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Kapitel 5 Die Expedition

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Die Sonne brach sich nur mühsam ihre Bahn durch die dichten Schwaden des Herbstnebels, der über die Steppe von Morann waberte. Das Flussdelta war nahe, sie merkten es an der Feuchtigkeit und an dem unangenehmen, schneidenden Wind, der selbst die wärmsten Kleidungsschichten bis auf die Knochen durchdrang.

Dankbar zog Currann seinen warmen Umhang um sich und richtete sich gespannt auf seinem Tier auf, doch es war nichts zu sehen. Er war zusammen mit Jeldrik, dessen Vater und Bajan dem Tross vorausgeritten, der die alte Straße zum Lir-Delta entlang kroch.

Kriechen war das richtige Wort, dachte Currann verächtlich.

Dabei hatte alles so gut begonnen. Seine Streitereien mit Phelan waren seiner Mutter derart auf die Nerven gefallen, dass er bereits in der Nacht vor dem Aufbruch bei Jeldrik hatte übernachten dürfen. Bis tief in die Nacht hatten sie miteinander geredet, sodass sie sich letztendlich von Roar eine schroffe Rüge eingefangen hatten, endlich Ruhe zu geben. Am nächsten Tag war er trotzdem pünktlich zum Aufbruch in den Stallungen erschienen, während Jeldrik bei den Saranern auf ihn gewartet hatte. Stolz war Currann mit den Soldaten durch die Menge der Schaulustigen aus den königlichen Stallungen geritten.

Doch die Schwierigkeiten hatten begonnen, als die Gruppe der Mönche nicht zu Pferde erschienen war, sondern sich mit mehreren Wagen zu ihnen gesellt hatte, die auch Proviant und eine Menge leeren Stauraum enthielten. Angeführt wurden die Mönche überraschenderweise von Stiig, der ihnen berichtet hatte, dass er mehrere Jahre in der Gegend des Deltas im missionarischen Dienst tätig gewesen war.

Es war zu einigen Diskussionen zwischen Stiig und Bajan gekommen, der seine Kundschafter nicht durch die langsamen Wagen hatte behindert sehen wollen. Aber schließlich hatte Bajan widerwillig zugestimmt, denn dies war - wie Stiig richtig angemerkt hatte – eine Expedition des Einen Tempels.

Durch die Wagen waren der eh schlechte Weg und die Überquerung eines jeden Hindernisses ein Problem geworden. Hinzu war gekommen, dass die Mönche immer noch häufig Pausen einforderten, um ruhen zu können. Von einer reinen Reitertruppe wäre die Strecke in einem Bruchteil der Zeit zu bewältigen gewesen, so aber hatte es Wochen gedauert, bis sie den Rand der Hochebene erreichten, von wo aus ihnen nun der Abstieg in das Delta bevorstand.

Anwyll, der mit Abstand der Älteste unter ihnen war und dennoch von Anfang an zu Pferde ritt, hatte dem Treiben der Mönche mit milder Verachtung zugesehen, aber nichts gesagt. Currann hatte ebenfalls zu kämpfen, auch wenn er sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als dies zuzugeben. Anders als Jeldrik war er es nicht gewohnt, ganze Tage auf dem Pferderücken zu verbringen, und so hatten seine Knochen und sein Allerwertester in den ersten Tagen geschmerzt, als hätte ihm jemand eine Tracht Prügel verpasst.

Ärgerlicherweise waren er und Jeldrik wie alle anderen Männer zu Diensten eingeteilt worden, sodass sie keine Zeit hatten, irgendwelche Dinge auf eigene Faust zu unternehmen.

Currann hatte sehr schnell herausfinden müssen, dass das Leben eines Kundschafters wesentlich ereignisloser war, als er es sich in seinen Träumen ausgemalt hatte, und dabei war dies die Elite der Kundschafter, Bajans eigene Truppe, die nur ihm diente und niemandem sonst. Wie es bei den einfacheren Soldaten aussah, das mochte er sich nicht vorstellen.

Der eintönige Tagesablauf von Lagerauf- und abbau, Reiten in strikter Formation, der Schweiß, Staub und Dreck wurde nur von einem gelegentlichen Steckenbleiben oder einem Achsbruch der Wagen unterbrochen.

Abends fiel er stets todmüde auf sein Lager, für Gespräche mit Jeldrik war er zu erschöpft. Kamen sie tagsüber doch einmal dazu, sich zu unterhalten, stellte er verärgert fest, dass Jeldrik wesentlich mehr über die Dinge wusste, die sie unterwegs sahen. Dabei war dies seine, Curranns Heimat! Außerdem schien Jeldrik ständig Neuigkeiten von den Männern aufzuschnappen, die Currann entgingen. Jeldrik glich hierin mehr seinem kleinen Bruder. Verbissen versuchte er, mit dem Jüngeren mitzuhalten.

Ohne dass Currann es bemerkte, wurde er stets aufmerksam beobachtet, denn Bajan hatte Roar und Anwyll noch am Vorabend des Aufbruchs aufgesucht und ihnen die Befürchtungen der Königin anvertraut. In einem gewissen Grade hatte er Roar auch in die Dinge eingeweiht, die sie in Gilda nur im kleinen Kreis besprochen hatten. Es hatte ihm dazu gedient zu prüfen, was Roar wusste und was nicht. Nach eingehenden Beratungen waren sie übereingekommen, dass der beste Schutz für den Thronfolger der Dienst in der Truppe war.

Mit zunehmendem Stolz beobachtete Bajan nun, wie Currann sich durch den Heeresalltag kämpfte. Angespornt von Jeldriks gutem Beispiel wurde er von Tag zu Tag zäher. Bald war er wie die anderen Männer braun gebrannt, hatte einiges an Gewicht verloren und eine Menge dazugelernt. Das wurde auch langsam Zeit, dachte Bajan bei sich. Die Königin hatte ihren Ältesten seiner Meinung nach stets zu sehr behütet, auch wenn er ihre Sorgen nachvollziehen konnte.

Bajan beobachtete auch alles andere genau, was auf ihrer Reise vor sich ging, denn in Gilda war so gut wie nichts über die Saraner und ihre Verhaltens- und Kampfesweisen bekannt. Er fand jedoch außer ihren fremdartigen Waffen nichts Neues und wusste nicht, ob er enttäuscht sein sollte. Im Gegenteil, die Saraner verhielten sich auffallend wie die gildaischen Soldaten, und das machte ihn sehr schnell stutzig. Diese reinen Spähtruppen zu Pferde waren seine ganz eigene Erfindung gewesen, als er vor Jahren Heerführer geworden war. Davor hatte es allenfalls Einzelspäher gegeben, mehr nicht. Er selbst verstieß bei dieser Reise auch gegen die Tradition, da er nicht, wie für Offiziere üblich, im Streitwagen reiste, sondern auf dem Pferderücken. Woher also hatten die Saraner dieses Wissen? Oder hatten sie Order, die Gildaer in allem nachzuahmen?

Bajan begann, genauer hinzuschauen, und schon bald regte sich echtes Misstrauen in ihm. Irgendetwas stimmte hier nicht, das sagte ihm sein Instinkt, er konnte es nur noch nicht greifen. Zu glatt war das Verhalten des saranischen Clansführers – Bajan hatte erfahren, dass dies Roars eigentlicher Titel war – und manches Mal konnte sich Bajan des Eindrucks nicht erwehren, dass er ein Schauspiel geboten bekam. Festzumachen war dies nur an winzigen Dingen, wenn Roar sein Missfallen über etwas herunterschluckte oder seine Männer mit einem finsteren Blick bedachte. Mehr nicht, aber dieses disziplinierte Verhalten wollte nicht so recht zu dem wilden Ruf dieses Volkes passen.

Bajan verbarg sein Misstrauen gut, wollte er doch die Saraner nicht vor den Kopf stoßen. Deshalb tat er, was er üblicherweise in solchen Fällen tat: Er betrieb höfliche Konversation, und ganz unmerklich begann Roar, das Eine oder Andere über sich zu verraten, ohne dass er es vermutlich bemerkte.

Bajan fand den Fürsten der Saraner erstaunlich weltoffen und gebildet, ganz anders, als er bisher den Eindruck von den Saranern gewonnen hatte, die Morann als Händler besucht hatten. Oft gesellte sich auch Anwyll zu ihnen, und sie sprachen bis tief in die Nacht hinein, meistens über die Ereignisse im Norden oder andere Völker.

Ihre Männer taten sich in diesen Dingen wesentlich schwerer. Bajan schob es zum einen auf die sprachliche Barriere, denn kaum einer von ihnen war so gebildet, dass er fließend die gildaische oder die temorische Sprache, ihre gemeinsame Grenze, sprach. Zum anderen wusste er, dass seine Kundschafter tief geprägt von den Dogmen des Einen Tempels waren, was gewiss zu einer reservierten Haltung gegenüber den Heiden führte.

Nach der ersten Woche trat jedoch eine Veränderung ein. Die Männer Roars begannen, anscheinend gelangweilt von der strikten Disziplin der gildaischen Soldaten, die Jungen abends im Schwertkampf mit den neuen Waffen zu unterweisen. Bald gesellten sich die Kundschafter Bajans neugierig hinzu. Er selbst beobachtete ihr Treiben heimlich aus einiger Entfernung, während er oberflächlich Konversation mit Roar und Anwyll betrieb.

Schon bald fiel ihm etwas auf, das seinem Misstrauen neue Nahrung gab. Kräftig unterstützt durch die Übersetzungen von Jeldrik und Currann nutzten seine Kundschafter die Gelegenheit weidlich aus, etwas über den Einsatz der neuen Waffen zu erfahren und es gleich selbst ausprobieren zu können. Im Gegensatz zu ihnen saßen die Männer Roars nur dabei, ihre Pfeifen im Mund, schmauchten vor sich hin und gaben Weisheiten von sich. Nicht einer von ihnen griff selbst zu den Waffen.

‚Sie geben an’, war Bajans erste Regung, mehr verwundert als verächtlich. Warum kämpften sie nicht selbst? Solch stolze Krieger würden doch jede Gelegenheit ausnutzen, den für ihre Kriegskunst berühmten Gildaern ihre neue Überlegenheit vorzuführen! Oder war es verpönt, an den Feuern zu kämpfen? Waren sie nur höflich und ließen den Gildaern den Vortritt? Die knurrigen Saraner? Nie im Leben! Oder taten sie es gar auf Roars Geheiß? Was hatten sie zu verbergen? Er stand vor einem Rätsel.

Die Soldaten Bajans bemerkten davon nichts. Sie tauschten sich intensiv über die Möglichkeiten einer neuen Kampftechnik aus und spotteten gemeinsam mit den Saranern über die Jungen, wenn sie einmal wieder unsanft im Gras gelandet waren. Sie stellten sehr schnell fest, dass sie mit den neuen Waffen gegen die herkömmlichen Speere und Lanzen sehr viel besser ankamen als mit ihren kurzen Bronzeschwertern. Mit der harten, schweren und langen Klinge konnte man mit gänzlich anderer Kraft zuschlagen, und es gelang gar ein ums andere Mal, großen Schaden an den Schilden und den gildaischen Waffen anzurichten, sodass Bajan irgendwann eine Mahnung aussprechen musste, wollte er seine Männer nicht gänzlich unbewaffnet im Delta ankommen lassen.

Daher beschränkten die Männer sich schließlich darauf, die Jungen Klinge gegen Klinge kämpfen zu lassen, ohne Schilde und nur mit Einsatz ihres Körpers. Obwohl kämpfen das falsche Wort war, dachte Bajan bei sich, sie schlugen mehr schlecht als recht mit den Klingen aufeinander ein, etwas, das man bei einem Bronzeschwert tunlichst vermied, wollte man es nicht zu sehr beschädigen. Gerne hätte er sich die Schwerter nach einem solchen Kampf ein wenig genauer besehen, doch die erprobten Schwerter verschwanden danach auffallend schnell wieder in den Händen ihrer Besitzer und er kam nicht an sie heran, ohne es einem von Roars Männern per Befehl abzunehmen. Da der Zusammenhalt der Gruppe durch das Verhalten der Mönche eh schon fraglich genug war, wollte er dem Misstrauen nicht noch neue Nahrung geben und sah davon ab.

Trotzdem war es lehrreich, und es stimmte Bajan im höchsten Maße nachdenklich, besah man sich den beträchtlichen Schaden an ihrer Ausrüstung. Er erkannte, dass es nicht ausreichen würde, sich einfach die neuen Waffen liefern zu lassen. Sie würden sich für ihre Schilde, Rüstungen und alle anderen Teile ebenfalls etwas einfallen lassen müssen. Er beschloss, nach ihrer Rückkehr zuallererst ein längeres Gespräch mit dem saranischen Schmied zu führen, der in Gilda geblieben war.

Currann ahnte indes nicht, was seinen Heerführer beschäftigte. Für ihn waren diese Abende, hatte er erst einmal seine anfängliche Erschöpfung überwunden, ein Licht im eintönigen Alltag der Truppe. Er konnte es kaum erwarten, bis endlich das Lager errichtet war. Er begann zu spüren, dass sich hier, im Lichtschein der Feuer, der wesentliche Kern einer Kameradschaft bildete, die für den Ausgang eines Kampfes so entscheidend war. Für ihn hatte das Ganze auch noch einen weiteren Vorteil: Er lernte Saranisch, und zwar derart schnell, dass selbst Bajan erstaunt war.

Der Höhepunkt der Reise waren für ihn jedoch die Nachtwachen. Dann schaute er, so müde er auch war und wie bitterlich er auch fror, bewundernd zum Sternenhimmel auf, den er so klar in Gilda nie zu sehen bekommen hatte. Im Stillen wünschte er sich, für immer auf eigene Faust umherziehen zu können, niemandem verpflichtet zu sein.

„Siehst du schon etwas?“ Jeldrik trabte hinter ihm heran.

Currann schreckte aus seinen Gedanken auf. „Nein, es ist zu nebelig.“ Bajan und Roar begutachteten die Straße, die vor ihnen in der Tiefe verschwand. Sie waren am Rand der Hochebene angelangt.

„Dort vorne werden wir wohl wieder einmal Schwierigkeiten bekommen“, brummte Bajan unwillig. Die beiden Männer hatten vor lauter Feuchtigkeit Wassertropfen in ihren Bärten hängen. Currann und Jeldrik versuchten weiterhin, etwas in dem Nebel zu erkennen. Plötzlich riss die oberste Nebelschicht auf, und sie schauten staunend auf das schroffe Bergmassiv, das sich vor ihnen erhob. Es schien in weiter Ferne auf einem See aus weißer Wolle zu schweben.

Bajan zeigte auf den höchsten Berg in der Mitte. „Das ist der Kohinor. Seht nur, an seinen Flanken!“

Die Jungen schauten genauer hin, und tatsächlich, man konnte im Schnee breite, graue und braune Schneisen erkennen, als wenn es dort zu Erdrutschen gekommen war. Dann zog sich der Nebelvorhang wieder zu, alles wurde trüb. Enttäuscht ritten sie zum Tross zurück.

Bajan unterrichtete die Mönche über das baldige Ende ihrer Reise, was diese mit Erleichterung aufnahmen. Diese währte aber nur kurz, denn Bajan ordnete mit heimlicher Genugtuung an, dass sie für den Abstieg von der Hochebene die Wagen zu verlassen und zu Fuß nach unten zu laufen hatten. Die Wagen wollte er lieber ohne Passagiere nach unten fahren lassen, zu schmal und gefährlich war die Straße.

Ausnahmsweise ohne Widerspruch fügten sie sich. Mit den Wagen im Abgrund landen wollte nun wirklich keiner. Bajan zwinkerte Anwyll zu, der jedes Wort mitbekommen hatte, bevor er wieder an die Spitze der Truppe ritt und die Jungen in ihre Reihe zurückschickte.

Am Abend hatten sie den mühsamen Abstieg geschafft, ohne auch nur einen Wagen zu verlieren. Obwohl Stiig und seine Brüder drängten, doch noch bis zum Kloster weiterzureisen, lehnte Bajan ab. Er wollte das Kloster lieber bei Tageslicht erreichen, zu ungewiss war die Lage vor Ort. Murrend fügten sie sich und bauten abseits der anderen Männer ihr Lager auf.

Bajan setzte sich zu Roar ans Feuer. Die Jungen schauten ihn erwartungsvoll an. „Was glaubt Ihr, Fürst, was wir morgen vorfinden werden?“, fragte Currann erwartungsvoll.

„Wenn ich das wüsste, mein Junge, dann wären wir schon längst einen Schritt weiter und müssten uns nicht mit denen dort abmühen.“ Bajan ruckte unmerklich mit dem Kopf in Richtung der Mönche.

„Wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen“, brummte Roar und stopfte sich Tabak in seine Pfeife. Rauchen war unter den Gildaern verpönt, sodass er auf den Genuss seiner Pfeife in der Stadt verzichtet hatte. Auf dieser Reise sah er dafür keine Veranlassung mehr. Unaufgefordert reichte er den Tabakbeutel an Anwyll weiter, der ebenfalls seine Pfeife aus der Tasche zog.

Bajan hatte vor einigen Tagen einen Zug probiert, war aber derartig in Husten ausgebrochen, dass er dankend auf weitere Kostproben verzichtet hatte. Die Jungen hatten auch probieren wollen, aber die Männer hatten entschieden abgelehnt. Seitdem lauerten sie ungeduldig auf eine Gelegenheit, dies heimlich zu tun.

Roar blies einen Rauchring in die Luft. Fasziniert sah Currann ihm zu. „Wir sollten auf jeden Fall in Kampfformation reiten“, meinte er zwischen zwei Zügen.

Bajan unterdrückte nur mit Mühe ein belustigtes Schnauben und nickte. „Sicher ist sicher.“ Inzwischen kannte sich Roar mit den Reitstrategien der Gildaer offensichtlich so gut aus, dass er wusste, wovon er sprach. Currann sah ihn fragend an, was ihn denn so erheiterte, und Bajan winkte ab. Das hatte Zeit für später.

Anwyll blickte über seine Schulter zu dem Lager der Mönche hin. „Ich frage mich immer noch, was sie eigentlich vorhaben. Für mich sieht das eher nach einer Evakuierung aus als nach einer Hilfslieferung.“

„Ich denke“, Bajan versicherte sich, dass sie nicht belauscht wurden, „dass sie dort etwas bergen wollen, was wir nicht zu sehen bekommen sollen. Aufzeichnungen oder Ähnliches, vermute ich.“

„Ich frage mich immer noch, was so interessant an diesem gottverlassenen Posten sein kann, dass man es verheimlichen muss.“ Roar waren die Mönche von Anfang an ein Rätsel gewesen.

„Müßig, über die Angelegenheiten der Mönche zu spekulieren, mein Freund. Selbst für uns Gildaer liegen ihre Absichten meist im Dunkeln.“ Bajan streckte sich. „Lasst uns schlafen gehen, es war ein langer Tag.“ Sie dämmten das Feuer ein und rollten sich in ihren Decken zusammen. Die Jungen waren augenblicklich in einen tiefen Schlaf gefallen.

Sie hörten nicht, wie mitten in der Nacht der vorderste Wachposten Roar und Bajan alarmierte und diese rasch das Lager verließen. Erst die aufgeregten Rufe der Männer ließen die Jungen schlaftrunken auffahren.

Es war Vollmond. Die Nebelschwaden, die immer noch über dem Lir-Delta lagen, hatten sich soweit gelichtet, dass der Berg gut zu erkennen war. Bajan spähte angestrengt in die Dunkelheit. Er konnte nichts erkennen, vertraute aber seinen Männern völlig. Wenn sie etwas gesehen hatten, dann war dort auch etwas gewesen. Nach und nach versammelten sich alle anderen um sie, und zwei ziemlich verschlafene Jungen drängten sich nach ganz vorne durch.

Doch nichts geschah. Angestrengt blickte der Wachposten, der den Alarm ausgelöst hatte, auf den Berg. „Es war wie ein Wetterleuchten, nur die Farbe stimmte nicht, und es war sehr hell gewesen“, berichtete er den beiden Anführern.

Als nach einigen Momenten immer noch nichts passiert war, schickten sie die Männer wieder ins Lager. Die Soldaten murmelten ärgerlich etwas von Halluzinationen und schlechten Träumen und folgten dem Befehl nur zu gerne. Auch die Mönche wandten sich verächtlich ab, nur Anwyll blieb nachdenklich dort, wo er war. Hatte er nicht eben etwas gespürt?

„Meister Anwyll, habt Ihr etwas?“, fragte Jeldrik besorgt, der zusammen mit Currann an seiner Seite geblieben war.

Der alte Priester runzelte nachdenklich die tätowierte Stirn „Vielleicht war es auch nichts.“

Von Osten zogen neue Nebelschwaden heran, die den Berg in Kürze wieder bedecken würden. Anwyll wandte sich ab und wollte gerade wieder ins Lager zurückgehen, als Currann plötzlich einen Schrei ausstieß. Die Männer fuhren herum. Die Bergspitze wurde von blauen Lichtern umschlossen, gleißend hell, kalt und unheimlich schnell. Sie wanderten die Grate hinauf- und hinunter, um die Spitze des Berges herum und ließen den Schnee kalt aufleuchten. Dies Schauspiel dauerte einige Augenblicke, dann war der Berg hinter der Nebelwand verschwunden, und nur noch ein unheimliches Leuchten ließ erahnen, was sich dort oben abspielte.

Nun hatten es alle gesehen. Aufgeregt redeten die Männer durcheinander. Die Mönche hatten unwillkürlich angefangen zu beten.

„Meister Anwyll, was war das?“, fragte Jeldrik mehr neugierig als ängstlich. Unbewusst hatte er sich aber doch an den alten Mann gedrängt, der ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

Erwartungsvoll blicken die Männer Anwyll an. Er räusperte sich. „Nun, von diesem Phänomen wird in den Büchern berichtet, wenn ein Berg kurz vor einem Vulkanausbruch steht. Wir können nicht ausschließen, dass es sich bei dem Kohinor ebenfalls um einen Vulkan handelt und sein Ausbruch kurz bevorsteht. Roar, wir sollten sehen, dass wir unsere Mission so schnell wie möglich erfüllen und dann alsbald einen möglichst großen Abstand zwischen uns und den Berg bringen.“ Aufgeregtes Murmeln machte sich breit. Die Mönche, die erst jetzt begriffen, was dies für ihr Kloster bedeuten könnte, brachen in Klagerufe aus.

„Ruhe!“, donnerte Bajan. „Legt Euch wieder hin, Männer!“ Sein Befehl ließ keinen Widerspruch zu, sodass sich alle wieder ins Lager begaben und eine unruhige restliche Nacht verbrachten. Nur Anwyll blieb, wo er war, und starrte nachdenklich in die Richtung, aus der das blaue Leuchten kam.

Am nächsten Morgen trieb Bajan seine Leute zur Eile an. Der Nebel hatte sich noch immer nicht verzogen, sodass sich erst gegen Mittag endlich die Konturen der Lobar- Anhöhe abzuzeichnen begannen.

Erleichterung machte sich breit. Endlich waren sie am Ziel. Doch Bajan ließ den Tross halten, denn er wollte mit seinen Männern erst die Lage erkunden. Auch die Jungen mussten zurückbleiben, womit sie überhaupt nicht einverstanden waren.

Anwyll tröstete sie zwinkernd. „Keine Sorge, eure Zeit wird viel eher kommen, als ihr denkt!“

In Kampfformation ritten Bajans Männer weiter auf das Kloster zu, während Roars Männer zu allen Seiten ausschwärmten, um die Gegend zu sichern.

Als sich die Konturen des Klosters langsam aus dem Nebel schälten, verringerte Bajan das Tempo. Überrascht hielt er plötzlich seine Männer an. Eine unheimliche Stille lag über der Anlage, kein Laut war zu hören. Das Klostertor gähnte ihnen weit offen entgegen. Es war niemand zu sehen.

Bajan saß ab und befahl allen, sich kampfbereit zu machen. Die Männer folgten umgehend seinem Befehl. Er wählte zwei Späher aus, die sich geduckt und immer in Deckung haltend dem Kloster näherten. Gespannt beobachteten sie, wie die Späher im Kloster verschwanden. Lange Zeit passierte nichts. Gerade, als Bajan zwei weitere Soldaten hinterherschicken wollte, erschienen die beiden wieder und winkten sie heran. „Es ist niemand hier!“ Bajan gab den Befehl zum Einrücken, blieb aber selbst draußen, denn er wollte auf Roar und dessen Männer warten.

„Wir haben keine Menschenseele entdeckt“, berichtete Roar, als er endlich kam und neben Bajan anhielt.

Nachdenklich betrachtete der Heerführer die Anlage. Sie machte einen trutzigen Eindruck, mehr wie eine Burg mit den innerhalb einer starken Mauer gelegenen Gebäuden und dem Wehrgang. „Hier muss etwas sehr Merkwürdiges vorgefallen sein, denn erobern kann man dieses Kloster nicht so einfach. Doch warum sollten die Mönche ihr Refugium einfach so verlassen?“ Er wandte sich um und gab zweien von Roars Männern den Befehl, den Tross zu holen. Dann ritten sie gemeinsam in den Hof des Klosters.

Bajans Hauptmann verschaffte ihm einen ersten Überblick. „Es ist wirklich niemand hier, Fürst, aber etwas ist entschieden merkwürdig. Die Anlage wurde einfach so verlassen, es fehlt nichts. Das Essen steht noch auf dem Tisch, aber schon ein paar Wochen, wenn Ihr mich fragt. Es fehlen keine Kleider, die Münzen sind noch in der Truhe, die goldenen heiligen Gegenstände auf dem Altar sind ebenfalls noch da. Dies war kein Raubüberfall.“

„Das hört sich für mich an, als hätten die Männer das Kloster ohne Hast und mit der Absicht, nicht lange wegzubleiben, verlassen“, stellte Bajan fest.

„Oder sie sind einfach verschwunden“, warf Roar ein.

„Ich bitte Euch, wie soll denn ein ganzes Kloster verschwinden?“ Bajan war nicht überzeugt. Ihre Diskussion wurde jedoch von der Ankunft des Trosses unterbrochen. Rufe wurden laut, als die Mönche verzweifelt nach ihren Brüdern suchten.

„Ruhe!“, musste Bajan die Mönche schon zum zweiten Mal an diesem Tag zur Ordnung rufen. Augenblicklich nahm er Stiig beiseite. „Niemand rührt etwas an, bis wir nicht Klarheit darüber haben, was hier geschehen ist! Teilt bitte Eure Männer ein, sie sollen systematisch jeden Raum durchgehen und mir berichten, was ihnen merkwürdig vorkommt.“ Stiig wollte sich empört gegen die Anweisungen wehren, aber Bajan schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. Seine Geduld wurde langsam überstrapaziert. „Meine Männer wüssten nicht, worauf sie achten müssten. Eure Brüder sehen am ehesten, wenn etwas nicht stimmt, sie sind doch schon alle einmal hier gewesen, nicht wahr?“ Beleidigt fügte sich Stiig.

Die Durchsuchung war überraschend schnell beendet. „Es fehlt nur das große Buch des Klosters, in dem seit Gründung die täglichen Ereignisse notiert werden“, berichtete der dickliche Mönch Askar, der die Studierräume durchgegangen war. Sie waren nicht einen Schritt weitergekommen.

Bajan verteilte Wachen auf den Mauern und vor dem Kloster, während die restlichen Männer in den Räumen um den Innenhof ihr Lager aufschlugen. Nach einer kurzen Beratung beschlossen Bajan und Roar, die Suche am nächsten Tag auf das Umland auszudehnen, wenn der Nebel nicht noch dichter wurde.

Doch plötzlich riefen die beiden Wachen, die auf der Mauer ihren Posten bezogen hatten, ihre Anführer hinauf. Der Nebel begann sich zu lichten, und endlich brach seit Tagen das erste Mal die Sonne wieder durch. Die Freude darüber währte allerdings nur kurz. Fassungslos standen alle Männer auf der Mauer und starrten auf den Anblick, der sich ihnen nach und nach enthüllte.

Dort, wo einmal Wasserläufe, kleine Inselchen und eine reiche Pflanzenwelt existiert hatten, erstreckte sich nun eine öde Wüste aus Schlamm und Geröll. Nur ein paar abgebrochene Baumstämme ragten einsam heraus. Die Verwüstung dehnte sich aus, so weit, wie ihr Auge blicken konnte, und endete zu ihrem Schrecken nur wenige Dutzend Schritte vor den Klostermauern.

Nun wurde ihnen allen klar, dass niemand im Delta diese Katastrophe überlebt haben konnte. Die Mönche stimmten ein Gebet an, denn das Kloster hatte auch Außenposten im Delta gehabt. Nicht wenige Soldaten Gildas schlossen sich ihnen an.

Currann starrte mit schreckgeweiteten Augen hinaus. Niemand hatte ihn auf einen solchen Anblick vorbereitet. Stiig schluckte hörbar, als er die Höhe der Schlammmassen schätzte. „Das müssen mehr als drei Mannhöhen sein“, sagte er mit brüchiger Stimme.

Bajan warf ihm einen kurzen Blick zu. „Der Tross wird morgen früh umgehend aufbrechen, damit wir möglichst schnell höheres Gelände erreichen. Packt zusammen, was Ihr als wichtig erachtet.“ Kein Widerspruch regte sich in den Mönchen, so verstört waren sie.

Roar blickte ihnen hinterher, als sie die Mauer verließen. „Was ich nicht verstehe, wie bei den Göttern ist der Abt noch in der Lage gewesen, eine Botschaft nach Gilda zu senden? Ich sage Euch, hier stimmt etwas entschieden nicht!“

„Mir kommt diese Tatsache ebenfalls merkwürdig vor“, ließ sich die keuchende Stimme von Anwyll hinter ihnen vernehmen, der es mit Hilfe von Jeldrik endlich geschafft hatte, die Mauer zu erklimmen. Die Reise und insbesondere der kalte, feuchte Nebel hatten ihm mehr zugesetzt, als er zugeben wollte. Fassungslos traten sie an die Mauer.

„Wir sollten Augen und Ohren offen halten und täten gut daran, möglichst schnell von hier zu verschwinden!“ Roar betrachtete besorgt die Männer im Hof, die sich bedrückt niedergelassen hatten, während die Mönche eilig alles einpackten, was sie für rettenswert hielten. Er klopfte seinen Sohn auf die Schulter, der noch immer auf den grausigen Anblick starrte, und gemeinsam verließen sie die Mauer.

Bajan ordnete doppelte Wachposten an, eine Partie auf der Mauer, eine vor dem Kloster. Die Jungen wies er an, die Nacht in einem festen Raum im Kloster zu verbringen.

Nun blieb nichts mehr zu tun. „Vater, dürfen wir uns, bis es dunkelt, noch etwas vor den Klostermauern umsehen?“ Jeldrik war langweilig geworden.

„Ihr bleibt aber in Sichtweite der Mauer und innerhalb des Wachpostenrings“, gab Roar sein Einverständnis. Jeldrik zog Currann schnell mit sich, bevor dieser noch protestieren konnte.

„Wo willst du denn hin?“, fragte er ungeduldig. Er war müde und niedergeschlagen und hätte sich lieber auf sein Lager begeben, das war Jeldrik von vorneherein klar gewesen, und so zerrte er ihn mit sich, ohne eine Antwort zu geben.

Sie liefen rasch um die Klostermauer herum und durch den Klostergarten hindurch, in dem noch die Ackergeräte herumlagen, bis sie schließlich auf der dem Delta zugewandten Seite angelangt waren. Trotz des grausigen Anblicks und des muffigen Geruchs, der von den Schlammmassen aufstieg, war dieser Ort bestens geeignet für das, was Jeldrik vorhatte. Der Wehrgang der Mauer hatte an dieser Seite einen leichten Überhang, sodass es am Fuße der Mauer einigermaßen trocken war. Jeldrik ließ sich dort nieder. Currann setzte sich neugierig neben ihn und beobachtete gespannt, wie er triumphierend ein Päckchen aus seiner Tasche zog. Als er es auswickelte, kamen eine Pfeife, Tabak, zwei Schlagsteine und Zunder zum Vorschein.

„Wo hast du denn das her?“ Currann war begeistert. Seine Müdigkeit war sofort vergessen.

„Einer der Männer muss es unterwegs verloren haben, es lag auf dem Weg. Los, lass es uns ausprobieren!“ Jeldrik warf einen prüfenden Blick die Mauer hoch. Und richtig, oben beugte sich der Kopf einer Wache neugierig zu ihnen hinunter. Als der Wachposten sah, was sie vorhatten, grinste er nur in seinen Bart und entfernte sich demonstrativ von ihnen.

„Glück gehabt!“, atmete Jeldrik auf und hielt Currann die Pfeife hin. Es war einer der Männer gewesen, die sie im Schwertkampf unterrichtet hatten.

Currann mühte sich unterdessen mit den Schlagsteinen ab. Zu schade, dass er seine zu Hause vergessen hatte, mit denen hätte er die Pfeife im Nu angehabt. Doch schließlich war die Pfeife entzündet und Jeldrik nahm prüfend einen leichten Zug, wie er es die Männer hatte tun sehen.

Augenblicklich brach er in wildes Husten aus und reichte die Pfeife schnell an Currann weiter. „Uähh, das ist ja scheußlich!“, würgte er hervor. Gewarnt durch das Ergehen seines Freundes war Currann noch vorsichtiger, aber auch er begann zu husten.

Dann brachen sie in wildes Gelächter aus. „Na los, es ist doch zu schade, sie nicht aufzurauchen!“ Jeldrik nahm die Pfeife wieder an sich. Tapfer nahm er den nächsten Zug, immer mit einem halben Blick auf die Sonne, die sich über dem Delta langsam dem Horizont näherte.

Gerade reichte Jeldrik die Pfeife an Currann zurück, als er merkte, wie dieser sich plötzlich versteifte. Sachte senkte Currann die Hand auf sein Schwert, denn er hatte in den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen, einen dunklen Schatten, der sich auf sie zubewegte.

Jeldrik fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Alle Geräusche um sie herum waren plötzlich verstummt. Ganz vorsichtig beugte er sich vor und drehte den Kopf, um einen Blick an Currann vorbei erhaschen zu können.

Alarmiert sprangen sie auf und zogen gleichzeitig ihre Schwerter. Beide Jungen nahmen umgehend eine Verteidigungshaltung ein, keinen Moment zu früh. Ein verwahrloster Mann kam brüllend auf sie zu, blutunterlaufene Augen blitzen sie unter verfilzten Haaren an. Mit einer großen Sense in der Hand stürzte er sich auf die Jungen und ließ sie in tödlichem Schwung auf sie herunterzischen. Jeldrik warf sich mit einem Schrei zur Seite und sah noch, wie Currann zu Boden ging, die Sense aber mit seinem Schwert ablenken konnte.

Die Gestalt hieb wie rasend auf seinen Freund ein, während Jeldrik sich mühsam aus dem Gras aufrappelte. Sein Schwert lag ein paar Schritte weiter, aber er hatte keine Zeit, es zu holen, denn Currann warf sich verzweifelt auf dem Boden hin und her, um den Streichen des Wahnsinnigen zu entkommen. Dreck spritzte überall dort auf, wo sich die Sense knapp neben ihm in die Erde bohrte. Jeldrik überlegte nicht, er handelte. Todesmutig warf er sich auf den Rücken des Angreifers, um ihn von den Füßen zu reißen. Doch der Mann hatte ungeahnte Kräfte. Mühelos hielt er dem Schwung des Jungen stand, aber zumindest eines erreichte Jeldrik: Er wirbelte herum und ließ von seinem Freund ab.

Currann war so hart aufgeschlagen, dass er nur wie durch einen Nebel hindurch die Alarmschreie der Wachen hörte. ‚Oh bitte, macht schnell!', dachte er verzweifelt und versuchte, wieder einen klaren Blick zu bekommen. Der Irre trachtete danach, Jeldrik von seinem Rücken zu werfen, aber dieser klammerte sich mit aller Kraft seiner Verzweiflung an ihm fest. Doch da senkte der Irre seine Zähne in Jeldriks Hand, der mit einem Schmerzensschrei seine Umklammerung lockern musste.

Augenblicklich wurde er von dem harten Griff des Mannes gepackt und durch die Luft geschleudert. Unsanft landete er auf dem Boden, rollte sich ab und richtete sich wieder halb auf. Doch der Angreifer war schon über ihm und ließ die Sense in tödlichem Schwung auf ihn niederfahren. Zu spät versuchte Jeldrik, sich zur Seite zu werfen, hob noch abwehrend die Hand. Er sah die Sense vor sich aufblitzen, ein ungeheurer Schmerz durchfuhr ihn, er schrie auf und sackte bewusstlos zusammen.

Currann sah, wie sein Freund durch die Luft geschleudert wurde, und packte sein Schwert. Mühsam kam er auf die Füße und stolperte zu dem Wahnsinnigen, der gerade die Sense auf Jeldrik niedersausen ließ. Er hörte den gequälten Schrei seines Freundes. Mit allerletzter Kraft hieb er ihrem Angreifer das Schwert in die Kniekehlen. Er traf nicht richtig, aber es reichte, dass der Angreifer zusammenbrach. Rasch ergriff Currann die Sense und warf das schwere Gerät außer Reichweite. Von hinten sah er die Männer um die Ecke hasten, allen voran Roar, den der Schrei seines Sohnes zu höchster Eile antrieb. Currann wurde schwindelig vor Erleichterung. Er fiel auf den Rücken und blieb keuchend liegen.

Roar griff eine eisige Hand ums Herz, als er seinen Sohn regungslos auf dem Boden liegen sah. Currann brach gerade zusammen, aber der Mann neben ihm begann, sich wieder zu rühren und auf die Jungen zuzukriechen. Mit einem wütenden Schrei sprang Roar heran und trat dem Mann unter die Kehle, sodass dieser in hohem Bogen zurückgeworfen wurde und sich nicht mehr rührte.

Fassungslos sank Roar neben Jeldrik auf die Knie. Eine Blutlache war unter dem Jungen zu sehen, da dieser sich aber schon wieder zu rühren begann und die Augen aufschlug, drehte Roar ihn ganz vorsichtig auf den Rücken. Überall war Blut. Jeldrik stöhnte gequält auf und krümmte sich zusammen.

„Lasst mich durch!“, rief Anwyll atemlos und drängte sich durch die Männer, die unglücklich um ihren Anführer herumstanden. Augenblicklich begann er, Jeldrik zu untersuchen, und bog ihn vorsichtig ihn auseinander „Komm, mein Junge, sei tapfer, ohne deine Hilfe geht es nicht!“, befahl er ihm in strengem Ton. Jeldrik gehorchte stöhnend.

Hilflos sah Roar zu, wie sich sein Junge unter Schmerzen wand. Anwyll schnitt ihm umsichtig das Hemd auf. Ein besorgtes Raunen ging durch die Reihen. Jeldrik hatte einen langen Schnitt quer über die Wange und weiter über die Brust abbekommen, der aber nicht sehr tief zu sein schien. Viel ernster war die Wunde an seiner rechten Hand, die er mit der unverletzten umklammert hielt und sehr stark blutete.

„Er muss mit der Hand die Wucht des Schlages abgewehrt haben.“ Anwyll versuchte, sie zu untersuchen, doch Jeldrik schrie auf und warf sich herum.

Roar zog seinen Sohn auf seinen Schoss, umklammerte seinen Oberkörper und hielt den verletzten Arm fest. Er warf Anwyll einen finsteren Blick zu. „Macht schon!“, knurrte er.

Anwyll öffnete die Hand. Jeldrik schrie auf. Entsetzt starrten alle auf die Hand. Sie schien nur noch eine Masse aus gesplitterten Knochen und blutigem Fleisch zu sein. Die beiden kleinsten Finger waren zertrümmert. Umgehend band Anwyll die Hand ab, was Jeldrik endlich bewusstlos werden ließ. Von hinten näherten sich zwei Männer mit einer Trage, auf die Roar seinen Sohn vorsichtig bettete. Zusammen mit Anwyll brachten sie den verletzten Jungen schnellstens ins Kloster.

Bajan untersuchte derweil Currann und stellte erleichtert fest, dass ihm nichts fehlte. Sachte schlug er ihn auf die Wange und rief ihn, und mit einem Keuchen fuhr Currann in die Höhe. Er war völlig benommen, sodass er nicht gleich wusste, was passiert war. Dies änderte sich jedoch sofort, als er den Mann auf dem Boden liegen sah, der sich stöhnend zu winden begann. Auf einen Wink Bajans fesselten ihn die Soldaten mit einem Seil.

Roar konnte sich bei diesem Anblick nicht mehr beherrschen. Wutentbrannt zog er sein Schwert. „Ich bringe ihn um!“, brüllte er und wollte sich auf den Mann stürzen. Die anderen fielen ihm gerade noch rechtzeitig in den Arm.

Bajan legte ihm die Hand auf die Schulter. Er sah ihm fest ins Gesicht und zwang ihn, seinen Blick von dem Mann weg auf sich selbst zu lenken. „Macht keinen Fehler, Roar. Auch wenn Ihr Euren Sohn rächen wollt, ist dies doch der einzige Mensch, der uns vielleicht berichten könnte, was hier vorgefallen ist.“

„Das ist kein Mensch, das ist ein Irrer!“ Roar spie die Worte geradezu aus. Doch in seiner Wut war er immer noch in der Lage, logisch zu denken, und er musste dem Heerführer recht geben. Bajan gab den Männern rasch die Anweisung, den Mann fortzubringen und in eine Zelle zu sperren, bevor Roar es sich noch anders überlegen konnte.

Currann schaffte es mithilfe der anderen, auf eigenen Beinen zurückzukehren. Als die Soldaten den Gefangenen in den Hof schleppten, entfuhr Stiig ein Schrei. „Beim heiligen Urian, es ist Abt Dotan! Was tut Ihr da mit ihm?“

„Wir sperren ein, Mönch, er hat Jungen gegriffen und Jeldrik verletzt!“, fuhr ihn einer der Männer Roars an, der etwas Gildaisch beherrschte. Schnell schleppten sie den Mann in eine fensterlose Zelle. Zwei Männer verbanden seine Kniekehlen notdürftig und verriegelten die Tür dann von außen.

Stiig war empört. „Was gibt Euch das Recht, so mit einem Mann des Herrn zu verfahren?“

Der Saraner packte Stiig ohne weitere Umstände am Kragen und schleifte den vor Schreck erstarrten kleinen Mann zu dem Raum, in dem Jeldrik versorgt wurde. „Das gibt es uns“, rief er und warf Stiig vor der Liege auf den Boden.

Mit schreckgeweiteten Augen starrte der Mönch auf den blutüberströmten Jungen. „Er .. er muss wahnsinnig geworden sein!“, stotterte er.

Roar kam herein und stieß ihn grob beiseite. Gemeinsam mit Anwyll hatte er seinen Jungen notdürftig versorgt und schleppte nun ein Feuerbecken mit Glut herbei.

„Genau das werdet Ihr herausfinden“, befahl Bajan, zog Stiig auf die Füße und aus dem Raum. „Wenn der Mann, vom dem Ihr behauptet, es sei der Abt, zu sich gekommen ist, fangt Ihr an, ihn auszuhorchen. Aber öffnet ja nicht die Tür, er ist gefährlich, verstanden?“ Stiig schlich sich schleunigst davon.

Drinnen trat Currann besorgt zu seinem Freund an die Liege, während die Männer eilig die Arzneivorräte der Truppe auspackten. Ein Soldat brachte heißes Wasser.

Roar fasste Currann am Arm und zog ihn etwas beiseite, damit Anwyll Platz hatte. „Du hast meinem Sohn das Leben gerettet. Dafür schulde ich dir allen Dank, den ich dir geben kann. Aber willst du nicht lieber draußen warten, während wir Jeldrik versorgen?“

„Nein“, weigerte sich Currann, machte sich von dem Fürsten los und setzte sich zu Jeldrik an das Kopfende der Liege. Sein Freund kam langsam wieder zu sich. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er zu Currann auf. „Wir haben’s ihm mächtig gegeben, nicht wahr?“, stöhnte er. Currann nickte bedrückt und fasste Jeldriks gesunde Hand.

Anwyll nahm sachte die verletzte Hand auf. Fest sah er Jeldrik in die Augen „Wir werden die zertrümmerten Teile deiner Finger abnehmen und die Wunde sofort ausbrennen müssen, sonst wirst du zu viel Blut, womöglich sogar deinen ganzen Arm verlieren. Ich habe keine Zeit für eine Betäubung, also sei tapfer!“ Angstvoll blickte Jeldrik ihn an. Roar beauftragte einen seiner Männer, ein Messer zu besorgen.

„Wartet!“, rief Currann. Er griff in seinen Ärmel und zog das Ferrium Messer heraus. In stillem Einvernehmen sah er seinen Freund an. „Wenn es schon gemacht werden muss, dann mit diesem hier.“ Jeldrik nickte schwach.

Anwyll legte die Messerspitze in die Glut, wo sie sich erhitzte, während er vorsichtig die stark blutende Wunde mit einem Sud reinigte. Bei jeder Berührung stöhnte Jeldrik auf. Dann wies er Roar an, erneut hinter Jeldrik Platz zu nehmen und ihn festzuhalten. Roar nahm Jeldrik auf seinen Schoß, legte die Arme um ihn und umklammerte den gesunden Arm, damit er diesen nicht mehr bewegen konnte.

Bajan schloss die Tür vor den neugierigen Augen der Soldaten. Dankbar blickte Jeldrik zu ihm auf. Doch dann weiteten sich seine Augen angstvoll, denn Anwyll nahm, mit einem dicken Tuch geschützt, das rot glühende Messer aus dem Feuerbecken.

„Sieh mich an, Sohn, und nicht dorthin“, befahl Roar streng. Er schob ihm seinen Armschutz zwischen die Zähne, und Jeldrik biss dankbar hinein. Er hielt den Blick seines Vaters fest, während Anwyll Currann leise Anweisungen gab, wie er den verletzten Arm festhalten sollte. Bajan stemmte sich auf die Beine des Jungen. Dann holte Anwyll tief Luft und begann sein mühevolles Werk.

Jeldrik bäumte sich auf und schrie so laut, dass es sogar die Soldaten vor der Mauer deutlich hören konnten. Etliche Male musste Anwyll den Vorgang wiederholen, bevor er alle Splitter und Fetzen entfernt und die Wunde komplett ausgebrannt hatte. Jeldrik hatte jedoch so viel Blut verloren, dass er bereits nach dem ersten Mal in eine gnädige Bewusstlosigkeit sank, die ihm den Rest ersparte.

Vorsichtig legte Roar seinen Sohn hinterher auf die Liege, während Anwyll die Wunde mit einer Wundsalbe einrieb und sauber verband. Dasselbe tat er mit dem Schnitt auf der Wange und der Brust des Jungen. Currann hatte dem Ganzen wie betäubt zugesehen, doch nun brachen die gesamten Ereignisse wie eine Woge über ihm zusammen. Ihm wurde übel, er stürzte nach draußen. Keuchend übergab er sich in den Hof.

Bajan folgte ihm rasch. Umgehend führte er den Jungen zu seinem Lager, auf dem er wie tot zusammenbrach. Eine Weile noch blieb er bei ihm sitzen und versicherte sich, dass Currann fest schlief, dann kehrte er zu den anderen zurück.

Roar hielt Anwyll gerade seinen Arm hin. Eine tiefe Bisswunde zeigte sich dort, wo Jeldrik seinen Armschutz verfehlt und die Zähne in seine Haut gegraben hatte. „Wann werden wir wissen, ob die Hand sich entzündet oder abheilt?“, fragte er mit finsterer Miene.

„In zwei bis drei Tagen sollten wir Gewissheit haben. Euer Sohn hat wahrlich Bärenkräfte, Ihr vermochtet ihn kaum zu halten, daher wird er auch den Rest gut überstehen“, meinte Anwyll der Höflichkeit halber auf Gildaisch, als er Salbe auf Roars Arm verteilte.

„Ja, er wird einmal ein guter Krieger. Er muss es werden“, murmelte Roar mit einem besorgten Blick auf seinen Sohn und ließ zu, dass Anwyll ihm umsichtig einen Verband anlegte. Dieser kurze Ausspruch, voller Sorge und unbedacht, sagte Bajan mehr als alle Beobachtungen. Die Saraner kannten kein Heer, keine Ausbildung, keine Kampfesdisziplin. Sie waren Einzelkämpfer, die sich nur auf ihre Stärke verließen. Das war ihr ganzes Wesen, dafür lebten sie. Vielleicht war Jeldrik Roars einziger Sohn, auf jeden Fall hing von seinem Überleben eine ganze Menge ab, das ahnte Bajan in diesem Moment.

Es klopfte an der Tür. Einer der Männer Bajans brachte ein paar in ein Tuch gewickelte Gegenstände. „Das haben wir vor der Mauer gefunden, Fürst.“

Roar starrte auf die halb gerauchte Pfeife. „Da soll mich doch .. habt Ihr die Männer gefragt, wem diese gehört?“, fragte er den Soldaten.

Dieser nickte. „Ja, Fürst. Keiner vermisst seine Pfeife. Ich habe auch die Mönche gefragt, aber die rauchen nicht, und wollte Euch nun bitten nachzuschauen.“

Anwyll und Roar taten dies umgehend, doch auch ihre Pfeifen waren dort, wo sie hingehörten. Bajan betrachtete nachdenklich die Pfeife. „Wir haben auf dem Weg ins Kloster nichts Derartiges gefunden, nicht wahr?“

Roar schüttelte den Kopf. Dann sah er Anwyll an. „Wo waren die Jungen, als Ihr im Kloster angekommen seid?“

Anwyll musste sich erstmal besinnen. „Sie ritten zuletzt in den Hof, glaube ich. Warum?“

Roar rieb sich nachdenklich über seinen Bart „Es ist doch ein etwas merkwürdiger Zufall..“

„Vater!“ Jeldrik kam wieder zu sich.

Sofort war Roar an seiner Seite. Er konnte sehen, dass sein Junge starke Schmerzen hatte. „Ruhig!“, knurrte er und strich ihm mit einer sanften Geste, die nicht so recht zu ihm zu passen schien, das verschwitzte Haar aus der Stirn.

„Vater, es tut mir so leid. Ich habe Currann in Gefahr gebracht!“ Jeldrik hatte glasige Augen vor Schmerzen. Anwyll hatte etwas Mohnsaft verdünnt und wollte ihm diesen schon einflößen, aber Roar hielt ihn zurück.

„Wie meinst du das?“, fragte er seinen Sohn stirnrunzelnd.

Jeldrik blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihm auf. „Ich hab die Pfeife vor dem Kloster gefunden und mich noch gewundert, warum sie niemand vor uns aufgehoben hat. Es war eine Falle!“

„Wie kommst du darauf?“ Roar hätte vor Wut die Wände hochgehen mögen, als er mit ansehen musste, wie sein Sohn sich quälte, aber er zwang sich, diese Frage ruhig zu stellen.

„Der Mann, er hat mich gar nicht beachtet, sondern hat sich gleich auf Currann gestürzt. Jemand wollte, dass wir dort rausgehen und dass Currann umgebracht wird!“

Bajan starrte fassungslos auf den Jungen. Dass er in diesem Zustand noch derart klare Schlüsse ziehen konnte! Das war erstaunlich, beinahe noch erstaunlicher als die Mutmaßung selbst. Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Erst als Jeldrik immer unruhiger vor Schmerzen wurde, nahm Roar den Mohnsaft. „Niemand gibt dir die Schuld, Sohn. Currann geht es gut, und du wirst auch wieder gesund!“ Es klang wie ein Befehl. Gehorsam schluckte Jeldrik den Mohnsaft, wand sich noch einige Zeit und war dann endlich eingeschlafen.

Bajan machte sich umgehend daran, die Pfeife zu untersuchen, doch sie war bereits vollständig ausgebrannt. Er klopfte sie aus, und sein Verdacht fand sich bestätigt. Ganz zum Schluss rieselte etwas heraus, das nicht wie die Rückstände des Tabaks aussah, die Roars Männer stets um ihr Lager herum zurückließen.

„Gift?“ Anwyll schnupperte daran und war ratlos. „Was es auch immer war, jetzt ist es zerstört. Der Wahnsinnige muss die Jungen frühzeitig gestört haben, sonst wären sie nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu wehren. Wir sollten die Reste auf jeden Fall verbrennen.“

Bajan und Anwyll taten es umgehend und räumten auch die übrigen Gerätschaften fort, während Roar seinem Sohn nicht von der Seite wich. Schließlich kam Bajan mit ein paar Decken auf dem Arm zurück. „Ihr werdet sicherlich heute Nacht hier schlafen wollen.“

Mit einem knappen Dank nahm Roar die Decken entgegen. „Vielleicht solltet Ihr heute Nacht einen Wachposten vor Curranns Quartier aufstellen. Nehmt einen meiner Männer, sicher ist sicher!“

Bajan blickte den Clansführer ungläubig an. „Ihr glaubt doch nicht, dass einer meiner Soldaten..?“

„Bajan, wer sollte ein Interesse daran haben, Currann umzubringen? Das habt Ihr Euch doch sicherlich auch schon gefragt, nicht wahr?“

„Ich gebe zu, dieser Gedanke spukt schon einige Zeit in meinem Kopf herum. Es gibt darauf nur eine Antwort: Alia!“ Bajan setzte sich auf den Boden und dämpfte seine Stimme. „Aber ich glaube nicht, dass ihr Einfluss bis in das Heer reicht.“

„Kommt schon, Bajan, für Gold haben schon viele Leute ihre Ideale verraten!“

Bajan schüttelte den Kopf. „Ich würde für jeden meiner Männer die Hand ins Feuer legen.“

„Diese Hand hätte mein Sohn fast verloren, wie Ihr seht!“, grollte Roar aufgebracht und schlug zornig mit der Faust gegen die Wand, dass Bajan meinte, die Knochen knacken zu hören.

Immer mehr bekam die glatte Maske des Clansführers Risse und enthüllte den wahren Menschen dahinter. Bajan war erleichtert, er bedauerte nur die Umstände, unter denen es geschehen war. Roar war, so schien es, ein harter, manchmal auch unbeherrschter Anführer, der die tiefe Liebe zu seinem Sohn nicht nach außen, vor allem nicht vor seinen Männern, zeigen wollte. Es bestätigte Bajans Verdacht über die wirkliche Welt der Saraner, und er stellte fest, dass ihm dieser Mensch hinter der Maske sehr viel besser gefiel. Vielleicht, weil er berechenbarer war? Er traute ihm nicht, aber er achtete ihn mehr als vorher.

Um ihn noch mehr aus der Reserve zu locken und weil er ihm auch irgendwie leidtat, sagte Bajan: „Ich verstehe Euren Zorn. Mir ist es leider verwehrt geblieben, eigene Kinder zu haben, aber Currann in praktisch wie ein Sohn für mich. Die Jungen in dieser Gefahr schweben zu sehen, macht mich ebenso zornig wie Euch.“ Bajan kniff die Augen zusammen, als ungebetene, schmerzvolle Erinnerungen hochkamen.

Roar betrachtete mit finsterer Miene seinen Sohn. Ihm war klar, dass dieses Geständnis dem Heerführer nicht leicht gefallen war. „Was ist geschehen?“, fragte er leise.

Bajan rieb die Hände übers Gesicht. „Meine Frau und mein Sohn sind bei der Geburt gestorben. Ich habe danach nie wieder geheiratet.“ Er erhob sich. „Ich organisiere die Wache für Currann.“ Leise schloss er die Tür hinter sich und ließ Roar allein in seinem finsteren Zorn zurück.

Inzwischen war es Nacht geworden. Bajan fand sämtliche nicht wachhabenden Männer um das Feuer versammelt vor. Alle rissen sich darum, vor Curranns Quartier Wache stehen zu dürfen, sodass er das Los entscheiden ließ. Während ihres Dienstes waren die beiden Jungen in tödliche Gefahr geraten, eine Schande, die die Männer nicht auf sich sitzen lassen wollten. Auch eine Wache für den Gefangenen teilte er ein.

Nachdem dies erledigt war, machte sich Bajan voller unruhiger Gedanken auf zu dem Gefangenen. Seiner Meinung nach blieb nur eine Gruppe übrig, aus welcher der Verräter stammen konnte. Aber wer war es?

Schon von Weitem hörte er das Geheul des Wahnsinnigen. Bedrückt standen die Mönche vor der Tür und lauschten den unheimlichen Geräuschen.

Stiig sah Bajan kommen und erstatte ihm geflissentlich Bericht. „Wir können ihn nicht erreichen, weder durch Gebete noch durch gutes Zureden. Seine Worte sind unverständlich, wir hören nur so etwas wie ‚verstecken’ und ‚unsichtbar’ heraus. Das gibt alles keinen Sinn. Er ist vollkommen wahnsinnig. Aber seht selbst.“ Bajan blickte durch die vergitterte Öffnung in der Tür. Notdürftig wurde der Raum von den außen angebrachten Fackeln erhellt.

Er konnte erkennen, wie der Mann sich auf seinem Lager hin und her warf. Schaum klebte vor seinem Mund, stetig schlug er mit seinem Kopf an die Wand, die von seinen Wunden bereits ganz blutig war.

„Und Ihr seid sicher, dass dies Abt Dotan ist?“, fragte Bajan ungläubig.

„Wir sind uns absolut sicher, schließlich waren die Brüder und ich einige Jahre unter ihm hier im Dienst des Herrn. Wir müssen ihm helfen, er verletzt sich! Lasst uns die Tür öffnen und sehen, was die Macht des Herrn bewirken kann!“ Stiigs Augen begannen, fiebrig zu glänzen.

Bajan wurde in diesem Moment klar, was diesen Mann zu einem solch erfolgreichen Missionar gemacht hatte. Aber er widerstand seiner Überredungskunst. „Auf keinen Fall werdet Ihr die Tür alleine öffnen. Das ist ein Befehl! Ihr habt gesehen, was er anrichten kann, dabei waren die Jungen bewaffnet und durchaus in der Lage, sich zu wehren. Nicht auszudenken, was mit Euch geschehen würde! Nein, das will ich nicht verantworten. Auch meine Männer werden sich heute nicht mehr der Gefahr aussetzen. Das ist mein letztes Wort!“, erwiderte er knapp und stapfte wütend davon.

Die Brüder blieben sprachlos zurück. Stiig schlug das Zeichen Urians. „Der Eine Herr sei Abt Dotan gnädig, es sieht so aus, als könnten wir ihm nicht helfen. Brüder, betet, dass Bruder Abt morgen zur Besinnung gekommen ist.“ Inbrünstig stimmten sie ein Gebet an. Als sie geendet hatten, nahm die Wache vor der Tür Aufstellung, und sie begaben sich in ihr Nachtlager.

Spät in der Nacht herrschte Ruhe über dem Kloster. Die Fackeln waren erloschen, und auch das Feuer glimmte nur noch, als ein Mann heimlich zu der Zelle des Gefangenen schlich. Er trug einen Umhang, dessen Kapuze das Gesicht und die Kleidung vollkommen verdeckte. Unbemerkt verbarg er sich hinter einem Mauervorsprung und beobachtete den Soldaten, der vor der Tür Wache hielt. Vorsichtig schlich er sich näher heran und ging hinter einer Säule in Deckung. Er zog ein kleines Röhrchen lautlos aus seinem Beutel, setzte es an die Lippen und blies kräftig hinein.

Einen Wimpernschlag später schlug sich der Soldat mit der flachen Hand an den Hals und wischte eine vermeintliche Mücke beiseite. Er schaute noch verwundert auf seine Hand, denn eigentlich war es zu spät im Jahr für Mücken. Dann erspähte er den Schatten hinter der Säule und zog sein Schwert, doch es war zu spät: Ein plötzlicher Schwindel erfasste ihn, er begann zu taumeln. Der Soldat ließ sein Schwert fallen, wankte einige Schritte auf den Schatten zu, um schließlich vor der Säule zusammenzubrechen. Genauso lautlos, wie er gekommen war, packte der Schatten den Soldaten und zog ihn außer Sichtweite.

Kurze Zeit später näherte sich eine ähnlich gewandete Gestalt vorsichtig der Zelle des Gefangenen. Der Mann schaute sich nach allen Seiten um, konnte aber keinen Wachsoldaten entdecken. Dafür fiel sein Blick auf das Schwert auf dem Boden. Verwundert hob er es auf und näherte sich der Tür. Mit einem Blick durch die Türöffnung vergewisserte er sich, dass der Gefangene schlief. Lautlos zog er den Riegel der Tür beiseite und betrat die Zelle.

Vorsichtig beugte er sich über den Gefangenen. Er schien tatsächlich fest zu schlafen. Rasch zog er eine kleine Flasche aus der Tasche des Umhangs und entkorkte sie. Doch dann zuckte er erschrocken zurück. Plötzlich offen starrten ihn die Augen des Wahnsinnigen an.

In Panik wich der Mann zur Tür zurück. Er öffnete den Mund, um Hilfe zu rufen, aber der Gefangene war schneller. Mit einem Knurren griff er sich das Schwert und schnitt seinem nächtlichen Besucher mit einem Streich die Kehle durch. Der Gefangene gab ein leises, irres Lachen von sich, als er ihn zusammenbrechen sah. Er zog ihm den Umhang aus, legte ihn sich um und verließ die Zelle.

Currann wurde von unruhigen Träumen geplagt. Wieder und wieder wurden Jeldrik und er angegriffen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Schweißgebadet wachte er auf, sein Kopf hämmerte, als wenn er zerspringen wollte. Zuerst wusste er nicht, wo er sich befand, und versuchte verzweifelt, sich im durch das Fenster einfallende Mondlicht zu orientieren. Doch dann kamen die Erinnerungen schlagartig zurück.

Stöhnend vor Übelkeit lehnte er sich auf seinem Lager zurück. Er schloss die Augen und atmete tief durch, um ihrer Herr zu werden. Es gelang ihm unter Aufbietung aller Kräfte. Langsam wurde er ruhiger, er konnte wieder die Augen öffnen, ohne dass ihm schwindelig wurde.

Dankbar fiel sein Blick auf einen Becher Wasser, den ihm jemand auf den Tisch neben der Liege gestellt hatte. Er trank einen Schluck und entdeckte dabei sein Messer, das dieser Jemand ihm dazugelegt haben musste.

Er wollte es gerade an seinen gewohnten Platz zurückstecken, als ein Geräusch vor der Tür ihn innehalten ließ. Täuschte er sich, oder wurde dort ein Schwert aus der Scheide gezogen? Das Geräusch war unverkennbar. Beunruhigt schwang er seine Beine von der Liege und stand lautlos auf. Plötzlich hörte er außen einen leisen, dumpfen Schlag gegen die Tür. Erschrocken sprang er zurück. Er hörte jemanden aufstöhnen und duckte sich. Langsam ging die Tür auf. Eine Gestalt, die davor auf dem Boden saß, kippte rückwärts in die Kammer. Entsetzt sah er, dass es ein Soldat war, der Rüstung nach zu urteilen, einer von Roars Männern. Fest umklammerte Currann sein Messer, als eine dunkle Gestalt über dem Soldaten in der Tür erschien. Selbst im Mondlicht konnte er erkennen, dass das Schwert, das sie in der Hand hielt, blutgetränkt war. Es glänzte schwarz.

Dies alles sah Currann im Augenblick eines Wimpernschlages. Es ging alles so schnell. Ihm entfuhr ein krächzender Aufschrei. Die Gestalt holte mit dem Schwert aus, wurde aber von der Türöffnung und dem unter ihr liegenden Soldaten behindert. Dies rettete Currann das Leben. Mit einem Sprung war er auf der anderen Seite der Liege, während sein Angreifer dort, wo er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte, mit dem Schwert den Tisch zertrümmerte und dabei seine Waffe verlor.

Der Mann war nun deutlich im Mondlicht zu erkennen. In Panik erkannte Currann, dass es der Irre war, der Jeldrik so schwer verletzt hatte. Er hatte jedoch keine Zeit mehr, um Hilfe zu rufen, denn der Mann warf die Liege um und war mit einem Satz bei ihm. Mit einem irren Lachen packte er ihn an der Kehle und drückte zu.

Verzweifelt versuchte Currann, sich dem Mann zu entwinden, aber dessen wahnsinniger Griff war viel zu stark für ihn. Ihm blieb die Luft weg, seine Kräfte schwanden. Doch da spürte er einen Gegenstand in seiner rechten Hand. Mit allerletzter Kraft hob er sie und stieß zu. Dann wurde es schwarz um ihn.

Die Soldaten wurden von einem Schrei und einem lauten Krachen geweckt. Sofort waren alle in Alarmbereitschaft, aber die Ursache des Geräusches war zunächst unklar. Bajan wollte gerade die Männer verteilen, aber da ertönte der Wutschrei eines Soldaten, der seinen Kameraden in der Tür von Curranns Kammer entdeckt hatte. Bajan stürmte alarmiert herbei. Der Soldat war tot, jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Im Raum selbst war nichts zu erkennen außer dunklen Schatten.

„Bring eine Fackel!“, brüllte Bajan. Mit gezücktem Schwert näherte er sich vorsichtig der Tür.

Die Männer kamen mit mehreren Fackeln zurück. Sie warfen eine in den Raum, dann schob sich Bajan langsam vor. Mit einem Blick erfasste er das Chaos und erblickte den Mann in der Ecke. Vorsichtig näherte er sich ihm, aber dieser schien sich nicht zu bewegen. Doch dann keuchte Bajan auf. Er sah eine schmale Hand unter dem Mann hervorragen.

Wutentbrannt zerrte er den Irren von Currann herunter. Die Soldaten, die hinter ihm in den Raum gedrängt waren, brachen in entsetzte Rufe aus. Currann war über und über mit Blut bedeckt. Schnell kniete Bajan sich neben ihn und fühlte seinen Puls. Erleichtert atmete er auf. „Er lebt, es ist nicht sein Blut!“ Er zog den Jungen zu sich heran. Dabei entdeckte er die Würgemale an seinem Hals.

„Seht, er wollte ihn töten!“, rief einer der Männer.

„Findet heraus, wie der Irre aus der Zelle entkommen konnte, und bringt mir den Schuldigen her!“ Bajan wäre am liebsten selbst zur Tat geschritten, so wütend war er, aber jetzt galt es erst einmal, Currann zu versorgen.

„Fürst Bajan, seht her!“ Einer der Männer hatte den Umhang des Mannes beiseite gezogen. Nun sahen alle das kleine Messer aus seinem Hals ragen.

„Currann hat ihn getötet!“, riefen die Soldaten verwundert und nicht wenig stolz. Bajan und einer seiner Leute hoben den Jungen vorsichtig auf und trugen ihn aus dem Raum zu Jeldriks Krankenlager. Unterwegs brüllte Bajan quer über die ganze Anlage nach Anwyll.

Ohne anzuklopfen, stießen sie die Tür auf. Roar fuhr aus seinem Schlaf auf. „Was ist passiert?“ Er blickte ungläubig auf den Jungen, den sie hereintrugen, und nahm die aufgeregten Rufe draußen wahr. Umgehend machte er den beiden Männern Platz, damit sie Currann auf Roars Lager legen konnten, und meinte finster: „Der Gefangene ist entkommen, nicht wahr?“

Bajan bettete mit fahrigen Bewegungen den bewusstlosen Jungen bequemer hin. „Er hat den Irren getötet, Roar. Hier sind wir, ein Haufen erfahrener Soldaten, und wir schaffen es nicht, unsere Jungen zu beschützen. Wie kann das sein?“ Er rieb sich fassungslos übers Gesicht.

Roar drückte ihm verständnisvoll die Schulter. Bajan sah zu ihm auf. Auf einmal schien sich etwas zwischen ihnen verändert zu haben. Sie waren keine Fremden mehr, sie waren Gleichgesinnte. Mühsam raffte er seine Gedanken zusammen. „Wir haben einen Mann verloren. Der Irre hat ihn getötet. Es ist einer von Euren Leuten.“

Roars stieß einen Fluch aus. Schnell eilte er aus dem Raum und schob dabei Anwyll beiseite, der zu ihnen geeilt kam. Umsichtig untersuchte der alte Mann den Jungen, stellte aber fest, dass ihm augenscheinlich nichts fehlte.

Als er ihm die blutige Kleidung abstreifen wollte, begann Currann, sich zu rühren. Schließlich schlug er die Augen auf. „Was ist passiert?“, fragte er verwirrt. Seine Stimme kratzte. Mit großen Augen starrte er auf die beiden Männer, die sich über ihn beugten. Dann fiel ihm alles wieder ein. „Ihr seid rechtzeitig gekommen, nicht wahr?“, keuchte er.

Bajan schüttelte den Kopf. „Du hast dir selbst geholfen und den Angreifer getötet.“

Currann wurde schwindelig. „Ich habe den Mann getötet!?“ Ihm blieb die Luft weg. Erschöpft schloss er die Augen und ließ zu, dass Anwyll ihn entkleidete.

Bajan strich ihm beruhigend über die Stirn. „Versuche, etwas zu schlafen, wir bleiben bei dir. Keine Angst.“

Anwyll deckte den Jungen zu. Dabei beobachtete er Bajan aufmerksam. Es war deutlich zu sehen, dass dieser sich schwere Vorwürfe machte. „Ich bleibe hier und passe auf die beiden auf. Geht Ihr zu Roar und seht zu, was Ihr herausfinden könnt.“ Für Bajan war es jetzt das Beste, zur Tat zu schreiten.

Bajan dankte Anwyll und gesellte sich zu Roar, der mit seinen Männern mit grimmiger Miene um den toten Kameraden herum stand. Da fiel Bajan siedend heiß etwas ein. Er zog alarmiert die Luft ein und nahm Roar beiseite. „Ich hatte eine Wache vor der Zelle des Gefangenen postiert! Habt Ihr schon nach dem Mann gesehen?“ Roar schüttelte den Kopf.

Bajan eilte alarmiert hinüber zu der Zelle des Gefangenen. „Wo ist die Wache?“, rief er seine Leute an.

„Der Mann ist nicht da, Fürst“, berichtete einer der Soldaten.

„Sucht ihn und bringt ihn mir!“ Bajan spürte, wie er allmählich seine Beherrschung verlor. Wie konnte der Mann nur derartig seine Pflicht vernachlässigen? In der Zelle hörte er das Lamentieren der Mönche. „Lasst mich durch!“ Er zerrte die Männer grob beiseite. Der Tote in der Zelle war Bruder Askar.

Roar, der inzwischen ebenfalls hereingekommen war, packte Stiig am Kragen seiner Kutte. „Wie konnte das passieren, Mönch? Unsere Anweisungen waren deutlich gewesen, und doch hat Euer Mann dagegen verstoßen. Dies hat einen meiner Männer das Leben gekostet!“

Stiig wand sich unter dem steinharten Griff des Saraners. „Er wollte nur helfen, seht selbst, was wir gefunden haben“, winselte er und zeigte auf ein kleines Fläschchen, das einer der Brüder in der Hand hielt.

Bajan nahm es und roch vorsichtig daran. „Mohnsaft!“, stellte er fest und reichte das Fläschchen an Roar weiter.

Dieser stieß Stiig wie eine lästige Fliege von sich. Wütend knurrte er die Mönche an: „Geht zurück in Euer Quartier und lasst Euch ja nicht mehr hier blicken!“

„Wie könnt Ihr es wagen!“ Empört wandte sich Stiig an Bajan. „Klärt Euren heidnischen Freund darüber auf, dass die Männer des Einen Herrn sich von niemandem befehlen lassen, schon gar nicht in unserem eigenen..“

Bajan jedoch war mit seiner Geduld endgültig am Ende. Er unterbrach ihn einfach. „Ihr habt gegen meine ausdrücklichen Anordnungen verstoßen und dadurch das Leben des Thronfolgers in Gefahr gebracht.“

Stiig giftete zurück: „Ach ja, und wo ist Eure Wache? Sie hat ihre Pflicht nicht..“

„Genug!“, fuhr Bajan ihn an. „Ich stelle Euch hiermit unter Kriegsrecht, bis wir wieder zu Hause sind. Der Rat von Gilda wird dann darüber entscheiden, was weiter mit Euch geschieht! Nehmt nun Euren toten Bruder und bereitet ihn zur Bestattung vor. Wir werden ihn nicht mitnehmen.“ Er ließ seine Männer die protestierenden Mönche zu ihrem Lager abführen.

„Das wird noch ein Nachspiel haben, Bajan!“, kreischte Stiig über die Schulter, bevor sich die Tür ihres Quartiers hinter ihnen schloss.

Erschöpft lehnte Bajan an der Wand der leeren Zelle. Roar sah mit finsterer Miene den Soldaten hinterher. „Ist die Macht der Mönche so groß, dass der Rat sich mit diesem Vorfall beschäftigen muss?“

Bajan seufzte. „Oh ja. Dieser Vorfall könnte mich sogar meinen Posten kosten, mein Freund. Die Mönche sind sehr einflussreich, unterschätzt sie bloß nicht.“ Er stieß sich von der Wand ab und verließ vor Roar die Zelle.

Die Männer hatten inzwischen das Gelände abgesucht. „Der Soldat wurde nicht gefunden, Fürst“, erstatte ihm der Hauptmann Bericht.

Bajan hörte in besorgtem Schweigen zu. Er dankte dem Soldaten und zog Roar beiseite. „Ich kann nicht glauben, dass der Mann einen solchen Verrat begangen hat.“

„Alle Hinweise deuten darauf hin, Bajan. Warum sollte der Mann sonst verschwinden?“ Verwunderung schwang in Roars Stimme mit. Für ihn war die Sache eindeutig.

Bajan war sich durchaus bewusst, dass es abwegig klang. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass ein Verräter unter uns und nicht in den Reihen der Soldaten zu finden ist. Aber Bruder Askar war es mit Sicherheit nicht. Er war harmlos und wollte wohl tatsächlich bloß helfen.“ Er wartete auf eine Reaktion von Roar, doch als dieser ihn nur schweigend ansah, seufzte er. „Kommt, lasst uns das Lager abbrechen. Bei Sonnenaufgang bestatten wir Euren Mann, dann brechen wir umgehend auf. Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun.“

Doch sie kamen nicht mehr dazu. Als sie die Kammer der Jungen betraten, fanden sie Anwyll besorgt über Currann gebeugt. „Sein Hals schwillt immer mehr zu“, teilte er Bajan mit, der unruhig auf ein Wort von ihm wartete. „Hört, er bekommt kaum noch Luft. Wenn es nicht umgehend besser wird, muss ich die Luftröhre öffnen.“

„Ihr wollt Currann den Hals aufschneiden?“ Bajan war entsetzt.

Der alte Priester legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Keine Angst, es ist nur ein kleiner Schnitt, sodass er an der Schwellung vorbei Luft holen kann. Wir haben Erfahrung darin, vertraut mir! Aber lasst mich zuerst den Hals kühlen, vielleicht geht die Schwellung noch von selbst zurück.“

Er blieb bei den Jungen, während die Männer zu packen begannen. Doch schon bald zeichnete sich ab, dass es Currann immer schlechter ging. Anwyll ließ heißes Wasser vorbereiten, einer der Männer brachte ihm ein im Feuer erhitztes Messer.

Schon fand sich Bajan in der gleichen Lage wieder, die er am Tag zuvor Roar hatte durchmachen sehen. Er hielt Currann im Arm und bog seinen Kopf weit nach hinten, während Anwyll vorsichtig den geschwollenen Hals abtastete. Mit einem raschen Schnitt hatte er die Luftröhre des Jungen geöffnet und steckte ein kleines Röhrchen hinein. Pfeifend strömte die Luft hindurch. Currann begann sogleich zu husten und atmete bald wieder tief und ruhig. Bajan hielt ihn fest, während Anwyll den Hals und das Röhrchen mit einer dicken Lage aus Verbänden stabilisierte. Als Currann kurze Zeit später die Augen aufschlug, durchströmte Bajan tiefe Erleichterung.

Currann wusste zunächst nicht, wo er war, spürte aber sofort den scharfen Schmerz am Hals. Er wollte mit seiner Hand dorthin fassen, doch Bajan packte sie mit festem Griff. „Nein, nicht berühren“, sagte er mit rauer Stimme. Curranns Augen weiteten sich, als er die Männer um sich herum erkannte. Er versuchte etwas zu sagen, scheiterte aber. Bajan drückte ihm beruhigend die Schulter. „Keine Sorge, das wird schon wieder.“ Vorsichtig bettete er den Jungen bequemer hin und deckte ihn zu.

Anwyll gab Currann einen schmerzstillenden Tee zu trinken. „Du darfst deinen Hals nicht berühren, verstanden?“ Currann konnte nicht nicken, senkte aber bestätigend die Augenlider. Neben ihm schlief Jeldrik tief und fest. Sicherheitshalber richtete sich der alte Priester ein Lager her, er wollte die restliche Nacht bei den Jungen wachen. So blieb für Bajan nichts mehr zu tun. Er trat zu den Männern ans Feuer, die ihm ungeduldig entgegensahen.

„Er atmet wieder!“ Roar schlug ihm erleichtert auf die Schulter und drückte ihm einen Becher Wein in die Hand, während die Männer ihrer Erleichterung lautstark Luft machten. Zum ersten Mal seit vielen Stunden fühlte sich Bajan wieder etwas erleichtert, aber die bleierne Last, seine Pflicht gegenüber der Königin nicht erfüllt zu haben, blieb.

Anwyll hob einen Becher mit geweihtem Wasser und das Schwert des Toten der aufgehenden Sonne entgegen. Die Männer hatten sich in einem weiten Kreis um die aus Holz gestapelte Totenbahre ihres Kameraden versammelt. Nebelschwaden waberten durch das Delta und verliehen dem Ritual einen passenden Rahmen.

Die Männer Roars zogen ihre Schwerter und hielten sie von sich gestreckt. Anwyll begann den Totenritus. Im Sprechgesang schritt er die vier Himmelsrichtungen um die Bahre ab, während die Männer mit ihren Schwertern seiner Richtung folgten, an den festgelegten Stellen auf den Gesang antworteten und so ihrem Kameraden die letzte Ehre erwiesen.

Stumm und beeindruckt hörten die Männer Bajans zu. Man hatte ihnen erklärt, dass der Tote den vier Elementen Himmel, Erde, Feuer und Wasser überantwortet werden würde, bevor man ihn verbrannte. Dies war ungewohnt für sie, denn die Toten Gildas wurden stets einbalsamiert und beerdigt.

Als Anwyll seinen Gesang beendet hatte, knieten die Männer nieder und stützten sich auf ihre Schwerter. Die Soldaten Gildas folgten ihrem Beispiel. Nachdem Anwyll mit einer Fackel die Bahre in Brand gesetzt hatte, übergab er das Schwert des Toten an Roar, damit dieser es an die nächsten Verwandten des Mannes überbringen konnte. Stumm beobachteten sie, wie die Bahre langsam niederbrannte.

Nach einer angemessenen Zeit erhob sich Roar und gab den Befehl zum Aufbruch. Bajan verließ mit ihm als Letzter die Stätte. „Wie gut, dass die Mönche auf der anderen Seite des Klosters ihre eigene Bestattung abhalten. Dass meine Männer an diesem Ritus teilnehmen, hätte zusätzliches Öl ins Feuer gegossen.“

„Die Ereignisse haben ein Band zwischen ihnen geschmiedet, das die Mönche nicht mehr so einfach zerschneiden können, glaubt mir, mein Freund.“ Roar dankte ihm mit einem Schlag auf die Schulter und ließ ihn allein. Sinnierend starrte Bajan auf den Rauch. Es stimmte. Diese schwerwiegenden Ereignisse hatten sie zu Freunden werden lassen.

Statt gleich zu den Pferden, schritt Roar zu den Wagen. Im Vordersten schliefen die Jungen, gebettet auf eine dicke Lage aus Decken und Fellen, welche die Männer gestiftet hatten, damit sie nicht zu sehr durchgerüttelt wurden. Ein Soldat saß bei ihnen, zwei weitere standen davor und dahinter Wache.

„Wie geht es ihnen?“, fragte Roar den Mann im Wagen auf Saranisch.

„Sie schlafen tief und fest. Dein Sohn hat bis jetzt kein Fieber bekommen.“ Besorgt betrachtete Roar das blasse Gesicht seines Jungen. Der Schnitt auf seiner Wange zeichnete sich deutlich ab. Er würde für sein Leben gekennzeichnet sein, das war Roar bewusst. Mochten die Götter wissen, was daraus erwachsen würde. Schweren Herzens riss er sich von Jeldriks Anblick los, dankte dem Mann und begab sich zu seinem Pferd.

Auch die Mönche waren mittlerweile zurückgekehrt und auf ihren Wagen geklettert. Missmutig zogen sie die Planen vor und rührten sich nicht mehr.

Bajan ritt unterdessen seinen Kundschaftern entgegen. „Habt Ihr den Mann gesichtet?“

„Nein, Fürst, im weiten Umkreis ist niemand zu entdecken. Es führen auch keine Hufspuren vom Kloster weg, sein Pferd ist ja noch da“, erstattete der Hauptmann Bericht.

„Habt Ihr den Sumpf abgesucht?“, fragte Bajan.

„Wir können ihn nicht betreten, die Oberfläche ist nicht sicher, Fürst. Aber alles, was in Sichtweite ist, haben wir abgesucht, ohne Ergebnis. Der Mann ist verschwunden.“

Bajan vertraute seinem Urteil völlig, es war sein bester Mann. Nachdenklich ritt er an Roars Seite. „Sie haben nichts gefunden.“

Roar verzog finster das Gesicht: „Ihr denkt, er wurde beseitigt und im Sumpf versenkt, nicht wahr?“ Bajan nickte grimmig. Unverrichteter Dinge brachen sie auf.

Gegen Mittag waren sie an der Steigung angekommen. Roar nahm seinen Sohn behutsam vor sich aufs Pferd, während Currann, der inzwischen wieder aufgewacht war, darauf bestand, selbst zu reiten. Alles war besser als dieser rüttelnde, unbequeme Wagen. Die Mönche mussten laufen, bewacht von den Soldaten.

Als der Abend hereinbrach, hatten sie die Steigung ohne weitere Zwischenfälle hinter sich gebracht. Die Männer atmeten auf, nur allzu froh, der bedrückenden Atmosphäre des Deltas entkommen zu sein.

Jeldrik bekam davon nichts mit. Er schlief nach wie vor, war den ganzen Tag noch nicht aufgewacht, auch nicht, als sein Vater ihn vor sich in auf das Pferd gesetzt hatte.

Bajans Mann war nicht, wie sie vermuteten, tot, sondern er lag bewusstlos unweit des Klosters hinter einem umgekippten Baum auf dem Schlamm. Doch jetzt kam er langsam wieder zu sich. Als Erstes fühlte er, dass ihm kalt war, eisig kalt. Dann merkte er, dass er im Dunkeln lag. Er versuchte sich aufzusetzen, sank aber bei der Bewegung tief ein. Noch völlig benommen versuchte er zu begreifen, wo er war. Doch dann wurde sein Blick von etwas angezogen, und er sah, wie sich die Lichter auf dem Berg erhoben und die Flanken herunterströmten. Da fiel ihm alles wieder ein. Die Lichter! Die Schlammflut!

In Panik schlug er um sich und sank bei jeder Bewegung ein wenig tiefer ein. Die Lichter kamen immer näher, jetzt konnte er sogar den Umriss des Klosters erkennen, sobald er den Kopf anhob. Seine Kameraden mussten noch dort sein! Er begann, um Hilfe zu schreien, aber es blieb alles still. Niemand antwortete ihm. Seine Schreie blieben ihm im Halse stecken. Ihm entfuhr nur noch ein Wimmern, als die Lichter über ihm anhielten und zu kreisen begannen.

In den Tiefen des Schlamms wurde es lebendig. Etwas rührte sich, Blasen stiegen auf und kamen mit einem schmatzenden Geräusch auf die Oberfläche. Er spürte sie, wie sie an ihm vorbeistrichen, wie lebende Wesen. Ein entsetzlicher Geruch stieg von ihnen auf, der ihm das Atmen schwer machte. Er begann zu husten, aber dann schrie er gepeinigt auf. Ein leichtes Kribbeln entstand an seinen Beinen, gefolgt von einem schmerzhaften Stich. Plötzlich war das Kribbeln überall zu spüren, ihm folgten in immer schnellerer Folge die Stiche. Der Mann begann zu schreien und wild um sich zu schlagen, sank ein, kam in einem verzweifelten Aufbäumen wieder hoch und ging dann gurgelnd unter. In den letzten Momenten seines menschlichen Bewusstseins sah er, wie sich die Lichter auf ihn herabsenkten.

Von den Flanken des Berges waren kreischende Laute zu hören. Wind kam auf und trug die unheimlichen Geräusche bis hinauf auf die Hochebene. Doch die Männer hörten sie allenfalls unterschwellig und warfen sich nur unruhig im Schlaf hin und her.

Die restliche Zeit der Rückreise verlief reibungslos. Zur Erleichterung aller heilte Jeldriks Hand gut ab. Nach einer Woche bestand er darauf, zumindest für kurze Zeit ein Stück auf seinem Pferd zu reiten. Currann erholte sich noch schneller, er ritt schon den nächsten Tag durch. Das Röhrchen konnte Anwyll nach wenigen Tagen wieder entfernen. Mit einem dicken Tuch um den Hals legte Currann die restliche Strecke zurück.

Die Männer ließen die Jungen nicht einen Moment aus den Augen. Sie waren stolz auf sie, aber auch besorgt, das spürten Jeldrik und Currann deutlich, und so protestierten sie nicht, dass immer jemand an ihrer Seite wachte. Auf diese Weise konnten sie den Soldaten ein Stück der Selbstachtung zurückgeben, welche die Männer durch die Verletzung der Jungen und das Verschwinden ihres Kameraden verloren hatten.

Anwyll war beeindruckt von der Feinfühligkeit der beiden. Hier waren Zwei weit über ihr Alter hinaus ein ganzes Stück erwachsener geworden, stellte er abends im vertrauten Gespräch mit Bajan fest. Roar verfiel dagegen immer mehr in brütendes Schweigen. Er ahnte schon jetzt, dass das bisher so reibungslos verlaufende Dasein seines Sohnes einen tief greifenden Einschnitt erhalten hatte. Wer weiß, welche Schwierigkeiten ihnen daraus erwachsen mochten.

Besorgt beobachteten die beiden Anführer auch das Verhalten der Mönche. Diese hatten sich vollkommen zurückgezogen und wechselten kein Wort mehr mit ihnen. Bajan konnte nur vermuten, was sie für Pläne schmiedeten. Auf jeden Fall würde es noch gewaltigen Ärger geben, wenn sie nach Gilda zurückkehrten. Ihn selbst hatten die Vorfälle derart erschüttert, dass er nicht mehr in Richtung seines Verdachts bezüglich der Saraner weiter forschen wollte. Es wäre ihm wie Verrat vorgekommen, denn immerhin verdankten sie Jeldrik Curranns Leben.

Nach zweieinhalb Wochen machten sie Halt an einer Wasserstelle, in deren Nähe die Straße nach Westen abzweigte. Die Zeit des Abschieds war gekommen. Ein Führer und ein Trupp Soldaten warteten dort auf die Saraner, sie wieder sicher durch die Steppe und zur Grenze zu geleiten.

Roar ließ seine Männer die Wasservorräte für ihre lange Reise zurück in die Heimat auffüllen. Währenddessen führte er Bajan ein Stück von den Männern weg. „Wenn sich die Dinge für Euch zum Schlechten wenden, seid Ihr jederzeit in Saran willkommen.“

Bajan starrte zu den Mönchen hinüber, die das Treiben in einigem Abstand beobachteten. Dann dankte er ihm aufrichtig. In den beiden vergangenen Wochen waren sie tatsächlich Freunde geworden. „Ich hoffe nicht, dass es so weit kommen wird, aber wer weiß. Immerhin habe ich ja noch meine Ländereien, auf die ich mich zurückziehen kann.“ Sie drückten sich zum Abschied noch einmal kurz die Hand und schwangen sich wieder auf die Pferde.

Roar befahl den Aufbruch seiner Männer. Während sie sich auf wahrhaft saranische Manier besonders laut und rau von ihren neuen Kameraden verabschiedeten, standen sich Currann und Jeldrik verlegen gegenüber. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Dann umarmte Currann seinen Freund kurzerhand und sprang auf sein Pferd. Bevor Jeldrik noch etwas sagen konnte, war er zwischen den Soldaten Bajans verschwunden.

„Komm, Junge, wir reiten nach Hause.“ Roar kam herangeritten. Mit Tränen in den Augen sprang Jeldrik auf sein Pferd. Gemeinsam galoppierten sie an die Spitze der Männer.

Currann ritt zu Bajan, der den Aufbruch der Saraner vor sich hinsinnend beobachtete. Er wollte etwas zu ihm sagen, doch sie wurden von Anwyll unterbrochen. „Fürst Bajan, auf ein Wort“, bat er ihn. Sie ritten ein Stück von den anderen weg, misstrauisch beobachtet von den Mönchen. Auch Currann schaute ihnen verdutzt hinterher.

„Ich habe eine Bitte an Euch“, begann Anwyll.

„Gerne, Meister Anwyll, wenn es in meiner Macht liegt, sie zu erfüllen.“ Bajan war verwundert. Was konnte der weise alte Priester von ihm wollen?

„Ich möchte, dass Ihr dafür Sorge tragt, dass Althea auf jeden Fall sicher zu uns nach Temora gelangt“, sagte Anwyll ernst.

„Warum sollte Althea zu Euch geschickt werden, und warum soll ausgerechnet ich dafür sorgen? Nicht, dass ich Euren Wunsch nicht gerne erfüllen wollte, aber erklärt Euch bitte.“

Currann kam herangeritten. „Was ist mit Althea?“

Anwyll rang mit sich, entschied sich dann aber, ihnen zu berichten, was vorgefallen war. „Althea hat das Unglück im Delta gesehen, noch bevor die Botschaft nach Gilda gelangt war.“

Currann war sprachlos, aber Bajan hakte sofort nach: „Inwiefern gesehen?“

„Sie hatte einen Traum in jener Nacht, als der Sturm über Gilda tobte und die Wache die Lichter entdeckt hat. Fürst Bajan, mein Freund Thorald ist in Bezug auf die möglichen Fähigkeiten seiner Tochter etwas, sagen wir, skeptisch. Ich möchte das Mädchen einfach zu gegebener Zeit sicher bei uns wissen, denn ich spüre, dass es mit ihr etwas ganz Besonderes auf sich hat. Sie soll auf jeden Fall in der Gemeinschaft weiter ausgebildet werden. Ist das für Euch verständlich?“

Currann starrte Anwyll fassungslos an. In Bajan sah es ähnlich aus, aber er nickte schließlich. „Ich verspreche Euch, dass ich ein Auge auf sie haben werde. Darauf habt Ihr mein Wort.“

Anwyll dankte ihm, verabschiedete sich von den beiden und ritt zu Roar und Jeldrik an die Spitze der Saraner. Currann und Bajan sahen ihnen hinterher, wie sie donnernd davongaloppierten. „Sie werden froh sein, wieder auf ihre gewohnte Weise reiten zu können“, brummte Bajan, dem der ungeordnete Aufbruch nicht entgangen war. Curranns Gedanken weilten immer noch bei dem, was er soeben gehört hatte, sodass er den tieferen Sinn seiner Worte nicht bemerkte. Rasch gab Bajan das Signal zum Aufbruch. Der Tross machte sich langsam auf den Weg nach Gilda.

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Trägerin des Lichts - Erwachen

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