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Kapitel 1
ОглавлениеZwischenwelt
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Wie verändert alles war! Althea hatte Mühe, überhaupt durch das Tor zu greifen, so verhärtet war die einstmals pulsierende Fläche. Dahinter erblickte sie den Wald, er war ein einziges Durcheinander aus umgestürzten Bäumen, zerfetzten Blättern, und in der Luft.. keine Musik, sondern Schreie, schmerzhafte, zu Tode erschrockene Schreie. Es war so laut, dass ihr der Schädel dröhnte und sie die Hände über den Kopf zusammenschlug und in die Knie brach. Das Tor verschloss sich wieder, und damit verstummten auch die Schreie.
Keuchend blieb Althea eine Weile am Boden hocken, bis es aufhörte, sich um sie zu drehen, und sie wieder klar sehen konnte. Was sollte sie tun? Etwas in ihr warnte sie eindringlich davor, auch nur einen Finger in die fremde Welt hinüberzustrecken. Sie hatte Angst, erkannte sie, wirklich Angst. Aber andererseits drängte es sie zu erfahren, ob dem Feenjungen Ti’Anan etwas geschehen war. Und sie wollte ihn unbedingt warnen vor der Gefahr, die so unvermittelt über ihre Welt hereingebrochen war: SEINEM Angriff, Phileas’ tödlicher Versuch, endlich der Macht hinter dem Tor habhaft zu werden.
Entschlossen rappelte Althea sich auf. Wenigstens wollte sie sehen, ob es ihrem fremden Freund gut ging. Keinen Gedanken verschwendete sie an ihre Freunde, an Noemi, die angstvoll draußen im nächtlichen Garten auf sie wartete, oder an Chaya, die sich in unruhigem Schlaf in der Hütte wand. Phelans zur Vorsicht mahnende Stimme, wie immer in ihrem Kopf, schob sie beiseite. Sie nahm allen Mut zusammen und legte ihre Hand erneut auf die silbrig schimmernde Fläche. Sofort drangen wieder diese Laute in ihr Gehirn ein und trafen sie bis ins Mark, aber diesmal war sie darauf vorbereitet. Unter Aufbietung aller Konzentration schaffte sie es, sich ein wenig davon abzuschirmen. Diesmal blieb ihr Blick klar. Vorsichtig streckte sie ihren Kopf hinüber auf die andere Seite. Ein erster, vorsichtiger Luftzug. Sie konnte atmen und sich bewegen. Das war gut.
»Ti’Anan!«, rief sie laut und zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte vergessen, dass er ja mit den Gedanken redete und nicht mit dem Mund. Welch lauten Hall ihre Stimme hier erzeugte und wie tief sie klang! Sofort wurde es still, totenstill. Also hatte man sie gehört. ›Ti’Anan?‹, rief sie zaghaft in Gedanken und bereit, sich sofort in Sicherheit zu bringen.
Ein Summen erhob sich in der Luft. ›Wassss isssst dasss?‹, zitterte es durch die Luft, durch die Bäume, oder war es in ihren Gedanken? Es klang wie das Flüstern von tausend Stimmen. Althea sträubten sich die Haare. Alles in ihr drängte danach, schleunigst kehrtzumachen. Nur fort von hier! Doch ihr Pflichtgefühl gegenüber dem Feenjungen war stärker. Sie musste es wissen, koste es, was es wolle. ›Ti’Anan, wo bist du?‹
Etwas kam näher, sie konnte es nicht sehen, aber spüren. Es war bedrohlich und es kam.. Althea riss den Kopf nach oben. Zu spät. Eine dunkle Wolke schoss auf sie herab, sie wurde gepackt, durch das Tor gezogen und emporgerissen. Althea schrie. Tausend kleine Stiche versengten ihre Haut, sie wurde überzogen von Schmerz. Es blieb ihr keine Zeit zu reagieren, ihr Instinkt übernahm das Handeln. Sie rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen, versuchte, möglichst viele Stellen von sich zu schützen, und holte ihr Licht. Es sprengte dieses Ding auseinander, die schmerzhaften Stiche hörten auf. Althea spürte, wie sie fiel. Sie riss die Augen auf und sah den Wald mit rasender Schnelligkeit auf sich zukommen, und sie fühlte, wie es sich über ihr wieder zusammenbraute, das, was sie angegriffen hatte. ›Nein!‹, dachte sie in Panik. Schon schlug sie durch das Geäst der Bäume und raste auf den Boden zu. »Neeiiin!!« Sie streckte die Hände aus, wusste nicht, was sie tat. Im letzten Moment wurde ihr Fall aufgehalten, und sie landete wie nach einem Sprung von einer Mauer auf dem Boden.
Althea rollte sich auf dem Boden ab und rannte. Fort, nur fort von diesem Ding! Sie rannte um ihr Leben, ignorierte den Schmerz auf ihrer Haut, die sich anfühlte, als hätte sie sich verbrannt. Dicht war der Wald, es gab keinen Pfad, keine Lichtung. Sie stolperte über Wurzeln, schlug hin, riss sich die Kleider an Dornen auf, aber sie hielt nicht inne. Sie rannte und rannte und rannte, bis ihr plötzlich aufging, dass sie gar nicht aus der Puste geriet.
Abrupt blieb sie stehen. Es war alles still bis auf das Summen in der Ferne, selbst ihr eigener Atem, den sie eigentlich überlaut hätte hören müssen, war ruhig. Wie konnte das sein?
Althea stieß probehalber etwas Luft durch die Zähne aus. Das Zischen beruhigte sie. Aber warum kam dieses Etwas nicht hinter ihr her? So, wie ihre Kleider in Fetzen hingen, war sie mit aller Gewalt durch den Wald gebrochen. Das musste doch zu hören gewesen sein! Wo war es? Und wo war das Tor? Panisch sah sie sich um. Nur undeutlich konnte sie sich an eine graue Felsformation erinnern, und hier sah nichts danach aus. ›Ich habe mich verlaufen!‹, dachte sie verzweifelt, und im selben Moment schwoll das Summen an.
Althea erstarrte. Konnte dieses Ding ihre Gedanken hören? Wie Ti’Anan? Aber nicht ihre Schritte? Was war das für eine merkwürdige Welt! ›Denk nach, Thea!‹, dachte sie und verpasste sich augenblicklich einen Rüffel. Nicht denken, sondern handeln. Was hätte Phelan getan? Er hätte sich versteckt, sich mucksmäuschenstill verhalten und sich einen Überblick verschafft.
Hastig sah sie sich um. Dort, dort hinten, stand ein mächtiger Baum, viel größer und breiter als alle anderen. Seine Zweige hingen tief, sodass sie bequem hinaufklettern konnte. Schnell gelangte sie auf dem riesigen Baum nach oben, sodass sie über die anderen Bäume hinwegschauen konnte. Dort angekommen, wandte sie sich in die Richtung, aus der das Summen kam. Althea musste schlucken. Dort hinten, in weiter Ferne, kreiste eine dunkle Wolke über dem Wald.
›Dort muss ich hergekommen sein‹, dachte Althea, und sie schrie beinahe auf, als die Wolke in die Höhe schoss und ein gutes Stück auf sie zuraste. Eilig verbannte sie jeden Gedanken aus ihrem Kopf und machte ihn leer. Die Wolke hielt inne. ›Pass auf!‹, mahnte sie sich tief in ihrem Innern, die Wolke genau im Auge behaltend. Nichts geschah. Da hatte sie blitzschnell gelernt, welche Gedanken sie denken konnte, ohne gehört zu werden, und welche nicht. Mit etwas Übung war es kinderleicht. ›Na warte!‹, dachte sie und fletschte die Zähne, als die Wolke nicht weiter auf sie zukam, sondern sich langsam wieder entfernte. Sie hatte dieses Ding überlistet. Es machte ihr Mut, und ihre Erleichterung machte Raum für ihre anderen Sinne, die in ihrer Panik unterdrückt worden waren. Staunend fuhren ihre Finger über die seidige Oberfläche des Astes, an dem sie sich festhielt. Er war von einer Beschaffenheit, wie sie es noch nie gesehen hatte.
Seufzend lehnte Althea ihre zerschundene Wange dagegen und genoss das tröstliche Gefühl. Der Baum wirkte fast, als sei er lebendig. Und wie es hier roch! Tausend Düfte strömten auf sie ein, so rein und klar wie der Wald in Temora nach einem lang ersehnten Regen. Sie nahm es mit allen Sinnen in sich auf und versuchte, sich Mut zu machen.
Wie sie dort so mit geschlossenen Augen saß, spürte sie auf einmal, dass sie etwas im Nacken zu wärmen begann. Musik erhob sich in der Luft, ein leiser Gesang, der ihr merkwürdig bekannt vorkam. Das war die Melodie, die ihr schon seit Ewigkeiten nicht mehr aus dem Kopf ging! Wo kam sie nur her?
Althea wandte sich um. Sie sah, dass hinter ihr etwas hell schimmerte. Vorsichtig kletterte sie um den Stamm herum, bemüht, ja kein Geräusch zu machen. Man wusste ja nie, was hier noch alles im Wald herumstrich! Sie konnte einfach nicht anders, nach ihrer jahrelangen Übung im Bannwald von Temora.
Was sie dort erblickte, ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie sperrte Mund und Augen auf und beugte sich gefährlich weit vor. Der Horizont schwamm im Licht. Sie kniff die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können, dabei blendete dieses Licht, anders als das Sonnenlicht, sie keineswegs. Es war ihr Licht, warm und wohltuend, das wusste sie sofort. Das Wissen kam tief aus ihrem Innern, und sie fühlte sich mit aller Macht dorthin gezogen. Eine Weile saß sie einfach nur da und genoss es. Dann begannen sich langsam Konturen aus der hellen Fläche zu schälen. Es war ein großer See, in dessen Mitte aufrecht eine riesige Säule stand, die bis in den Himmel zu reichen schien.
›Die Quelle‹, dachte Althea, instinktiv ihre Gedanken abschirmend. Tief nahm sie dieses Bild in sich auf. Der See war in Bewegung, er umströmte die Säule in der Mitte. Wogen schossen empor und versanken wieder. Sie konnte nur schauen und staunen. Einmal schlugen zwei Wogen aneinander und fuhren empor und explodierten in einem Funkenregen. Er wurde von der senkrecht stehenden Säule angezogen, verschmolz mit ihr, und der Gesang wurde jubelnd laut. Es war wunderschön.
Althea seufzte leise und schrak zusammen, wie weit ihre Stimme in diese Welt hinaus getragen wurde. Am liebsten hätte sie mitgesungen, alles in ihr drängte danach. Es wurde von einem anderen Geräusch verdrängt. Das Summen war wieder lauter geworden. Das Ding hatte ihre Stimme gehört!
Althea zwang sich mit aller Kraft still. Sie musste Ti’Anan finden, er war ihre einzige Möglichkeit, hier wieder herauszukommen. Suchend sah sie sich um, zwang ihre Augen fort von dem Licht. Hatte er nicht etwas von einem Palast gesagt? Da hatte sie ihn auch schon gefunden. Es war ein wahres Labyrinth aus steil aufragenden Felsen. Oder doch ein Gebäude? Sie konnte es auf diese Entfernung nicht sagen. Die vielen Öffnungen, Treppen und Brücken waren derart geschickt in den Fels eingearbeitet, dass sie fast miteinander verschmolzen. Ein wenig erinnerte es sie an Temora. Die Priester hatten diesen Palast kopiert, erkannte sie, wie von so vielem hatten sie ein Abbild geschaffen. Von was wohl noch?
Zeit, es herauszufinden, dachte sie entschlossen und begann wieder zu klettern. Unten angekommen, begann sie zu laufen – und hielt schon wieder inne und staunte. Laufen war die falsche Bezeichnung dafür, wie sie sich fortbewegte. Machte sie einen Schritt, legte sie die Entfernung, von drei, nein vier, nein fünf! Schritten zurück. Wie war das möglich? Vorhin, in ihrer Panik, hatte sie es nicht bemerkt. In dieser Welt herrschten wahrlich andere Gesetze!
Althea hätte beinahe laut gelacht. Sie hatte ihren Fall zu Boden aufgehalten? Konnte sie gar Kraft ihrer Gedanken.. fliegen? Alles schien auf einmal möglich zu sein. Sie bog den Kopf zurück und sah hinauf in den perlmuttartig schimmernden Himmel. Sollte sie..?
Aber da war noch dieses Ding. Es würde sie sehen. Nein, besser sie bewegte sich auf herkömmliche Weise vorwärts, leise und ungesehen. Sie wollte einen weiteren großen Schritt in Richtung des Palastes machen, da stach sie plötzlich irgendetwas in ihr Bein.
Althea quietschte erschrocken. Sie hatten ein Tier in ihren Beinlingen! Hastig band sie ihren Gürtel auf und dachte dabei an Spinnen und Mäuse oder anderes Getier. Doch das, was sie dann mit spitzen Fingern aus ihrer Kleidung herauszog, war mitnichten eine Spinne.
Vorsichtig setzte sie es auf ihrer ausgestreckten Handfläche ab und beäugte es. Auf ihrer Hand wurde gerade ein kleines geflügeltes Wesen wieder munter, das sie, dessen war sie sich sicher, mit ihrem Licht in die Bewusstlosigkeit geschickt hatte. Es sah nicht aus, wie man sich ein Feenwesen gemeinhin vorstellte, es hatte dieselben spitzen Ohren und Krallen wie Ti’Anan. Es erinnerte sie irgendwie an eine Fledermaus mit menschlichen Zügen.
Sachte stieß sie es mit ihrem Finger an. Es war ein Soldat, ein mit einer eingedellten Rüstung bekleideter und mit einem Speer bewaffneter Soldat. Das also hatte sie angegriffen. Was hatte Ti’Anan noch gesagt? ›Eine Wache‹, dachte sie, und bei diesem Laut schrak das Wesen auf. Es sprang fauchend hoch und ging in Abwehrhaltung, den Speer drohend ausgestreckt, dessen Spitze jetzt hell glühte.
›Hab keine Angst, ich tue dir nichts‹, dachte Althea. Ihre Worte wurden von dem lauter werdenden Gesumm der Wolke übertönt.
›Zu Hilfe!‹, rief das Wesen.
›Nein!‹ Althea umschloss es mit der Hand und rannte. Die Wolke schoss hinter ihr her, sie konnte in ihren Gedanken hören, wie der kleine Wächter nach seinen Kameraden rief. ›Halt den Mund!‹, dachte sie und schickte ihn mit einer winzigen Portion ihres Lichtes zurück in die Bewusstlosigkeit. Dann beschleunigte sie ihren Schritt und hetzte durch den Wald, bis sie sich getraute, wieder innezuhalten und zu lauschen.
Die Wachen waren weit entfernt. Sie konnte ihr Gesumm kaum noch hören, wie sie nach ihrem Kameraden riefen. Vorsichtig öffnete sie ihre Hand. Das Wesen lag regungslos, aber es atmete, die kleine Brust hob und senkte sich. Althea empfand Mitleid für den kleinen Mann. Was für ein Schreck musste sie für ihn sein! Sie wollte niemanden quälen, deshalb legte sie ihn behutsam in das weiche Moos und sandte etwas Licht in ihn, um ihn aufzuwecken. Dann sprang sie auf und rannte davon.
Nun, da das Gesumm so weit entfernt war, konnte sie mit einem Mal andere Stimmen hören. Es waren aufgeregte, schmerzverzerrte Stimmen. Althea folgte ihnen, bis sie plötzlich aus dem Wald trat und in einen wunderschönen Garten gelangte, oder vielmehr in das, was noch von ihm übrig war. Bäume und Statuen lagen umgestürzt herum, sie sah einen Brunnen, der aus einem tiefen Riss sein Wasser verlor. Und das Gebäude, von Weitem scheinbar intakt, sah von Nahem mehr als mitgenommen aus. Es hatte schwere Schäden davongetragen, Felsbrocken lagen herum, Decken und Brücken waren eingestürzt, und überall wurden Verletzte herausgetragen..
Althea riss die Augen auf, als sie erkannte, wie.. – was war das? - etwas dort aus dem Gebäude kam. Die Bewohner liefen nicht, sie schwebten! Hastig sah sie sich um, ob jemand in ihrer Nähe war, aber sie war allein. Neugierig schlich sie sich näher heran.
Es waren Flügel. Althea konnte sie sehen, sobald die Wesen zu Boden geschwebt waren und die Verwundeten ablegten. Sie hatten Flügel wie Ti’Anan, aber wie anders sahen sie aus! War ihr Ti’Anan noch halbwegs menschlich erschienen, diese Wesen waren es ganz sicher nicht. Sie waren einfach fremd, aber nicht minder schön. Durchscheinend wie Licht und mit Zügen eines fremdartigen Raubtieres, ein kleiner, verkümmerter Mund, dafür umso größere, mit senkrecht stehenden Pupillen versehene, goldene Augen.
Althea schluckte und sah staunend zu, wie sie ihre Verwundeten versorgten. Es beruhigte sie etwas, dass auch sie verwundbar waren. Wesen, die verletzt werden konnten und versorgt werden mussten, konnten nicht so verschieden von den Menschen sein. Es waren lebendige Wesen, keine Götter.
Althea schlich sich weiter in den Garten, von Gebüsch zu Gebüsch, immer auf der Hut vor Entdeckung. Wo war nur Ti’Anan? Sie musste ihn finden, sie musste einfach! Sonst wäre sie verloren!
Und dann entdeckte sie ihn. Er kam mit einem kleinen Wesen auf dem Arm aus den Trümmern gelaufen. Er lief? Sie stutzte. Warum tat er das? Konnte er denn nicht fliegen? Das wäre doch gewiss sehr viel einfacher. Er übergab das kleine Wesen, es war offensichtlich ein Kind, einem der anderen. So dicht nebeneinander war der Unterschied zwischen ihm und den geflügelten Wesen mehr als augenfällig und gleichzeitig ihre Ähnlichkeit. Ja, war er denn ein Mischling?, dachte sie erstaunt.
Althea ließ alle Vorsicht fahren. ›Ti’Anan!‹, rief sie in ihren Gedanken. Alle Wesen fuhren auf, es klang wie das Rauschen einer heftigen Windböe. »Ti’Anan!«, rief sie noch einmal, leise diesmal und mit ihrer richtigen Stimme. Es schallte laut durch den Garten, obwohl sie so leise gerufen hatte, und ließ einen Windstoß entstehen.
Da schrien alle Wesen auf. Althea verlor das Gleichgewicht und fiel aus dem schützenden Gebüsch, als die lauten Schreie eine Welle von Schmerz in ihrem Kopf verursachten. Furchtsam wichen die Wesen vor ihr zurück, alle, bis auf einer: Ti’Anan machte ungläubig einen Schritt vorwärts, eine Hand, die ihn zurückzerren wollte, abschüttelnd. ›Althea!?‹
Sie hörte es nicht mehr. Auf den Rücken gefallen, sah sie einen dunklen Schatten auf sich herab schießen. »Neeiiiin!« Sie rollte sich zusammen und ballte in Erwartung eines neuen Angriffs die Fäuste.
›Haltet ein!‹ Nur undeutlich wurde Althea bewusst, dass sich plötzlich jemand zwischen ihr und dem dunklen Schatten befand. Ihre Augen tränten und schmerzhafte Stiche explodierten in ihrem Kopf, da die Schreie immer lauter wurden. »Ti’Anan..«, flüsterte sie. Sie spürte zwei Arme, die sie schützend umschlossen.
›Zurück mit euch! Sie gehört zu mir!‹
›Sssie issst ein Eindrrringling, sssiiee hat unsss angegrrriffen‹, summte der Wächterpulk.
›Nur weil ich angegriffen wurde!‹, dachte Althea verzweifelt und spürte, wie sie kurz davor war, in Panik wild um sich zu schlagen. Auf einmal war sie erschöpft, von den vielen Eindrücken und dem ungewohnten, anstrengenden Einsatzes ihres Kopfes. ›Bitte, ich will doch nichts Böses, ich wollte doch nur sehen, ob du verletzt bist, und ich wollte euch warnen‹, flehte sie mit letzter Gedankenkraft. Flimmernde Kreise drehten sich vor den Augen, und sie merkte, wie die Welt plötzlich kippte und sie zusammensackte. Ganz weg war sie nicht, sie spürte, wie sie aufgehoben und getragen wurde. Oder schwebte sie? In ihrem Kopf herrschte plötzlich eine wohltuende Stille, wie Balsam. Sie seufzte und schloss die Augen und gestattete es sich, ganz dem Gefühl nachzugeben.
›Was geht hier vor?!‹
›Ruhig, bitte redet nicht allzu laut, das tut ihr weh.‹
Ti’Anans Stimme holte sie wieder zurück. Sie wagte nicht, sich zu rühren, spürte sie doch die Anwesenheit vieler Wesen um sich, sehr wütender, teilweise auch verängstigter Wesen.
›Sie wird wach‹, sagte Ti’Anans Stimme in ihrem Kopf. Er saß neben ihr, und sie bemerkte, dass er sie immer noch festhielt. ›Althea, mach doch die Augen auf. Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen.‹
›Vorerst nicht‹, grollte eine tiefe Stimme.
›Vater, bitte!‹, rief Ti’Anan, zu laut. Althea stöhnte. ›Tut mir leid. Bitte, mach doch die Augen auf.‹
Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um es wirklich zu tun. Zunächst war ihr Blick noch flimmernd und verschwommen, dann schälten sich Konturen heraus. Als sie aufsah, blickte sie in Ti’Anans Gesicht.
Er hatte die Zähne leicht gebleckt. ›Na bitte, geht doch!‹, lachte er.
Dieses Zähneblecken sollte ein Lächeln darstellen, erinnerte sich Althea und war erleichtert. Sie stieß einen Seufzer aus, der sich in ein erschrockenes Aufkeuchen verwandelte, als ihr Blick auf die sie Umgebenden fiel. Was waren das für Wesen? An das Aussehen hatte sie sich beinahe schon gewöhnt, aber diese hier waren wesentlich größer als die im Garten, mächtig und bedrohlich. Sie wurden von weiten Gewändern umflossen, die ständig hin und her wallten, genauso wie die bedrohliche Missbilligung, die sie umgab wie eine unsichtbare Strömung. Es waren ausnahmslos männliche Wesen, sie wusste nicht genau zu sagen, woran man das erkennen konnte, aber es war so.
Althea duckte sich an Ti’Anan, der sie schützend umfasste. ›W..wer seid Ihr?‹
›Du hast hier keine Fragen zu stellen, Mensch, sondern wir‹, grollte es neben ihr.
Althea fuhr herum und erstarrte. Dieses Wesen war das größte und mächtigste von allen. Der König, erkannte sie. Ti’Anans Vater. Sie presste die Augen zusammen, obwohl sie wusste, dass dies kindisch war.
›Antworte mir! Wie bist du hierher gekommen? Was willst du hier? Sprich!‹ Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Althea konnte nicht antworten, ihr entfuhr ein schmerzhaftes Wimmern.
›Vater, bitte..‹
›Lass sie los. Sofort! Wir werden sie..‹
›Nein!‹, rief Ti’Anan, doch sie spürte, wie eine unsichtbare Kraft ihn von ihr löste und zurück riss.
Sie rollte sich schützend zusammen, barg den Kopf in den Armen. ›Bitte, ich will Euch doch nichts Böses, ich will Euch warnen!‹, rief sie.
›Warum? Und wovor?‹
Es loderte Schmerz in ihrem Kopf auf. Jemand versuchte, mit aller Gewalt in ihre Gedanken einzudringen. Althea errichtete instinktiv einen Schutzwall und blockte es ab, und augenblicklich wurde der Druck so stark, dass sie schrie, richtig schrie. Es hallte so laut durch den Raum, dass die Luft erzitterte und der Druck in ihrem Kopf abrupt verschwand.
Althea fiel keuchend ein ganzes Stück nach unten in weiche Kissen. Sie hatte geschwebt, erkannte sie und riss die Augen auf. Alle Wesen hatten sich geduckt und richteten sich gerade wieder auf. Drohend kam der König auf sie zu. Sie sprang von diesem kissenbestückten Podest herunter und flüchtete sich zu Ti’Anan in die äußerste Ecke des Raumes. Ein Fehler, wie sie sogleich merkte. Hier gab es weder Fenster noch andere Öffnungen. Sie saß in der Falle. Zitternd ergriff sie Ti’Anans Hand, als die Wesen sie langsam einkreisten. Er richtete sich auf und bleckte die Zähne, fauchend und bereit, sie jederzeit zu verteidigen.
›Wovor willst du uns warnen, Mensch? Oder wie nennt man dich?‹, grollte der König.
›Sie ist ein Mädchen!‹, fauchte Ti’Anan und ärgerte sich augenblicklich, denn sofort nahm ihn sein Vater ins Visier. ›Woher weißt du das? Und woher kennst du sie? Nicht wahr, MÄDCHEN, du wirst gewichtige Gründe anführen müssen, um uns zu erklären, warum ihr beide die heiligen Gebote gebrochen habt.‹
›Welche Gebote?‹, fragte Althea. ›Ich..‹
›Aber das musst du doch wissen‹, flüsterte Ti’Anan.
›Antworte, Mädchen!‹, donnerte der König, so laut, dass Althea in die Knie ging.
Mit letzter Kraft protestierte sie: ›Ich.. ich weiß nichts von irgendwelchen Geboten. Niemand weiß etwas von dieser Welt und.. und ich wollte doch nur.. ER hat euch angegriffen, ER hat versucht, eines der Tore aufzubrechen. Es war schrecklich!‹
›Wer ist ER?‹, fragte Ti’Anan verwundert.
Sie sah ihn an, nur ihn, zu bedrohlich war der Anblick der anderen. ›Phileas. Er..‹
Ein Aufschrei ging durch die Luft. Sämtliche Wächter kamen durch die Fenster hereingeschossen. Althea schrie auf und duckte sich, als der König nach ihr greifen wollte. ›Niemand erwähnt diesen Namen in meinem Reich!‹
›Nein, lasst sie in Ruhe!‹, rief Ti’Anan und warf sich schützend über sie, doch zu spät. Die Wächter drangen auf sie ein, heiße Spitzen bohrten sich in ihre Haut.
Althea wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie holte ihr Licht, alles, was sie aufbieten konnte. Es gab so etwas wie einen lauten Schlag, und plötzlich war sie frei. Keuchend duckte sie sich, das Gewicht Ti’Anans auf sich, in Erwartung des nächsten Angriffes. Doch nichts geschah. Es war still um sie herum. Althea wagte es, die Augen aufzumachen, und fuhr zusammen. Alle um sie herum lagen regungslos am Boden, Ti’Anan, die Wesen und die Wächter in einem großen, leblosen Haufen. Sie sah auf ihre Hände herab, die immer noch leuchteten, und erschrak über die furchtbare Macht, die ihr Licht haben konnte. Waren sie tot? Doch da spürte sie, dass Ti’Anan atmete. Weiter hinten begannen sich die Wesen, die am weitesten von ihr weg gestanden hatten, wieder zu rühren.
Auch der König hob langsam den Kopf. ›Mein Sohn!‹, rief er gar nicht mehr bedrohlich, sondern angsterfüllt.
Althea konnte sich nicht bewegen. Ti’Anans Gewicht hielt sie am Boden fest, und sie rührte sich nicht aus Angst, die überall um sie herum liegenden Wächter zu verletzen. ›Ihm ist nichts geschehen‹, sagte sie. ›Er schläft nur. Ich wecke ihn auf.‹ Nur wenig Licht musste sie in ihn senden. Er wollte auffahren, aber sie hielt ihn fest. ›Nicht bewegen, sonst zerquetschst du die Wächter. Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt.‹ Furchtsam erstarrte er in ihren Armen.
›Gib meinen Sohn frei‹, drohte der König, ›oder ich werde dich..‹
›Hört auf damit, sofort!‹ Plötzlich war da eine höhere, sanftere Stimme. Althea sah ein wunderschönes Wesen durch die Tür schweben. Es sah sich um, streifte die gerade Erwachten, die bewusstlosen Wächter und dann Ti’Anan, der immer noch auf ihr lag. Die Wesen verneigten sich alle vor ihr.
›Die Königin‹, erkannte Althea. Sie schloss vor Erleichterung die Augen, instinktiv ahnend, dass jetzt ihre Rettung nahte.
›Seht Ihr denn nicht, dass sie noch jung ist? Ihr ängstigt sie zu Tode, und das ist die Folge davon.‹ Althea hörte gleichermaßen Tadel an die Wesen als auch Mitleid für sie in ihrer Stimme. Wie viel mehr konnten diese gedachten Worte ausdrücken! Sie schlug die Augen auf und fand das wunderschöne Gesicht der Königin dicht vor sich. Sie lächelte ihr ermutigend zu, nicht mit dem Gesicht, sondern mit den Augen. Dennoch wusste Althea, dass es ein Lächeln war, und erwiderte es. Sie war einfach wunderschön. Ein Lichtwesen.
›Hab keine Angst. Wir sind alle etwas außer uns darüber, dass du nach diesem Angriff hier erschienen bist. Viele wurden verletzt..‹
›Das.. das habe ich gesehen, und es tut mir leid. Ich wollte nur wissen, ob es Ti’Anan gut geht und..‹ Althea schluckte. ›Oh bitte, könnt Ihr nicht die Wächter fortnehmen? Sonst zerquetsche ich noch einen von ihnen. Ich will niemandem schaden.‹
Die Königin lächelte. ›Das werde ich, wecke sie nur auf. Das kannst du doch, oder?‹
Althea sah die männlichen Wesen mit einem Rauschen zusammenfahren. ›Was meint Ihr damit, meine Gemahlin?‹, fragte der König.
Sie richtete sich auf und wandte sich zu ihnen um. ›Sie ist eine Auserwählte, seid Ihr das nicht gewahr geworden? Sonst wäre sie niemals in unsere Welt gelangt.‹
Althea schluckte. Was würden sie nun..? Da geschah etwas Unglaubliches. Alle Wesen versanken vor ihr in einer tiefen Verbeugung, auch die Königin. Ti’Anan, der sich immer noch nicht rühren konnte, starrte sie fassungslos an. Seine Angst war fort. ›Du.. eine Auserwählte? Aber.. wie ist das nur möglich!? Du bist doch viel zu jung!‹
›Ich weiß es nicht‹, gestand Althea offen und warf einen unbehaglichen Blick auf die Wesen, die immer noch in dieser Haltung verharrten. Sie warteten auf etwas, das war offensichtlich, aber auf was?
Ti’Anan spürte, dass sie unsicher war. ›Du musst ihre Ehrerweisung erwidern und sie segnen‹, wisperte er.
›Segnen? Aber wie? Wie macht man das? Und warum?‹
›Du weißt es nicht?‹, flüsterte Ti’Anan. Die Königin hob langsam den Kopf. Ti’Anan verstand es nicht. ›Aber, das musst du doch wissen!‹
›Was? Was muss ich wissen?‹, rief Althea in zunehmender Verzweiflung. Auf einmal wurde es ihr viel zu eng, der fremde Junge auf ihr liegend und die Wesen, die sie alle verstohlen und mit Unglauben ansahen.
Die Königin kam langsam auf sie zu. ›Armes Mädchen, bist du eine Waise? Hattest du niemanden, der dich lehren konnte?‹
›Nein.. ich meine ja.. oh, bitte, so nehmt doch die Wächter fort!‹
Da erhob sich auch der König. ›Wirst du unsere Fragen beantworten?‹
In Althea zog sich alles zusammen. Die Königin griff hier nicht ein, also hatte er das letzte Wort, das erkannte sie nun. Er würde sie befreien gegen die Preisgabe von Dingen, um die sie kaum wusste. In ihr regte sich Widerstand. ›Wenn Ihr mir auch meine beantwortet‹, erwiderte sie, nicht gewillt, sich einfach so überrumpeln zu lassen.
Sie konnte spüren, dass es dem König und den anderen Wesen missfiel. ›Wie du willst. Wecke die Wächter auf. Ich werde sie hinausschicken.‹ Und das tat er. Es brauchte zwar mehr als einen Befehl, dass die verwirrten, zornigen Wächter folgten, aber irgendwann lag sie allein mit dem Feenjungen. Endlich konnten sie sich rühren. Er sprang sofort auf und brachte sich mit gebleckten Zähnen in sichere Entfernung zu ihr.
Es tat Althea weh. Ihr einziger Verbündeter hatte sich von ihr abgewandt. Sie erhob sich langsam. ›Es tut mir leid. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen‹, sagte sie an ihn gerichtet. Sie sah unauffällig zu den Öffnungen in der Wand hinüber, fieberhaft nach einer Möglichkeit zur Flucht suchend.
Die Königin hielt ihren Gemahl mit einem Schwenk ihrer lichten Hand zurück. ›Hab keine Angst‹, sagte sie. ›Wie kommt es, dass du überlebt hast? Haben sie dich versteckt, bevor sie getötet wurden? Oder wurdest du als kleines Mädchen fortgebracht?‹
›Ich.. ich verstehe nicht.‹ Althea wandte sich zu ihr um, die Hände fest an die Wand gepresst. Rasch nahm sie diese herunter, als sie erkannte, wie verängstigt das aussehen musste. ›Wer soll mich versteckt haben? Und warum glaubt Ihr, ich sei Waise?‹
›Die Druidai, die bei dem Angriff getötet wurden, natürlich!‹, rief Ti’Anan, erbost über ihre Begriffsstutzigkeit aus. ›Das musst du doch wissen!‹
›Die Drui.. aber, die sind doch schon lange tot, viele Hundert Jahre. Es gibt keine Druidai mehr.‹
›Jahre? Was ist das?‹, verlangte der König zu wissen. ›Dieses Zeitmaß kennen wir nicht.‹
Althea begann zu zittern. ›Ihr kennt keine Jahre?‹ Was war das für eine merkwürdige Welt? Sie begriff das alles nicht mehr. Die vielen Rätsel, die Ablehnung, die ihr entgegen schlug, und nicht zuletzt ihre Furcht wurden ihr zu viel. Sie schlug die Hände vors Gesicht und krümmte sich erneut schützend zusammen. ›Ich verstehe Euch einfach nicht. Ich weiß einfach nichts..‹ Sie schluchzte auf. ›Mein ganzes Leben lang hält man mir ständig vor, was ich alles angeblich wissen muss. Überall wird von mir irgendetwas erwartet, und ich weiß es doch nicht! Niemand kann mir sagen, wer ich bin. Keiner kennt Antworten auf meine Fragen.‹
Althea begann zu weinen, und es war ihr egal, ob das zu hören war. Seit ihrer Flucht hatte sie nicht mehr so geweint, und es kümmerte sie nicht, dass diese Wesen um sie herumstanden und nicht wussten, was sie davon halten sollten. Sie ergab sich ganz ihrem inneren Schmerz, sank zu Boden und rollte sich zusammen.
Die Königin hatte wohl erkannt, dass sie so nicht weiter kamen. ›Geht‹, hörte Althea sie sagen. ›Nein, Ti’Anan, du bleibst hier bei mir, auch wenn dir das nicht gefällt. Du hast sie hierher geholt, also wirst du dich um sie kümmern.‹
Althea spürte, wie sie sanft angehoben wurde und kurz darauf wieder in die weichen Kissen sank. Schluchzend vergrub sie ihren Kopf darin.
Ihr Ausbruch hielt nicht lange an. Irgendwann wurde sie ruhiger, nur das schmerzhafte Hämmern in ihrem Kopf ließ nicht nach. Sie war nur allzu versucht, ihrer Erschöpfung nachzugeben und zu schlafen, aber da waren noch die Fremden um sie herum. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Langsam schlug sie die Augen auf und fand das schöne, fremde Gesicht der Königin dicht vor ihrem eigenen. Tiefes Mitleid stand darin.
›Oh, armes Mädchen! Haben sie dich verletzt? Deine Augen bluten.‹
›Meine..?‹ Althea wischte sich verwundert mit dem Handrücken über die Augen und fand darauf nur die feuchten Spuren ihrer Tränen vor. ›Das.. ach, es ist nichts. Nur Tränen. Das kommt bei uns Menschen von Zeit zu Zeit vor, wenn wir traurig sind oder Schmerzen haben. Es ist normal.‹ Sie sah mit brennenden Augen zu der Königin auf. ›Hier ist wirklich alles anders als in meiner Welt.‹ Plötzlich begriff sie ein paar Dinge. Wenn sie diese Welt verstehen wollte, dann musste sie all das, was sie bisher angenommen hatte, fahren lassen. Sonst würde ihr es nicht gelingen. Aber wie sollte sie das machen? Alles in ihr drehte sich, sie konnte noch nicht klar denken. Daher legte sie sich zurück und warf Ti’Anan einen verzeihenden Blick zu, bevor sie die Augen schloss. ›Es tut mir leid, da habe ich dich wirklich in etwas hineingeritten. Hoffentlich bekommst du nicht allzu großen Ärger mit deinem Vater.‹
Die Königin lachte auf, es klang glockenhell, aber Ti’Anan fauchte: ›Und ob! Wie konntest du nur so dämlich sein? Habe ich dich nicht gewarnt?‹ Althea fuhr auf und stöhnte.
›Ti’Anan, es ist genug‹, mahnte die Königin, ›schließlich hat sie es aus Sorge um dich getan. Mädchen, ich sehe, dass dich dies alles sehr schwächt. Sicherlich musst du dich erst einmal an diese Welt gewöhnen. Ruhe dich ein wenig aus, und dann werden wir gemeinsam versuchen, dein Rätsel zu ergründen. Du hast mein Wort, dass niemand diesen Raum betritt. Ti’Anan wird bei dir bleiben und bei dir wachen, und wenn du dich ausgeruht genug fühlst, dann komme einfach zu uns hinaus.‹
Althea seufzte erleichtert auf. Eine wohltuende Stille legte sich über sie, und sie wehrte sich nicht, als diese sie in einen tiefen Schlaf sandte.
Eine Berührung ließ sie langsam wieder zu sich kommen. Althea schirmte ihren erwachenden Geist sofort ab, um nicht zu zeigen, dass sie wach war. Jemand strich ihr über die Haare, nahm ganze Bündel davon zusammen, zog an den widerspenstigen Locken. Die Haut ihrer Arme wurde befühlt, die Beschaffenheit ihrer Hände, Knöchel und Finger. Als der Unbekannte jedoch einen Schuh von ihrem Fuß streifte und dort fortfahren wollte, warf sie sich mit einem Ruck herum und setzte sich auf. Ungläubig sah sie auf Ti’Anan, dessen Hand mitten in der Bewegung verharrte. ›Was machst du da?!‹
›Ich.. äh.. nichts!‹ Er sprang zurück, in sichere Entfernung zu ihr.
Althea hätte schwören können, dass er, wäre er ein Mensch gewesen, rote Ohren bekommen hätte. Seine schwollen etwas an und bogen sich eine Winzigkeit nach außen, behielten aber die bleiche Farbe. Althea legte den Kopf schräg, mehr belustigt als empört. ›Warum untersuchst du mich?‹ Er wäre am liebsten davongelaufen, das spürte sie wohl. ›Ach komm schon, hör endlich auf, vor mir Angst zu haben. Nichts hat sich verändert!‹
Seine Haare sträubten sich. ›Doch! Du bist eine Auserwählte!‹
›Nicht schon wieder!‹ Sie rollte ungeduldig mit den Augen zur Decke. Um etwas zu tun zu haben und ihm Zeit zu geben, sich zu beruhigen, schnappte sie sich ihren Schuh und zog ihn wieder an. Dann sah sie zu ihm hinüber, ein klein wenig belustigt, aber auch bedrückt. Sie musste wieder sein Vertrauen gewinnen, sonst wäre sie dieser Welt hilflos ausgeliefert.
›Willst du dich nicht setzen? Ich beiße nicht‹, sagte sie und klopfte neben sich auf die weichen Kissen. Sie sah, wie er mit sich kämpfte und schließlich sein Stolz die Oberhand gewann. Zögerlich, die goldenen Augen wachsam auf sie gerichtet, setzte er sich an das äußerste Ende des Podestes.
Althea lächelte. ›Siehst du, es geht doch‹, wiederholte sie seine eigenen Worte. ›Du wirst mir ziemlich viel erklären müssen, zum Beispiel, was genau eine Auserwählte ist. Ich habe nämlich keine Ahnung‹, begann sie vorsichtig. Vielleicht half es ihm, wieder Zutrauen zu fassen, wenn sie ihre eigene Unwissenheit herauskehrte.
Er hatte erstaunt sein Gesicht verzogen. ›Du weißt es wirklich nicht? Wie ist das möglich? Und wie hast du dann..‹ Er verstummte, peinlich berührt.
Sie ahnte, worauf er hinauswollte. ›Mein Licht wurde geweckt, als ich dich das erste Mal sah. Mit der ersten Berührung mit eurer Welt, da bin ich mir ziemlich sicher. Niemand konnte mich lehren, ich musste alles selbst herausfinden. Welche Dinge ich damit tun und welchen Schaden ich anrichten kann. Vieles kommt ganz tief aus mir hervor, ohne dass ich weiß, woher ich das kann. Es ist.. als bestimmte etwas anderes mein Handeln.‹
Bei diesen Worten sträubten sich seine Haare noch mehr, und er bleckte die Zähne. Althea tat es weh zu sehen, wie er sich immer mehr vor ihr zurückzog. Er wirkte geradezu abgestoßen. Sie schluckte bitter. ›Hör mal, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht angreifen. Meine Kraft wirkt in dieser Welt ganz anders als in meiner.‹
›Es war ein Mordsschlag! Mir dröhnt jetzt noch mein Kopf!‹, rief er erbost. Althea biss sich auf die Lippen, senkte den Kopf und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Sie hatte ihn verletzt und befremdet, und das schmerzte sie. ›Althea, was hast du?‹ Es klang erschrocken.
Sie schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. ›So wie du mich jetzt ansiehst, so haben mich alle Menschen mein ganzes Leben lang angesehen, selbst meine eigene Familie, als sie das mit meinen Kräften herausfanden. Sie haben alle Angst vor mir, aber ich weiß es doch nicht besser!‹ Sie hielt inne, denn sie spürte eine leichte Berührung an ihrer Hand. Als sie die Augen aufschlug, fand sie den Feenjungen dicht neben sich. Er wirkte ehrlich beschämt.
›Es tut mir leid, wirklich. Ich habe nicht daran gedacht, was dies alles für dich bedeuten muss. Ich kann dich verstehen, denn mir geht es genauso. Ich bin das letzte Kind des Königs mit einer Auserwählten.‹
›Mit einer Auserwählten? Aber wie ist das möglich?‹
›Na, wie schon, sie vereinigen sich, und dann bringt sie nach einiger Zeit ein Kind zur Welt, wie sonst?‹ Er konnte nicht glauben, dass sie so ahnungslos war. ›Tun das die Menschen nicht? Sich vereinigen?‹
Althea schnaubte, sie ahnte sehr wohl die Gedanken, die er sie nicht hören ließ. ›Natürlich tun sie es, das war es nicht, was ich meinte. Ich habe dir doch erzählt, dass die Druidai schon sehr lange tot sind. Wenn deine Mutter eine Auserwählte ist, dann..‹, sie schluckte, ›dann musst du uralt sein!‹
›Uralt?‹ Er schüttelte den Kopf. ›Du musst dich irren. Ich bin wirklich der jüngste Nachfahre des Königs mit einer Auserwählten. Bei Weitem der Jüngste. An meine älteren Halbgeschwister kann ich mich kaum erinnern.‹
Althea sprang auf. Sie überlegte fieberhaft. Irgendetwas war hier im Gange, etwas, das sie nicht greifen konnte. Aber was? Sie beschloss, einfach zu raten: ›Ti’Anan, kannst du dich an den letzten Angriff von.. IHM erinnern?‹ Gerade noch rechtzeitig verkniff sie sich den Namen.
›Oh, davon weiß ich nur aus Erzählungen der anderen. Ich wurde kurz danach geboren. Ich weiß noch, dass sie mir erzählt haben, wie mein Vater viele eigenhändig aus den Trümmern des Palastes holte. Es war furcht.. Althea? Was hast du?‹ Sie hatte die Augen aufgerissen und starrte ihn entgeistert an. Er stand auf und ging langsam auf sie zu. ›Alles in Ordnung?‹
›Das ist es! Deine Welt hat.. sie ist..‹ Wie sollte sie das erklären? Sie brauchte etwas, womit sie ihm das begreiflich machen konnte, etwas, das sie beide kannten. Da fiel ihr etwas ein. Er selbst hatte davon gesprochen. ›Weißt du um die Zeit, in der eine Menschenfrau ein Kind austrägt?‹
›Ähm‹, die spitzen Ohren bogen sich ein wenig nach außen, ›jaahh, so ungefähr weiß ich es. Warum fragst du?‹
›In meiner Welt dauert es in etwa ein dreiviertel Jahr, bis es ausgetragen ist.‹
›Bei uns dauert es eine Lichtzeit.. ein dreiviertel..‹ Ti’Anan verstummte. Seine hellen Haare sträubten sich schon wieder, und er fauchte. Althea nickte. Er hatte es gleich begriffen. ›Viele Hundert.. Jahre?!? So lange?‹
›So lange. All das Wissen der Druidai ging verloren, bis auf die Geschichte derjenigen, die den Verräter einließ: Asklepia. Sie machte eine Prophezeiung, bevor sie starb: Dass die Gabe wieder in Erscheinung treten würde, wenn eine dunkle Zeit anbrechen würde. Und es ist eine dunkle Zeit angebrochen, wie du siehst.‹
›Asklepia..‹
›Du erinnerst dich an etwas?‹
›Aber natürlich! Meine Mutter brachte sie hierher. Sie waren die letzte der Auserwählten, die das Tor durchschritten, bevor wir den Bann darüber legten. Asklepia war tot. Sie wurde mit allen Ehren dem Licht übergeben.
›Deine Mutter..‹ Althea starrte ihn sprachlos an. ›Oh bitte, erzähl! Erzähle mir alles, was du..‹ Sie verstummte.
Ti’Anan wies ihre Gedanken plötzlich ab und hob lauschend den Kopf. Dachte er, sie würden belauscht? Althea sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf und zog sie mit sich. Kein Wort dachte er, als er sie zu einem Fenster führte und auf den Sims kletterte. Er war vollkommen still, und Althea unterdrückte jede Frage, jeden Gedanken und jede Regung.
Es war nicht weit nach unten. In den Felsen gelegen, hatte der Palast so viele Vorsprünge und Ecken, dass Althea mühelos herunterklettern konnte. Wieder fragte sie sich, warum er nicht seine Flügel benutzte. Vielleicht konnten die anderen es spüren? Er kletterte nicht auf direktem Wege nach unten, sondern dorthin, wo die Felsen in einen sehr dicht bepflanzten Teil des Gartens mündeten. Dort liefen sie auf den Wald zu, sich immer in der Deckung der Büsche haltend.
Kaum im Wald angekommen, wollte Althea etwas fragen, aber er schüttelte warnend den Kopf. Noch nicht. Sie begannen zu laufen, immer in Richtung des Lichts. Schon nach den ersten Schritten musste sie feststellen, dass sie viel schneller war als er. Sie erinnerte sich, wie er auf ihrer Seite des Tores zusammengebrochen war. Sie wartete, bis er sie eingeholt hatte, und sprang dann langsamer hinter ihm her. Es war ihm unangenehm, das konnte sie sehen, aber er sagte immer noch nichts, während er beinahe zornig vor ihr her rannte.
Das Licht wurde immer heller, und der Gesang begann sie einzuhüllen und beinahe zu tragen. Es war wunderschön. Am liebsten wäre Althea stehen geblieben und hätte sich mit geschlossenen Augen diesem Erlebnis hingegeben, aber Ti’Anan strebte zügig weiter. Althea folgte ihm durch den Wald, bis sie an einer Felsengruppe angelangt waren und er erneut zu klettern begann. Verwundert folgte sie ihm hinauf, bis er ihr die Hand entgegenstreckte und sie über eine Felsenkante zog.
›Sieh!‹, war alles, was er sagte, und mehr brauchte es auch nicht. Althea nahm mit allen Sinnen diesen Anblick in sich auf. Sie standen unmittelbar über dem Seeufer. Warme Luft blies ihr entgegen, aber es war das Licht selbst, das sie bis ins Innerste wärmte. Die Musik war an diesem Ort beinahe unerträglich schön. Althea musste sich ein wenig gegen sie abschirmen, um sie wirklich genießen zu können. Danach gab es kein Halten mehr, sie schloss die Augen und badete mit allen Sinnen in den Dingen, die auf sie einströmten. Ohne dass sie es bemerkte, begann sie sich im Takt der Musik zu wiegen und zu summen.
Ti’Anan musste sie festhalten, sonst wäre sie kopfüber in den See gestürzt. ›Althea, komm zu dir!‹, rief er.
Sie machte widerwillig, fast benommen, die Augen auf und sah auf diesen wunderbaren Ort hinab. ›Was ist das, Ti’Anan?‹
›Das ist das Meer der Seelen.‹
›Das Meer der Seelen‹, flüsterte Althea verzückt und wollte wieder einen Schritt vor.
Er packte ihre Hand, zog sie ein Stück zurück und zwang sie, sich auf den Felsen zu setzen. ›Althea, sieht mich an. Nun mach schon!‹ Als sie es nicht tat, packte er hart ihr Kinn und zwang sie dazu. Seine goldenen Augen zerschlugen den Bann, der auf ihr lag. Sie schrak zusammen. ›Jetzt bist du wieder bei mir‹, lächelte er.
Plötzlich konnte sie wieder denken. ›Pst! Sei leise!‹
›Nein, das brauchen wir nicht. Das Seeufer ist der einzige Ort, wo wir uns unterhalten können, ohne gehört zu werden. Die Musik übertönt es. Vorhin, da sind wir gerade rechtzeitig gegangen. Sie waren dabei, wieder wach zu werden. Althea, was ist?‹, fragte Ti’Anan besorgt.
Jetzt, wo sie ihn wieder ansah, musste sie mit einem Mal ein Schaudern unterdrücken. ›Es ist wunderschön, aber auch.. es graut mir davor. Es hat sehr viel Macht.‹
›Du bist sehr klug‹, nickte Ti’Anan anerkennend. ›Es gab schon andere, die sich bei diesem Anblick dort hineingestürzt haben, ohne innezuhalten.‹
Aus den Augenwinkeln warf Althea einen vorsichtigen Blick auf das wogende Meer. Nun, da ihr Blick und ihre Sinne durch seine Warnung geschärft waren, konnte sie die verführerischen Dinge beiseitedrängen und andere Details wahrnehmen. Ihr stockte der Atem. ›Aber, das sind ja.. Körper!‹ Sie sah Umrisse von Händen, Füßen, Krallen und Klauen, menschliche und fremde.
›Es sind die Abbilder des letzten Lebens, das die Seelen geführt haben‹, erklärte Ti’Anan, sie genau beobachtend und sich für alle Fälle bereithaltend. ›Sie kommen nach ihrem Tod hierher, alle Wesen von jeder Welt.‹
Althea riss den Kopf herum. ›Von jeder Welt?!‹
Er wollte schon wieder etwas Spöttisches über ihre Unwissenheit sagen, bezwang sich aber: ›Ja, eure ist nicht die Einzige. Es gibt viele, sehr viele sogar. Die Seelen, die du dort siehst, sind nicht vollständig, sie sind nur eine Hälfte eines Ganzen.‹
Althea merkte auf: ›Die Seelenhälften! Ja, natürlich! Die Temorer glauben noch heute daran, dass zwei Seelen auf der ewigen Suche nacheinander sind.‹
Ti’Anan schnaubte nur. ›Sie wissen nichts! Schließlich denken sie auch, wir seien Götter. Alle Lebewesen denken das, aber sie irren sich.‹
›Sei nicht so hochnäsig!‹, begehrte Althea auf. Sie war erbost darüber, dass er einfach so über sie urteilte. ›Woher sollen sie es schließlich wissen?‹
Er fühlte sich sofort angegriffen und bleckte die Zähne. ›Sie bräuchten nur nachzudenken. Es ist logisch! Sie sind dumm!‹
›Nein, sind sie nicht!‹ Althea sprang auf. Sie fühlte sich verletzt, dass er die Menschen so herabsetzte. ›Logik kannst du nur anwenden, wenn du alle Fakten kennst‹, warf sie ihm einen Lehrsatz ihres Vaters an den Kopf.
›Aber wie können sie denn so dumm sein zu glauben, dass dies die Welt der Götter ist? Das, das dort, ist göttlich!‹, fauchte er und zeigte auf die riesige, senkrecht stehende Säule, die den See in Bewegung hielt. ›Finden zwei Seelen zusammen, dann gehen sie ein in das Göttliche. Sieh, dort hinten, dort ist es gleich soweit!‹
Althea sperrte Mund, Augen, Ohren und ihre Sinne weit auf, als sich aus dem Meer zwei Gestalten herauszuschälen begannen. Unendlich mühsam schoben sie sich in die Höhe, doch dann streckten sie ihre Hände nacheinander aus. Als sie sich berührten, stiegen sie rasch empor, verschmolzen miteinander und stoben in einem Funkenregen auseinander. Die Musik schwoll an, sie lockte, das erkannte Althea nun, die Funken zu der Säule. Sie sah zu, wie sie sich in ihr auflösten und verschwanden. Eine Weile brauchte sie, um sich aus dem Bann des Anblicks zu befreien, doch dann sah sie den Feenjungen. Sie spürte den überheblichen Triumph des vermeintlich höheren Wissens in seinen Augen und seinen Gedanken, und das stachelte ihren Widerstand an.
›Ach, und woher willst du wissen, dass dies das Göttliche ist? Woher willst du wissen, dass dies nicht das Tor in eine weitere Welt ist, in der andere Wesen sitzen, die genauso spöttisch auf euch zeigen? Jemand sagte mir einmal, dass alles, was die Menschen nicht kennen, ihnen Angst macht und dass viele dazu neigen, es als göttlich oder teuflisch zu benennen, um damit leben zu können. Ich glaube, ihr wisst es auch nicht. Ihr seid nicht besser als alle anderen und..‹
›Wie kannst du es wagen!‹ Ti’Anan sprang sie an, fauchend und mit spitzen Krallen, doch bevor Althea sich wehren konnte, wurde er von unsichtbarer Hand zurückgerissen.
›Ti’Anan!‹, donnerte die mächtige Stimme des Königs, und da schwebte er auch schon heran, zusammen mit der Königin und den anderen Wesen, die Althea schon bei sich im Raum gesehen hatte.
›Vater, ich..‹
Der Feenjunge wurde von unsichtbaren Händen emporgezogen, bis er ganz dicht vor ihm schwebte. Der Zorn seines Vaters umloderte ihn. ›Sie hat dir eine Frage gestellt und dich um Antwort gebeten. Eine höchst philosophische Frage sogar, so, wie sie sich unseren Gelehrten schon seit Anbeginn unserer Zeit stellt. Sie ist nur allzu berechtigt, denn die Wahrheit ist, Mädchen, wir wissen es nicht. Wir kennen..‹
›Aber Vater!‹ Ti’Anan verschlug es die Sprache, dass er solch wichtige Geheimnisse einfach mit einem fremden Wesen teilte.
›Nur weil du mit deinem Schicksal haderst, kannst du das nicht an anderen auslassen und voller Hochmut auf sie herabblicken‹, grollte der König. ›Du wirst dich bei ihr entschuldigen, und dann wirst du in den Palast gehen und dich nicht von der Stelle rühren, hast du verstanden?‹
›Nein, das werde ich nicht!‹, fauchte Ti’Anan, riss sich los und rannte, sobald er zu Boden gestürzt war, in den Wald davon. Althea sah ihm unbehaglich, aber auch ein wenig traurig hinterher.
Der König rief jemanden, eine Art Diener. ›Fangt ihn ein und sperrt ihn weg, bis er sich wieder besonnen hat. Er wird sich bei dir entschuldigen, Mädchen.‹
›Mein Name ist Althea‹, sagte sie. ›Das bedeutet: Die Heilende.‹
Die Königin lachte, es war wie ein warmer Hauch. ›Ein treffender Name, wahrlich. Sag, Althea, wer hat dich gelehrt? Du bist sehr klug.‹
›Mein Vater‹, antwortete Althea, sich wieder auf den Felsen setzend, weil sie nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte. Alle Wesen um sie herum schwebten zu Boden und ließen sich ebenfalls nieder, und die Königin kam zu ihr. Dabei streifte ihr Gewand Althea ein wenig. Es verursachte ihr eine Gänsehaut. Zu gerne hätte sie gefühlt, woraus diese Wesen bestanden.
Die Königin lächelte, als sie ihren Blick bemerkte. ›Keine Sorge, wir sind richtige Wesen, keine Geister.‹
Althea nickte. ›Ja, das ist mir schon klar. Sonst hättet Ihr nicht bei dem Angriff verletzt werden können.‹
›Du ziehst wirklich sehr folgerichtige Schlüsse‹, meinte eines der anderen Wesen anerkennend. ›Haben wir das vorhin richtig gehört, dein Vater hat dich das gelehrt? Ist er ein Druidai?‹
›Mein Vater?!‹ Althea musste lachen, obwohl ihr traurig zumute wurde. ›Nein, er ist weit davon entfernt. Er ist Gelehrter, aber nur Gelehrter, kein Priester. Jedweder Glaube geht ihm völlig ab.‹
›Tatsächlich?‹, wunderte sich der König. ›Du sagst, die Druidai sind schon lange tot. Wie lange? Gib uns ein anderes Zeitmaß.‹
Althea zögerte nicht, ihnen von ihren Erkenntnissen zu berichten. Ti’Anans Bestrafung und ihre offene Neugier ließen sie ruhig werden. Sie überlegte, wie sie das am besten erklären sollte. ›Wir glauben, einen Vergleich gefunden zu haben, nur klingt es so.. so unglaublich‹, begann sie.
›Sag es uns! Was habt ihr herausgefunden?‹, fragte die Königin. Althea konnte die gespannte Erwartung um sich herum spüren. Es war, als warteten sie auf etwas, und als sie ihnen von ihrem Vergleich erzählte, fuhren sie alle auf.
›Hoheit, das bestätigt unsere Theorie!‹
›In der Tat, das tut es.‹ Alle Wesen wirkten zutiefst beunruhigt.
›Du bringst uns Antwort auf eine lang gestellte Frage‹, sagte die Königin. ›Die Frage, ob in jeder Welt das gleiche Maß an Zeit existiert oder nicht.‹
›Sie ist überall verschieden? Aber.. dann habt Ihr wirklich miterlebt, wie.. ER Euch angegriffen hat!‹ Dieser Gedanke erschloss sich Althea erst jetzt. ›Oh bitte, so erzählt doch. Was hat dies alles mit den Druidai zu tun?‹
Die Königin war es, die Altheas Bitte erfüllte. Alle anderen tauschten noch erregte Gedanken über die neuen Erkenntnisse aus. ›Du weißt es wirklich nicht, nicht wahr? Nun, seit Anbeginn der Zeit kamen Lichttag für Lichttag die Auserwählten durch die vielen, vielen Tore hierher, um mit uns das Ritual der Einheit zu vollziehen. Ihre Kinder sind es, die durch ihren Gesang und ihre Kraft die Quelle in Bewegung halten. Jedes Lebewesen hat seinen Anteil daran. Die von den Menschen abstammenden Wesen machen den Gesang, den wir leider nicht hören, aber spüren können. Andere wiederum halten durch ihre Kräfte die Quelle in Bewegung. Ohne sie stünde die Quelle still, und die Seelen würden aufhören zu wandern.‹
›Sie würden nicht mehr wandern? Aber, dann wären sie ja.. weder lebendig noch tot!‹, rief Althea. Ihr kam ein schrecklicher Verdacht. ›Ist es das, was ER will? Die Herrschaft über die Quelle und die Seelen aller Völker?‹
Die Königin ergriff ihre Hand. Es fühlte sich merkwürdig an, flüssig und fest zugleich. Als Althea ihre Hand drücken wollte, fühlte sie keine Haut, keine Knochen, einfach nichts. ›Was ER will, liegt im Dunkeln. Es kam schon früher vor, dass Wesen, die nicht auserwählt waren, versucht haben, die Tore zu überwinden. Aber noch nie hat jemand dabei so viel Heimtücke und böse Macht entfaltet wie ER. SEIN und der Angriff SEINER Getreuen auf die heilige Stätte der Druidai kostete fast alle Druidai, viele der Wächter und einige unserer Brüder und Schwestern das Leben. Nur ein Mensch kann zu so etwas abgrundtief Bösem fähig sein.‹
›Nur ein Mensch?‹ Althea begehrte auf. ›Gibt es das denn nicht auch woanders? Das glaube ich nicht! Warum sollten nur die Menschen so böse sein?‹
›Höre, was wirklich geschah, bevor du urteilst‹, mahnte der König, der sich ihrem Gespräch zugewandt hatte. Alle anderen folgten ihm. Er fuhr fort: ›Nachdem der fremde Feldherr die Heilige Stätte der Druidai erobert und den Verräter als das erkannt hatte, was er war, hätte alles in Frieden enden können, wären nicht die Diener der Druidai gewesen. Ti’Anans Mutter brachte Asklepia hierher und wir.. nun, wir begingen auch einen Fehler. Anstatt Phileas gleich mit aller Macht zu bannen, hießen wir die Diener nur, ihn zu binden, und belegten ihn mit einem Fluch. Danach sammelten wir uns hier, um Kraft zu schöpfen. Wir waren geschwächt.‹
›Oh, ich weiß. Ti’Anan ist auch in meiner Welt zusammengebrochen und..‹ Althea biss sich auf die Lippen, aber es war zu spät. Sie hatte sich verplappert.
›Er war dort?!‹ Des Königs Kleider wallten heftig durch die Luft. ›Das war ihm ausdrücklich verboten! Das wird ernste Folgen für ihn haben, verlasse dich darauf!‹
›Nein, bitte nicht!‹ Althea sah sich genötigt, ihn in Schutz zu nehmen. ›Schuld bin ich, ich habe das Tor zufällig entdeckt und es geöffnet und gerufen. Da kam er einfach angelaufen.‹
›Dennoch war es ihm nicht erlaubt, dort im Wald herumzustreifen, obwohl er es oft tut. Er macht nie das, was man ihm sagt‹, grollte der König.
Seine Gemahlin lächelte Althea zu. ›Du solltest dort auch nicht sein, nicht wahr?‹
Althea schluckte. ›Nein, und dass wir uns dem Tor näherten, hat meinen Cousin fast das Leben gekostet. Hätte ich nicht meine Kräfte entdeckt, wäre er jetzt.. tot.‹ Sie wagte es kaum auszusprechen.
›Nein, nicht tot, sondern etwas sehr viel Schlimmeres. Er wäre verbannt in ewige Finsternis. Das war es auch, was wir IHM zugedacht hatten‹, sagte der König und erzählte weiter. ›Als wir unsere Kräfte gestärkt hatten, öffnete Ti’Anans Mutter das Tor erneut. Wir wollten unsere Toten bergen und jenen mit einem so wirksamen Fluch belegen, auf dass SEINE Seele nie wieder auf irgendeiner Welt wandeln sollte. Doch statt des zerstörten Haines fanden wir das Tor eingemauert, und von IHM und unseren Opfern, die vorher überall verstreut gelegen hatten, fehlte jede Spur. Ti’Anans Mutter ging sie suchen. Es dauerte nicht lange, da kam sie zurück. Berichte du weiter, meine Gemahlin. Du hast sie gepflegt.‹
›War sie verwundet?‹, fragte Althea erschrocken.
›Oh ja. Man hat sie beschuldigt, mit bösen Mächten im Bunde zu sein und Anteil an dem Verschwinden von IHM gehabt zu haben. Sie wurde mit Schlägen und Steinwürfen vertrieben. In letzter Not kehrte sie zu uns zurück, und sie berichtete uns von dem Schicksal unserer Gefallenen.‹ Die Königin seufzte leise, es klang wie ein Windhauch. Von den Umstehenden jedoch kam eine Welle des Zornes. Althea duckte sich unmerklich und wurde von der Berührung der Königin beruhigt. ›Weißt du, wie ein jedes dieser Tore beschützt wird?‹
Althea wusste sofort, wovon sie sprach. ›Ja, durch einen Ring. Ich spüre ihn nicht, aber andere brechen darin zusammen. So, wie mein Cousin.‹
›So ist es, nur dass sie zu der Zeit noch nicht tödlich waren. Sie hinderten nur Nicht-Druidai daran, sich dem Tor zu nähern. Ti’Anans Mutter berichtete uns, dass irgendjemand in der ganzen Verwirrung herausfand, dass man mit Hilfe unserer Toten den Ring gefahrlos betreten konnte. Nur das Tor, das bekamen sie nicht auf, und so beschloss der Anführer des Eroberervolkes, es ein für alle Mal zu verbergen.‹
Althea sah sie mit großen Augen begreifend an. ›Sie haben eine ganze Stadt darüber gebaut, Gilda, meine Heimatstadt. Es war Zufall, dass ich das Tor entdeckt habe.‹
›Zufall oder Vorhersehung?‹ Die Königin lächelte. ›Wer weiß das schon? Ti’Anans Mutter berichtete uns, dass Streit darüber entstanden war, was mit den sterblichen Überresten der Druidai und unserer Brüder und Schwestern geschehen sollte. Die Eroberer wollten sie verbrennen, aber die Diener und Dienerinnen der Druidai wehrten sich dagegen. Ein Teil, es waren vor allem die Frauen, wollten die Toten vor dem Tor aufbahren, falls wir wiederkommen würden, um sie zu holen. Die anderen jedoch, viele Männer waren darunter, entdeckten, dass unsere Toten ein eigener Ring umgab, selbst die Wächter ein winzig kleiner. Und sie ahnten, was für eine Macht sich dahinter verbarg. Der Anführer der Eroberer merkte es ebenfalls. Er vertrieb sie schließlich, voller Furcht, sie könnten die Herrschaft wieder an sich reißen. Die Toten nahmen sie mit, die Frauen jedoch blieben. Sie gründeten eine neue Gemeinschaft, und der Anführer, der sich zum König über jenen Ort krönen ließ, stellte sie unter seinen Schutz. Sie waren es, welche die Geschichte an Ti’Anans Mutter weitergaben. Ohne sie wüssten wir nichts.‹
›Diese Frauen gibt es heute noch‹, sagte Althea. ›Sie haben ihren Orden nach Asklepia benannt und kümmern sich um die Kranken und Bedürftigen. Oh, Ihr wart bestimmt sehr zornig, als Ihr das herausfandet.‹
›Oh ja, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß unser Zorn und unser Schmerz waren. Wir versiegelten alle Tore, egal zu welcher Welt, und legten einen Bann auf sie, sodass niemand dorthin gelangen konnte. Nur einer echten Druidai kann es nach wie vor gelingen. Dir, Mädchen, ist es gelungen, und nun ist es an der Zeit, dass auch du für uns etwas Licht ins Dunkel bringst. Wir warten seitdem darauf, dass man uns unsere Toten zurückbringt und wir erfahren, was mit IHM geschehen ist.‹
›Ich..‹ Altheas Kopf war wie leer gefegt, sie musste erst einmal verarbeiten, was sie dort gehört hatte. In ihrem Kopf spürte sie, wie sie einen leichten Stoß erhielt. ›Nun mach schon, Mädchen!‹, sagte eines der Wesen. ›Wir spüren doch, wie deine Gedanken arbeiten.‹
›Lasst sie!‹, mahnte die Königin. ›Es ist gewiss sehr viel auf einmal für dich, nicht wahr?‹
›Oh ja.. wo soll ich anfangen?‹, fragte Althea ratlos.
›Vielleicht..‹ Die Königin lächelte ihr aufmunternd zu. ›Wie wäre es mit deiner eigenen Geschichte? Das dürfte dir doch nicht schwerfallen.‹
›Nein, gewiss nicht‹, dachte Althea und begann zu erzählen, zunächst stockend und zögerlich und sehr leise, weil sie immer noch den Zorn der sie umgebenden Wesen spürte. Das legte sich jedoch sehr schnell. Althea lernte, dass auch diese mächtigen Wesen fasziniert werden konnten. Sie waren es wirklich, als sie von Altheas Aufwachsen in Gilda hörten, von ihren Umtrieben mit Phelan, wie sie die Erwachsenen umgangen und die Gänge, das Tor und Asklepias Geschichte gefunden hatten.
›Ha, ihr beide hättet euch wahrlich mit Ti’Anan verstanden!‹, rief der König aus. Seine Belustigung vibrierte durch die Luft, er lachte.
›Warum habt ihr das Tor den anderen nicht gezeigt?‹, fragte eines der anderen Wesen.
›Weil wir um sie fürchteten‹, erklärte Althea ernst. ›Sie hätten uns bestraft und dann nicht auf uns gehört und versucht, das Tor zu untersuchen. Sie wären dabei umgekommen, so, wie beinahe mein Cousin. Durch seine Krankheit entdeckte ich meine Kräfte, und meine Träume von IHM setzten ein. Phileas ist ein Geist, ein mächtiger, grausamer Geist.‹
Es wurde still um sie herum, als sie diesen Namen aussprach, aber anders als zuvor begehrte keines der Wesen dagegen auf. Selbst die Musik verstummte, als sie begann, Asklepias Sicht der Dinge zu schildern, wie die endgültige Besiegung von Phileas scheiterte und er einfach verschwand. Und sie zog gleich einen Schluss daraus: ›Denkt doch, wenn die Zeit in dieser Welt langsamer läuft als in der anderen, dann müsst Ihr selbst in der kurzen Abwesenheit vielleicht Tage oder gar Wochen fort gewesen sein. Was hätten die Diener denn tun sollen? Die Toten bei den grausamen Eroberern zurücklassen? Ich kann verstehen, dass sie die Toten mitnahmen, wenn vielleicht auch aus falscher Absicht.‹
›Versuche nicht, sie in Schutz zu nehmen‹, grollte der König. ›Es ist und bleibt ein Frevel! Wo sind sie hingegangen?‹
Althea schloss die Augen. ›Nach Temora. Ich.. ich glaube, ich habe dort etwas gespürt. Sie haben einen Ring um Temora, einen guten Ring, und die Priester sind als Einzige in der Lage, ihn zu durchschreiten. Oh nein, das bedeutet doch nicht etwa..‹ Sie schlug die Hände vors Gesicht, und die Wut, die um sie herum anschwoll, bestätigte den Verdacht, der in ihr keimte. ›Sie tragen sie bei sich?‹
›Unsssere Toten!‹ Plötzlich waren die Wächter da. Althea schrie auf, als die Wolke sich auf sie stürzen wollte.
›Haltet ein!‹, befahl der König.
›Ja, haltet ein!‹, wiederholte eine kleine Stimme. Einer löste sich aus dem Wächterpulk und kam auf sie zu. Sie erkannte ihn sofort an der zerbeulten Rüstung. Es war der kleine Wächter, den sie im Wald zurückgelassen hatte. ›Dieser Eindringling will nichts Böses, er hat mein Leben geschont‹, sagte der kleine Mann und schwebte auf sie zu.
Althea streckte die Hand aus, sie konnte gar nicht anders, und er ließ sich darauf nieder. Sie musste lächeln. ›Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr erschreckt. Ich wollte niemanden verletzen.‹
›Alle sind am Leben. Ach bitte, darf ich es einmal fühlen?‹, bat er.
›Fühlen? Aber warum? Hier ist doch alles voll davon!‹ Althea wunderte sich sehr. Sie hatten doch die Quelle?
›Weder die Wächter noch wir können uns der Quelle nähern. Dafür sind wir zu schwach‹, erklärte die Königin. ›Wir spüren es nur in unseren Gedanken. Nur die Druidai vermögen das Licht zu beherrschen, und ihre Kinder wie Ti’Anan sind es, welche die Quelle am Leben erhalten.‹
Althea nickte verstehend. ›Beherrschen die Druidai das Licht oder werden sie von ihm beherrscht? Ich hatte schon oft den Verdacht, dass es letzteres ist‹, murmelte sie, und dann tat sie dem Wächter den Gefallen. Sie holte ihr Licht und hüllte ihn darin ein. ›Ich darf das nicht allzu häufig machen‹, sagte sie in Richtung der anderen und hielt sie davon ab näherzukommen. Sie lachte, als der Wächter sich jauchzend in ihrem Licht drehte. ›Ich spüre nämlich von denjenigen, die ich damit berührt habe, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt. Werden es zu viele, würde ich nur noch träumen und über kurz oder lang wahnsinnig werden. Betrachte es als Geschenk, kleiner Wächter.‹
Er verneigte sich tief vor ihr. ›Ich danke Euch, Herrin.‹
›Herrin?‹, dachte Althea und schluckte. Sie warf einen Blick auf die Quelle. Ein Teil von ihr wunderte sich über dieses ernste Gespräch, das sie hier mit den Wesen führte. Auf einmal spürte sie, dass sich, je länger sie in der Nähe der Quelle verweilte, etwas in ihr veränderte. Sie fühlte, dass sie dabei war, etwas endgültig hinter sich zu lassen. Es war wie ein Abschied. Woran lag das? Fand sie endlich einen Teil von sich, den sie vorher nie verstanden hatte? Althea stand langsam auf, wie im Traum, und trat hinaus auf die Klippe. Der Wächter flog erschrocken auf und kehrte zu seinen Kameraden zurück.
Althea merkte es nicht. Sie schaute auf das Meer der Seelen hinaus, und dann sah sie es: Eine Gestalt stand dort aufrecht, wer weiß, wie lange schon.
›Ah, da ist sie‹, sagte die Königin.
›Wer ist das?‹, fragte Althea.
›Asklepias Seele. Sie weigert sich zu gehen, die ganze Zeit schon. Sie wartet auf ihre Seelenhälfte.‹
›Auf Phileas?!‹, rief Althea entsetzt. Das mochte sie sich nicht vorstellen, doch die Gestalt reckte sich bei dem Namen ein wenig und streckte die Hände in ihre Richtung aus. Unsicher sah Althea hinter sich. ›Was.. möchte sie etwas von mir?‹
›Das denke ich schon‹, sagte die Königin. ›Gehe zu ihr, aber gib acht, dass sie dich nicht ins Meer zieht. Sie ist sehr einsam dort.‹
›Ich? Da runter?‹ Althea fröstelte auf einmal. ›Was wird sie von mir wollen?‹
›Das können wir dir nicht beantworten, und wir können dich auch nicht begleiten‹, sagte die Königin.
Althea seufzte leise. Ein Teil von ihr wollte es ja unbedingt. Es war derjenige, der sich so verändert hatte. Also begann sie zu klettern, bis sie am Ufer des Sees stand. Hier konnte sie die verschiedenen Gestalten der Seelen noch besser erkennen. Es waren einige ausgesprochen Fremdartige darunter, aber das bemerkte sie nur am Rande. Ihr Blick wurde gefangen genommen von dem Abbild der Frau, das sich jetzt durch das Meer auf sie zubewegte.
›Sie haben sie nicht richtig getroffen‹, dachte Althea an die Statue im Garten der Häuser in Gilda, und das Gesicht der Frau verzog sich zu einem Lächeln, als könne sie ihre Gedanken erraten.
›Haben sie dich gewarnt, ja nicht zu nahe zu kommen?‹ Althea nickte und blieb stumm in sicherer Entfernung stehen. ›Nun, ich bin ihnen wohl etwas unheimlich, weil ich auf IHN warte. Keiner kann ohne den anderen existieren.‹
»Phileas?«, flüsterte Althea, diesmal richtig.
Die Frau nickte, ein wenig traurig. ›Das ist mein Schicksal. Mädchen, weiß du, was mit IHM geschehen ist? Und mit meinen Brüdern und Schwestern?‹
›Ja, ich weiß es‹, dachte Althea.
Asklepia kam näher, bis sie fast das Ufer berührte. Um sie herum war das Meer ruhig. Die anderen Seelen hielten Abstand. Sie musste wirklich sehr einsam sein, dachte Althea voller Mitleid, blieb aber auf der Hut.
›Dann.. bist du bereit, in die Reihen der Druidai einzugehen und deine Erinnerungen mit mir zu teilen? Eigentlich bist du noch viel zu jung dafür.‹
Althea merkte auf. Ohne dass sie es wollte, trat sie einen Schritt auf Asklepia zu. ›Ist das so etwas wie.. eine Zeremonie? Muss jede Druidai dies machen?‹
Betroffenheit malte sich in Asklepias lichten Zügen. ›Du weißt es nicht?‹
›Nein!‹ Althea bezwang gerade noch rechtzeitig ihren Unmut. ›Nein, ich weiß es nicht. Es gibt keine Druidai mehr, die mich lehren konnten. Es gibt nur etwas in mir, das mein Handeln bestimmt.‹
Der Umriss der Frau verschwamm. Sie hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Ohne dass sie es bewusst gewollt hätte, griff Althea zu. ›Sieh, was geschehen ist‹, dachte sie noch, und dann wurde sie überflutet von Eindrücken, Bildern, die in ihren Kopf schossen. Sie trafen sie wie ein Hammerschlag. Althea fiel auf die Knie, und das war es auch, was sie rettete, denn Asklepia packte ebenfalls zu. Es zog an ihr, das Wissen dieser Seele, und gleichzeitig spürte Althea, wie sie suchte, nach neuem Wissen über Phileas, nach ihren Träumen und nach dem Schicksal ihrer Brüder und Schwestern. War Althea dem zunächst hilflos ausgeliefert, schaffte sie es, dies nach und nach zu lenken und ihre persönlichsten Gedanken vor ihr abzuschirmen. Es war anstrengend, so unendlich anstrengend, und sie schrie schmerzhaft auf, als es immer mehr wurde, das auf sie und ihren überanstrengten Geist einstürmte. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie merkte nicht mehr, wie sie nach vorne überkippte.
Da wurde sie plötzlich gepackt und zurückgezerrt. Der Strom riss unvermittelt ab. Sie blieb einen Moment keuchend auf dem Rücken liegen, nicht in der Lage, etwas zu hören oder zu sehen. Erst nach und nach kehrten ihre Sinne zurück. Sie fand sich unmittelbar unterhalb des Felsens wieder. Ein Seil war um ihre Mitte geschlungen, das nach oben über den Felsen verschwand.
›Haltet Euch fessst!‹, rief der Wächterpulk.
Noch völlig benommen gehorchte Althea und wurde emporgezogen. Während sie nach oben schwebte, drehte sie sich um sich selbst und erschrak, als sie nach unten sah. Dort, wo sie eben noch gelegen hatte, schwappte das leuchtende Wasser heran, und eine Hand tastete nach ihr. ›Zieht schneller!‹, rief Althea. Im letzten Moment, da schoss die Hand empor und versuchte schon, sie zu packen, wurde sie über den Rand des Felsens gezogen.
Der König und seine Wesen waren in heller Aufregung. ›Sie wollte dich wirklich in das Meer der Seelen ziehen!‹
›Althea, geht es dir gut? So lasst sie doch erst einmal zu sich kommen!‹, mahnte die Königin und hüllte sie ein in sanfte Wärme.
Es beruhigte Althea. Bald war sie wieder in der Lage, klar zu sehen. ›Nein, oh nein, das glaube ich nicht. Es.. war einfach zu viel für mich. Sie hat meine Kräfte überschätzt. Vielleicht.. bin ich zu jung.. oder zu unwissend. Ich konnte es nicht beherrschen. Sie hat nach Phileas gesucht und alles über IHN herausgezogen und mir..‹ Althea keuchte und presste sich die Hände auf die Schläfen. Das neue Wissen lag wie ein riesiger Felsbrocken mitten in ihrem Gedächtnis. Sie ahnte, sollte sie es jetzt ansehen, würde es sie einfach überrollen. Deshalb hüllte sie es fest ein in ihren Geist, zog eine Mauer darum und sperrte es fort. Damit musste sie sich später befassen, wenn sie Ruhe hatte, Stück für Stück.
›Hat sie dir ihre Erinnerungen vermacht, Mädchen?‹ Althea nickte stumm, nicht in der Lage zu sprechen. ›Was hast du ihr über IHN erzählt? Sag es uns! Wir müssen alles wissen.‹
Stockend begann Althea, über ihre Träume zu berichten, und wie sie der Diener in Gilda entdeckt und sie zur Flucht gezwungen hatte. ›Seitdem suchen sie mich. Ich lebe versteckt im Wald. Nur wenige wissen, wer ich wirklich bin, für alle anderen bin ich nur das Mädchen, das lernt, eine Heilerin zu werden. Mehr wäre zu gefährlich.‹ Althea sprach mit geschlossenen Augen, die Hände ineinander verkrampft. Ihr war speiübel, und in ihrem Schädel dröhnte es, dass sie nicht mehr denken konnte. Ohne dass sie es wahrnahm, kippte sie zur Seite.
Die Königin fing sie auf. ›Mein Gemahl, wir sollten ihr Obdach gewähren, auch wenn dies nicht unseren Regeln entspricht‹, hörte Althea sie wie in weiter Ferne sagen.
›Das werden wir. Hebt sie auf und bringt sie in den Palast.‹
Althea spürte, wie sie von sanften, weichen Armen hochgehoben und davongetragen wurde. Nur noch entfernt hörte sie die Stimme des Königs und der anderen Wesen.
›Es ist gut, dass sie hierhergekommen ist, Hoheit. So wird ER sie niemals finden.‹
›Glaubt Ihr nicht, dass ER sich das Mädchen längst geholt hätte, wenn ER wüsste, was sie wirklich ist? Ich glaube, ER ist sich dessen noch gar nicht bewusst geworden. So sehr ER es auch versuchen wird, den Ring um die Tore zu brechen, ohne ihre Hilfe wird ER scheitern. Nein, es ist gut, dass sie hier ist. Hier kann sie sich zu einer vollwertigen Druidai entwickeln, und wenn ihre Zeit gekommen ist, wird sie den Weg aller Auserwählten beschreiten. Es wird höchste Zeit, dass es wieder jemand tut.‹
Mehr hörte Althea nicht mehr. Sie versank in einer wohltuenden Stille, doch nicht für lange. Kaum lockerte der Schlaf die feste Klammer, die ihr Bewusstsein um Asklepias Wissen gelegt hatte, stürzten ihre Erinnerungen auf sie ein. Althea träumte, so heftig und intensiv wie noch nie zuvor. Es war ein ganzes Leben, das dort vor ihren inneren Augen ablief, die Kindheit, die Aufnahme in die Gemeinschaft Keldas, Entdeckungen, Riten und schließlich die Erlebnisse mit IHM. Es war kein Wissen, sondern nur Eindrücke, die sie vermittelt bekam, Bilder in unglaublich schneller Reihenfolge und schließlich ein Letztes: Ein wunderschöner Mann, grausam lächelnd über ihr und die Augen kalt und gierig auf sie gerichtet. Er sah dem Geist in einer geradezu grotesken Weise ähnlich.
Althea stieß das Bild mit einem Aufschrei von sich und fand sich senkrecht auf der großen, mit Kissen und Decken übersäten Schlafstätte wieder. Hastig sah sie sich um, aber sie war allein. Noch immer verwirrt rieb sie sich über das müde Gesicht. Dann fiel ihr auf einmal alles wieder ein. ›Was hat das alles nur zu bedeuten?‹, dachte sie und schwang die Beine von der Schlafstätte. Von der hastigen Bewegung wurde ihr sofort wieder schwindelig. Sie merkte, dass sie schrecklich hungrig und durstig war. Wie lange hatte sie schon nichts mehr zu sich genommen? Eine halbe Ewigkeit bestimmt.
Althea sah sich suchend um, und da erschienen wie von Zauberhand ein Teller mit Brot und Früchten, ein Becher und ein Krug neben ihr. Hungrig machte sie sich darüber her und verschlang gierig die fremden Köstlichkeiten. Es tat so gut, dass sie beinahe gestöhnt hätte vor Wohlbehagen. Bis auf den letzten Krümel und den letzten Tropfen verzehrte sie alles. Dann hielt sie mit einem Mal inne und stutzte. Wo waren denn die Stimmen? Bisher hatte sie immer ein leises Raunen vernommen und natürlich den Gesang, aber nun war es absolut still. Verwundert trat sie ans Fenster. Draußen herrschte Dämmerlicht. War es etwa Nacht? Althea sah sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken. Ein kurzer Blick hinter sich ergab, dass dieser Raum keine Tür, sondern nur einen Durchgang woandershin hatte. Da stand ihr Entschluss fest. Sie beschloss, den Palast zu erkunden.
Dass Feen nicht schliefen wie andere Wesen, erfuhr sie, als sie bald darauf in einer großen Höhle stand. Sie lagen nicht auf Lagern, sondern sie schwebten. Staunend sah sie sich in dem riesigen Raum um, wo sich anscheinend alle Bewohner des Palastes zusammengefunden hatten. Es waren Hunderte. Der permanente Flügelschlag ihrer Körper verursachte ein leises Rauschen, wie eine entfernte Meeresbrise.
Einen Moment lang sog Althea diesen Anblick in sich auf. Es war einfach unglaublich. Da wurde sie sich plötzlich gewahr, dass sie hier ein Eindringling war. Auf Zehenspitzen zog sie sich in einen der vielen angrenzenden Gänge zurück. Es kam ihr so merkwürdig vor. Hier schliefen sie alle zusammen in einem großen Raum, und sie selbst bekam eine einzelne Kammer? Warum hatten sie sie nicht einfach in eine Ecke der großen Halle gelegt? Was bezweckten sie damit? Sie war doch nur ein Mädchen, das..
Althea fuhr herum, sah noch einmal in die Halle hinein und suchte. Ja, da waren sie, die Königin und der König. Auch sie bildeten keine Ausnahme. Sie machte einen Schritt zurück in das Dunkle des Ganges. Wozu brauchten diese Wesen überhaupt einen solchen Palast? Mit so vielen Räumen? Das verstand sie nicht. War ihr Lager das einer Auserwählten? Eine Erinnerung drängte sich aus ihrem übervollen Gedächtnis empor, nur halb wahrgenommen.
›..wird sie den Weg aller Auserwählten beschreiten..‹
Ein ganz, ganz übles Gefühl machte sich in ihr breit. Was hatte das zu bedeuten? Althea hielt mit geschlossenen Augen inne. Sie spürte Gefahr, keine unmittelbare Bedrohung, eher eine Ahnung drohenden Unheils. Sie fasste einen Entschluss. Sie musste so schnell wie möglich herausfinden, was dies zu bedeuten hatte, und es gab nur einen, der ihr das ehrlich beantworten konnte. Doch wo sollte sie ihn unter all den Wesen finden, ohne die anderen aufzuwecken? Da fiel ihr ein, dass sie ihn ja weggesperrt hatten.
Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihn gefunden. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie Räume, in den man jemanden einsperren konnte, in diesem Palast nur weit unten, tief im Fels, finden konnte, und damit lag sie grundrichtig. Schon von Weitem hörte sie ein Geräusch, es waren dumpfe Schläge von einem harten Gegenstand. Sie folgte dem Geräusch, bis sie vor einer massiven Tür aus Holz stand und sogleich den Zorn des dahinter eingesperrten Wesens spürte. Ti’Anans Zorn.
Althea zögerte nicht. Sie zog den Riegel fort und stemmte die Tür auf. Dahinter erstarrte Ti’Anan, einen dicken Felsbrocken zum Schlag erhoben, mitten in der Bewegung. Einen Moment starrten sie sich über den Stein hinweg an, dann ließ Ti’Anan ihn so plötzlich fallen, als hätte er sich verbrannt. Er verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck, den Althea nicht deuten konnte, und umarmte sie. Das kam so überraschend, dass Althea sich nicht zu rühren wagte. Was hatte er denn? Hatte er etwa Angst um sie gehabt oder tat ihm einfach nur sein Verhalten leid? Sie wollte, dass es Letzteres war, aber sie ahnte, dass dies nicht der Fall war.
Ti’Anan musste wohl merken, dass er sie befremdete. Sichtlich betreten ließ er sie wieder los und auch ein wenig traurig. Stattdessen nahm er ihre Hand und zog sie mit sich, schweigend, durch die vielen Gänge, Treppen und Brücken hinaus in den Garten des Palastes. Ti’Anan hielt geradewegs auf eine Wand zu, schritt ohne zu zögern durch sie hindurch, und sie standen wieder in der gleichen Helligkeit, die sonst auch herrschte. Verwundert sah Althea sich um. Es war, als läge ein Vorhang über dem Palast, der das ewig helle Licht und den Gesang aussperrte. Sie setzte zu einer Frage an, aber Ti’Anan schüttelte den Kopf und sah sich aufmerksam um.
Althea verstand. Hier konnten sie belauscht werden. Sie mussten zur Quelle zurückkehren, nur dort konnten sie ungestört reden. Sie ruckte mit dem Kopf in die Richtung des Lichtes, und er begann zu lächeln. Sie verstanden sich auch ohne Worte.
Er führte sie zu einer gänzlich anderen Stelle am Meer der Seelen als das erste Mal. Wieder war es ein Felsen, auf dem er in sicherer Entfernung zum Meer blieb. Eine Zeit lang sagten sie nichts, sondern starrten nur auf die wogenden Seelen hinab.
›Es.. es tut mir leid. Bitte sei mir nicht böse.‹ Er sah so zerknirscht aus, wie er dort stand und sie nicht anzublicken getraute, dass es sie sofort für ihn einnahm. Auf einmal sah er sehr einsam aus, wie er darauf bedacht war, wieder mit ihr Frieden zu schließen. Er tat ihr leid.
›Ich habe ein Talent dafür, Leute vor den Kopf zu stoßen‹, gab sie mit einem verzeihenden Lächeln zu. ›Auch mir tut es leid. Du hast hier nicht sehr viele Freunde, nicht wahr?‹
Er wandte sich ab und sagte nichts. Althea hatte das Gefühl, ihn trösten zu müssen. Sie trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die knochige Schulter. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen, aber er wich nicht zurück und versuchte auch nicht, sie abzuschütteln.
›Ich.. ich habe gar keine Freunde‹, kam es nach einer langen Stille leise zu ihr herübergeschwebt. ›Du bist die Einzige, mit der ich überhaupt einmal reden konnte. Meine Geschwister dienen alle schon der Quelle, und die anderen Feenjungen und Mädchen.. sie meiden mich.‹
Althea bewegte sich langsam um ihn herum, bis sie ihn ansehen konnte. Er hatte den Kopf gesenkt und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. ›So ging es mir auch mein ganzes Leben lang. Nur hatte ich eine Familie, die es mir leicht gemacht hat. Meine Cousins, meine Cousine, und meine Freundin Noemi. Sie standen alle zu mir.‹
›Erzählst du mir davon? Ich möchte so gerne von deinem Leben hören, wie es in deiner Welt ist und.. und..‹ Er blickte geradezu flehendlich auf.
Althea lächelte und tat ihm den Gefallen, auch um ihn ein wenig zu trösten. Sie erzählte ihm von den schönen Seiten ihres Lebens, von ihrem Vater, von ihren Abenteuern mit Phelan und den vielen, vielen Dingen, die sie erlebt hatten. Aber auch ihre Flucht ließ sie nicht aus. Er hörte stumm und mit leuchtenden Goldaugen zu, sog alles in sich hinein.
›Oh, ich wünschte, ich könnte das alles einmal mit eigenen Augen sehen‹, sagte er traurig. Sie saßen längst Schulter an Schulter auf dem Felsen und sahen auf das weite Meer hinaus. ›Wie aufregend das sein muss..‹
Althea senkte den Kopf, weil sie so plötzlich die Trauer überkam, dass sie schlucken musste. ›Aufregend? Verängstigend und bedrohlich, das trifft es wohl eher. Vergiss nicht, dass ich verfolgt werde. Ich musste alle zurücklassen, die mir lieb und teuer sind, und sie kommen gewiss um vor Sorge um mich. Ti’Anan..‹, sie wartete, bis er sie ansah, ›wirst du mir eine Frage beantworten? Ich meine, wirklich ehrlich beantworten?‹
›Ja, natürlich. Was denn?‹, fragte er verwundert.
›Als sie mich zurück in den Palast trugen, da war ich nicht ganz weg, und ich hörte, wie sie sich über mich unterhielten. Ich habe sie etwas sagen hören, was ich nicht verstehe. Bitte, erkläre es mir! Ich muss es verstehen.‹ Althea bekam es wirklich mit der Angst zu tun, als sie sah, wie sich alles an Ti’Anan sträubte.
Er sprang erregt auf. ›Was bin ich?‹, forderte er von ihr zu wissen.
Die Antwort wusste Althea: ›Du bist halb Mensch, halb Feenwesen.‹
›Und was geschieht mit mir?‹
Althea hob die Schultern. ›Irgendwann wirst du deinen Brüdern und Schwestern folgen und der Quelle dienen. So sagten sie es mir.‹
Ti’Anan fauchte: ›Ja, und ich will es nicht! Ich will nicht immer in einem ewig gleichen Leben fest stecken, ohne Hunger, ohne Durst, ohne Erlebnisse! Ich will.. lernen und reisen und.. Dinge erleben, und..‹
›Ja, aber was hat das mit mir zu tun?‹, fragte Althea dazwischen und unterbrach damit, dass er sich in seine Wut hineinsteigerte.
›Begreifst du denn nicht?‹ Ti’Anan war kurz davor, sie zu schütteln, und erkannte gerade noch rechtzeitig, dass es einmal mehr mit ihm durchging. ›Entschuldige, das kannst du ja nicht wissen. Warum bin ich wohl der letzte Mischling hier?‹
Sie stutzte. ›Weil die Tore zu sind? Es kommen keine Auserwählten mehr und sie wollen..‹ Althea wurde blass und musste schlucken. Die Bedrohung, die sie die ganze Zeit gefühlt hatte, nahm unvermittelt Gestalt an. Sie schlug die Hände vors Gesicht. ›Aber.. das kann doch nicht..‹
›Oh doch!‹, sagte Ti’Anan unerbittlich. ›Sie werden dich zwingen, dich mit ihnen zu vereinigen. Ob nun Vater oder eines seiner Weisen, das ist unerheblich. Sie brauchen Nachwuchs, sonst wird die Quelle irgendwann stillstehen. Bereits jetzt sterben die ältesten meiner Brüder und Schwestern.‹
›Und ich.. ich soll..‹ Althea war nicht in der Lage zu sprechen. Ihr wurde erneut übel. Sie sah zu Ti’Anan auf, flehentlich, bat ihn stumm, irgendetwas zu sagen, dass es nicht wahr wäre, nur irgendetwas.
Aber er war noch nicht fertig. Er hockte sich vor sie hin und nahm ihre Hände. ›Für jede Auserwählte ist das der sichere Weg in den Tod.‹
›Warum?‹, flüsterte sie.
Statt einer Antwort ließ er ihre Hände los, stand auf und drehte sich um. ›Fass mich einmal an.‹
Verwundert erhob sich Althea und streckte die Hände aus. ›Was..?‹
›Berühre mich an den Flügeln, aber gib acht.‹
Althea tat, was er verlangte, und war überrascht. ›Sie sind ja ganz hart! Deshalb kannst du nicht fliegen und.. au! Die Kanten sind messerscharf!‹
Er drehte sich um und starrte auf ihren blutenden Finger. ›Es ist rot?‹, fragte er voller Verwunderung.
›Ja, das ist es, und eures ist silbern, nicht wahr? Deshalb dachte die Königin, dass meine Augen bluten. Warum hast du mir das gezeigt?‹ Sie verlangte Ehrlichkeit von ihm.
Er zögerte, aber es gab kein Zurück mehr. ›Was glaubst du, geschieht mit einer Frau, die ein Kind wie mich zur Welt bringt?‹ Er nickte bitter, als er Althea begreifen sah. ›Glaubst du, es gefällt mir, für den Tod meiner eigenen Mutter verantwortlich zu sein?‹
›Oh, Ti’Anan!‹ Ohne dass Althea es merkte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie konnte einfach nicht mehr. Angst, Hilflosigkeit und das Gefühl, in einer ausweglosen Falle zu sitzen, verstärkten sich zu einem Wust der Gefühle, gegen den sie nicht mehr ankam. Halt suchend lehnte sie sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf, und er zog sie tröstend in eine feste Umarmung. Sie wurde von Licht und seiner Wärme umhüllt und gab sich dem einen Moment lang völlig hin, schöpfte Trost und Kraft daraus. Aber plötzlich merkte sie, dass dort noch etwas anderes war, von seiner Seite, aber auch von ihrer. Ein kleiner Teil von ihr wünschte sich, dass seine Hände, die nur leicht über ihren Rücken strichen, weitermachten, immer weiter. Es war neu, dieses Gefühl, und zusammen mit seiner Fremdartigkeit beunruhigte es sie zutiefst. Sie konnte damit nicht umgehen.
›Ich muss hier weg‹, sagte sie leise und richtete sich mit einem Ruck auf. Er nahm langsam die Hände herunter. ›Ich muss zurück zu meinen Leuten und ihnen beistehen. Sie sind in großer Gefahr.‹
Er senkte den Kopf, atmete schwer und nickte dann. ›Ja, ich weiß. Ihnen mag es egal sein, was dort drüben in deiner Welt geschieht, aber dir und mir ist es nicht egal. Du musst zurück, bevor sie dich finden und einsperren.‹ Es fühlte sich so traurig an, wie er das dachte.
›Dann.. wirst du mir helfen?‹, fragte Althea und nahm seine Hand.
Er sah darauf herab, unschlüssig. ›Ich.. ich kann dir nicht wirklich helfen, denn ich weiß nicht, wo das Tor liegt. Es ist irgendwo dort draußen, und ich..‹
›Aber das letzte Mal sagtest du doch, dass du dort sehr oft vorbeikommst!‹, rief Althea und ließ seine Hand los. Sie stemmte die Arme in die Hüften.
Ti’Anan druckste peinlich berührt herum. ›Nun, äh.. es war gelogen. Reine Angeberei. Es ist verboten, diesen Teil des Waldes zu betreten. Dort gibt es unzählige Tore und viele Gefahren, die..‹
Althea unterbrach ihn, die Zeit drängte. Warum war er auf einmal so zögerlich? ›Das hat dich dennoch nicht davon abgehalten. Bitte, Ti’Anan, du musst mir helfen!‹
Da gab er sich endlich einen Ruck. Er fasste sie bei den Schultern und sah sie eindringlich an. ›Hör zu, ich kann dir nicht helfen, ich würde dich nur in Gefahr bringen, denn mich spüren sie immer. Sie würden uns finden, und die Folgen kannst du dir nicht ausmalen. Sie sind auch so schon schlimm genug für mich. Du hingegen kannst dich im Wald frei bewegen, solange du es nur auf die Art und Weise deiner Welt tust. Du darfst nicht denken, du darfst nicht dein Licht benutzen. Hast du es noch nicht bemerkt?‹
›Doch.‹ Althea schluckte und zwang sich, ehrlich zu sein. Sie wollte ganz einfach nicht, dass er sie allein in dieser unbekannten Welt ließ, doch nun war sie sich bewusst, dass es auch für ihn nicht ohne Gefahren war. Sie musste sich entscheiden. Sein Wohl gegen ihre Sicherheit. Es war eine bittere Entscheidung, aber es half nicht. ›Wirst du..‹
›TI’ANAN!!!‹, fegte da die mächtige Stimme des Königs aus weiter Entfernung zu ihnen heran.
Beide fuhren auf. ›Oh nein, sie haben entdeckt, dass wir fort sind. Schnell, in den Wald!‹ Er schob Althea vorwärts, den Felsen herunter und auf den Waldrand zu. ›Rasch, lauf. Ich lenke sie ab!‹ Sie machte einige zögerliche Schritte auf das dichte Grün zu. ›Althea, warte!‹ Er kam hinter ihr her und hielt sie fest. ›Wirst du uns warnen, wenn ER uns noch einmal versucht anzugreifen?‹
Althea drehte sich um und warf einen Blick auf die Klaue auf ihrer Schulter. Ein Teil von ihr, es war dieser ungewohnte Teil, wollte bei dieser Berührung hierbleiben, bei ihm. Sie betrachtete dieses Gefühl verwundert. Warum entschied es so gegen alle Vernunft? Was es auch war, es war nicht richtig, entschied sie intuitiv. Sie belächelte sich selbst spöttisch und sah ihn fest an. ›Ja, das werde ich. Ich werde euch warnen, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich dann einfangen. Du kannst es deinem Vater ausrichten, wenn sich seine Wut etwas gelegt hat.‹ Sie lächelte, und er umarmte sie, spontan und sehr sanft. Einen winzigen Moment gestattete sie sich, es zu genießen. ›Ti’Anan?‹
›Ja?‹
›Meine Freunde nennen mich nicht Althea, sondern Thea.‹ Sie spürte seine Freude bei diesen Worten und war froh, dass sie ihm dieses Geschenk gemacht hatte. Beide hoben sie den Kopf, als sie Stimmen näher kommen hörten. ›Ich muss gehen. Leb wohl!‹ Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die silbrige Wange, machte sich los und lief in den Wald. Im dichten Grün angekommen, warf sie einen letzten Blick zurück. Er stand mit der Klaue an der Wange da und sah ihr abwesend hinterher, verzückt, aber auch gehörig verschreckt. Althea musste lachen, es verdrängte ein wenig ihre Angst. Mit einem guten Gefühl brachte sie sich in den Wald in Sicherheit.
Sie war noch nicht weit gekommen, da brach über den bedauernswerten Ti’Anan das väterliche Donnerwetter herein. Es war so gewaltig, dass sogar bei ihr noch die Blätter der Bäume zitterten. Althea sah zu, dass sie schnell weit fortkam, das Licht der Quelle stets im Rücken behaltend. Doch mit halben Sinnen lauschte sie immer noch auf das Grollen hinter sich. Was war nur mit ihr los? War ihr Geist so überanstrengt, dass er sich mit ganz anderen Dingen wie Gefahren oder dem Problem, hier fortzukommen, beschäftigte? Sie führte sich ja auf wie ein albernes Mädchen, so besorgt war sie um sein Wohl!
Althea rief sich streng zur Ordnung. Sie musste so schnell wie möglich zurück in ihre Welt, wer weiß, wie viel Zeit dort drüben schon vergangen war. Tage, vielleicht sogar Wochen. Was das für Noemi bedeuten musste.. Noemi.. Da hatte die Wirklichkeit sie mit einem Mal wieder, und die Angst um ihre Freundin wollte mit Macht über sie hereinbrechen. Wie sollte sie das Tor allein in diesem Dickicht finden? Um ihrer Herr zu werden, zwang sie sich, an den nächsten Schritt zu denken. Sie musste sich orientieren, sie brauchte einen hohen Baum.
Bald hatte sie einen gefunden, aber es half ihr nicht. Sie entdeckte, dass der Wald ganz anders aussah als zuvor. Sie konnte den Palast in der Ferne sehen, und zusammen mit dem Meer der Seelen auch die ungefähre Richtung des Felsens bestimmen. Nur, dass dort kein Felsen mehr war. Althea durchfuhr ein eiskalter Schrecken, und sie achtete einen winzigen Moment nicht darauf, ihre Gefühle in ihrem Innern zu verbergen. Sofort wurde hinter ihr das Summen der Wächter laut, sie sah die Wolke hochschießen und in ihre Richtung kommen. Althea schrie auf, ließ sich einfach fallen und fing den Sturz zu Boden mit ihren Gedanken ab. Es funktioniert wirklich, dachte sie und machte sich davon. Als die Wächter bei dem Baum ankamen, war sie schon weit fort.
Es begann eine zermürbende Suche für sie. Sie lief und lief und lief, kletterte auf Bäume, hielt Ausschau, aber nichts erinnerte sie an den Felsen, auch als sie sich in etwa dort befand, wo sie ihrer Meinung nach das letzte Mal hergekommen war. Veränderte sich der Wald etwa? War er lebendig? Daran mochte sie nicht denken. In der Ferne hörte sie immer wieder die Wächter und die anderen Wesen. Sie suchten nach ihr. So langsam begann sich Panik in ihr breitzumachen. Sie verbrauchte viel Kraft, um diese Gefühle unterdrückt zu halten. Es war derart anstrengend, dass sie schließlich innehalten und sich ausruhen musste, sonst wäre ihr Schutz einfach zu Staub zerstoben.
Althea legte sich unter einen dichten Busch, dessen Blätterwerk sie vor Blicken von oben schützte, und schloss die Augen. ›Oh Noemi‹, dachte sie. Was musste sie sich um sie sorgen! Je länger sie hierblieb, desto schlimmer wurde es. Um etwas von Noemis Ruhe in sich aufkommen zu lassen, versuchte sie, ihr Bild in sich entstehen zu lassen. Es war schwer, ihre Gedanken waren bis zum Bersten mit anderen, fremden Dingen gefüllt. Doch kaum hatte sie ihre Freundin gefunden, spürte sie, wie etwas anderes an ihr zog. Noemi verschwand, und stattdessen tat sich an ihrer Stelle ein Tunnel auf. Es war keine Kälte, und es kam aus ihrer Welt, nicht aus dieser. Es war jemand, der ihr näher stand als alle anderen. ›Phelan!‹, dachte sie tief in sich drinnen, und schon wurde sie unvermittelt fortgezogen.
Althea schwebte. Auf und ab, immer wieder auf und ab. Als ihre Füße den Boden berührten, erkannte sie Wellen, riesige, kalte Wellen. Sie empfand keine Furcht vor ihnen, wusste sie doch, dass sie nicht versinken konnte. Aber was sollte sie hier? Suchend sah sie sich um. Da erblickte sie einen dunklen Schatten in all dem Grau. Mit jeder Welle schoss er aus dem Wasser, fiel zurück, immer und immer wieder.
Zunächst schien dieses dunkle Etwas nur ein längliches Ding mit einer undeutlichen, helleren Fläche darum herum zu sein, das auf dem Wasser schwamm. Doch dann schoss es mit einer besonders hohen Welle empor und fiel dicht neben ihr zurück ins Wasser. Sie erkannte einen Stamm, und an ihm hing.. ›Phelan? Oh nein, Phelan!‹ Fast hätte sie ihn nicht erkannt, so schrecklich sah er aus, totenbleich und völlig abgemagert und zerschunden. Sie wollte zu ihm, ihn schütteln, griff aber ins Leere. Also rief sie ihn, immer wieder und flehte, dass sie nicht zu spät kam.
Schon nach den ersten paar Rufen spürte sie, wie sich sein Geist zu rühren begann. ›Phelan, komm schon, wach auf! Mach die Augen auf! Hilf mir! Bitte, du musst mir helfen!‹
Seine Lider flatterten. Er war bereits schwach, sehr schwach. Sie merkte es und machte ihm Mut. Doch bevor er es schaffte, richtig wachzuwerden, zerrte sie etwas zurück. Sie spürte Schmerzen, körperliche Schmerzen. ›Phelan.. aahhh!‹ Althea konnte sich nicht mehr halten und kehrte zurück in die Welt der Feen.
Etwas hatte sie fest umschlungen. Sie spürte, wie es arbeitete, wie es versuchte, immer mehr von ihr zu umschlingen, wie es suchte und schmatzte. Es brannte wie Feuer auf ihrer Haut. Althea bäumte sich auf und schlug wild um sich. Sie trat dieses Ding, das fauchend zurückfuhr, und brachte sich blind in sichere Entfernung. Nur langsam klärte sich ihr Blick. Es war der dicke Arm einer Schlingpflanze, nicht nur einer, sondern Dutzende umlagerten den Busch, unter dem sie gelegen hatte. Hatte Ti’Anan nicht gesagt, dass hier gefährliche Wesen hausten? Althea nahm die Beine in die Hand, keinen Augenblick zu früh. Hinter ihr stoben die Blätter durch die Luft, als die Ranken auf die Stelle einpeitschten, wo sie eben noch gestanden hatte. Sie rannte und rannte und rannte, schneller als jemals zuvor in ihrem Leben.
Doch plötzlich brach sie geschwächt in die Knie. Keuchend sah sie auf ihre Haut und ihre zerfetzte Kleidung herab. Überall trug sie schwarzrote Brandwunden, und sie spürte, wie irgendein Gift dabei war, seine lähmende Wirkung in ihrem Körper zu entfalten. Schon verschwamm ihr Blick, und sie hatte Mühe zu atmen.
Althea sah sich vor eine furchtbare Wahl gestellt. Holte sie ihr Licht, würden die Wächter das spüren, ließ sie es bleiben, wäre das ihr sicherer Tod. Die Not ließ sie die weniger schlimmere Alternative wählen. Sie holte ihr Licht und drängte das Gift mit aller Macht aus sich heraus, so schnell sie konnte. Es tat scheußlich weh, aber sie betäubte nicht auch noch den Schmerz mit ihrem Licht, dafür blieb ihr keine Zeit, denn in der Ferne wurde das Summen laut. Sie zögerte nicht. Kaum war der letzte Tropfen Gift aus ihr heraus, verschloss sie das Licht tief in ihrem Innern, sprang einige Schritte vorwärts und schlug sich tief in ein dichtes Gebüsch und verbarg sich.
Da hörte sie auch schon die Wächter in der Luft. ›Wo issst sssie? Wirrr müsssen sssie finden und zurrrückbrrringen. Sssie musss dienen dem König!‹
Althea machte sich ganz klein, versuchte sich äußerlich wie innerlich zu verbergen. Immer größere Kreise zog der Wächterpulk, einmal waren sie direkt über ihr, aber sie entdeckten sie nicht, so gut hatte sie sich verborgen. Sie schloss die Augen und blieb zitternd am Boden hocken. Was sollte sie tun? Konnte ihr denn niemand helfen? Es war doch möglich, eine Verbindung mit ihrer Welt herzustellen. Aber wen sollte sie zu Hilfe rufen? Es fiel ihr zunehmend schwer, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Daher verließ sie sich auf ihr Gefühl, rief sich immer wieder die Abbilder der Leute ins Gedächtnis, die sie mit ihrem Licht berührt hatte. Aber es half nicht. Allenfalls auf ein schwaches Echo stieß sie, so, als hätte sie ihnen eine Botschaft über weite Entfernungen geschickt. Sie barg den Kopf in ihren Händen. Was sollte sie nur tun?
Verzweifelt zog sie sich immer weiter in sich zurück und blieb sehr lange dort mit geschlossenen Augen hocken. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, da spürte sie auf einmal, dass sie nicht mehr allein war. Sie schrak zusammen, und in Erwartung des Wächterpulks oder einer anderen schrecklichen Kreatur schlug sie die Augen auf und machte sich bereit. Doch nichts dergleichen erschien. Vielmehr schien etwas nach ihr zu rufen.
›Thea?‹
Althea wagte es, ihren Geist ein wenig zu öffnen und den Ruf zu erwidern. Sie konnte nicht einmal sagen, was dort auf sie zukam. Es war, als entstünde das Bild in ihrem Innern. Ein kleines Licht schwebte durch das Dickicht auf sie zu, durchdrang einfach Blätter und Baumstämme und verharrte vor ihr. ›Wer bist du?‹, fragte sie.
›Ich bin es, Currann. Was ist dir geschehen?‹
Sie konnte und wollte ihm nicht antworten. Alles in ihr flehte nach Hilfe. ›Oh Currann, bitte, du musst mir helfen! Ich finde nicht zurück. Du musst mich führen. Bitte, beeile dich, sie werden mich sonst finden!‹ Sie streckte die Arme nach ihm aus und versuchte, ihn mit ihren Händen zu umfassen.
Sofort merkte sie, wie sich seine Stärke auf sie übertrug. ›Komm zu mir. Ich weiß nicht, ob ich das kann, ich werde es versuchen. Aber Althea, ich brauche auch deine Hilfe. Ich brauche dein Licht. Hilf mir, mein Sohn ist sehr krank.‹
›Dein Sohn?‹ Althea starrte ungläubig auf das Licht. Für einen Moment vergaß sie ihre Furcht und Erschöpfung. Nach dem ersten Unglauben breitete Freude sich in ihr aus, eine tiefe, warme Freude. ›Currann lebt, es geht ihm gut, und er hat eine Familie gegründet!‹, jubelte es in ihr. Es gab ihr Kraft und Mut. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. ›Ich kann mein Licht hier nicht holen, dann wissen sie gleich, wo sie mich finden, und alles ist zu spät. Nein, du musst mich mitnehmen und zurückführen. Erst wenn du mich loslässt, kann ich versuchen, dir etwas von meinem Licht mitzugeben. Bitte, Currann, du musst mir helfen!‹
Plötzlich hörte sie das Summen der Wächter in der Luft. Sie hatten ihre lautlosen Worte gehört! In Althea stieg Panik auf, und auch das Licht hüpfte vor Schreck auf und ab. ›Wie?‹, rief Currann.
›Denk an ihn, denk an deinen Sohn. Du musst zu ihm zurück wollen, schnell!!‹, schrie sie und machte sich bereit. Sofort spürte sie, wie sie emporgezogen wurde, und verstärkte es mit ihrem Licht, ließ ihn aber die Richtung bestimmen. Sie wurde von der Wirkung völlig überrascht. Sie schossen förmlich aus dem Wald hervor, hoch hinaus in die Luft und fort von dem Wächterpulk, der sofort seine Richtung änderte und hinter ihnen herkam.
›Beeil dich, schneller!‹, rief sie und verstärkte noch einmal ihr Licht, denn sie spürte, wie die Wächter aufholten. Rasend schnell wurden sie, und wäre nicht die Bedrohung gewesen, sie hätte es sogar genossen. Sie spürte, wie auch er vorwärtsstrebte, und sah, wie vor seinem inneren Auge das Abbild eines kleinen pausbäckigen, fiebrig aussehenden Jungen entstand. Es verdoppelte noch einmal ihre Kräfte. Dann sah sie eine Felsengruppe aus dem Wald aufragen, und endlich, endlich entdeckte sie auch wieder den Felsen ihres Tores.
›Ja, das ist es!‹ Sie stieß einen lauten Triumphschrei aus und übernahm kurzzeitig die Führung. All ihre Kräfte sammelte sie, und als sie direkt über ihrem Felsen waren, formte sie ihr Licht zu einem Ball, jagte es in ihre Hände und stieß Currann von sich. Es war so viel, dass sie es nicht mehr schaffte, ihren Sturz mit ihren Gedanken abzufangen. Hart schlug sie auf dem Boden auf, spürte, dass etwas in ihr brach, Knochen oder Sehnen. Sie war nicht mehr in der Lage, Schmerzen zu fühlen, die Kräfte zehrende Zeit in dieser fremden Welt forderte jetzt endgültig ihren Tribut. Im selben Augenblick wurde es dunkel über ihr.
Althea rollte herum und sah sie auf sich zuschießen, allen voran der kleine Wächter, den sie in ihrem Licht gebadet hatte. Sie schrie auf vor Angst, sie könnten sie im letzten Moment noch an der Flucht hindern. Es kostete sie ihre letzte Kraft, die Hand zu heben, diese auf das Tor zu legen und sich hindurchzurollen. Auf der anderen Seite taumelte sie, so schnell sie konnte, vom Tor fort. Am Rande der Höhle fiel sie hart auf den Boden.
Althea blinzelte erschöpft, und eine unendliche Erleichterung überkam sie. Das Tor erzitterte unter den wütenden Schlägen der Wächter, die trotz allem versuchten, hinter ihr herzukommen. ›Ich habe es geschafft!‹, dachte sie und: ›Currann hat einen Sohn! Er wird gesund werden, er muss einfach!‹ Nichts wünschte sie sich sehnlicher als das.
Doch es sollte ihr nicht vergönnt sein, auch nur kurz zu ruhen. Plötzlich traf sie ein kleiner Stein von oben. Die Höhle erzitterte, wohl unter dem immer stärker werdenden Schlägen der Wächter auf der anderen Seite des Tores. Überall begann es zu bröckeln und zu poltern.
›Oh nein, die Höhle stürzt ein!‹ Althea wollte aufspringen und schrie schmerzgepeinigt auf. Da erst wurde sie gewahr, dass ihre Beine in einem ganz merkwürdigen Winkel auf dem Boden lagen. Sie waren gebrochen! Es blieb ihr nichts weiter übrig, als sich mit beiden Armen vorwärtszuziehen, fort von den immer mehr herabstürzenden Felsbrocken. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Schmerzen gehabt, denn ihr Licht, das vermochte sie nicht mehr zu holen. Mit allerletzter Kraft schleppte sie sich nach draußen und fand sich mit dem Gesicht nach unten in kaltem Schnee wieder.
›Warum liegt denn Schnee?‹, dachte sie noch, und dann traf sie etwas, das sich anfühlte, als würde ihr Körper auseinandergerissen. ›Hilfe!!‹, konnte sie nur noch in Gedanken rufen, und dann schoss der Schmerz durch jede Faser ihres Körpers.
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