsam zu alt für dieses kindische Benehmen und bringst uns alle in Misskredit. Daher haben dein Vater und ich beschlossen, dass dies das Beste für dich ist.“ Nun begriff Althea, dass sie wirklich keine Wahl hatte. Traurig sah sie Phelan an. Der zuckte mit den Schultern. Die schönen freien Nachmittage waren wohl erstmal vorbei.
Naluri erhob sich vom Tisch. „Ihr werdet auch heute Abend und morgen nicht dabei sein, haben wir beschlossen.“
„Och, wir wollten uns doch mit Jeldrik treffen!“, rief Phelan.
„Vielleicht gestattet ihm ja sein Vater, dass er hierher kommt. Wir werden sehen. Althea und Phelan bleiben morgen im Haus des Wissens, Currann in der Heerschule. Das ist mein letztes Wort!“, sagte Naluri bestimmt und in jenem Ton, bei dem die drei wussten, dass jeder Protest zwecklos war.
„Wir brechen dann auf.“ Thorald erhob sich und winkte Althea, ihm zu folgen. „Möge das Schicksal mit uns sein und den König zum Besten von Gilda entscheiden lassen.“
„Ich stimme zu“, sagte Bajan knapp und verabschiedete sich ebenfalls von der Königin. Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.
Dem König war jedoch im Moment gar nicht danach, schwierige Probleme zu wälzen. Nach der Sitzung hatte er sich direkt in seine Gemächer begeben, so wie er es immer zu tun pflegte, wenn ihn etwas zu langweilen begann. Und wie er es befohlen hatte, wartete Alia dort bereits auf ihn, um mit ihm den Rest des Nachmittags mit genussvollerer Unterhaltung zu verbringen.
Leider hatte es sich nicht vermeiden lassen, dass Nusair ihm gefolgt war. Der König lag bequem ausgestreckt auf seinem Bett, fütterte die neben ihm liegende Alia mit Weintrauben und hörte Nusair ungeduldig zu. Er wollte seinen Wein. Warum musste er sich noch mit Problemen beschäftigen, die in seinen Augen bereits gelöst waren? Wozu hatte er schließlich Nusair, der für ihn quasi die Regierungsgeschäfte führte! Er hatte sich lange Zeit genug um diese Dinge gekümmert und würde, wenn sein ältester Sohn alt genug war, die Regierungsgeschäfte auf ihn übertragen. Dann wäre er von allen Sorgen und Mühen seines Amtes befreit und könnte sich ungestört seines Lebens erfreuen.
„Majestät, ich befürchte eine bisher unbekannte Absicht hinter Anwylls Anliegen. Mir kommt es wie ein merkwürdiger Zufall vor, dass Anwyll und Bajan mit den gleichen Neuigkeiten vor dem Rat erscheinen.“
„Ach Nusair, Ihr seht mal wieder Gespenster, und die beiden auch. Im Norden werden sie gar nichts finden. Aber wenn es sie zufriedenstellt, lasst sie doch ihre Expedition machen, den Soldaten ist langweilig nach so langem Frieden. Sie werden mir noch dick und fett ohne etwas zu tun“, sagte Aietan und steckte Alia eine weitere Traube in den Mund. Alia lachte und rekelte sich wohlig neben dem König. Sie warf Nusair einen verschlagenen Blick zu, den er eisig erwiderte. Diese reumütig in den Schoß des Einen Tempels zurückgekehrte Hure mochte ja ganz nützlich für seine Zwecke sein, aber sie widerte ihn trotz allem an.
Der König merkte davon nichts, sondern spann seine Überlegungen fort: „Aber lasst die Kosten nicht zu teuer werden und schickt am besten eine Abordnung Eurer Mönche gleich mit. Dann könnt Ihr noch ein paar Heiden bekehren“, fügte er leutselig hinzu.
„Euer Sohn würde bestimmt gerne mit auf das Abenteuer gehen, ein junger Mann in seinem Alter. Das wäre ein Spaß für ihn!“, schnurrte Alia, denn der König strich ihr leicht über die Arme.
Der König lachte. „Recht hast du, soll er ruhig mal ein bisschen Abenteuerluft schnuppern. Nusair, Ihr leitet alles in die Wege. Und nun lasst uns allein!“ Der König wandte seine Aufmerksamkeit nun ganz Alia zu.
Am Abend lag Althea im Bett, mit schmerzenden Knochen und vollkommen erschöpft von den Aufregungen des Tages. Nachdem sie heimgekehrt war, hatte sie ihr Versprechen eingelöst und Lusela im Garten geholfen, indem sie alle Früchte ihres kostbaren Apfelbaumes vor dem Frost gerettet hatte. Ihr Garten war von Mauern und dem Haus des Wissens geschützt, sodass der Baum dort wachsen konnte, eine Seltenheit in Gilda. Sooft Lusela sie für ihre Umtriebe auch rügte, hier nahm sie Altheas Kletterkünste dankbar an, denn ihre Leibesfülle machte es Lusela an vielen Stellen unmöglich, dorthin zu gelangen, wo sie hinwollte.
Thorald deckte sie liebevoll zu. Er liebte diese stille Stunde, in der er mit seiner Tochter allein war und sie mit den Geschichten und Legenden seines Volkes unterhalten konnte. Stets wechselten sie dabei in seine Muttersprache über, die Althea so gut wie das Gildaische beherrschte. Thorald setzte sich zu ihr aufs Bett und schlug das Buch der tausend Geschichten Temoras auf. Doch Altheas Gedanken waren heute woanders.
„Vater, warum hast du solche Angst, dass man uns etwas antun könnte?“
„Nun, Kleines, wir alle sind nicht eben beliebt bei Hofe.“
Typisch Erwachsene, dachte Althea, reden immer um den heißen Brei herum. „Hat es etwas mit Mutter zu tun?“
Seufzend legte Thorald das Buch beiseite. „Ich will dich nicht ängstigen, kleiner Kobold.“
„Ich will es aber wissen, Vater. Du erzählst mir kaum etwas von ihr, das meiste weiß ich von Lusela.“ Althea war nicht gewillt, locker zu lassen.
„Ich habe deine Mutter sehr geliebt, und es schmerzt mich sehr, von ihr zu sprechen.“ Sein Blick wurde traurig. „Was hat Lusela denn erzählt?“
„Dass Mutter schön war“, sagte Althea verträumt, „und gütig und sehr fröhlich. Sie hatte immer ein offenes Ohr für die Nöte anderer und half vielen Kranken.“
„Das stimmt“, sagte Thorald, „so habe ich sie ja auch kennengelernt. Ich hatte mir den Fuß verstaucht und wurde in die Häuser der hl. Asklepia getragen, um ihn verbinden zu lassen.“
„Hast du dich gleich in sie verliebt?“, fragte Althea.
„Nein“, lachte Thorald, aber im Stillen traten ihm die Tränen in die Augen, „das kam erst später. Zuerst schlossen wir Freundschaft. Wir haben uns getroffen und unsere Gedanken ausgetauscht. Es tat gut, jemanden zu haben, mit dem ich unbeschwert plaudern konnte, denn ich war sehr allein zu der Zeit, ganz neu hier in Gilda. Currann war ja erst vier Jahre alt und Phelan fast noch ein Baby. Jedenfalls, irgendwann wurde aus Freundschaft mehr. Du wirst auch noch feststellen, dass man erst Freunde im Geiste werden muss, bevor man jemanden wirklich lieben kann. Alles andere ist nur blinde Leidenschaft. Aber das kommt, wenn du älter bist“, sagte Thorald schnell, als er sah, dass Althea schon die nächste Frage auf der Zunge lag. „Brida wollte, dass Meno deine Mutter heiratete, um so Mitglied der königlichen Familie zu werden.“
Althea war entsetzt. „Brida die Großtante von Phelan und Currann? Nein, das wäre nicht gut gegangen!“
Thorald lachte auf. „Tja, sie hasst uns, seit ihre Pläne scheiterten und ich deine Mutter heiratete. Kurz vor deiner Geburt gab es ein Bankett zu Ehren irgendeines Gastes, ich weiß nicht mehr, wer. Deine Mutter brach zusammen, wir brachten sie zu den Heilerinnen. Deine Tante war übrigens auch guter Hoffnung, und auch bei ihr setzten wegen der Aufregung die Wehen ein.“
Althea rechnete schnell. „Das können aber nicht Lelia und Leanna gewesen sein. Sie sind jünger als ich. Was ist mit dem Kind passiert?“ Thorald wandte den Blick ab. Althea sah es wohl. „Vater?“
Er war sich nicht sicher, ob er fortfahren sollte. Doch, sie war alt genug und hatte ein Recht, es zu erfahren. „Naluris Kind wurde tot geboren, und deine Mutter starb. Wir trugen doppelt Trauer.“
„Currann und Phelan hatten also noch einen Bruder oder eine Schwester“, stellte Althea fest. „Wissen sie das?“
Thorald war sich nicht sicher. „Ich glaube nicht, und wenn doch, hätte Phelan dir das doch sicherlich anvertraut, oder? Es war übrigens ein Mädchen.“ Für einen winzigen Moment überflog ein derart merkwürdiger Ausdruck sein Gesicht, wie ihn Althea noch nie vorher an ihm gesehen hatte, und sie wollte schon fragen, was denn sei, da holte er tief Luft und sprach schnell weiter: „Wir glauben, dass deine Mutter vergiftet wurde.“ Das konnte seiner Kleinen auf Jahre Albträume verursachen, Thorald wusste es wohl, aber er wollte ihr die Wahrheit erzählen. Zumindest den Teil davon, den er ihr glaubte, zumuten zu können.
„Warum sollte jemand so etwas tun? Vater, wem hatte sie etwas getan?“, rief Althea.
Thorald schüttelte traurig den Kopf. „Wir wissen nicht, was damals genau passiert ist. Aber seitdem isst deine Tante keine separierten Speisen und auch ihr seid nur bei den Banketten anwesend, wenn gleichzeitig Gäste bei euch sitzen und sie eure Speisen essen. Begreifst du das?“
Althea nickte langsam. „Ja, Vater.“ Sie sah ihn ängstlich an. „Bist du auch in Gefahr? Vater, das macht mir Angst!“
Thorald drückte sie beruhigend an sich. „Das glaube ich nicht, hab keine Angst. Wir haben alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, uns wird nichts geschehen. Solange du in unserer Nähe bleibst, passiert dir nichts, versprochen.“
„Und ich dachte, ich muss jetzt diesen Mädchenkrams lernen, weil ich immer so unartig bin!“ Althea lächelte schon wieder.
„Natürlich bist du unartig, zumindest in gildaischen Augen. Aber deswegen liebe ich dich umso mehr, verstanden, kleiner Kobold?“
„Dann ist ja gut“, sagte Althea und schloss die Augen „Ich hab dich auch lieb“, murmelte sie noch und war gleich darauf eingeschlafen.
Thorald schloss leise die Tür zu ihrer Kammer und war nicht im Mindesten überrascht, Lusela davor vorzufinden.
„Meint Ihr nicht, dass dieses Wissen ein wenig zu viel ist für so ein kleines Mädchen?“, tadelte sie ihn leise, und sie gingen gemeinsam in die Diele. Sie verstand nach all den Jahren in seinen Diensten zumindest so viel Temorisch, dass sie den Inhalt des Gespräches erfasst hatte.
Thorald war sich inzwischen absolut sicher. Die Reaktion seiner Tochter bestätigte ihn darin, dass sie alt genug war. „Sie musste dies erfahren, damit sie begreift, warum wir das alles tun. Hab aber trotzdem ein Auge auf sie heute Abend, vielleicht hat sie Albträume.“
Lusela seufzte. „Arme Kleine, das war ein aufregender Tag für sie. Wann beginnt der Unterricht bei der Königin?“
„Wir warten, bis die Gesandtschaft abgereist ist, vorher ist keine Zeit. Behalte sie morgen hier im Haus, Phelan wird auch heruntergeschickt. Ich lege für die beiden gleich noch ein paar Aufgaben zurecht und kleide mich dann für das Bankett um.“ Er ließ Lusela mit traurigen Erinnerungen in der Diele zurück.
Spät nachts zog ein Sturm auf und peitschte über Gilda, aber es regnete nicht, sondern er fegte nur große Mengen Staub heran, wie sooft. Die Bewohner verkrochen sich in ihren Häusern, froh, einen geschützten Raum zu haben. Die Signalfeuer erloschen, und auch die Wachen zogen es vor, ihre Rundgänge auf ein Minimum zu beschränken.
Gerade richtig, dachte der dunkle Schatten, als er sich dem hintersten Turm der Festung näherte, zu dem er heimlich den Schlüssel entwendet hatte. So wurde er wenigstens von niemandem gesehen, wie er seine geheime Kammer aufsuchte. Er musste dringend Verbindung zu seinem Meister aufnehmen, dafür konnte er wahrlich keine Zeugen gebrauchen. Schnell schlüpfte er durch die Tür und schloss wieder hinter sich ab. Erst jetzt getraute er sich, eine Lampe zu entzünden, und stieg die Treppe nach oben. Da der Turm keine Fenster hatte, konnte man das Licht von außen nicht sehen.
Zum Glück hatte das Bankett vorhin nicht allzu lange gedauert, da sich alle beeilt hatten, noch rechtzeitig vor dem Sturm nach Hause zu kommen. Es war eh ereignislos gewesen im Vergleich zu dem Empfang am Tag zuvor, nur höfliche Floskeln und dummes Geschwätz.
Er stellte die Lampe auf den Tisch und machte sich an die Vorbereitungen. Das Blut von drei geschlachteten Hühnern hatte er bereits gestern beschafft, als bekannt wurde, dass kein Geringerer als Anwyll von Temora angereist war und mit Sicherheit wichtige Neuigkeiten mitbrachte.
Sie waren so wichtig, dass er jetzt seinen Meister von sich aus rufen musste. Rasch füllte er das Blut in die sechs Vertiefungen, die die Ecken eines in den Boden gemeißelten Hexagramms ausfüllten. Das Blut lief ohne Stocken über in die Linien. Gleich darauf glänzte das frische Hexagramm vor ihm, und er spürte die Macht, die von ihm aufstieg. Es wartete auf ihn.
Bisher war es noch nie vorgekommen, dass er von selbst Verbindung aufnahm, und die Angst vor der Reaktion des Meisters schnürte ihm die Kehle zu. Es nützte aber nichts, denn rasches Handeln war geboten.
Er füllte sich einen Becher Wasser ein und streute eine genau bemessene Dosis Mor hinein. Dann drehte er das Stundenglas um. Das war das Geheimnis, dachte er. Eine Mor - Abhängigkeit sah man einem Menschen nur an, wenn er die Droge in Verbindung mit Alkohol einnahm.
Er holte tief Luft und trank den Becher mit einem Zug leer. Dann trat er in das Hexagramm und wartete, dass die Wirkung einsetzte. Langsam merkte er, wie sein Geist leicht wurde und die Umgebung verschwamm. Dann sprach er die rituellen Worte, ritzte seinen Finger ein und fiel mit dem ersten Blutstropfen auf den Boden, was er aber nicht mehr bemerkte.
Im Geiste erhob er sich, und ein leuchtender Tunnel tat sich vor ihm auf, durch den er mit einem Wimpernschlag hindurch war. Schon sah er den Kohinor in seiner ganzen Pracht vor sich, majestätisch, kalt und grausam und von blauem Wetterleuchten umflossen. Er wusste, dass dort oben, an der von Stürmen umpeitschten Spitze, sein Meister zu finden war, und tatsächlich, als er sich näherte, formierten sich die blauen Lichter zu einem Kreis und die Gestalt des Meisters und seiner Diener wurden sichtbar. Rote Augen glühten ihn aus blau umflossenen Gesichtern an.
‚Was wagst du es, mich unaufgefordert aufzusuchen?’, dröhnte die Stimme des Meisters laut in seinem Kopf. SEIN Rufer wand sich unter Schmerzen, die an seinen Gedanken zerrten.
‚Meister, Anwyll von Temora ist in Gilda eingetroffen. Die Gemeinschaft ahnt etwas. Sie werden eine Expedition zum Kohinor entsenden, wenn wir es nicht verhindern’, stöhnte er.
Eine unbeschreibliche Kälte breitete sich in ihm aus. ‚Du winselnder Narr, glaubst du nicht, das ist mir nicht längst bekannt? Ich hatte dir verboten, mich von selbst zu rufen!’ Der Meister kam drohend näher, die roten Augen glühten stärker und schienen sich bis in seine innersten Gedanken zu bohren.
Der Rufer krümmte sich. ‚Aber was sollen wir tun?’
Der Meister machte eine Handbewegung, und der Mann schrie auf. Sein Kopf schien zerplatzen zu wollen. ‚ICH habe bereits etwas getan, sieh her!’
Eine Flut von Bildern ergoss sich in das gemarterte Hirn, grausame Bilder von rutschendem Schlamm und Geröllmassen, sterbenden Menschen und einer wüsten Landschaft.
Der Meister trat zurück, und der Schmerz im Kopf des Mannes ließ etwas nach. ‚Das ist die Naturkatastrophe, die Anwyll von Temora, der Führer der Narrengemeinschaft, vermutet hat. Eine Katastrophe, in der Tat, denn sie wissen nicht, welche Saat sie trägt!’
‚Meister, Ihr seid allwissend!’, stöhnte der Mann gepeinigt auf. ‚Was soll ich tun?’
‚Du Narr, du weißt, was du zu tun hast, damit die Versammlung rechtzeitig davon erfährt! Und nun verschwinde aus meinem Reich und wage es ja nicht, wieder unaufgefordert hier zu erscheinen!’
‚Meister ich danke dir für deine Geduld’, winselte der Mann. Er erhielt einen eisigen Schlag und kam vor Kälte an allen Gliedern zitternd wieder zu Bewusstsein. Das Stundenglas lief gerade aus.
In ihrer Kammer wachte Althea schreiend auf und weckte damit das ganze Haus. Voller Panik schlug sie um sich, als ihr Vater sie beruhigen wollte. Nur ganz allmählich ließ ihr Zittern nach. Lusela fasste ihr an die Stirn. „Kleines, du bist ja eiskalt!“, rief sie erschrocken. Dabei war es noch warm und stickig in dem Raum, bemerkte Anwyll. Er wechselte einen besorgten Blick mit Thorald.
„Was hast du geträumt?“, fragte ihr Vater vorsichtig.
Althea schluchzte auf. Lusela wollte schon protestieren, hielt sich aber unter Thoralds Blick zurück. „Ich sah eine große braune Flut, viele Menschen schwammen darin und alle sind gestorben!“, brachte sie schließlich hervor.
„Kleines, was hast du nur für eine Fantasie!“, entrüstete sich Lusela. „Das kommt von den ganzen Schauermärchen, die Ihr dem Mädchen heute erzählt habt, Meister Thorald!“
Anwyll sah nachdenklich auf das Mädchen, sagte aber nichts. Thorald deckte sie warm zu, gab ihr einen Kuss und wartete neben ihr, bis sie wieder ruhig geworden war.
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