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Kapitel 2

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Nador

Dritter Winter nach der Flucht

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Nadim hatte beschlossen, dass es an der Zeit war zu sterben. Nichts konnte ihn mehr davon abbringen, auch jetzt nicht, als er verdeckt unter einem langen, grauen Umhang seinem eigenen Trauerzug zusah und ihm das verweinte Gesicht seiner Tochter fast das Herz brach. Es war Winter in Nador, ein harter, strenger Winter, und das Fieber ging um wie noch nie zuvor. Seine Frau war eine der Ersten gewesen, die sich damit angesteckt hatte, zusammen mit seiner Schwägerin. Warum mussten die beiden auch ständig durch die neuen Armenquartiere ziehen und Almosen verteilen, gerade seine Frau, die seit jeher kränklich gewesen war? Während seine Schwägerin sich wieder auf dem Wege der Besserung befand, war es mit ihr stetig bergab gegangen, und bald hatten selbst die Mönche keine Hoffnung mehr gehabt.

Es war für Nadim der Abschluss zweier unendlich langer, quälender Jahre gewesen. Eingeschränkt durch die neuen Bestimmungen für den Handel und alle Reisenden, hatte er seinen Verpflichtungen gegenüber Bajan nicht mehr nachkommen können, zu groß war die Gefahr gewesen, sich zu verraten. Also war er notgedrungen zu Hause geblieben, war im Handelshaus seines Bruders untergekrochen, allen auf die Nerven gefallen und hatte versucht, einigermaßen mit seiner Frau auszukommen. Liebe hatte es zwischen ihnen wie in vielen arrangierten Ehen nie gegeben, aber er hätte nie gedacht, dass sie sich derartig entzweien könnten. Sie entwickelten geradezu einen Hass aufeinander, etwas, dem er die Jahre zuvor durch seine Zeit im Busch Nadors und seine vielen Reisen entgangen war.

Nun eröffnete ihm der Tod seiner Frau eine völlig neue Möglichkeit. Er hatte seinen Bruder gebeten, ihn sterben zu lassen, offiziell und vor aller Augen. Der zeigte sich zunächst entsetzt, aber dann erkannte er, welche Möglichkeiten ein unabhängiger und durch die Tempelwache unentdeckter Nadim ihm bot. Unter größtmöglicher Beachtung der Bevölkerung, selbst die Fürstenfamilie war anwesend, wurden Nadim und seine Frau zu Grabe getragen. Er war erleichtert, endlich ziehen zu können.

Nur der Anblick seiner Tochter schnürte ihm die Kehle zu. Sie war elf Jahre alt, bald alt genug, um zu verstehen, was Nadim beabsichtigte. Wenn es soweit war, würde sie ihm nicht gram sein, dessen war er sicher. Aber dennoch, sie war sein kleines Mädchen, das jetzt seinen Trost brauchte, und er konnte ihr diesen nicht geben.

Voller Trauer und mit schlechtem Gewissen wandte er sich ab und drängte sich durch die wartende Menge. Hinter einer Mauer nahm er den bereitgestellten Tragekorb auf und reihte sich in den unendlichen Strom der Lastenträger ein, welche in Nador zum alltäglichen Bild gehörten. Vor der Stadt angekommen, verbarg er sich in einem Verschlag im Lager seines Bruders, bis es dunkel war.

Alles war dort, wie sie es besprochen hatten: Sein Pferd, Proviant und nicht zu vergessen sein Ferriumschwert, das Bajan ihm bei ihrer Flucht überlassen hatte. Er hatte es die letzten zwei Jahre gut verborgen. Nun zog er es langsam heraus. Es hatte schon einige Gebrauchsspuren von den vielen Kämpfen davongetragen, von denen derjenige mit Altheas Großvater der heftigste gewesen war. Leider hatte er es versäumt, den alten Räuber nach der Behandlung dieser Scharten zu fragen. Das würde er selbst herausfinden müssen.

Behutsam steckte Nadim es wieder weg und machte es sich bequem. Er sann darüber nach, was er nun alles in Angriff nehmen musste. Bisher hatte er allenfalls sporadisch Verbindung zu seinen Leuten im Busch aufgenommen. Auf gar keinen Fall hatte er sich mit ihnen treffen können. Nur unter größter Vorsicht hatten sie es gewagt, so etwas wie ein Netzwerk aufzubauen, dafür war die Gefahr, enttarnt zu werden, viel zu groß.

Das würde er zuerst in Angriff nehmen und als allererstes die Hirten auf seine Seite ziehen. Sie waren äußerst wütend auf die Mönche, denn der freie Handel mit Temora war ihre größte Einnahmequelle gewesen. Jetzt nagten sie am Hungertuch und waren nicht gewillt, dies einfach so hinzunehmen. Sie schmuggelten, unter großen Gefahren und mit allem, was nur ging, und diese Verbindungen wollte auch Nadim für sich nutzen. Die Hirten hatten seine Männer schon vorher mit Neuigkeiten über alle Bewegungen der Tempelleute versorgt. Dadurch war es ihnen gelungen, eine ganze Reihe Gefangener aus den Klauen der Tempelwache zu befreien. Sie lebten nun versteckt im Busch Nadors, an wechselnden geheimen Orten, wo es kaum einen Pfad geschweige denn eine Versorgung gab.

Aber auch Nadim war sehr erfinderisch darin geworden, an Neuigkeiten heranzukommen. Er wusste genau, wem er trauen konnte und wem nicht, mit wem er ein kleines Gelage abhalten musste, bis er gesprächig wurde, oder wer unter den Mönchen litt. Sein Bruder jedoch war die beste Quelle von allen. Er war eine Scheinallianz mit den Mönchen eingegangen und lieferte ihm genügend Neuigkeiten, dass er über alles im Bilde war.

Eine Nacht später stand Nadim mitten im Busch und fand seine Hütte gut verborgen und vor allem unberührt vor. Er wurde bereits erwartet. Alle drei Kundschafter waren da. Sie hatten nicht viel Zeit, sie mussten am Morgen wieder zurück sein und ihren normalen Alltagsgeschäften nachgehen. Seine Erleichterung gut verbergend, machte sich Nadim daran, endlich wieder mit ihnen Pläne zu schmieden.


Einige Wochen später lag er im tiefen Schnee verborgen auf der Lauer. Er hatte von seinen Leuten erfahren, dass sich eine Gruppe Fremder im Busch aufhielt. Bei dem Wort Fremder musste er nun doch grinsen. Er kannte die ganze Bande, es war eine Gruppe Jungen, alles Söhne bedeutender Handelsherren, und auch der Sohn des Fürsten war darunter. Zuerst dachte er, dass sie auf Jagd gehen wollten, aber dazu hätten sie ihre Pferde am Rande des Busches stehen lassen und zu Fuß weiter pirschen müssen, anstatt laut jubelnd durch den Busch zu sprengen, übermütig wie junge Hunde. Es kam ihnen wohl mehr auf das Vergnügen an, endlich einmal wieder hinauszukommen.

Er konnte es verstehen. Seit diesem merkwürdigen ›Unfall‹, der den jungen Tavar fast das Leben gekostet hatte, wurden sie alle streng bewacht, sein Bruder tat es mit seinen Söhnen und Töchtern auch nicht anders. Kein Wunder, dass sie sich manchmal regelrecht eingesperrt vorkamen, dachte Nadim, während er beobachtete, wie die übermütige Jagd in eine wilde Schneeballschlacht ausartete. Selbst jetzt ritten zwei bewaffnete Leibwächter des Fürsten hinter den Jungen her und ließen sie nicht aus den Augen.

Nadim zog sich zurück. Er konnte sie getrost ziehen lassen, es bestand wohl keine Gefahr, dass sie weiter in den Busch eindrangen und dort auf ihre geheimen Pfade stießen. Genauso lautlos, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder.

Er war noch nicht weit gelaufen, da bekam er Gesellschaft. Nichts war zu sehen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass jemand in der Nähe war, jemand mit einem nassen, fürchterlich stinkenden Hund. »Du kannst rauskommen, ich weiß, dass du hier steckst. Deine Töle riecht man hundert Schritte gegen den Wind!«, sagte er leise und scheinbar an einen Busch gerichtet.

Gleich darauf schälte sich eine Gestalt aus dem Schneeweiß. Wie Nadim auch trug sie einen Umhang aus grau-weißen Fellen, eine perfekte Tarnung, kaum auszumachen in dem dichten Buschwerk. »Dir kann ich nichts vormachen«, grinste der alte Mann durch sein lückenhaftes Gebiss.

»Das liegt an deinem Hund. Wo steckt er?« Niemals nannten sie sich beim Namen, denn ihre Leute sollten sich untereinander möglichst wenig kennen, falls man sie erwischte.

»Angebunden«, antwortete der andere.

»Haben wir einen Besucher?« Sofort war Nadim alarmiert. Der alte Mann nickte nur mit dem Kopf in Richtung der entfernt lärmenden Jungen. Er führte Nadim in einem weiten Bogen wieder auf die Gruppe zu. Nicht weit entfernt stießen sie auf die Spuren eines einzelnen Pferdes.

»Da vorne!«, formte Nadims Begleiter mit seinen Lippen lautlose Worte. Nadim kniff die Augen zusammen und änderte noch ein wenig seine Haltung, um gegen das gleißende Weiß etwas erkennen zu können. Da sah er sie. Eine dunkle Gestalt in einem langen, schwarzen Umhang, regungslos zwischen einigen Felsen stehend.

»Er ist nicht gekennzeichnet«, wisperte der alte Mann und zog sich lautlos zurück. Gleich darauf war Nadim allein. Dies war eine stille Übereinkunft mit den Hirten: Sie spähten für ihn aus, aber kämpfen taten sie nicht.

Nadim schlich sich weiter an den Unbekannten heran, die Hand an dem Knauf seines Schwertes. War dies ein Mitglied der schwarzen Garde, jener finsterer Gesellen, welche für die Mönche die Drecksarbeit übernahmen, Leute töteten oder als Geiseln nahmen? Nadim hatte noch nie einen zu Gesicht bekommen, zählte man ihre Gegner bei Bajans Flucht nicht dazu, und der Name stammte von seinen Leuten im Busch. Offiziell existierte eine solche Garde nicht, und dennoch, er war sicher, es gab diese Männer. Seine Vermutung wurde in dem Moment bestätigt, als der Mann seinen Umhang ablegte und darunter die Winterkleidung eines nadorianischen Wachsoldaten zum Vorschein kam.

Nadim steckte sein Schwert wieder fort. Jetzt wollte er erst einmal sehen, was der Unbekannte vorhatte. Der Mann schwang sich auf sein Pferd, nachdem er den Umhang sorgfältig in seinem Bündel verborgen hatte, und wartete, bis die Jungen und ihre Begleiter näher kamen. Dann hieb er seinem Tier die Hacken in die Flanken und ritt laut rufend auf sie zu. Nadim musste sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Zum Glück machten es ihm die Spuren seines Vorgängers leichter, in dem tiefen Schnee rasch vorwärtszukommen. Gerade noch hörte er die letzten Worte des Mannes:

»..Mühe Euch zu finden. Tavar, Euer Vater möchte, dass Ihr sofort nach Hause kommt.«

»Was ist passiert?«, rief der Sohn des Fürsten.

Nadim ging in einem Busch in Deckung. Was hatte der Fremde vor? Die Worte wehten zu ihm herüber: »..hat er nicht gesagt, nur dass Ihr..«

»Ihr könnte ja noch bleiben, ich reite allein zurück«, hörte er Tavar über die enttäuschten Rufe der anderen hinweg sagen.

›Törichter Junge!‹, dachte Nadim, und das fanden offenbar auch seine Wachen. »Kommt nicht infrage«, widersprach einer von ihnen, »ich begleite Euch.« Nadim kannte den Mann, er war der Dienstälteste unter den Leibwächtern des Fürsten, ein erfahrener Kämpfer.

Die Jungen sahen Tavar fragend an, dann zuckten sie mit den Schultern. »Na schön, reiten wir!« Laut lärmend preschten sie davon, den anderen Wachmann im Gefolge. Tavar sah ihnen missmutig hinterher.

»Wollen wir?« Der Bote machte eine auffordernde Geste. Nadim hatte sich längst entschieden, statt seines Schwertes den Bogen zu nehmen. Alles wäre zu spät, ritten sie rasch fort, denn dann käme er nicht schnell genug hinterher. Andererseits – Nadim nickte finster, als er den Boten absitzen und scheinbar nach den Fesseln seines Pferdes sehen sah – musste ihr Feind, wenn überhaupt, hier im tiefen Busch zuschlagen, sonst war die Gefahr, gesehen zu werden, viel zu groß.

Die beiden anderen, der Junge und der alte Kämpfer, wandten sich fragend zu dem Boten um. »Ich komme schon. Ich dachte, meine Stute lahmt, aber es ist nichts«, rief er.

Nadim hatte sich indes ein ganzes Stück um sie herum bewegt, sodass sie jetzt schräg auf ihn zuritten. ›Wende ihm nicht den Rücken zu!‹, rief er in Gedanken dem alten Soldaten zu, aber es war zu spät. Der alte Mann wandte den Kopf, nickte Tavar zu, und sie wendeten ihre Pferde. Im selben Moment schlug der Verräter zu. Einzig der Instinkt für Gefahr, der alle guten Kämpfer auszeichnete, bewahrte den Wachmann davor, sofort zu sterben. Er warf sich zur Seite, das Schwert seines Angreifers streifte ihn nur, aber dennoch genug, um ihn röchelnd vom Pferd fallen zu lassen. Tavar fuhr herum, doch bevor er auch nur einen Laut hervorbringen konnte, hatte der Angreifer sich auf ihn geworfen und ihn zu Boden gerissen. Eine Handvoll Schnee erstickte den Aufschrei des Jungen im Keim.

Nadim schätzte im Augenblick eines Wimpernschlages seine Aussichten ein. Die Schnelligkeit, in der das Ganze vonstatten gegangen war, sagte ihm, dass der Mann ein ernst zu nehmender Gegner war. Das könnte haarig werden.

»Lieg still, Junge, oder ich mache dir gleich ein Ende, anstatt dich auf einen kleinen Ausflug mitzunehmen!« Der Angreifer drehte Tavar brutal herum und fesselte ihn.

Nadim überlegte nicht mehr, er spannte seinen Bogen und schoss. Er wusste genau, welche Schwachstellen die nadorianische Rüstung hatte. Der Verräter ächzte leise und brach tot auf dem Jungen zusammen. Nadim rannte zu ihm herüber. Es galt keine Zeit zu verlieren, bevor der Junge ihn erkannte oder schrie und dadurch die anderen zurückholte.

Doch es war zu spät. Wer auch immer Tavar unterrichtete, er war trotz seiner gefesselten Hände so schnell auf den Füßen, dass Nadim es nicht mehr schaffte, ihn niederzuhalten. Hustend und den Schnee ausspuckend schrak Tavar zurück, als er die Leiche und das viele Blut im weißen Schnee sah, und dann fiel sein Blick auf den heranstürmenden Nadim. »Ihr!«, keuchte er. »Aber Ihr seid doch..« Er wich stolpernd zurück.

Nadim fluchte innerlich. Sein schöner Plan, unerkannt wieder zu verschwinden, war nicht aufgegangen. Blitzschnell musste er alles umwerfen. Er zog sein Schwert und richtete es auf den verschreckten Jungen. »Sei still! Lass mich nachdenken!« Sein Blick schweifte über die Leiche ihres Angreifers zu dem Wachmann, der stöhnend langsam wieder zu sich kam. Er blutete stark, aber seine Verletzungen schienen nicht lebensgefährlich zu sein, falls er nicht im Schnee liegen blieb und erfror.

Der Junge starrte auf das ungewöhnlich glänzende Schwert. »Was.. nehmt mir die Fesseln ab! Ich will..«

Nadim knurrte unwillig und trat Tavar die Beine weg. Ehe dieser es sich versah, lag er wieder auf dem Bauch und bekam von Nadim eine Augenbinde und einen Knebel verpasst. »Hör zu«, zischte der Kundschafter, »du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts, aber ich kann nicht zulassen, dass du hier herumschreist und mich verrätst. Von dem da laufen vielleicht noch mehr in der Nähe herum, und ich habe keine Lust, so zu enden wie dein Wachmann. Also sei ruhig, hast du verstanden?« Von dem Jungen kam ein ersticktes Keuchen und dann ein leichtes, zögerliches Nicken.

Nadim überlegte nicht lange. Die Leiche des Tempelmannes warf er auf Tavars Pferd, den Wachmann hievte er auf dessen eigenes und platzierte ihn so, als hätte der sich mit letzter Kraft darauf geschwungen und festgehalten. Dann trieb er es davon. Mit grimmiger Genugtuung sammelte er das Ferriumschwert des Tempelmannes ein. Wieder eines weniger. Er wusste von Bajan genau, wie viele dieser großartigen Waffen die Tempelwachen besaßen. Sich rasch umsehend, zerrte er Tavar hoch und zog sich samt ihrer Pferde in den Busch zurück. Es würde bald anfangen zu schneien und keine Spuren von ihnen zurückbleiben.

Tavar stolperte blind durch den Schnee. Es kam ihm vor wie der Marsch in die finsterste Dunkelheit. Er wurde durch Büsche gezerrt, Abhänge hinunter gestoßen, irgendwann stank es ganz fürchterlich, und er hört etwas blubbern und schmatzen und dann einen lauten Klatsch, als ob etwas ins Wasser fiel. In seiner Angst vermochte er es nicht zuzuordnen. Er dachte, er sei auf bestem Wege in den Vorhof der Hölle. Unablässig drehten sich die Ereignisse in seinem Kopf. Der Angreifer, der verletzte Wachmann, sein Retter, der sein Feind geworden war.. was war mit dem treuen Wachmann? Und was wollte dieser hier von ihm? Tavar konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, aber an sein Gesicht. Er war tot. War er nicht vor Kurzem samt seiner Frau bestattet worden?

All diese Rätsel schwirrten durch seinen Kopf und steigerten sich zu einer handfesten Panik, sodass er beinahe auf die Knie fiel, als er spürte, wie es einige Stufen hinaufging. Er hörte das typische Knarren und Quietschen einer Tür aus Flechtwerk. ›Bessere Hütte‹, urteilte er sofort, als ihm wohltuende Wärme, aber kein Stallgeruch entgegenschlug. Diese greifbaren Dinge halfen ihm, sich etwas zu beruhigen. Sofort spürte er die Anwesenheit anderer Leute. Schweiß, nasses Fell, scharrende Füße.. er wurde gepackt und unsanft auf einen wackeligen Schemel gedrückt.

»Sie haben uns gesagt, dass du uns einen ungebetenen Gast mitbringst«, sagte jemand.

»Das kannst du wohl laut sagen«, knurrte die Stimme seines Entführers dicht neben seinem Ohr, und dann wurde ihm die Kapuze heruntergerissen. Kalter feuchter Schnee rieselte ihm in den Kragen. Tavar schüttelte sich in der Hoffnung, endlich die Augenbinde und den Knebel loszuwerden, und erstarrte im selben Moment, weil jemand hart seinen Unterkiefer packte und sein Gesicht in das Licht einer Lampe zwang.

»Bei allen Heiligen.. bist du verrückt geworden?! Wie konnte das passieren? Ausgerechnet der Sohn von Tanaar!« Tavar spürte sämtliche Anwesenden dicht an sich heranrücken und versuchte, der Hand zu entkommen. Sogleich spürte er eine harte Faust im Nacken und hielt still.

»Ich hatte keine Wahl. Er hat mich erkannt. Einer von der schwarzen Garde hat ihn überfallen und wollte ihn entführen oder Schlimmeres.«

›Schwarze Garde?‹, dachte Tavar und hörte, wie alle um ihn herum scharf die Luft einzogen, als sein Entführer berichtete, was sich zugetragen hatte.

»Wir müssen schnell handeln. Fürst Tanaar wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis er ihn gefunden hat. Das dürfen wir nicht riskieren.«

»Zurück kann er aber auch nicht«, sagte der Mann, der sein Kinn nun wieder losließ. Tavar duckte sich in schlimmer Erwartung.

»Nein. Wir brauchen eine Leiche.« Tavar schrie gegen seinen Knebel an, als er das hörte. Nur die Faust in seinem Nacken verhinderte, dass er aufsprang. »Doch nicht deine, Junge! Nun nehmt ihm schon die Fesseln ab, der macht sich ja fast ins Hemd. Der Schaden ist eh angerichtet.«

Mit einem unwilligen Knurren wurde Tavar nach vorne gestoßen. Kaltes Metall fuhr an seiner Haut entlang, und jemand nahm ihm die Augenbinde, den Knebel und die Fesseln ab. Blinzelnd und sich die tauben Hände reibend, sah er sich um. Sie waren zu viert. Sein Entführer lehnte mit verschränkten Armen vor ihm an der Wand. Die anderen drei hatten die Kapuzen hochgeschlagen. Sie wollten nicht erkannt werden.

»Und, was schlägst du vor, was wir mit ihm machen?«, fragte der hinter ihm.

»Bei uns aufnehmen?«, schlug derjenige links von ihm vor.

Sein Entführer schnaubte. »Dreimal darfst du raten, wie lange er hier freiwillig bleiben würde. Bevor es ihn zu seinem Papa zurückzieht.« Er beugte sich vor und zwang Tavar, ihm direkt in die Augen zu sehen. Sie schienen in einem unheimlichen, leuchtenden Braun zu glimmen. »Weil er glaubt, du seiest tot, und du ihn beruhigen willst! Im Handumdrehen hätte er alles über uns aus dir herausgeholt!«

Tavar fuhr kopfschüttelnd zurück und wurde nicht nur von einer Hand gepackt. »Versuch nicht, uns zu täuschen, Junge«, zischte es hinter ihm. »Ganz Nador weiß, wie wenig du dich gegen deinen Vater behaupten kannst und..«

»Lasst ihn!« Der Mann, der auch dafür gesorgt hatte, dass ihm die Fesseln abgenommen wurden, griff ein. »Mit vierzehn hast du vor deinem Vater geflennt wie ein kleiner Junge, als er dir eine Tracht Prügel verpasste! Ihr habt euch alle nicht besser durchsetzen können wie er, aber das ändert nicht unser Problem.«

»Ich bin fünfzehn..«, krächzte Tavar schwach.

»Na und? Ein Grünschnabel, nicht geeignet, bei uns zu bleiben. Du würdest uns verraten, vielleicht unabsichtlich, aber du würdest es tun. Nein, wir können dich nicht laufen lassen, aber hier behalten können wir dich auch nicht.«

»Ich sage euch ja, wir brauchen eine Leiche..«

»WER seid Ihr?!«, schrie Tavar auf und barg seinen Kopf schützend zwischen den Armen, als wollten sie ihn gleich abschlagen. Seine Nerven gingen mit ihm durch. Bleich vor Furcht sprang er auf, er wollte zurückweichen und prallte gegen einen der Männer.

Sie schwiegen, sahen sich an, überlegten. »Also gut. Setz dich, Junge. Du hast nichts von uns zu befürchten.« Die Faust, die ihn wieder auf den Schemel drückte, sprach eine ganz andere Sprache. Tavar hatte keine Wahl, aber er erlebte eine Überraschung. Anstatt ihn wieder zu fesseln, kniete sich sein Entführer vor ihm nieder und begann mit geübten Bewegungen, seinen Armschutz herunterzustreifen, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Tavar erwiderte den Blick unsicher. Er schluckte.

»Sieh her!« Der Mann streckte ihm die Unterseite seines Handgelenkes hin. »Sagt dir dies hier etwas?«

Tavar sah zunächst gar nichts, so verschwommen war sein Blick. Der Mann rückte sein Handgelenk näher, und Tavar entdeckte ein kleines, dunkles Mal. Er beugte sich vor. »Das.. ist das eine Blume?«

»Sieh genauer hin.«

Jemand reichte ihm ein Licht herüber, und jetzt erkannte er es sofort. »Das ist die Rose der Königin!«, rief er aus und riss den Kopf hoch. Aus weiten Augen starrte er die Männer an. »Ihr seid Bajans Männer!«

»Sieh an, dumm bist du nicht«, erwiderte sein Entführer und stand auf. »Was glaubst du, wird dein Vater tun, wenn sein Leibwächter verletzt und ohne dich zurückkehrt?«

Tavar schluckte. »Er.. er wird mich suchen. Sofort und mit allen Mitteln. Ihr könnt mich nicht hierbehalten. Lasst mich gehen!« Mildes, verächtliches Lächeln antwortete auf seine Forderung.

Sein Entführer begann, unruhig auf und ab zu laufen. Schließlich wandte er sich um. »Weißt du, Junge, wer das dort draußen war? Der Mann, der dich töten wollte?«

Tavar schüttelte den Kopf. »Ihr sagtet, die schwarze Garde.. wer ist das? Was habt Ihr mit ihm gemacht?«

»In den Sumpf geworfen!«, winkte der Mann ab. »Als die schwarze Garde bezeichnen wir die Leute, welche die Drecksarbeit für die Mönche erledigen. Oder für unsere neue Königin, such dir etwas aus.«

»Alia!« Tavar sprang auf. »Vater sagt, sie steckt hinter alldem, was mir schon passiert ist.«

»Und du kannst sicher sein, wenn du weiter so unvorsichtig bist, wird sie dich kriegen, tot oder lebendig, wobei ich dir eher Ersteres wünsche als Letzteres«, schnitt ihm sein Entführer scharf das Wort ab. Tavar klappte seinen Mund wieder zu. »Nein, wir stecken in der Klemme. Haben wir denn eine Leiche?«, fragte er den Mann, der das bereits zweimal vorgeschlagen hatte.

»Ein Junge, der Waisenjunge, ist gestern Nacht an Fieber gestorben. Es könnte klappen, er ist ja recht mager so, wie er. Wenn wir sein Pferd in der Nähe anbinden.. hast du etwas, woran deine Leute dich einwandfrei erkennen können? Ein Muttermahl oder eine Narbe oder so etwas?«

Tavar zuckte zusammen. Er erhielt einen Stoß. »Ich.. ich habe eine Narbe, hier am Handgelenk. Als kleiner Junge habe ich mich dort geschnitten. Was habt Ihr vor?«

Seine Frage wurde ignoriert. »Und trägst du etwas bei dir, was alle als dein Eigentum kennen?«

Zögernd legte der Junge seinen Schwertgurt ab und förderte nach einem weiteren auffordernden Stoß ein goldenes Amulett unter seiner Tunika zutage. »Das habe ich von Mutter geschenkt bekommen. Bitte, sagt mir doch, was habt Ihr vor?«, flehte er in schlimmer Erwartung.

Ohne Weiteres wurden ihm die Gegenstände abgenommen, und einer der Männer wickelte sie in ein Tuch und verließ die Hütte. »Du wirst heute Nacht genauso sterben wie ich«, sagte sein Entführer.

Tavar sah ihn an, dachte über seine Worte nach, und dann hatte er es: »Ihr seid Nadim! Der Bruder von..«

»Schweig!«, fuhr ihm Nadim über den Mund. »Erste Regel: Niemand erfährt etwas von den anderen, denn dann kannst du den Feinden nichts verraten, wenn sie dich gefangen nehmen. Verstanden?« Tavar nickte furchtsam.

»Keine Sorge«, sagte der andere Mann, der ihm geholfen hatte, »dein Vater erhält eine Botschaft von uns, dass du in Sicherheit bist. Er soll dich suchen und deine Leiche finden und in aller Öffentlichkeit trauern. Dann bist du aus dem Weg, und Alia hat ihr Ziel verfehlt. Hast du das verstanden?«

»Jaahh«, krächzte Tavar, den Blick immer noch auf Nadim gerichtet. Der Mann war ihm nicht geheuer, er schien geradezu wütend auf ihn zu sein. Irgendwie spürte Tavar, dass er einen furchtbaren Fehler begangen hatte, aber er wusste nicht, warum. »Was.. was werdet Ihr jetzt mit mir tun?«

Die beiden anderen sahen Nadim fragend an, der wieder seinen Marsch aufgenommen hatte. Sie wussten keine Antwort darauf, und Nadim raufte sich im wahrsten Sinne des Wortes seine nicht mehr existierenden Haare. »Ein schönes Dilemma, Nadim..«

»Ja, verflucht!« Er fuhr herum. »Hör zu, Junge, du siehst doch ein, dass es das Beste für dich ist, aus dem Weg zu sein? Das verschafft deinem Vater mehr Handlungsspielraum.«

Tavar antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an. Nadim seufzte innerlich.

»Aber wo sollen wir mit ihm hin? Die Männer werden ihn kaum aufnehmen wollen, es ist einfach zu riskant«, wandte einer der beiden anderen Männer ein.

»Warum bringt Ihr mich nicht zu meinem Bruder?«, fragte Tavar. »Ihr wisst doch, wo er ist?«

Die Männer verstummten, und derjenige, der ihm vorhin beigestanden hatte, machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Junge..«

»Ihr wisst es doch?«, rief Tavar in zunehmender Verzweiflung. Dieses Schweigen ließ ihn Böses ahnen.

»Junge, wir..«

»Ihr wisst es nicht?!« Tavar starrte entsetzt in die Runde und erntete nur bedauerndes Kopfschütteln.

»Nein, wir wissen es nicht, und um ehrlich zu sein..«

»Was? Bitte, sagt es mir!«

»Um ehrlich zu sein, wir glauben nicht, dass an dem Gerücht, dass der Thronfolger und die Fürstensöhne am Leben sind, etwas dran ist. Es wird nur aufrechterhalten, damit die Leute die Hoffnung nicht verlieren«, fuhr der andere fort. Nadim sagte dazu nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Die anderen durften von Altheas Träumen nichts erfahren.

»Nein!« Tavar wich zurück. »Nein, das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!!«, schrie er und stolperte fort von ihnen. Sie hörten ihn einige Dinge umwerfen und sahen seinen Schatten sich in einer Ecke verkriechen, weil er keinen anderen Ausweg fand.

»Also Nadim, ich weiß nicht..«

»So können wir ihn nicht laufen lassen. Er begeht irgendeine Dummheit, und alles ist zum Teufel. Du wirst ihn bei dir behalten müssen, bis..«

Nadim fluchte lautlos, sah aber ein, dass sie keine Wahl hatten. Er dankte ihnen und blieb allein mit dem Jungen in seiner Hütte zurück. Seufzend zog er sich seinen feuchten Umhang aus und hängte ihn zum Trocknen an die Feuerstelle. Dann holte er sich einen Schluck zu trinken und setzte sich in seinen Lieblingssessel, ein zerfleddertes Ding aus Flechtwerk, das unter seinem Gewicht vernehmlich knarrte.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Schatten seines ungebetenen Gastes. Dieser hatte sich zusammengerollt, und den Geräuschen nach zu urteilen, weinte er vor sich hin. Er trauert, dachte Nadim und fühlte einen leisen Stich des Mitleids. Es tat weh, wenn man Illusionen oder die letzte Hoffnung verlor. Das Mitleid mischte sich mit ein wenig Verachtung. Im Stillen zog er einen Vergleich zu seinem ersten Eindruck von Phelan und Althea. Diese waren wesentlich jünger gewesen als der Junge in seiner Hütte, jedoch ganz anders. Nadim überlegte, woran das gelegen haben mochte. Verantwortung? Selbstständigkeit? Althea und Phelan hatten bereits schmerzhaft lernen müssen, eigene Entscheidungen zu treffen, und sie hatten kämpfen müssen wie Erwachsene. Dieser hier war noch ein Grünschnabel in allem, wie er sich verhielt. Eben ein richtiges Kind. Nadim taten alle drei leid. Was waren das nur für Zeiten, in denen sie nicht normal aufwachsen konnten? Phelan und Althea war eine unbeschwerte Kindheit genommen worden, und diesem hier ließ sein Vater bestimmt nicht genug Raum, um selbstständig zu werden. Einerseits konnte er den Fürsten verstehen, aber war es gut für den Jungen? Während er so nachdachte, konnte Nadim ihm nicht mehr richtig böse sein und ihn verachten. Schließlich hatte der Junge einen halben Tag um sein Leben bangen müssen.

Seufzend stand Nadim auf, nahm sich zwei Schalen und tat ihnen beiden etwas von dem Hammeleintopf auf, der über dem Feuer schmorte. »Hier, du musst hungrig sein.« Er stellte die Schale vor dem Jungen auf den Boden.

Tavar sah hoch und wischte sich hastig die Tränen ab. Ausgelaugt, wie er war, spürte er rein gar nichts, aber als ihm nun der Duft des Essens in die Nase stieg, merkte er doch, wie hungrig er war. Geradezu gierig begann er zu schlingen, als würde Nadim es ihm gleich wieder fortnehmen. Als er fertig war, sah er vorsichtig zu seinem Entführer – oder war es sein Retter? – hinüber. So ganz traute er der Sache noch nicht. Er entdeckte, dass sie allein waren. »Wo sind die anderen hin?«, fragte er vorsichtig.

»Dorthin, wo auch immer sie am Morgen erwartet werden. Das ist der Vorteil, wenn man tot ist. Niemand erwartet einen, man kann kommen und gehen, wann man will«, erklärte Nadim. Er merkte, wie Tavar zu dem Kessel hinüberschielte. »Nimm dir ruhig, es ist genug da.« Das ließ sich Tavar nicht zweimal sagen. Er füllte sich auf und setzte sich auf einen Schemel, den Fremden nicht aus den Augen lassend.

Dessen lässige Haltung täuschte. Keine Bewegung des Jungen entging ihm. »Wenn du jetzt denkst, du kannst einfach davonlaufen, dann täuschst du dich. Ich lasse dich nicht gehen, und außerdem findest du ohne fremde Hilfe niemals hier heraus.«

Geradezu furchtsam zog Tavar die Schultern ein. Konnte der Mann Gedanken lesen?

Von Nadim kam ein heiseres Lachen: »Nichts für ungut, aber in deinem Gesicht kann man lesen wie in einem offenen Buch«, sagte er und nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug. Der Junge wurde nun zu allem Überfluss auch noch rot. Nadim schüttelte nachsichtig den Kopf. Der würde ein hartes Stück Arbeit werden, sollte er sich entschließen, ihn bei sich zu behalten.

»Was.. was habt Ihr mit mir vor? Wollt Ihr mich einsperren?«

»Einsperren? Worin? So ein Blöd.. wie auch immer.« Nadim hielt sich zurück. ›Der Junge hat viel durchgemacht‹, mahnte er sich. »Nein, ich kann dich nicht einsperren. Ich muss dich mitnehmen, und dies passt mir gar nicht, das kannst du mir glauben. Gerade konnte ich mich wieder frei bewegen, und jetzt habe ich dich als Klotz an meinem Bein.«

»Mitnehmen? Wohin?« Tavar richtete sich auf.

Nadim machte eine lässige und, wie er hoffte, beruhigende Handbewegung. »Ich will zuerst nach Gilda. Viel zu lange schon habe ich meine Pflichten vernachlässigt.«

»Eure Pflichten wem gegenüber?«, folgte sofort die nächste Frage.

Nadim merkte, dass der Junge entweder sehr neugierig oder mit einem scharfen Verstand gesegnet war. Wahrscheinlich sogar beides. »Hör zu, es muss dir klar sein, dass du nicht zurück kannst. Sobald dein Vater deine Leiche findet, ist es vorbei. Du solltest uns dankbar sein, dass wir dir eine Möglichkeit gegeben haben, Alia zu entkommen, auch wenn das in deinen Augen vielleicht feige aussieht. Früher oder später hätte sie dich bekommen, so viel ist sicher.« Nadim sah ihn in der Erwartung einer Zustimmung an.

›Ja doch!‹, dachte Tavar unwillig und sagte nichts dazu.

Ungerührt fuhr Nadim fort: »Wir sind alle auf den Thronfolger vereidigt, dessen Flucht Bajan gedeckt hat. Nur wissen wir leider nicht, ob er überlebt hat, aber sein jüngerer Bruder ist mit Bajan entkommen, er lebt bei ihm im Exil. Meine Pflicht ist es, für Bajan die Verbindungen zu halten, ihn mit Neuigkeiten zu versorgen. Das ist leichter gesagt als getan. Die Schließung der Grenze und diese neuen Reisegesetze haben uns gelähmt, was wohl auch Sinn und Zweck der Sache sein sollte.«

Eine Wandlung zeichnete sich im Gesicht des Jungen ab. »Ihr seid Bajans erster Mann in Nador?!«, rief er so erstaunt, dass Nadim lachen musste.

»Der bin ich, schon immer gewesen, und wie es aussieht auch von ganz Morann.«

»Aber.. Ihr seid doch.. ein..« Tavar biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen, bevor ihm ein sehr unschönes Wort herausrutschen konnte.

»Ein Taugenichts?« Nadim lachte noch mehr. »Keine Sorge, ich habe schon schlimmere Beschimpfungen gehört. Es ist die beste Tarnung, die du haben kannst. Niemand denkt sich etwas dabei, wenn du für einige Tage verschwindest, weil alle vermuten, dass du in irgendeinem Hurenhaus versackt bist. Und mit Fremden zu saufen, ist immer noch die beste Methode, sie auszuhorchen. Du bist wirklich noch ein Grünschnabel«, grinste er, als Tavar bis über beide Ohren rot wurde. »Nun, wir werden sehen. Hier, nimm diese.« Er warf Tavar eine alte kratzige Decke zu. »Du kannst dort drüben schlafen.«


Es wurde eine unruhige Nacht. Tavar wälzte sich schlaflos herum, seine Gedanken überschlugen sich. Was sollte er tun? Hierbleiben, quasi als Gefangener? Das wollte er nicht. Zu seinem Vater zurückkehren? Er wollte nicht wahrhaben, was die Männer ihm gesagt hatten. Dass seinem Vater die Hände gebunden waren und dass Alia ihn töten wollte. Und doch wäre es fast passiert. Was sollte er tun?

Auch Nadim fand keinen Schlaf, da er mit halbem Ohr immer darauf lauschte, ob sein unfreiwilliger Gast nicht doch noch einen Fluchtversuch wagte. Aber er tat es nicht. Als der Morgen dämmerte und Nadim aufstand und ihnen etwas zum Frühmahl bereitete, war Tavar wach.

»Ich habe nachgedacht«, sagte er zwischen zwei Bissen. Nadim machte eine auffordernde Handbewegung, schwieg aber. Tavar fasste Mut und beschloss, offen zu sein: »Ich kann nicht ganz glauben, dass Alia mich töten will, aber wenn es besser für meinen Vater ist, wenn ich aus dem Weg bin, dann will ich hier bei Euch bleiben.« Er sah Nadim fragend an.

»Glaubst du denn, dass es besser ist? Diese Frage kannst du dir nur selbst beantworten. Ich kann dir darauf keine Antwort geben.«

Verlegen senkte Tavar seinen Blick auf die Schale hinab und schwieg. Seine Absicht, Nadim dazu zu bewegen, ihm die Entscheidung abzunehmen, war nicht aufgegangen. Er musste sie wirklich selbst treffen, und sie würde sein ganzes weiteres Leben beeinträchtigen. Während er langsam weiter aß, durchdachte er die Alternativen und erkannte, dass er eigentlich keine Wahl hatte. »Ich werde alles tun, um zu erreichen, dass wir wieder ein freies Fürstentum werden. Und ich möchte den Tod meines Bruders rächen!«, sagte er nach einiger Zeit leise. Es waren die zwei gewichtigsten Gründe, die ihm auf der Seele lagen.

Nadim sah seine entschlossene Miene und nickte. Der Junge hatte selbst darauf kommen müssen, alles andere wäre nur halbherzig gewesen. »Gut. Dann werden wir dir zuerst ein anderes Pferd besorgen. Es ist gut, dass sie dein edles Ross gleich mitgenommen haben, man erkennt es allzu leicht. Und dann werden wir unsere Reise vorbereiten. In ein paar Tagen reiten wir los.«

»Mitten im Winter?!«, entfuhr es Tavar, und er biss sich wieder auf die Zunge, weil Nadim mit den Augen rollte.

»Natürlich mitten im Winter! Das ist für einen Kundschafter kein Problem.« Tavar hörte an seinem Ton, dass er nicht länger gewillt war, sich mit seinen Fragen herumzuschlagen, und schwieg.


Tavar sollte sehr schnell herausfinden, dass sein Gastgeber ein eigenbrötlerischer Mensch war, der Gesellschaft nicht gewohnt war und sich eingeengt von seiner Anwesenheit fühlte. Stumm tat er das, was Nadim verlangte, voller Furcht, dass er ihm weiter missfallen und vielleicht doch noch weggesperrt wurde und so niemals erfahren würde, was mit seiner Familie geschehen war.

Diese Sorge war allerdings unbegründet. Einige Nächte später erschien einer der Kundschafter bei ihnen. »In Nador hat der Fürst eine Woche Trauer angeordnet. Deine Totenzeremonie hat bereits stattgefunden.«

»Und Vater?«, entfuhr es Tavar in schlimmer Erwartung. Es war das erste Mal seit Langem, dass er wieder sprach, ging Nadim auf. Er konnte sehen, wie sehr den Jungen diese Neuigkeiten trafen. Einsicht war das eine, aber mit den Folgen konfrontiert zu werden, das andere. Er machte sich bereit, wenn nötig einzugreifen.

»Es ist mir gelungen, ihm noch in der Nacht deines Verschwindens eine Botschaft zukommen zu lassen. Es tut mir leid, schneller ging es nicht. Sie hatten bereits alles alarmiert, was greifbar war, und die nähere Umgebung abgesucht. Deine Mutter ist zusammengebrochen. Sie war bei der Totenzeremonie nicht anwesend.« Tavar sank getroffen auf einen Schemel und spürte sogleich eine feste Hand auf seiner Schulter. »Ich bin sicher, dein Vater wird es ihr sagen, sobald sie sich wieder etwas gefangen hat. Sie muss sich soweit im Griff haben, dass sie begreift, dass sie schweigen muss, unter allen Umständen. Das verstehst du doch?«

Der Junge saß still und starrte mit tränenblinden Augen ins Nichts. Sein Vater wusste es und hatte doch die schlimmsten Momente durchlitten, und was war mit seinen Freunden, seinen Verwandten.. Panik überkam ihn, es traf ihn wie ein Hammerschlag. »Nein! Nein.. nein.. ich muss..«

»Es ist zu spät, Junge«, sagte der Mann leise und eindringlich und hielt ihn fest. »Alle sind voller Trauer, aber auch voller Wut. Auch wenn die Tempelwachen jeden Zusammenhang abstreiten und laut auf irgendwelche Verbrecher verweisen, die dich auf dem Gewissen haben sollen, so glaubt es doch niemand. Die Leute ahnen alle, wer dahinter steckt. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass dein Vater und Alia Feinde sind. Dein Tod hat einige noch Unentschlossene auf unsere Seite gebracht.«

»Ich bin so ein Schuft, so ein Feigling!«, brach es aus Tavar hervor. »Warum müssen sie alle leiden? Warum kann ich mich nicht offen unseren Feinden gegenüberstellen?«

»Weil es noch nicht an der Zeit ist. Wir sind noch zu schwach«, antwortete Nadim. Tavar sah zu ihm auf. »Wir werden alles daransetzen, dass wir es eines Tages nicht mehr sind, und du solltest alles daransetzen, uns zu helfen.«

Noch wollte Tavar das nicht gelten lassen. »Sie werden nie wissen, ob es mir gut geht, immer im Ungewissen sein..«

»Doch, das werden sie«, sagte der Mann und kniete sich vor ihm hin.

»Aber..« Tavar verstummte, als der Mann seine Kapuze herunterstreifte. Er fand sich Auge in Auge mit einem sehr hohen Bediensteten seines Vaters und vertrautem Gesicht. »Rittmeister!«

»Oh nein, das ist mein Bruder Eachan. Wir sind Zwillinge, eine durchaus praktische Sache, wenn einer von uns unbemerkt verschwinden will«, lächelte der Mann. »Du siehst, wir sind euch näher, als ihr dachtet. Sie werden von uns erfahren, wie es um dich steht, keine Sorge.«

Diese Überraschung musste Tavar erst einmal verdauen. »Dann.. dann werde ich alles tun, um Euch zu helfen. Ich verspreche es!«

»Gut so, Junge!« Der Mann drückte ihm noch einmal die Schulter und stand dann auf. »Ich muss zurück. Viel Glück auf eurer Reise, Nadim.« An diese Worte sollte Tavar noch lange denken.


Am nächsten Morgen brachen sie auf. Nadim hatte ihnen beiden zwei grau-weiße Pferde und ein ebenso helles Packpferd besorgt, reine Ackergäule in Tavars Augen, aber derart stoisch und gutmütig, dass sie bestens geeignet waren, sie durch die verschneiten Weiten der Steppe zu tragen.

»Tarnung«, hatte Nadim nur gesagt, und Tavar nahm es so hin. Er traute sich nicht, überhaupt noch irgendetwas zu sagen, spürte er doch, dass Nadim seine Anwesenheit immer weniger gelegen kam. Und Nadim war froh, dass der Junge tat, was er sagte, und sich ansonsten möglichst unsichtbar machte und ihm keine Scherereien bereitete.

Die erste Nacht lagerten sie noch im Busch Nadors, bevor sie sich an den Aufstieg auf die Hochebene machten. Zu Tavars Erstaunen verbrachten sie eine angenehm warme Nacht. Lag es an den warmen Fellen oder daran, dass Nadim eine tiefe Mulde in den Schnee schaufelte, in der ihr Zelt fast windgeschützt stand? Neugierig begann Tavar, genauer hinzusehen, und bemerkte, dass Nadim viele Dinge auf eine besondere Art und Weise tat. Wie er sich durch den Busch bewegte zum Beispiel oder ihre Lagerplätze aussuchte, ihr Zelt errichtete und es gegen Blicke schützte. Wie gerne hätte er Fragen gestellt, so viele Fragen, aber er traute sich noch immer nicht.

Nadim spürte diese Veränderung genau. Längst hatte er seine Verstimmung gegenüber dem Jungen abgelegt, weil ihm gefiel, dass er ungefragt mit anfasste und verständig und behände alle Dinge erledigte. Der Auf- und Abbau ihres Zeltes, das Beladen und Versorgen der Pferde, all diese Dinge gingen Tavar gut von der Hand. Aber Nadim wollte ihn nicht drängen, sondern wartete, bis er von sich aus auf ihn zukam. Nadim kannte Fürst Tanaar und seine Art. Sicherlich hatte dieser nicht viel Geduld mit seinem Sohn gehabt und ihm oft das Wort abgeschnitten. Wie nahe er damit der Wahrheit kam, ahnte er nicht.

Die einzigen, die Tavar uneingeschränkt hatte fragen können, waren der Minenmeister und sein Bruder gewesen. Selbst seine Lehrer hatten ihm nur stumpfes Wissen eingetrichtert und kaum eigene Gedankengänge erlaubt. Und sein Vater.. Tavar dachte in den ersten Tagen viel über seinen Vater nach, nachdem sie den schwierigen Aufstieg auf die Hochebene geschafft hatten und sie schweigsam durch die unendlichen weißen Weiten ritten. Es hatte ihn sehr getroffen, dass die Männer ihn für einen Schwächling hielten, und nun zwang er sich zu ergründen, woran das lag. Es stimmte, sein Vater ließ ihn niemals zu Wort kommen und kaum jemals einen eigenen Schritt tun.

Vor Tamas’ Tod war das anders gewesen, da hatte er sich, beschäftigt, wie er war, kaum um seine Söhne gekümmert. Zwei extreme Gegensätze, von denen Tavar nun erkannte, dass keiner der richtige Weg war. Er dachte nach, wann er das letzte Mal eine wirkliche Unterhaltung oder einen Streit mit seinem Vater gehabt hatte. Ihm fiel nur jener eine in Gilda ein, wo sein Vater ihn wegen Daria auseinandergenommen hatte. Und selbst da war es ihm nur gelungen, das Wort zu bekommen, weil Yenkal seinen Vater zurückgehalten hatte. Die Männer hatten recht, erkannte Tavar in zunehmender Beschämung. Was wollte er jetzt tun? Er konnte Nadim nicht einschätzen. Also beschloss er, abzuwarten und ihn zu beobachten.


Sie kamen gut auf der Hochebene voran und waren bereits einige Tage unterwegs, als sich Nadim wie so oft aufmerksam in der weißen Weite umsah und mit einem Mal etwas entdeckte, eine unmerkliche Veränderung in der klaren Winterluft. Der nordwestliche Horizont wurde merklich trüber, über eine breite Strecke. »Da zieht ein Sturm auf!«, rief er Tavar zu.

Der Junge zügelte seinen Ackergaul. »Suchen wir Schutz?«

»Ja, das müssen wir, aber der Schnee ist nicht tief genug, um sich darin einzugraben«, antwortete Nadim. Er blickte sich aufmerksam um. »Dort hinten, siehst du die Felsen? Lass es uns dort versuchen.« Die dunkle Wolkenwand kam sehr schnell näher, und schon bald holten sie die ersten Schneeflocken ein und der Wind frischte auf. Nadim und Tavar trieben ihre Pferde an. Die Felsen schienen gar nicht näherkommen zu wollen und verschwanden zeitweise sogar aus ihrem Blickfeld. »Beeil dich, sonst verlieren wir sie!«, rief Nadim gegen das aufkommende Heulen des Sturmes an und preschte davon.

Tavar hatte Mühe hinterherzukommen, er sah so gut wie nichts mehr. »Nadim, wartet!«, schrie er, und dann hörte er weiter vorne das erschrockene Wiehern von Nadims Pferd und seinen Schrei. »Nadim!« Ein grauer Schatten raste auf ihn zu. Reflexartig griff Tavar die Zügel von Nadims Pferd und wurde von dem in Panik fliehenden Tier zu Boden gerissen. »Haaalt, ganz ruhig..« Nur mit Mühe gelang es ihm, die Hacken in den Schnee zu stemmen und alle drei Pferde zu halten. Was hatte es so erschreckt? »Nadim!«, schrie er noch einmal in den Sturm. Von weiter Ferne hörte er ein Rufen. Tavar zerrte die Pferde vorwärts, immer der Stimme nach. »Nadim!«

»Beeil dich, Junge, ich kann mich nicht mehr lange halten!«

Tavar stürzte vorwärts, die Stimme klang ganz nah. Nach ein paar Schritten stolperte er plötzlich auf eine glatte, abschüssige Fläche. Dahinter gähnte dunkel ein Abgrund. »Nadim!« Tavar warf sich gerade noch rechtzeitig zurück, bevor er ins Rutschen geriet.

»Hier!«

Tavar versuchte, gegen das Schneetreiben etwas zu erkennen, und dann sah er eine breite Spur im Schnee und an der Felsenkante eine Hand, die sich gerade noch festklammerte. Er dachte nicht nach, er handelte. Da er das Packpferd Tag für Tag beladen hatte, fand er das Seil sofort. So schnell er das mit seinen erstarrten Fingern konnte, knüpfte er es um den Hals des Pferdes, kniete sich hin und warf es in Nadims Richtung. »Nadim, fang es!« Viel weiter wagte er sich nicht an den Abgrund heran, sonst geriet auch er noch ins Rutschen. »Hast du es?«

»Ja, zieh!«

Tavar sprang auf und riss das Pferd herum. Der Sturm wurde immer heftiger, er konnte nicht einmal sehen, ob Nadim hinter ihm hochgezogen wurde. »Bist du oben?«, brüllte er über die Schulter. Als Antwort erschlaffte das Seil. Tavar lief in schlimmer Erwartung zurück, doch zu seiner Erleichterung fand er Nadim vor sich im Schnee, der sich gerade wieder aufrappelte. »Alles in Ordnung?«

Nadim fluchte nur und packte ihn. »Beeilen wir uns, wir müssen zu den Felsen!«

Zu Fuß umgingen sie vorsichtig die Felsspalte und führten ihre Pferde durch das immer dichter werdende Schneetreiben. Zum Glück blies ihnen der Wind in den Rücken, sodass wenigstens die Augen und das Gesicht freiblieben. Der Wind jagte eine derartige Eiseskälte über die Steppe, dass Tavar trotz seiner dicken Winterkleidung meinte, er steche ihm direkt auf die Haut. ›Hoffentlich verfehlen wir sie nicht, bitte lass uns sie nicht verfehlen..‹, flehte er stumm.

Sein Flehen wurde erhört. Kurz bevor es dunkel wurde, schälten sich mit einem Mal dunkle Schatten aus dem Schneetreiben. Erleichtert schleppten sie sich zwischen die Felsen und fanden sogar eine Höhle, die groß genug war, ihnen und den Pferden Unterschlupf zu bieten. Zitternd und völlig erschöpft hielten Menschen wie Tiere dort inne. Eine Weile sagten sie nichts, versuchten nur, ihren keuchenden Atem zu beruhigen.

»Kannst du mal Licht machen?«, fragte Nadim irgendwann, da war es schon vollständig dunkel.

Tavar holte Schlagsteine und Zunder aus seinem Beutel und tastete sich zu ihrem Packpferd, wo die kostbaren Fackeln sicher verstaut waren. Schnell hatte er sie angeschlagen und wollte sie Nadim reichen: »Hier.. Nadim, deine Hand! Sie ist verletzt!« Erst jetzt bemerkte er den blutigen Handschuh, den Nadim gerade abgestreift hatte.

»Ich habe sie mir gebrochen, als ich abgestürzt bin«, zischte Nadim durch die Zähne. Im Licht der Fackel konnte Tavar sehen, dass er Schmerzen hatte. »Ich brauche heißes Wasser. Sieh mal nach, ob du hier irgendwo etwas für ein richtiges Feuer findest.«

Tavar nickte und beeilte sich. Die Höhle war relativ weitläufig, und tatsächlich fand er in einer Nische einen Haufen Zweige und Gras, es sah aus wie das Nest eines größeren Tieres. »Sieh nur, hier muss irgendein Raubtier Unterschlupf gefunden haben. Dort hinten liegen noch Knochen und..« Tavar verstummte, weil sich Nadims Miene verfinsterte. »Tut mir leid«, murmelte er so leise, dass man es gegen den Sturm kaum hören konnte, und begann, das Feuer aufzuschichten. Da plapperte er unnützes Zeug, während Nadim Schmerzen hatte. Er sollte sich lieber beeilen.

Nadim rief sich streng zur Ordnung. ›Lass es nicht an ihm aus‹, mahnte er sich und sah dankbar, wie Tavar ungefragt eine kleine Schale holte und darin Schnee für heißes Wasser schmolz. Saubere Tücher fand er auch. »Halte die Fackel einmal näher«, bat er. Mit zusammengebissenen Zähnen untersuchte er seine Hand. Ein Finger war gebrochen, der Knochen stak sogar durch die Haut. Daher auch das viele Blut.

»Wenn das Wasser warm ist, wasche die Wunde aus, und dann richten wir den Knochen. Hast du so etwas schon einmal gemacht?«

»Nein«, schluckte Tavar und wurde bei dem Anblick ein wenig grün um die Nase.

»Dann wirst du es jetzt lernen. Gib mir etwas zum Draufbeißen, und dann fang an!«

Tavar musste sich zwingen, sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren und nicht auf das viele Blut und das Knirschen des Knochens zu achten. Tatsächlich spürte er, wann der Knochen richtig lag und er loslassen konnte, er glitt fast von selbst wieder in die richtige Lage. Auf Nadims Stirn standen Schweißperlen, und er atmete schwer, aber er gab keinen Laut von sich. »Haben wir etwas, womit wir die Wunde richtig reinigen können? Alkohol oder Tee?«, fragte Tavar.

»In meiner kleinen Feldflasche«, presste Nadim hervor und stieß zischend die angehaltene Luft aus.

Tavar reinigte die Wunde mit dem ziemlich scharf riechenden Gebräu und verband auch gleich die Hand. »Ich hoffe, es ist richtig so. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas macht.«

»Es ist schon ganz gut so. Gib mir die Flasche..« Nadim nahm einen tiefen Zug.

»Ist das deine Schwerthand?«, fragte Tavar befangen.

»Ja, ist sie!« Nadim spie ärgerlich einen großen Schluck ins Feuer.

»Tut mir leid«, murmelte Tavar betreten und wollte die Dinge wieder forträumen, aber der Kundschafter ließ ihn nicht gehen.

»Warum entschuldigst du dich dauernd?«

»Ich.. irgendwie bist du sauer auf mich.« Unsicher blickte Tavar auf Nadims gesunde Hand, die ihn immer noch gepackt hielt.

»Doch nicht auf dich, Junge!« Nadim ließ ihn so plötzlich los, dass Tavar das Gleichgewicht verlor und auf seinen Hintern plumpste.

Nadim war angetrunken oder erschöpft oder sogar beides, erkannte der Junge und setzte sich unauffällig ein Stück weiter weg, ohne dass es nach einer Flucht aussah. »Warum? Warum bist du sauer auf dich?«

»Ach!«, machte Nadim ärgerlich und trank noch einen tiefen Schluck. »Ich habe mich geirrt, hielt diese Felsengruppe für eine andere. Niemals hätte ich so schnell bei der schlechten Sicht darauf zureiten dürfen. Die Folgen hast du gesehen. Merke es dir! Und dann hast du mich auf noch einen Fehler gestoßen, ich..«

»Das wollte ich nicht«, entfuhr es Tavar. »Wer bin ich denn, dich zu belehren?«

»Das war keine Absicht, ich weiß. Was glaubst du, haben wir falsch gemacht? Denk mal nach.« Tavar hob nur die Schultern, er wusste nicht, worauf Nadim hinauswollte. »Denk nach. Was hast du in der Höhle gefunden?«

»Oh, du meinst, dass der oder die Bewohner noch hier gewesen sein könnten? Wölfe, eine Raubkatze oder gar ein Bär?«

Nadim schnaubte belustigt. »Bären gibt es in der Steppe nicht, sie finden nicht genug zu fressen. Auf sie stößt du erst weit im Süden, hinter den Sümpfen, oder in den Wäldern des Westens. Aber du hast richtig geraten, gehe niemals in eine unbekannte Höhle, bevor du dich nicht versichert hast, dass sie leer ist. Ich habe nicht aufgepasst, so einfach ist das.«

»Du warst verletzt und hattest Schmerzen«, wandte Tavar ein und stand nun endgültig auf, um die Dinge fortzuräumen. Nadims Selbstvorwürfe waren ihm unangenehm.

»Warte!« Wieder hielt ihn Nadim zurück. »Merke dir: Ein Kundschafter muss immer aufmerksam sein, egal, was kommt. Verstanden?« Er wartete, bis der Junge nickte. »Du hast dort draußen schnell und vor allem besonnen reagiert. Nicht jedem wäre das auf Anhieb gelungen«, fügte er hinzu und ließ ihn los.

Ungläubig stolperte Tavar in die Dunkelheit davon. Er versorgte in aller Ruhe die Pferde, holte neue Zweige fürs Feuer und bereitete ihnen etwas zu essen, während er versuchte, sich zu fassen. Als er fertig war, schnarchte Nadim leise vor sich hin und verschonte ihn mit weiteren Belehrungen. Erleichtert ließ sich Tavar auf der anderen Seite des Feuers nieder. Wann hatte ihm jemand jemals gesagt, dass er etwas gut gemacht hatte? Sein Vater, seine Lehrer, der Minenmeister? Er konnte sich nicht daran erinnern. Langsam, wie er dort nachdenklich saß und sich schließlich in seine Felle einrollte, wich der Schrecken nach und nach, und er fühlte zum ersten Mal seit Langem so etwas wie Stolz auf sich.


»Ähm, Nadim, ich glaube, das Futter für unsere Pferde geht langsam zur Neige«, sagte Tavar am nächsten Morgen, unsicher, ob diese Bemerkung zu anmaßend war.

Nadim war gerade erst aufgewacht und befühlte prüfend seine Hand. Sie schmerzte nur, wenn er den Finger krümmte oder er auf die Wunde fasste. Ein gutes Zeichen. Einen Blick in Richtung des Feuers werfend, entdeckte er ein fertiges Frühmahl, köchelnden Brei und einige gebackene Fladen. Tavar war nicht untätig gewesen, ja, er war sicher, dass sich der Junge dies sogar von ihm abgeschaut hatte. »Das hast du gut gesehen«, lobte er. »Heute Abend wollte ich das Gehöft eines alten Freundes aufsuchen. Er hat mich schon oft beherbergt. Leider sind wir jetzt vom Wege abgekommen und werden etwas länger dorthin brauchen. Meinst du, dass das Futter auch noch bis Morgen reicht?«, fragte er betont beiläufig, die kleine Prüfung, wie weit der Junge denken konnte, geschickt verbergend.

»Doch.. wenn ich es gut einteile, wird es reichen«, sagte Tavar und reichte Nadim eine Schale mit Brei. Der wollte wie gewohnt mit der rechten Hand zugreifen und zuckte schmerzhaft zusammen. Leise schimpfend fasste er notgedrungen mit der Linken zu und schlürfte den heißen Brei, den Tavar gekocht hatte.

»Wie geht es deiner.. äh, Eurer Hand?«

Nadim würgte den Brei herunter und versuchte nicht, seine Miene zu verziehen. Kochen war das Eine, aber es schmackhaft zu machen.. das musste der Junge noch lernen. »Wir lassen es besser bei der informellen Anrede. Das ist mir lieber, schließlich werden wir eine lange Zeit gemeinsam verbringen. Einverstanden?«

Tavar nickte, bemüht, seine Freude nicht allzu sehr zu zeigen. War er jetzt in Gnaden aufgenommen? Es schien fast so. Etwas hatte sich spürbar verändert. Auf jeden Fall hatten sie einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.


Durch seine verletzte Hand war Nadim derart eingeschränkt, dass Tavar von Stund an viele Dinge ganz allein erledigen musste, aber anders als vorher scheute er sich nicht mehr, Fragen zu stellen, viele Fragen selbst zu den kleinsten, unbedeutenden Dingen. Es ging schon beim Bepacken des Pferdes los. Warum Nadim jenen Knoten so schlang und jenen so, wie er sich orientierte, wo sie gerade waren.. Nadim antwortete, froh darüber, dass er abgelenkt war von seiner pochenden Hand und seinem Ärger. Ehe er es sich versah, unterrichtete er seinen jungen Begleiter richtig, bis er irgendwann einmal anmerkte, dass selbst das Schweigen eine große Tugend der Kundschafter war. Er lachte dabei, und daher nahm es Tavar nicht allzu ernst, ließ ihn aber für eine Weile in Ruhe.

Sie schafften es tatsächlich, an jenem Tag bis zu dem Gehöft zu kommen. Anders als Tavar es erwartet hatte, lag der Schnee nicht höher als sonst auch, nur dass die Schneedecke viel härter geworden war. Das lag an der Art des Sturmes, der den Schnee verweht, aber keinen neuen gebracht hatte, erklärte ihm Nadim. In Nador schneite es häufiger durch die feuchten Winde aus dem Lir-Delta, in der Steppe jedoch nur selten, oft nur einmal im Winter, in trockenen sogar gar nicht. Tavar war nach dem gestrigen Sturm froh über die Aussicht, diese Nacht mit einem festen Dach über dem Kopf zu schlafen und nicht wieder diesen eisigen Winden ausgesetzt zu sein.

Es war nur ein Stall, in den Nadim sie heimlich nach Einbruch der Dunkelheit führte. Sie warteten, bis sich auf dem Hof nichts mehr rührte, und traten dann über einen genau festgelegten Weg an den Herrn des Hauses heran, denn sie wussten nie, was sie dort erwartete. Viel konnte sich in den letzten zwei Jahren verändert haben, und selbst wenn der Hausherr auf ihrer Seite war, die Herrin oder das Gesinde waren es unter Umständen nicht. Nadim ließ deshalb größtmögliche Vorsicht walten.

So machten sie es bei allen Unterkünften, die sie sich im weiteren Verlauf ihrer mühsamen Reise suchten, aber überall wurden sie mit offenen Armen empfangen. Tavar hielt sich stets im Hintergrund, denn die Gefahr, dass einige die Ähnlichkeit mit seinem Vater erkannten, war sehr groß. Er stellte sich als Tajaeh vor, als einer der vielen Bastarde seines berüchtigten Onkels, und war nur der Junge, der Nadim half, weil dieser sich verletzt hatte. So achtete niemand sonderlich auf ihn, denn die Männer waren begierig darauf, von Nadim zu erfahren, was sich im Laufe der letzten Jahre ereignet hatte.

Es zeichnete sich sehr schnell ab, dass die Leute über die Vorkommnisse im Westen im Ungewissen gelassen wurden, es kursierten die wildesten Gerüchte. Nadim räumte viele haarsträubende Geschichten als blanken Unsinn aus, andere bestärkte er unmerklich. Tavar saß aufmerksam im Hintergrund und lernte, vor allem die feinen Unterschiede der Worte und Gesten und was die Kundschafter damit bezweckten. Staunend hörte er zu, wie Nadim scheinbar nur so nebenbei alle Neuigkeiten erfuhr, die er erfahren wollte, und es sein Gegenüber nicht einmal merkte. In solchen Momenten war Tavar ganz ruhig und derart konzentriert, dass Nadim ihn hinterher manchmal regelrecht wachrütteln musste. Tavar war es egal. Er hatte schon immer gut zuhören können und machte sich sehr schnell Nadims Art zu eigen, sich einfach unsichtbar zu machen.

So reisten sie unbemerkt von den Tempelwachen durch die winterliche Steppe, und mit jedem Schritt, mit jeder Handlung wurde aus dem kleinen Grünschnabel mehr und mehr ein selbstständiger junger Mann.

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Trägerin des Lichts - Erkennen

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