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Kapitel 3
ОглавлениеGilda
Dritter Winter nach der Flucht
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Das letzte Gehöft, bevor sie nach Gilda kamen, bildete in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme. Nadim ritt, nachdem er sich versichert hatte, dass keine Tempelwachen in der Nähe waren, einfach bei Tageslicht in den Hof. Sie wurden mit großem Hallo empfangen. Unter vielen erschrockenen Ausrufen wurden Nadim und Tavar in die wohlig warme Küche verfrachtet, und die Herrin des Hauses kümmerte sich persönlich um Nadims Hand, während sich die Mägde auf Tavar stürzten und ihm nicht nur ein Bad verpassten, sondern ihn auch mit so viel Leckereien fütterten, dass er meinte, bald zu platzen. Angenehm satt und müde kehrte er in die Küche zurück und traf gleichzeitig mit dem Herrn des Hauses ein, der in einer Wolke aus Schnee zur Außentür herein kam.
»Nadim!« Der Mann umarmte Nadim freudig überrascht. Er ließ seinen Blick über den Jungen streifen, der in der Tür stehen geblieben war. Seine Augen weiteten sich ein wenig, doch er ging nicht auf den Jungen ein. Stattdessen nahm er Nadim beim Arm. »Kommt, wir haben viel zu bereden. Lasst uns hineingehen.« Bestimmt führte der Hausherr seine Gäste in seinen Studierraum, wo es ebenso angenehm warm wie in der Küche war.
»Leviad, dies ist Tavar. Wir stellen ihn als Tajaeh vor, das ist sicherer. Sein Vater ist..«
»Ich sehe es«, nickte Leviad, »die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Dass du bei Nadim bist, kann nur bedeuten, dass du in einer großen Notlage warst, nicht wahr?«
Tavar konnte nicht viel mehr tun als schlucken und nicken. Er wusste, dass er seinem Vater in gewisser Weise ähnlich sah, aber dass ein völlig Fremder das auf Anhieb erkannte, das hätte er nicht gedacht.
Nadim erklärte ihm, wie Bajan hier auf der Flucht Unterschlupf gefunden hatte. Seine letzten Worte hörte auch Leviads Frau, die mit etwas zu essen und zu trinken hereinkam. »Ich hoffe, es geht der Kleinen gut, Nadim?«, fragte sie und stellte ihnen Teller und Becher hin. Tavar wunderte sich, dass sie selbst diese Dinge brachte und nicht eine Magd, aber vielleicht wollten sie nicht, dass sie belauscht wurden.
»Ich weiß es nicht.« Bedauernd schüttelte Nadim den Kopf. »Ich saß die ganze Zeit in Nador fest, aber mit etwas Glück schaffen wir es diesen Sommer auf die andere Seite. Dann werde ich sie sehen«, fügte er sehr vage hinzu.
›Welche andere Seite? Und welcher Kleinen?‹, hätte Tavar am liebsten gefragt.
»Ich bete für sie jeden Tag«, sagte Leviads Frau, und ein trauriger Zug legte sich auf ihr Gesicht.
»Es ist gut, Liebes. Lass uns unsere Dinge bereden, und später kommen wir dann zum Nachtmahl«, sagte Leviad.
Sie nickte und zwinkerte Tavar zu, der traurige Ausdruck war sofort wieder verschwunden. »Damit ich nicht plaudern kann«, lächelte sie und ließ sie allein. Tavar sah ihr hinterher, und so entging ihm, dass Leviad Nadim einen fragenden Blick zuwarf und der warnend den Kopf schüttelte. Leviad verstand sofort. Die Überraschung auf dem Gesicht des Jungen hatte ihm schon einiges gesagt, und jetzt fand er seine Vermutung bestätigt: Tavar wusste nichts von Althea und sollte auch nichts von ihr wissen. Verständlich. Die Dinge, die sie erlebt hatten, gehörten nicht an die Öffentlichkeit.
»Schwere Zeiten sind es, in denen wir leben, mein Freund«, holte Leviads Stimme Tavar zurück. »Wir führen ein sehr zurückgezogenes Leben seid Bajans Flucht, meine Frau dient mir als Grund dafür, nicht mehr in die Stadt zu reisen. Dem Herrn sei Dank haben uns die Mönche bisher in Ruhe gelassen. Aber was ist mit dir? Wie kommt es, dass du hier bist? Aus Nador hörten wir nur das Schlimmste.«
Nadim berichtete mit gedämpfter Stimme, was sich die letzten zwei Jahre zugetragen hatte. Leviad hörte mit zunehmender Besorgnis zu. »Beileid zum Tod deiner Frau«, murmelte er und schwieg. Nachdenklich starrte er ins Feuer, sie sahen, dass er das erst einmal alles verarbeiten musste. Schließlich sah er auf. »Wir ahnten bereits, dass so etwas in Nador geschehen war. Haben sie wirklich den ganzen Handel eingeschränkt?«
»Das haben sie. Die Folgen für die Bevölkerung sind schlimm, Krankheiten grassieren und bald auch der Hunger, dessen bin ich sicher. Ich kann dir nicht erzählen, was wir bereits zur Rettung der Leute getan haben, nur, dass viele jetzt im Verborgenen leben.«
»Sie tun gut daran. Höre, was in Gilda geschehen ist. Es kommen so gut wie keine Neuigkeiten mehr aus Nador hier an. Alle Karawanen aus Nador müssen sich außerhalb der Stadt niederlassen, und es werden nur die Führer mit einheimischen Trägern auf die Märkte gelassen, um die Waren zu verkaufen. Alle anderen müssen draußen und auf ihrem Lagerplatz bleiben und werden bewacht. So können sie sich mit niemandem austauschen. Das, was du mir eben erzählt hast, ist so ziemlich das Erste, was ich aus Nador seitdem zu hören bekomme.«
»Wie wird die Stadt bewacht? Gibt es weitere Beschränkungen? Und gibt es einen Weg, ungesehen hineinzukommen?«
»Oh, es gibt viele, angenehme und nicht so angenehme. Ich nehme nicht an, dass du durch die Abwasserkanäle kriechen willst?«, lächelte Leviad, und die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen.
Tavar hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Er war hundemüde und so schläfrig, dass ihm schon bald die Augen zu fielen und er angenehm wegdöste. Er wurde durch ein Husten von Nadim wieder wach. Die Männer hatten ihn offensichtlich völlig vergessen. Sie unterhielten sich leise.
»Den Steinbruch will ich mir unbedingt ansehen. Du sagst, von dieser Seite ist er nicht bewacht?«
»Nein, ist er nicht. Es geht das Gerücht, dass alle, wirklich alle Verschwundenen nach ihren Verhören durch die Mönche dorthin gebracht wurden. Es hätte mich auch gewundert, wenn sie die Leute in der Stadt gelassen hätten, so wenig Platz, wie dort ist. Es sind schon sehr viele. Wir können ihre Zahl nicht schätzen, es müssen aber mehrere Hundert aus ganz Morann sein.«
»So viele..«, flüsterte Nadim. Tavar spannte sich in seinem Sitz an. Er bemühte sich, nicht zu zeigen, dass er wach war. »Alles unsere Leute?«
»Nein, unsere nicht. Die Fürsten und Soldaten, die sich widersetzt haben, einfache Verbrecher, viele Frauen, die man unsittlichen Verhaltens beschuldigt.. die Hurenhäuser in der Stadt existieren fast nicht mehr, nur noch normale Schenken und Gasthäuser. Sie haben sie geräumt, und wer es nicht geschafft hat, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen oder sich mit den Mönchen zu arrangieren, landete dort. Du machst dir keine Vorstellung davon, welche Angst unter den Leuten umgeht. Angst vor einem falschen Wort, davor, dass jemand dich bei den Mönchen anschwärzt und du dorthin zitiert wirst.. verstehst du jetzt, warum ich nicht mehr in die Stadt will? Die Leute, die meine Pferde kaufen wollen, kommen hierher und berichten mir so einiges. Das Leben findet, anders als früher, fast nur noch hinter den Mauern der Häuser statt. Die Straßen sind nachts wie ausgestorben. Deshalb auch der Weg, den ich dir genannt habe, um in die Stadt zu kommen. Du wirst die Stadt sehr verändert finden..« Tavar fielen schon wieder die Augen zu.
»Tavar! Komm, wach auf, es gibt das Nachtmahl!«, wurde er plötzlich wachgerüttelt. Müde rappelte Tavar sich auf und folgte ihnen zum Essen. Die Erwachsenen hatten ein Einsehen mit ihm und schickten ihn recht bald in eine behaglich hergerichtete Kammer. Froh, endlich wieder in einem richtigen Bett schlafen zu können, schlief er weit bis in den nächsten Morgen hinein durch.
Es war schon lange hell, als er wach wurde. »Oh nein!« Verwirrt rieb er sich die Augen und brauchte einen Moment, bis er wieder wusste, wo er war. Sein Blick fiel auf eine große Schale mit Wasser zum Waschen, ein sauberes Tuch und etwas zu essen und zu trinken. Sie hatten ihn schlafen lassen, das war offensichtlich. Ging es denn heute nicht weiter? Hastig schlang Tavar sein Frühmahl herunter und machte sich auf die Suche nach Nadim. Er war doch nicht etwa allein fortgeritten? Weil er es für zu gefährlich für ihn hielt? Oder war er böse, dass Tavar eingeschlafen war?
Einen kurzen Abstecher in die Küche, und er wurde von den Frauen zum Stall gewiesen. Erleichtert hörte Tavar Nadims gedehnte, brummige Stimme. »Warum ist sie so traurig? Sie hat doch allen Grund froh zu sein, dass sie wieder gesund ist.«
Von Leviad kam ein Seufzen. »Sie hatte einen schlimmen Traum von ihr. Seitdem denkt sie, dass das Mädchen in großer Gefahr ist.«
»Glaubst du ihr?«
Tavar schlich sich lautlos näher heran. Von wem sprachen sie?
»Ja, ich glaube ihr. Ich muss ihr glauben. Zu viel Unglaubliches ist geschehen..«
»Sag mir, was! Bitte..«, fuhr Nadim mit deutlich hörbarer Erregung in der Stimme auf. »Ich möchte endlich..«
»Nein, mein Freund!« Leviads Stimme klang hart. »Ich habe Bajan ein Versprechen gegeben, und das möchte ich nicht brechen. Frag sie doch! Wenn sie dir Rätsel aufgibt, dann frage sie.«
Bevor Nadim weiter in ihn dringen konnte, brach die Sonne durch die dicke graue Wolkendecke und sandte Tavars Schatten in den Eingang des Stalles. Ein schnelles Zeichen zu schweigen in Leviads Richtung machend, rief er: »Du kannst ruhig hereinkommen. Es macht nichts, dass du verschlafen hast.«
Tavar kam, auf seinen Schatten starrend, herein. »Tut mir leid. Wann reisen wir weiter?«
»Heute Nacht«, antwortete Nadim. Nichts aus seiner Miene ließ darauf schließen, dass er Tavar in Verdacht hatte, gelauscht zu haben, aber das musste bei ihm nichts heißen.
Tavar beschloss, ehrlich zu sein, alles andere hätte ihr gerade gefundenes Verhältnis empfindlich gestört. Er sah auf. »Ich habe Eure letzten Worte gehört. Von wem habt Ihr gesprochen?«
Nadim wiegelte entschieden ab. »Noch nicht. Das wirst du später erfahren. Kümmere dich um die Pferde und sieh zu, dass unsere Vorräte aufgefüllt sind. Leviads Frau wird dir alles dafür geben, was du brauchst.«
Ohne eine sichtliche Regung steckte Tavar die Abfuhr weg, immerhin hatte Nadim in Aussicht gestellt, dass er es irgendwann erfahren würde. Ein wenig wütend war er trotzdem. Hielten sie ihn für nicht vertrauenswürdig? Heimlich beschloss er, die Ohren offen zu halten und selbst nachzuforschen. Auf dem Weg in die Küche nahm er sich vor, seine neu erworbenen Kundschaftereigenschaften gleich auszuprobieren und Leviads Frau auszuhorchen.
Er scheiterte auf ganzer Linie. Entweder hatte Leviad sie entsprechend instruiert oder aber sie verstand nicht, worauf er hinauswollte. Vielmehr als ein paar freundliche Worte und eine getätschelte Wange kamen nicht dabei heraus. Dafür kam es für ihn hinterher umso schlimmer. Nadim nahm ihn sich zur Brust.
»Stecke deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen! Du lenkst damit unnötig Aufmerksamkeit auf Dinge, die besser verschwiegen bleiben!«
»Aber wie soll ich das denn wissen, wenn ich nicht weiß, worüber ihr redet?«, protestierte Tavar.
Er wurde von Nadims ungeduldiger Faust gepackt. »Frage nie nach Personen! Das ist die oberste Regel, an die du dich gefälligst zu halten hast, wenn du bei mir bleiben willst. Hast du mich verstanden?«
Tavar nickte beklommen. Nadim sah geradezu wütend aus, anders als sonst, wenn er sich nur ärgerte. Woran hatte er da gerührt? Tavar kroch es kalt den Rücken herunter. Er beschloss, zu schweigen und dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Ohne dass Nadim es bemerkte. Die Angst, dass er ihn einfach fortschicken könnte, wohin auch immer, war nach wie vor da. Stumm und in sich gekehrt verrichtete er seine Aufgaben, und selbst die Frauen konnten ihn nicht aufmuntern, obwohl sie ihn bemutterten, sobald sie seiner habhaft wurden. Er war froh, als sie nachts wieder fortritten.
Nadim schlug nicht den kürzesten Weg nach Gilda ein, sondern ritt zunächst in einem weiten Bogen nach Süden. Es war eine dunkle, mondlose und windige Nacht. Die Geräusche trugen nicht weit, dennoch kam es Tavar so vor, als würden die knirschenden Schritte der Pferde im verharschten Schnee unendlich weit zu hören sein, und er duckte sich förmlich hinter Nadim, der unbeirrt in die falsche Richtung ritt. Nach einer halben Ewigkeit bog er nach Nordosten ab. Tavar versuchte vergebens, etwas in dem ganzen Dunkel zu erkennen. Woran orientierte Nadim sich bloß? Es war ihm ein Rätsel.
Nadim ließ sein Pferd kräftig ausschreiten, bis sie an einer Felsengruppe ankamen. Dort bedeutete er Tavar, abzusitzen und ihm zu folgen. Sie versteckten ihre Pferde in einem kleinen, natürlichen Pferch zwischen den Felsen und begannen zu klettern. Tavar erinnerte sich mit einem Mal dunkel daran, dass die Männer etwas über einen Steinbruch gesagt hatten. Waren sie auf dem Weg dorthin? Er wünschte, Nadim würde ihm endlich sagen, was sie vorhatten. Er kam sich so klein und unbedeutend vor, wagte nicht zu fragen, nicht ein Geräusch zu machen.
Plötzlich packte Nadim zu und zog ihn herunter. »Sieh!«, zischte er.
Ohne dass es Tavar bemerkt hatte, war es vor ihnen heller geworden. Er kroch langsam vorwärts, einen kleinen Felsen hinauf, und da lag sie vor ihm: Gilda, hell erleuchtet von den Signalfeuern auf ihren hohen Mauern. Tavar war sprachlos. Noch nie hatte er die Stadt von Weitem bei Nacht gesehen. Ihr Anblick war einfach wunderschön, viel zu schön, wenn man bedachte, wer jetzt in der Festung das Sagen hatte. Nadim neben ihm kroch weiter vorwärts. Er beeilte sich, hinter ihm herzukommen. Vor ihnen breitete sich eine lange dunkle Fläche aus. Tavar musste noch ein wenig weiter vorkriechen und hätte beinahe einen erschrockenen Laut von sich gegeben. Vor ihm öffnete sich ein erschreckend weiter Abgrund. »Der Steinbruch?«
»Ja. Sei still!« Nadim versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen, ziemlich schwierig in der Dunkelheit der Schlucht. Es war kaum etwas zu erkennen. Das änderte sich, als sie um einen Felssporn herumkrochen. Nadim stieß Tavar an. »Dort!«
»Was ist das?« Sie blickten in ein kleines, sehr schmales Seitental. Es war durch ein hohes Tor von dem anderen Tal getrennt. Überall waren vergitterte Nischen zu sehen, in denen kleine, ärmliche Feuer flackerten. »Die Gefangenen?«, flüsterte Tavar.
»Ja!« Nadim fühlte, wie die eiskalte Wut in ihm hochstieg. Im Winter mussten diese kalten, zugigen Höhlen die Hölle sein. »Diese verfluchten Bastarde! Komm, sehen wir uns ein wenig mehr um. Vielleicht finden wir heraus, wie sie bewacht werden.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Nur, wenn du so herumschreist. Komm endlich!« Sie krochen weiter in die andere Richtung, und bald konnten sie den gesamten Steinbruch einsehen. Am anderen Ende gab es einen steil ansteigenden Pfad, der von einem massiven Gebäude aus mächtigen Steinquadern bewacht wurde. Er war gut beleuchtet, kleine Feuerpfannen brannten den ganzen Weg hinauf, und dort sahen sie auch die Wachen. »Tempelwachen«, zischte Nadim, der das Symbol auf deren warmen Winterumhängen selbst auf diese Entfernung gut erkennen konnte. »Denen geht es wohl zu gut, selbst die einfachen Wachen tragen kostbare Kleidung!«
Tavar hatte etwas ganz anderes entdeckt. »Sieh mal, dort hinten haben sie eine unglaubliche Menge großer Felsquader aus dem Gestein gehauen. Wollen sie etwas bauen?«
»Eine gute Frage«, murmelte Nadim. Er musste dem Jungen recht geben, es war wirklich eine Menge. So viele brauchte man nur, wenn man etwas Größeres in Angriff nehmen wollte.
»Ob die Gefangenen das alles aus dem Gestein geschlagen haben?«, wisperte Tavar bedrückt.
»Da kannst du getrost von ausgehen. Komm, lass uns verschwinden.« Genauso leise, wie sie gekommen waren, kehrten sie auch wieder zu ihren Pferden zurück.
»Nadim..«
»Ja?«
»Sagte Leviad gestern ein paar Hundert?«
»Ja, das sagte er.« Nadim drehte sich zu Tavar um, der mit der Stirn an seinem Pferd lehnte und schwer atmete.
»Auch Nadorianer?«
»Wenn wir sie nicht gerettet haben, dann auch sie. Weshalb fragst du?«
Tavar wandte den Kopf und sah ihn an. Dort, wo sich seine Augen befinden mussten, schimmerte es verdächtig. »Dann wäre ich jetzt auch dort unten.«
»Oder Alias Gefangener, was wohl weitaus schlimmer für dich gewesen wäre. Bist du jetzt endlich dankbar für das, was wir mit dir getan haben?«
Tavar holte tief Luft. »Oh ja, sehr sogar. Es.. es tut mir leid. Ich hätte wohl von Anfang an etwas dankbarer sein sollen.« Nadim sagte nichts, sondern führte wortlos sein Pferd an ihm vorbei. Tavar folgte ihm. »Nadim, wie kommen wir in die Stadt, ohne von den Wachen gesehen zu werden?«
»Ganz einfach. Wir lassen uns liefern.« Mit diesen rätselhaften Worten schwang er sich auf sein Pferd. Tavar folgte ihm eine Zeit lang denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, dann bog Nadim nach Osten ab. Einige Zeit später ritten sie, die Stadt war in der Ferne wieder zu sehen, auf ein Gehöft zu. Es war immer noch stockfinster. Tavar hatte keine Ahnung, wie spät es eigentlich war, aber offensichtlich fand sich Nadim auch hier bestens zurecht. Er führte Tavar in ein Lagerhaus und bedeutete ihm zu warten.
Bald kam er in Begleitung eines kleinen, dicklichen Mannes zurück. Tavar hatte bereits, sobald er mehr als eine Person zurückkommen hörte, seine Kapuze hochgeschlagen, eine unnötige Maßnahme, denn der Mann warf ihm nur einen kurzen Blick zu. »Hast dir Hilfe gesucht, was?«
»Ja, meine Hand..«
»Schon gut, schon gut, wir haben nicht viel Zeit. Bald werden meine Gehilfen kommen. Junge, dich stecken wir am besten in eine hohe Amphore, so schmal, wie du bist. Was man von dir nicht gerade behaupten kann, mein Freund. Für dich brauchen wir ein kostbares Holzfass!«
»..sagte der Ochse zum Büffel«, lachte Nadim. »Danke, gleichfalls. Hast du denn etwas an sie zu liefern? Oder bringen wir euch in Bedrängnis?«
»Oh nein«, der kleine Mann schlug Nadim grinsend auf die Schulter, »deine Freundin ist unsere beste Kundin geworden. Sie..«
»Sie ist nicht meine Freundin!«, fuhr Nadim so erbost dazwischen, dass Tavar verwundert aufmerkte. »Ich zolle ihr Achtung, und das solltest du auch tun. Sie hat den schwersten Stand von uns allen!« Nadim merkte wohl, dass er zu heftig reagiert hatte, und milderte seine Worte etwas ab: »Spotte bitte nicht über sie.«
Der Mann hob beschwichtigend die Hände. »Entschuldige, die Absicht hatte ich nicht. Also, Junge, folge mir. Dort hinein.«
»Ich?« Tavar starrte mit großen Augen auf die hohe Amphore. Er hatte das für einen Scherz gehalten. Sie ging ihm etwa bis zur Brust, war ziemlich bauchig und unten flach, damit sie von alleine stand. »Aber..«
»Nun mach schon, Tajaeh!«, rief Nadim, der sich im hinteren Teil des Lagers umsah.
»Du meintest das ernst mit der Lieferung..«
»Wir haben nicht viel Zeit«, drängte der kleine Mann. »Ich halte sie fest. Steig auf den Korb dort drüben, und dann rein mit dir.«
Tavar protestierte nicht mehr. In der bauchigen Amphore konnte er sich hinhocken, sodass sein Kopf gerade unterhalb der Öffnung verschwand. Er dachte schon, jetzt bekäme er einen Verschluss, da schleifte der Mann zwei große Säcke heran. »Nadim, hilf mir mal. Wir füllen dich jetzt mit Hirse auf, aber keine Sorge, deinen Kopf lassen wir frei, du wirst genügend Luft zum Atmen haben. Wir werden versuchen, euch so schnell wie möglich zu liefern, aber verhaltet euch unter allen Umständen ruhig, egal was passiert, verstanden?«
Tavar nickte zögerlich. Zu fühlen, wie ihn die immer dichter werdende Masse der Getreidekörner umschloss, sodass er zum Schluss nur noch den Kopf und eine Hand bewegen konnte, war beklemmend, erst recht, als er einen Verschluss auf seine Amphore bekam. Er sah nichts mehr, nur durch einen ganz kleinen Spalt hörte er noch das undeutliche Murmeln der Männer. Danach wurde es still wie in einem Grab.
Tavar spürte, wie ihm langsam die Beine einschliefen. Er versuchte, sie so gut es ging zu lockern, aber schon bald bekam er fürchterliche Krämpfe, die ihm so zusetzten, dass er beinahe aufschrie, als seine Amphore plötzlich zur Seite gekippt und irgendwo hinauf, vermutlich auf einen Karren, gerollt wurde. Die Körner gerieten ins Rutschen und umschlossen seinen Kopf. Gerade noch rechtzeitig konnte er die Luft anhalten und die Faust auf den Mund pressen, bevor er sie schluckte. Dann stand er mit einem Mal wieder, und der Spuk war vorbei. Erleichtert schnappte er nach Luft. Der Karren begann zu schwanken und zu rumpeln, es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Tavar fühlte, wie die Luft immer dünner wurde, und versuchte, dicht an dem Spalt zu atmen. Das ging etwas besser, und die Konzentration auf das Atmen half ihm, die Beklemmung ein wenig abzulegen.
Nach einer halben Ewigkeit ging ein Ruck durch den Karren, sie standen still. Draußen hörte er gedämpfte Stimmen, und er dachte erleichtert, dass es endlich vorbei wäre, da wurde er wieder angehoben und rumpelte weiter. Tavar fragte sich verzweifelt, wie lange er das noch aushalten sollte. Aber er bezwang seine Angst, biss die Zähne zusammen und dachte ganz fest an die weit verschneite Steppe, an Licht und Luft und Platz. Er berauschte sich daran so sehr, dass er nicht mehr merkte, wie das Rumpeln aufhörte. Erst eine erneute Schräglage holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Dann stand er wieder. Es wurde still.
Tavar spannte sich an. Waren sie jetzt angekommen? Draußen hörte er ein lautes Poltern. Dann geschah wieder lange Zeit gar nichts. Die Beklemmung wuchs. Was, wenn sie ihn vergaßen? Er wollte sich rühren und den Deckel fort stoßen, um endlich frische Luft zu bekommen, und tat es doch nicht. ›Komm schon, du Feigling, fang bloß nicht an, um Hilfe zu rufen!‹, schalt er sich und hätte es doch am liebsten getan. Im selben Moment klopfte jemand von außen gegen sein Gefängnis. Er zuckte zusammen. Waren das die Wachen? Oder Verbündete? Er verhielt sich völlig still, bereit, sich wie auch immer zu verteidigen.
Jemand machte sich an dem Deckel zuschaffen. »Nun hilf mir schon, ich bekomme ihn nicht auf!«, rief eine hohe Stimme.
Tavar atmete erleichtert auf. Mit der Faust schlug er zwei-dreimal gegen den Deckel und fand sich gleich darauf dem schemenhaften Umriss eines Jungen gegenüber. »Puh!«, machte er und versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht, seine Beine waren vollkommen taub.
»Soll ich dir helfen?«, fragte der Junge.
»Ja, bitte! Ich spüre meine Beine nicht mehr.« Tavar streckte ihm seine freie Hand entgegen.
Der Junge zog ein wenig, bekam ihn aber nicht hoch. »Ich kann dich so nicht herausziehen. Lass uns die Amphore umkippen. Die Körner müssen wir eh umfüllen.«
Wenige Momente später kroch Tavar mehr schlecht als recht aus der Amphore hervor und zog einen Schwall Körner hinter sich her, die sich über den ganzen Boden verstreuten. »Herrje! Tut mir leid, das mache ich gleich weg und.. was hast du?« Auf dem Boden sitzend sah er zu dem Jungen auf, der ihn aus weiten Augen anstarrte. Erst jetzt konnte er sein Gesicht im schwachen Licht einer auf dem Boden stehenden Laterne erkennen. Es kam ihm seltsam bekannt vor.
»Du.. du bist..«
Tavar zuckte zusammen. Er hatte nicht aufgepasst und vergessen, seine Kapuze aufzusetzen. »Ich bin Tajaeh, und wie heißt du?«
»Tajaeh?!« Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf.
Tavar überlegte immer noch, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte, und holte Luft, um seinen Schnitzer wieder gutzumachen, doch er kam nicht weit. Seine Beine fingen an zu kribbeln, und plötzlich kribbelte und juckte es an seinem ganzen Körper.
»Aaahh.. verdammt! Hilf mir mal!« Wackelig kam er auf die Füße. Überall purzelten die Körner aus seiner Kleidung, und leider rutschten auch einige von ihnen tiefer hinein. Es juckte ihn gar scheußlich. »Halt das bitte!« Er riss sich den warmen Fellumhang herunter und drückte ihn dem verdutzten Jungen in die Arme. Mit schmerzhaft kribbelnden Beinen entledigte er sich seiner Stiefel, dann folgte die warme Obertunika, die Beinlinge, die dünnere Untertunika, und als er den Lendenschutz abwickelte und ihn ausschüttelte, wurde die Tür aufgerissen:
»Tavar, bist du..«
»Bei allen Heiligen!« Der zweite Ausruf stammte von einer Frau, genauer gesagt einer Heilerin, die sich in ihrem blauen Habit hinter Nadim in den Raum schob.
Hastig riss Tavar dem Jungen seine Kleidung aus den Armen und bedeckte sich damit notdürftig. »Verzeihung..« Er verneigte sich ehrerbietig in Richtung der Heilerin, wurde jedoch abgelenkt von dem Jungen, der sich eilends an ihm vorbeidrängte und verschwand.
»Na, das hast du ja fabelhaft hinbekommen!«, brummte Nadim ärgerlich. »Los, zieh dich an! Wir müssen ins Haus.« Erst jetzt bemerkte Tavar, dass sie offensichtlich in einer Art Lageraum waren.
»Ich denke, die Vorstellung verschieben wir auf später«, meinte die Heilerin, deren Augen belustigt schimmerten. Sie lachte, das konnte Tavar trotz des Schleiers gut sehen. Er wurde rot und senkte hastig den Kopf.
»Nun mach schon!«, zischte Nadim und versetzte ihm einen Stoß, der seine Kleidung samt aller restlichen Körner auf den Boden schickte. Tavar schlug ärgerlich Nadims Hand weg, schüttelte alles in aller Ruhe aus und zog sich wieder an. »Bist du endlich fertig?«
»Ja doch! Wo sind wir hier? In den Häusern der hl. Asklepia?«
»Nein, im Stadthaus der Heilerinnen«, sagte Nadim leise, als sie durch die Tür in den Innenhof traten. Tavar duckte sich instinktiv und sah schnell zu den hohen Mauern auf. Konnte man den Hof von außen einsehen? Man konnte nicht. Das Tor zur Straße war geschlossen, es war bis auf die allgegenwärtigen Signalfeuer dunkel und still in der Stadt. Erleichtert folgte er Nadim ins Haus.
Die Heilerin erwartete sie in einem Raum, der offensichtlich zum Essen und Arbeiten gleichermaßen diente. Bei ihr saß eine ältere, unverschleierte Heilerin, die bei ihrem Erscheinen freudestrahlend aufstand und ihnen entgegen kam. »Nadim, endlich! Wir hatten uns solche Sorgen gemacht! Ich hoffe, es geht Euch gut? Oh, was ist mit Eurer Hand?«
»Nichts Ernstes, Netis, nichts Ernstes. Vielleicht wollt Ihr sie bei Gelegenheit einmal ansehen? Ich hoffe, hier sind alle wohlauf?«
»Oh ja, wir tun unser Bestes.« Ihr Lächeln schwand, und sie sah Tavar an. »Und du, junger Mann, bist wer?«
»Ich bin Ta..«
»Das ist Tavar, der Sohn von Fürst Tanaar!«, wurde er im Ansatz unterbrochen. Tavar fuhr herum und wich überrascht zurück. Der Junge stand mit verschränkten Armen direkt hinter ihm und funkelte ihn böse aus seinen tiefschwarzen Augen an, aber wie sah er aus? Er trug ja das Habit einer Heilerin!
»Ja, das wissen wir. Wir haben dich bei der Fürstenvereidigung gesehen«, sagte Meda und hoffte, dass ihre Stimme ruhig klang. Dabei hatte sie den Schreck ihres Lebens bekommen, weil sie im ersten Moment dachte, sie stünde seinem Onkel Tajaeh gegenüber, jenem Mann, der ihr einst so übel mitgespielt hatte. Wie ähnlich war der Junge seinem Onkel mit zunehmendem Alter geworden! Doch Tavar reagierte nicht auf ihre Worte, er starrte immer noch den Jungen an.
»Tavar, das ist Leanna, und das dort hinten ist Meda, die Vorsteherin dieses Hauses.« Nadim stieß ihn warnend an.
»Leanna..«, ächzte Tavar. Jetzt wusste er, warum ihm das Gesicht so bekannt vorkam. Er war ihrer Zwillingsschwester vor Jahren bei der Fürstenvereidigung begegnet. Ihm wurde so heiß, als hätte ihm jemand eine Fackel in den Nacken gerammt. Am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken.
»Sehe ich meiner Schwester denn nicht ähnlich?«, schnappte sie immer noch böse.
»Doch..«, schluckte Tavar. Er fing einen warnenden Blick von Nadim auf und besann sich mühevoll auf seine Manieren. Er verneigte sich vor Meda und Netis. »Tavar von Nador. Ich grüße Euch.«
Die Frauen konnten nicht anders, sie mussten einfach lachen, derart betreten schaute er drein. Meda schlug ihren Schleier zurück und enthüllte ein überraschend junges Antlitz mit ebenso kurzen Haaren wie Leanna. »Sei uns willkommen, Tavar von Nador. Sicherlich hast du einiges zu berichten, aber«, sie hob die Hand, weil Tavar etwas sagen wollte, »dafür ist jetzt keine Zeit. Die anderen Schwestern werden bald hier sein. Ihr müsst Euch verbergen. Kommt, ich richte Euch eine Kammer her.«
Sie führte den widerstrebenden Tavar hinaus und auf die Treppe zu, sodass er keine Gelegenheit mehr hatte, etwas zu Leanna zu sagen, was wohl auch besser so war. Worte der Entschuldigung wären jetzt nur allzu unzulänglich aus ihm herausgekommen. Was er getan hatte, war unverzeihlich gewesen, und hätte er ein wenig genauer hingesehen, er hätte sie erkennen können. Die Tochter des Königs! Und er zog sich vor ihr aus!
»Junge, Junge, das war das größte Fettnäpfchen, in das je ein Mensch getreten ist«, brummte Nadim, der immer noch leise in sich hineinlachte. Tavar schrak auf und fand sich mit ihm in einer kleinen Kammer wieder, in der eine Liege, ein Tisch und ein kleiner Schemel standen. Ansonsten war sie leer.
Meda kam mit ein paar Decken über dem Arm hinter ihnen her. »Du musst leider mit dem Fußboden vorliebnehmen, Tavar, alle anderen Räume werden gebraucht. Netis wird euch gleich etwas zu essen und zu trinken bringen, und dann werden wir euch einschließen. Verhaltet euch absolut still, niemand darf wissen, dass ihr hier seid. Und Tavar?«
»Ja, Schwester Meda.« Er stellte sich sofort aufrechter hin. Diese Frau flößte ihm gehörigen Respekt ein.
»Sorge dafür, dass Nadim nicht so laut schnarcht.« Sie zwinkerte ihm im Hinausgehen zu.
Nadim schnaubte nur belustigt. »Lass es dir ja nicht einfallen, mich zu wecken. Schnarchen, also wirklich!«
Tavar fiel ein Stein vom Herzen. Es schien, als sei sie ihm nicht ernstlich böse. Was man von Leanna nicht behaupten konnte. Wenn Blicke töten könnten! Nicht eben beruhigt richtete er sich ein Lager her, doch er sollte keine Ruhe finden. Schlaflos wälzte er sich hin und her.
»Nun hör schon auf, dir Gedanken zu machen. Entschuldige dich bei ihr. Sie wird dir schon nicht den Kopf abreißen«, flüsterte Nadim. Draußen waren schon länger Schritte und Stimmen zu hören.
»Ich weiß, das muss ich. Oh je, die Tochter des Königs! Was tut sie hier? Warum wird sie hier verborgen? Ist das nicht viel zu gefährlich? Und was..«
»Halt, halt! Vieles weiß ich auch nicht, also frage sie einfach. Entweder sie sagt es dir oder halt nicht. Und jetzt sei still, sonst hört uns noch jemand!«
Irgendwann forderte die letzte Nacht ihren Tribut, und Tavar schlief doch ein. Als er wieder wachgerüttelt wurde, stellte er fest, dass es bereits wieder dunkel war. Die Liege neben ihm war leer. Tavar konnte über sich den schemenhaften Umriss der älteren Heilerin erkennen. Netis, erinnerte er sich.
»Gut geschlafen? Hast du Hunger?«
»Oh ja, habe ich. Wo ist Nadim?« Er richtete sich auf und erwiderte das Lächeln der älteren Frau.
»Oh, der lässt es sich schmecken. Wir dachten, wir wecken dich lieber, bevor du das Wesentliche verpasst.«
Tavar war mit einem Satz auf den Beinen. »Ihr habt schon angefangen?«
Sie lachte nur und führte Tavar wieder die Treppe herunter. Neugierig sah er sich um. Nun fielen ihm viele Dinge auf, die er am Morgen nicht wahrgenommen hatte. Der durchdringende Geruch nach Kräutern, angenehm und wohltuend, nicht nach Krankheiten, wie er es bei einem Heilerhaus erwartet hätte. Es war alles blitzsauber und sehr schlicht, ja viele Dinge, die Türen und Möbel, waren abgenutzt, alt und verwittert. Ging es dem Orden schlecht? Konnten sie keinen Ersatz anschaffen? Tavar nahm sich vor, besonders darauf zu achten.
Sie saßen wieder in dem gleichen Raum wie am Morgen. Wie Netis auch hatten Meda und Leanna ihr Heilerinnenhabit abgelegt und trugen nun einfache Kleider.
»Komm nur herein, du musst hungrig sein«, sagte Meda freundlich. Leanna sah ihm aus den Augenwinkeln entgegen und aß schweigend weiter. Zögernd ließ sich Tavar auf einem der schlichten Schemel nieder. »Nadim hat uns gerade von Nador erzählt, wie er gestorben ist und er dich gefunden hat. Das muss alles sehr verstörend für dich sein«, fuhr Meda fort und bedachte ihn mit einem tröstenden Lächeln.
›Verstörend?‹ Tavar wand sich innerlich unbehaglich. Er war doch kein kleiner Junge mehr! »Nein, das nicht. Im ersten Moment war ich sehr erschrocken, denn ich dachte, Nadim und seine Männer wollten das zu Ende führen, was der andere Mann begonnen hatte, aber nun.. ich kann so etwas gegen die Leute tun, die meinen Bruder auf dem Gewissen haben.« Er sah, dass Leanna unmerklich den Kopf hob. Sie wirkte überrascht.
Meda dagegen nickte ernst. »Wenn du das so siehst.. dann sei uns in jeder Hinsicht willkommen. Ist er schon vereidigt, Nadim?«
»Nein.« Nadim lehnte sich seufzend zurück und bedachte Tavar mit einem Blick, den der nicht ganz deuten konnte. »Um ehrlich zu sein, ich war mir bisher nicht ganz sicher, ob er nicht doch noch versuchen würde davonzulaufen, zurück nach Hause zu seinen Eltern. Verstanden hätte ich es«, fügte er in Tavars Richtung hinzu. Der öffnete seinen Mund zum Protest, aber Nadim schnitt ihm das Wort ab. »Seit letzter Nacht jedoch glaube ich das nicht mehr. Ich denke, wir können ihm jetzt trauen. Sonst hätte ich ihn niemals mit hergebracht.«
Sprachlos starrte Tavar ihn an. Er musste sich sehr beherrschen, nicht sofort lauthals über diese Unterstellung zu protestieren. Nadims Verdacht traf ihn, und doch fühlte er tief in seinem Innern, dass er recht hatte. Etwas hatte sich verändert. Betreten schweigend starrte er auf seinen Teller herab.
»Warum? Was ist passiert?«, fragte Leanna leise, als traue sie der Sache nicht so recht. Sie sprach damit einen Teil von Tavars Fragen aus.
»Wir waren beim Steinbruch und haben die Gefangenen ausgespäht«, sagte Nadim.
Den Frauen entfuhren erschrockene Ausrufe. »Ihr wart dort?! Bitte, sagt uns, was habt Ihr gesehen? Wir wissen nichts von ihnen, ihre Familien kommen fast um vor Sorge und..« Netis fing einen warnenden Blick Medas auf und verstummte.
Meda erhob sich. »Wir werden nicht weitersprechen, bevor wir dir nicht einen Eid abgenommen haben, Tavar. Bist du bereit dafür?«
»Einen Eid auf wen?«, brachte er mühsam hervor.
»Auf meinen Bruder, den künftigen König, natürlich. Auf Currann«, antwortete Leanna so, als wäre er begriffsstutzig.
Das ließ Tavar nicht auf sich sitzen: »Aber ihr wisst doch gar nicht, ob er noch lebt. Wie könnt Ihr dann Leute auf ihn vereidigen?«
»Wir wissen aber, dass er noch am Leben ist, und dein Bruder auch.« Leanna fand ihren Verdacht bestätigt, als sie Tavar überrascht die Augen aufreißen sah.
»Ist das wirklich wahr?« Verzweifelte Hoffnung machte sich auf seinem Gesicht breit. Leanna nickte und lächelte leicht. Er spürte eine unendliche Last von sich abfallen, gleichzeitig aber schüttelte er ungläubig den Kopf. »Warum sagst du das dann nicht allen, Nadim? Warum lässt du die Männer im Ungewissen?«
»Das ist gewiss schwer für dich zu verstehen«, sagte Meda verständnisvoll. Mit einem Mal stand sie mit einem Kästchen in der Hand vor ihm. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie es hervorgeholt hatte. »Bist du bereit?« Tavar schluckte und nickte. Was wohl nun folgen mochte?
Es war nicht so schlimm. Selbst den Schmerz verkraftete er, ohne mit der Wimper zu zucken. Leanna verteilte etwas Salbe auf der Wunde, während sich die Frauen bei der Gelegenheit gleich Nadims Hand ansahen.
»Und es ist wirklich wahr?«, fragte Tavar leise und beobachtete fasziniert, wie geschickt Leannas kleine Hände mit ihm umgingen. Ihre Berührung war so leicht wie eine Feder.
»Aber ja«, antwortete sie, sah ihn aber nicht an und lächelte auch nicht. War sie immer noch verärgert über seinen Fehltritt von heute Morgen? Es schien so.
»Warum sagt ihr es dann nicht allen?«, wiederholte er seine Frage.
»Weil wir sie damit gefährden würden und nicht nur sie, sondern auch unsere Quelle, von der wir diese gute Botschaft haben«, sagte Meda. »Deshalb streuen wir nur Gerüchte. Sie tragen mittlerweile die schönsten Blüten. Du wirst vielleicht bemerkt haben, dass Nadim einige von ihnen bewusst gefördert hat?«
Tavar nickte und beobachtete, wie Meda Nadims Verband abnahm und seine Hand begutachtete. »Sauber eingerichtet, und sie verheilt gut. Versucht einmal, den Finger ein wenig zu krümmen. Halt, das reicht. Es sieht gut aus, Ihr werdet ihn wieder vollständig benutzen können. Bewegt ihn von Zeit zu Zeit ein wenig, nicht zu viel auf einmal, damit er nicht steif bleibt. Leanna, würdest du Nadims Hand verbinden?«
Sie nickte und wechselte ihren Platz zu Nadim. »Erzählt bitte, was habt Ihr beim Steinbruch gesehen? Geht es den Gefangenen gut?« Nadim sah zögernd auf Leannas gesenktes Haupt herab. Sie schien es zu spüren. »Ihr könnt es ruhig sagen, mich erschreckt so schnell nichts mehr.« Meda nickt ihm auffordernd zu, also begann er, von ihren Eindrücken zu berichten.
»Bei der Kälte sind sie sicherlich völlig geschwächt, und die Sorge um ihre Familien wird ihnen zusätzlich zusetzen«, meinte Meda voller Mitleid. »Bajans gespendete Münzen reichen gerade so aus, dass niemand verhungern muss, aber es werden immer mehr.« Sie sah Tavars fragende Miene und erklärte ihm: »Es ist ein hartes Schicksal, das diese Familien trifft. Wenn sie keine Verwandten haben, die sich ihrer annehmen, bleibt ihnen nur, sich als Tagelöhner auf den Märkten zu verdingen, doch im Winter gibt es kaum Handel, sodass sie sich nicht ernähren können. Und die Armenspitale bleiben ihnen verschlossen, denn die Mönche scheinen ganz genau zu wissen, wen sie einlassen dürfen und wen nicht. Also kommen sie zu uns. Fürst Bajan hat uns vor seiner Flucht ein kleines Vermögen hinterlassen, und dies nutzen wir für diese armen Menschen.«
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Tavar.
»Oh«, beide Frauen lächelten nicht ohne Spott, »was sollen sie uns schon nachweisen? Die Leute sind krank, und wir halten uns strikt an die Regeln unseres Ordens«, sagte Meda.
»Sie haben Meda schon mehr als einmal zu sich zitiert«, gab da Netis zu, »aber sie konnten nichts gegen sie vorbringen.«
Nadim sah alarmiert auf. »Bitte? Und Ihr tut so harmlos! Das ist ein ernster Vorfall. Was wollten sie von Euch?«
Meda hob die Hand. »Oh, nur mich ermahnen, wen wir hier einlassen und wen nicht. Das habe ich mir nicht bieten lassen und sie in aller Deutlichkeit daran erinnert, dass für uns alle Menschen gleich sind, egal ob Adliger, Knecht oder Tagelöhner, Hure oder Verbrecher. Sie konnten nichts dagegen sagen. Stattdessen haben sie uns nahegelegt, häufiger zu den Gottesdiensten zu erscheinen. Sie wollen uns unter Kontrolle haben, so viel ist sicher, aber sie trauen sich nicht so recht an uns heran. Für mich sieht es so aus, als werden sie von oberster Stelle zurückgehalten. Uns wurde zugetragen, dass unsere neue Königin ein Problem hat: Sie wird nicht schwanger, aber der König braucht unbedingt einen Sohn, sonst ist es aus mit seiner Linie. Nachdem die Mönche nichts ausrichten konnten, heißt es, sie will es mit unseren Schwestern versuchen.« Beide Frauen wechselten einen ernsten Blick.
»Aber Ihr werdet doch nicht gezwungen, Alia zu behandeln?« Tavar überlief es kalt. Er konnte sich noch allzu gut an diese schöne, aber eiskalte Frau erinnern, vor allem daran, wie sie ihn beobachtet hatte.
»Nein, ich habe mich geweigert«, antwortete Meda. »Es ist auch nicht wichtig, wer zu ihr geht, sondern nur, dass jemand zu ihr geht. Das wird Chrysela sein, unsere offizielle ehrwürdige Mutter. Sie hat vom Heilen so wenig Ahnung wie wir vom Kampf mit einem Schwert, und das kann unseren Absichten doch nur förderlich sein, nicht wahr? Ah, ich sehe, das erstaunt dich, Tavar. Warum?«
»Äh..« Er versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen, beobachtete er doch immer noch Leanna, die nach wie vor mit gesenktem Kopf dasaß. Es wirkte geradezu teilnahmslos, aber andererseits schien sie aufmerksam zu lauschen. Er wunderte sich darüber. Hatte sie etwas zu verbergen? Oder erschrak sie das, was sie hörte? Einen besonders ängstlichen Eindruck hatte sie nicht auf ihn gemacht. »Ähm, ich.. Ihr könnt Euch der ehrwürdigen Mutter verweigern? Warum ist sie keine Heilerin? Und warum..«
»Tavar..«, mahnte Nadim.
»Tut mir leid.« Tavar wich seinem Blick aus und sah stattdessen Meda an, die ihm das im Gegensatz zu Nadim nicht übel zu nehmen schien.
»Chrysela ist nicht die ehrwürdige Mutter des Ordens, sondern ich bin es.« Sie lächelte über Tavars Verblüffung. »Sie übernimmt nur die äußere Repräsentation. So können wir das sensible Gleichgewicht zwischen den Leuten in der Festung und denen in der Stadt halten, und bevor du fragst, sie weiß nicht, was wir hier tun. Sie gehört nicht zu uns, und das ist auch gut so. Wir trauen ihr nicht mehr.« Medas Gesicht wurde ernst, geradezu bitter. Tavar biss sich auf die Zunge, um nicht gleich wieder mit der nächsten Frage herauszuplatzen.
Nadim nahm ihm das ab. »Ist sie eine Gefahr für uns?«, fragte er deutlich beunruhigt.
»Ich halte sie uns vom Leibe so gut es geht, aber es ist schwer«, erklärte Meda mit einem bitteren Lächeln. »Sie versucht mehr und mehr, hier einzugreifen und uns Vorschriften zu machen. Unsere Schwestern flüchten geradezu vor ihr, wenn sie hierherkommen. Sie erzählen uns nicht viel, aber sie scheint selbst vor harten Strafen nicht mehr zurückzuschrecken, wenn jemand nicht das tut, was sie sagt. Ich.. ich hätte nie gedacht, dass sie so weit geht. Unsere geliebten Häuser sind ein kalter Ort geworden, ohne Leben. Sie bekommen fast keine Neuzugänge mehr, die Menschen schrecken davor zurück, sich der Festung zu nähern. Wer noch übrig bleibt, sind die Alten, die Kranken. Es ist ein Haus des Todes geworden.« Meda seufzte und sah Nadim fest an. »Weil Chrysela hier keine Macht hat, beschneidet sie unsere Mittel. Sie gibt uns nur so viel, dass es gerade reicht. Die Auseinandersetzungen mit ihr sind ermüdend und so unnötig! Zum Glück bekommen wir sehr viele Spenden, von denen ich einige ungesehen an ihr vorbei abzweigen kann. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals gezwungen sein müsste, meine Schwestern zu betrügen, aber ich rechne Chrysela nicht mehr dazu. Sie hat unsere Ideale verraten, und ich befürchte, wenn sie mehr am Hofe zugegen ist, wird es sich verschlimmern.« Meda hielt inne und holte tief Luft. »Alle, ausnahmslos alle, die mit der Festung zu tun haben, sind sehr verändert. Wie viele verzweifelte Frauen habe ich schon hier gehabt, die ihre Männer nicht mehr erkennen, denen ihre Söhne fremd geworden sind. Wir wissen nicht, was genau sie verändert oder warum, nur dass es so ist. Es..«
Meda suchte nach Worten, ein ungewöhnliches Bild bei dieser entschlossenen starken Frau, ging Tavar auf. Er merkte, wie es ihm kalt den Rücken herunter kroch, und er sah, dass Leannas Knöchel weiß hervorstanden, so sehr umklammerte sie die Kante des Tisches.
»Niemand weiß, was dort oben vor sich geht, und es spricht auch niemand darüber außer zu uns. Alles scheint so normal, die Leute tun so, als ginge das Leben einfach weiter, aber wir wissen, dass es nicht so ist. Irgendetwas Schreckliches ist dort im Gange, Nadim, etwas, dem wir nicht gewachsen sein könnten. Die Menschen tun instinktiv das, was man bei Gefahr tut: Sie ducken sich, verbergen sich, versuchen, nicht aufzufallen. In den Straßen ist nachts fast niemand mehr unterwegs und tagsüber..«
»..findet das Leben zu Hause statt. Nur wer seinem Tagewerk nachgeht, tut dies so schnell und unauffällig wie möglich«, fuhr Netis fort und drückte Medas Hand. Sie warf ihrer älteren Mitschwester ein dankbares Lächeln zu. »Alle Frauen gehen verschleiert, wenn sie gezwungen sind, vor die Tür zu gehen. Ein neues Gesetz der Mönche, das uns sehr zupass kommt. Wird eine ohne Chadra erwischt, blüht ihr eine Vorladung vor die Mönche. Wenn die Frau Glück hat, kommt sie mit einer Ermahnung davon, wenn nicht, dann..«
»Ich glaube, das reicht, Netis«, sagte Nadim mit Blick auf Leanna, die sehr blass geworden war. »Wie sieht es im Heer aus?«
Meda holte tief Luft. »Anfangs wurde die Tempelwache immer weiter aufgestockt, aber seit einiger Zeit beobachten wir einen Stillstand. Es laufen kaum noch Soldaten zu der Tempelwache über. Es tut sich eine immer deutlichere Kluft auf zwischen denen, die für das alte Heer stehen, für Bajan, und denen, die sich an die Tempelwache halten. Die Männer tun dasselbe wie die übrige Bevölkerung, sie machen ihren Dienst, folgen ihren Befehlen und halten sich bedeckt. Alle hoffen, dass es irgendwann besser wird, aber das glaube ich nicht. Die Verschwundenen sprechen eine deutliche Sprache. Noch nie gab es so viele Menschen, von denen man nichts mehr gehört hat. Die Familien wissen nicht einmal, ob sie noch leben. Eine solche Grausamkeit hat es seit den Tagen der alten Könige nicht mehr gegeben.« Sie schwieg bedrückt.
»Habt Ihr denn neue Leute rekrutiert?«, fragte Nadim weiter.
»Das haben wir nicht gewagt. Wer sollte es auch tun? Etwa Rynan? Wir tragen nur zusammen, wer auf wessen Seite steht, und er ist unsere zuverlässigste Quelle. Was er alles aufschnappt, ist wirklich erstaunlich.«
»Hat er denn inzwischen die Heerschule verlassen?«
Meda lächelte. »Oh ja, das hat er. Durch seine Freundschaft mit Phelan haben sie ihm den niedrigsten Posten des Heeres zugewiesen: Er ist Stallbursche in den königlichen Ställen geworden. Sein Sold reicht gerade aus, um sich selbst, seine Mutter und seine Tante durchzubringen. Seine ist eine der wenigen Familien, die wir nicht mehr unterstützen müssen.«
»Stallbursche..«, überlegte Nadim. »Moment mal, das heißt ja, er arbeitet vor der Stadtmauer und kann die Stadt ungehindert betreten und verlassen. Das solltet Ihr nutzen, meint Ihr nicht?«
»Tun wir ja schon«, sagte Leanna leise. Sie stand auf. »Ich schaue mal nach, ob er schon da ist.«
»Ist es schon so spät? Oh ja!« Meda sah auf ihre Stundenkerze. »Tavar, begleite sie bitte. Mir ist nicht wohl, wenn sie dort draußen allein herumläuft.«
Tavar nickte und beeilte sich, hinter Leanna herzukommen. Er wollte sich unbedingt noch bei ihr entschuldigen, ohne dass die anderen dabei waren. Dass ihr das gar nicht recht war, merkte er daran, wie schnell sie davonlief. »Leanna, warte!« Er fing die Tür zum Innenhof ab, die sie ihm mit voller Absicht vor der Nase zuschlagen wollte.
»Ich brauche keine Hilfe, vielen Dank!«, zischte sie und versuchte, ihn zurückzudrängen.
»Nein, warte!« Er packte ihre Hand und hielt sie fest. Leanna sah mit einem derartig bösen Blick auf seine Hand herab, dass er sie schleunigst wieder losließ. »Ich.. ich wollte mich bei dir entschuldigen. Es ist mir entsetzlich peinlich.«
Leanna hielt unschlüssig inne. »Das Licht war sehr schlecht, du konntest mich nicht richtig erkennen. Lass es uns vergessen, einverstanden?« Sie sah ihn dabei nicht an und wandte sich halb dem Hof zu, so als warte sie ungeduldig darauf, endlich fort zu können.
»Einverstanden. Wen willst du denn holen?«, fragte Tavar, nicht gewillt, sie einfach so gehen zu lassen.
»Rynan. Er wartet bestimmt schon. Du brauchst mich nicht zu begleiten«, sagte sie und ließ ihn einfach stehen.
Das ließ sich Tavar nicht gefallen. Er war mehr als neugierig. »Schwester Meda hat mir aufgetragen, mit dir zu gehen. Ich will nicht ihren Zorn auf mich laden.«
Sie antwortete nicht, sondern holte mit wütenden Bewegungen einen großen Schlüssel aus den Falten ihres Kleides hervor. Damit schloss sie die Tür zu einem kleinen Lagerraum auf. »Warte hier«, befahl sie knapp und lief zur gegenüberliegenden Tür. Tavar kam nicht mehr dazu zu protestieren. Sie klopfte ein kurzes Zeichen, das von der anderen Seite der Tür beantwortet wurde.
Rynan hatte länger als gewöhnlich gewartet und war nervös. Hastig drängte er seine lange Gestalt durch die Tür. »Endlich! Warum hat das so lange gedauert? Wir wollten doch schon längst.. oh nein!« Da hatte er den Schatten in der Tür entdeckt und biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Leannas warnendes Handzeichen im Halbdunkel des Lagerraums nahm er erst jetzt wahr. »Ihr habt Besuch.«
»Ja, haben wir«, sagte Leanna resigniert. »Du wirst mit ins Haus kommen müssen. Nadim ist da.«
»Nadim?!«, fragte Rynan überrascht und drängte sich nach vorne durch, in Erwartung, ihn dort zu finden. Im etwas helleren Innenhof fand er sich stattdessen einem allzu bekannten Jungen gegenüber. Er riss überrascht die Augen auf: »Aber, das ist ja.. du bist..« Blitzschnell stieß Leanna ihn an. Rynan verstummte, aber es war zu spät.
»Ja, ich bin Tavar von Nador«, antwortete der andere Junge verwundert. »Woher kennt ihr mich bloß alle?«
»Nun, ich..« Rynan suchte fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung. Er kannte Tavar nämlich nur von einem Ort, von ihrem Lauschposten in den Gängen. Deutlich spürte er Leannas Ellenbogen in seinem Rücken, ja das Richtige zu sagen. »Ich.. ich habe Euch bei der Fürstenvereidigung gesehen. Wir haben Euer Lager aufgebaut und bewacht.« Gerade noch rechtzeitig fiel ihm etwas Plausibles ein, und er überspielte seine Verlegenheit mit einem Grinsen. »Verzeiht mir, das ist schon eine Weile her. Ich musste erst überlegen.«
Leanna griff hastig ein. »Tavar, das ist Rynan, der, über den wir eben gesprochen haben. Du hast doch nichts dagegen, wenn Rynan die formelle Anrede weglässt, oder?«, fragte sie.
Erleichtert sah Rynan, dass ihre Ablenkung gelang. Der nachdenkliche Ausdruck in Tavars Gesicht wich. Er grinste ebenfalls. »Natürlich nicht, das ist mir sogar viel lieber.« Gemeinsam liefen sie zum Haus hinüber. Leanna warf Rynan einen warnenden Blick zu.
Rynan wurde von Nadim mit aufrechter Freude begrüßt. »Habt Ihr etwas von..«, platzte Rynan heraus und erhielt schon wieder einen Stoß von Leanna.
Medas Augen hatten sich warnend geweitet, und Nadim griff sofort ein: »Nun setz dich doch erst einmal, du musst hungrig sein. Nein, wir haben nichts von Phelan gehört, außer dass er sicher mit dem Fürsten in Saran angekommen ist.«
Verwundert setzte sich Tavar, der als Letzter hereingekommen war, neben Rynan. Nadims Tonfall entging ihm nicht, und wenn er schon bei Leanna und Rynan den Eindruck gehabt hatte, dass die beiden etwas vor ihm verbargen, verstärkte sich das nun bei Nadim.
Dieser fuhr fort: »Ich bin nur einmal drüben gewesen, gleich nachdem ich euch verlassen hatte. Danach gab es keine Gelegenheit mehr. Die Zeit reichte gerade aus, um Bajan das Wichtigste mitzuteilen.«
»Dann wisst Ihr nicht, ob es ihnen gut geht?«, fragte Rynan. »Phelan ist mein Freund, musst du wissen«, fügte er erklärend in Tavars Richtung hinzu, denn er merkte wohl, dass der Junge ins Grübeln gekommen war. Er sah, dass Meda ihm unmerklich zunickte. Diese Falle hatte er geschickt umgangen.
»Nein, mein Junge, tut mir leid. Ich war nur in der Lage, einem seiner Vertrauensleute einen Brief mitzugeben. Das war alles, danach musste ich schleunigst nach Nador zurück, denn der Winter stand kurz bevor. Aber erzähl uns doch, wie frei du dich außerhalb der Stadt bewegen kannst. Das würde mich sehr interessieren.«
»Nadim und Tavar waren nämlich beim Steinbruch und haben ihn ausgekundschaftet«, fügte Meda hinzu. Sie stellte Rynan etwas zu Essen hin.
Er begann regelrecht zu schlingen. Wie immer war er sehr hungrig, wenn er nach seinem Dienst hierherkam. Zwar hatte sich die Lage seiner Familie durch seinen Sold etwas verbessert, aber da er hart schuften musste und zudem noch einen tüchtigen Schuss in die Höhe getan hatte, war er so mager wie eh und je. »Oh wirklich?«, meinte er zwischen zwei Bissen. »Erzählt! Wie ist er bewacht? Der Bruder eines Stallburschen wurde auch eingesperrt, sie haben ihn in einem Hurenhaus erwischt. Wir suchen schon lange nach einer Möglichkeit, dorthin zu gelangen.«
»Demnach fällt es nicht auf, wenn du nachts nicht in die Stadt zurückkehrst?«, fragte Nadim sofort.
»Oh nein. Irgendein Pferd ist immer krank und muss bewacht werden, oder eine Stute fohlt.. das lässt sich durchaus einrichten.« Rynan hörte auf zu essen und blickte Nadim voller Hoffnung an.
»Hmm«, machte der, dachte nach, und dann steckten die beiden die Köpfe zusammen und berieten sich. Am Ende hatten sie einen fertigen Plan, wie sie den Leuten im Lager helfen konnten. Es war riskant, aber machbar.
Leanna hörte ihnen stumm zu, den Kopf gesenkt und die Hände ineinander verkrampft. Sie merkte nicht, wie Tavar sie beobachtete und sich wunderte. Fürchtete sie um ihren Freund? Sie wirkte so.. sie schien fast zum Zerreißen gespannt zu sein. Das war es, was Tavar schon die ganze Zeit aufgefallen war und das er jetzt benennen konnte. So, als wolle sie gar nicht hier sein, sondern mit Macht an einem anderen Ort.
Die Beratung dauerte ziemlich lange. Zu guter Letzt musste Meda sie energisch unterbrechen. »Es wird spät. Mit Eurem Einverständnis, Nadim, werde ich Bayram morgen eine Botschaft schicken, dass seine Frau morgen Nacht dringend einer Heilerin bedarf. Ihr werdet Euch verkleiden müssen, aber da er stets eine Sänfte schickt, wird es kaum auffallen. Er wird Euch noch einiges berichten können und hat außerdem ein paar Dinge für Bajan zusammengetragen, was Ihr mitnehmen sollt. Leanna, Tavar, ihr zwei werdet morgen Abend hierbleiben. In der Sänfte ist nur Platz für zwei.«
»Ja, Meda«, sagte Leanna ergeben. Sie stand auf. »Komm, ich bringe dich hinaus«, sagte sie zu Rynan. Es fiel in dem allgemeinen Aufbruch gar nicht auf, dass sie merkwürdig eilig verschwanden. Tavar schlich sich in einem unbeobachteten Moment hinter ihnen her.
Im Hof stand die Tür zu dem Lagerraum ein wenig offen. »Bist du sicher?«, hörte er die erregte Stimme von Rynan.
»Pst, nicht so laut. Ja, Lina war heute hier. Sie haben sie wirklich fortgebracht. Oh Rynan, was machen wir denn jetzt? Das verkraftet sie doch nicht! Sie war so kurz davor, sich zu öffnen, und jetzt.. ist alles vergebens gewesen? Wie kann er das nur tun! Seine eigene Schwester!« Leanna klang entweder völlig verzweifelt oder aber sehr, sehr wütend.
»Wir müssen versuchen herauszufinden, wo sie sie hingebracht haben. Dann können wir vielleicht..« Rynan verstummte. Tavar blieb stehen und entdeckte, dass er wieder einmal einen Schatten warf. Er kam nicht mehr dazu, sich unbemerkt zurückzuziehen. Die Tür flog weit auf, und er wurde von Rynan gepackt und hereingezerrt. Leanna schloss die Tür fest hinter ihnen und klappte eine kleine Laterne auf.
»Sieh an!«, zischte Rynan. »Du scheinst Nadims Kundschaftereigenschaften ja bestens abgeschaut zu haben. Was hast du gehört?« Tavar wusste nicht, was er sagen sollte. »Was – hast – du - gehört!« Rynans knochige Hand ruckte ihn nach oben. Aller Respekt vor dem Fürstensohn war verschwunden.
›Er schützt Leanna‹, ging Tavar auf, und er beschloss die Flucht nach vorne. Alles andere hätte feige ausgesehen. »Ihr verbergt etwas vor den anderen.«
Abrupt wurde er losgelassen. Mit Leannas Fassung war es vorbei. Sie hatte die Hände vor ihr Gesicht geschlagen. »Oh Rynan, was machen wir denn jetzt bloß?«
Er legte ihr behutsam den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. »Ganz ruhig. Wir finden schon einen Weg.«
Tavar sah aus sicherer Entfernung zu. Er wunderte sich, wie vertraut sie miteinander waren. Immerhin war sie eine Prinzessin und Rynan nur ein einfacher Stallbursche. Außerdem schien diese Mutlosigkeit gar nicht zu Leanna zu passen, das wusste er bereits nach dieser kurzen Zeit einzuschätzen. Es musste wirklich etwas Schlimmes geschehen sein, ob das nun diese Lina betraf oder die Tatsache, dass er die beiden dabei erwischt hatte, wie sie geheime Absprachen trafen. »Vielleicht kann ich euch helfen«, schlug er vor. Klüger als dieser Rynan war er allemal, das hatte er bei den Beratungen mit Nadim gesehen, die viel zu einseitig gewesen waren. Tavar wunderte sich nur über Medas Bemerkung, dass ein wesentlicher Teil ihrer Erkenntnisse von Rynan stammen sollte. Das traute er ihm gar nicht zu.
Rynan warf ihm einen derart zornigen Blick zu, als hätte er seine Gedanken erahnt, aber Leanna machte sich von ihm los. »Wie willst du uns helfen?«, fragte sie scharf. »Warum sollten wir dir trauen? Du stehst doch so unter der Fuchtel von Nadim, dass du ihm alles gleich brühwarm erzählen wirst.«
Das traf ihn sehr, besonders, da es von einem Mädchen kam. Machte er einen so duckmäuserischen Eindruck auf andere? Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. »Nadim weiß das Wenigste von mir. Ich kann dicht halten, wenn es darauf ankommt!«
Leanna und Rynan sahen sich an. Leanna war klar, dass sie die Entscheidung treffen musste, denn Rynan würde das von sich aus niemals tun. Ihr gefiel, dass Tavar versuchte, sie zu überzeugen, anstatt sie gleich zu erpressen, aber es war ihr nicht genug. Sie wusste nicht, ob er durchhalten würde, also stellte sie ihn auf die Probe. »Ich glaube nicht, dass du uns helfen kannst. Wir können dir nicht trauen.« Die Enttäuschung auf Tavars Gesicht war deutlich zu sehen. Er war auf seine Art genauso leicht zu durchschauen wie Rynan, aber würde sie ihn auch derart lenken können? Da war sich Leanna nicht sicher. Dementsprechend vorsichtig war sie.
Er überraschte sie. »Dann werde ich mir mein Vertrauen eben verdienen. Ich werde Nadim und Meda nichts sagen, das verspreche ich.« Er verneigte sich leicht und wandte sich zum Gehen.
»Tavar, warte!« Rynan hielt ihn zurück. »Leanna.. sein Bruder weiß es doch auch..«
»Und Sinans Bruder weiß es nicht! Was heißt das schon!«, widersprach sie scharf. Sie sah, wie Rynan die Schultern einzog und Tavar zu einer Frage ansetzte. »Schon gut«, seufzte sie, »der Schaden ist eh angerichtet.« Sie sah Tavar derart zwingend aus ihren schwarzen Augen an, dass er unwillkürlich aufrechter stand. Das waren die Augen des Königs, ging ihm mit einem Mal auf. »Ich will, dass du es mir schwörst. Wir tun dies für meine Geschwister, wir setzen ihr Erbe fort, ein Erbe, von dem Meda und die anderen nicht das Geringste ahnen. Auf unsere Weise erfüllen wir den Eid an Currann genauso wie sie.«
»Du bist vereidigt?«, fragte Tavar mehr als erstaunt. Sie war ihm bisher so jung vorgekommen. Er fragte sich, wie alt Leanna wirklich war. Er konnte es nicht sagen.
»Meda wollte es nicht, aber Leanna hat darauf bestanden«, erklärte Rynan.
Ihr schmales Gesicht war sehr ernst, als sie Tavar die Hand hinstreckte. »Schwöre! Schwöre, dass du kein Sterbenswörtchen verrätst.«
Tavar kniete sich hin. Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Stirn. »Ich schwöre!« Vor der Tür hörten sie ein Geräusch. Tavar sprang auf, und Rynan sah zu, dass er fortkam. »Morgen Nacht!«, rief er ihnen noch zu, da wurde auch schon die andere Tür geöffnet.
»Wo bleibt ihr denn? Es wird spät.« Netis sah herein.
»Wir haben uns noch ein wenig mit Rynan unterhalten. Verzeiht«, bat Tavar mit seinem gewinnendsten Lächeln. Ihm konnte die ältere Heilerin nichts abschlagen. Sie tätschelte ihm die Wange. Tavar begann es zu hassen. Es ärgerte ihn maßlos, dass die Frauen noch immer den kleinen Jungen in ihm sahen. Einen kleinen, hübschen Jungen.
Schlaflos wälzte sich Leanna in dieser Nacht herum, so viele Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Ihre Sorge galt Nel, die von ihrem Bruder fortgebracht worden war, vermutlich in die Festung. Sie mochte gar nicht daran denken, was das für ihre Freundin bedeuten musste. Deshalb wollte sie ja auch unbedingt mit Rynan dorthin, um nach ihr zu forschen. Nur, was sollten sie dann tun? Und was geschah, wenn Tavar doch plauderte? Was, wenn Rynan auf seiner riskanten Mission zum Steinbruch erwischt wurde? Oder Nadim und Tavar auf ihren Reisen? Oder sie selbst in der Stadt? Es waren immer mehr Menschen beteiligt, es wurde immer gefährlicher. Was hatten sie bisher schon erreicht? Langsam verlor sie den Mut.
Wie immer, wenn sie in solch einer ausweglosen Lage angekommen war, holte sie das Tagebuch ihrer Mutter hervor. Mehr als einmal hatte sie es bereits gelesen, wieder und wieder die vielen schmerzhaften, aber auch lehrreichen Erkenntnisse verinnerlicht, die ihre Mutter niedergeschrieben hatte. Diesmal jedoch schlug sie eine Stelle auf, die sie mit einem kleinen einfachen Faden gekennzeichnet hatte:
›Heute Nacht wurden mir zwei kleine Mädchen geschenkt. Das erste kam auf die Welt mit empörtem Geschrei, so, als wolle es allen verkünden, dass es da wäre, bereit, seinen Platz einzunehmen. Meine Jüngste dagegen kam ganz still auf die Welt. Die Schwestern wussten erst nicht, ob sie atmete, und doch, jetzt, da ich sie im Arm halte, scheint sie mir zuzulächeln und zu sagen: ›Siehst du, sie haben mich alle unterschätzt.‹ Ich weiß schon jetzt, dass dieses kleine Mädchen mir das Liebste von allen meinen Kindern sein wird, auch wenn es töricht ist, so etwas zu schreiben. Es ist, als fordere man das Schicksal heraus.«
Diese Worte bestärkten Leanna, wärmten sie und halfen ihr über die schlimmsten Zweifel hinweg. Was auch geschehen würde, es wäre ihr Weg.
Am Morgen hatte sie sich ein paar Fragen zurechtgelegt, die sie Meda und Nadim stellen wollte, doch sie kam nicht mehr dazu. Es wurde ein ungewöhnlich geschäftiger Tag, der gleich beim Frühmahl durch einen Notfall nebenan im Geburtshaus unterbrochen wurde, sodass sich Tavar und Nadim fluchtartig in ihre Kammer zurückziehen mussten. Da es bis zum Abend dergestalt weiter ging, waren alle drei Heilerinnen restlos erschöpft, als sie endlich die Tore schlossen. Leanna ging gleich schlafen, sie wusste, dass sie sonst die Nacht nicht überstehen würde.
So fand sich Tavar plötzlich allein mit Netis im Heilerhaus wieder. Da er nicht wusste, was er tun sollte, tat er so, als sei er müde, und zog sich zurück. Eine Weile noch hörte er die alte Heilerin rumoren, dann wurde es still. Er beschloss, noch ein wenig zu warten, bevor er Leanna wecken würde.
Vor ihrer Tür zögerte er. Anklopfen kam nicht infrage, das würde Netis wecken. Also trat er einfach ein und blieb zögernd vor ihrem Bett stehen. Er wusste nicht, wie er sie wachrütteln sollte. Da hörte er hinter sich ein leises Schnauben. Er fuhr herum und fand sich Leanna gegenüber, deren schwarze Augen belustigt in der dämmrigen Kammer funkelten.
»Gut, nicht wahr?«
»Aber..« Gerade noch rechtzeitig senkte er seine Stimme zu einem Flüstern. Verwundert untersuchte er die geschickt arrangierten Decken. »Einfach genial! Woher hast du das?«
Es kränkte sie ein wenig, dass er ihr solche Erfindungen nicht allein zutraute, aber er hatte ja recht. »Von meinem Bruder Phelan. Komm, ich zeige es dir, wie es geht.« Schnell hatten sie auch Tavars Schlafstätte so hergerichtet, als schliefe er dort.
»Das muss ich mir merken!«, flüsterte er grinsend. Leanna legte warnend die Finger auf die Lippen und zog ihn mit sich.
Vor dem Lagerraum wurden sie schon von Rynan erwartet. »Wir haben Glück. Es ist nebelig geworden, es sind nur noch wenige Leute unterwegs. Beeilen wir uns. Hat Meda gesagt, wie lange sie fortbleiben wollen?«
»Vermutlich die ganze Nacht, wir haben also Zeit.« Leanna zog zwei lange Umhänge aus dem Stroh des Lagerraumes hervor und schüttelte sie aus. »Hier, nimm diesen, er ist der Längere. Ich hoffe, er passt dir. Unsere Kleiderkammer gibt zurzeit nicht allzu viel her.«
Tavar probierte ihn an. Er passte. »Hast du von dort auch deine Tunika her?«, fragte er und versuchte, nicht allzu sehr auf ihre bloßen Knie zu starren.
Sie sah es trotzdem und schnaubte unwillig. »Ich weiß, sie ist zu kurz. Wir haben keine andere mehr. Bist du bereit? Du musst ganz leise sein und dich im Schatten halten. Fange erst wieder an zu sprechen, wenn wir es dir sagen, auch wenn du noch so viele Fragen hast«, setzte sie spitz nach, denn er hatte schon den Mund geöffnet. Er klappte ihn wieder zu und nickte.
Rynan übernahm die Führung. Geschickt brachte er sie durch die vielen schmalen Gassen und Durchlässe, derart geschickt, dass sie nicht einmal den Schatten verlassen mussten. Die beiden waren wirklich geübt darin, dachte Tavar und fragte sich, wie oft sie das wohl schon getan hatten. Nur ganz zum Schluss mussten sie eine breitere Gasse überqueren. Rynan bedeutete ihnen zu warten und spähte die Gasse aus. Über Leannas Kopf hinweg konnte Tavar eine Art Wirtshaus sehen. Kein Licht brannte dort, aber der Geruch nach säuerlich Vergorenem und Gebratenem war eindeutig.
Gebannt lauschten sie. Bis auf die gedämpften Stimmen aus den umliegenden Häusern war nichts zu hören. Rynan winkte sie weiter. So schnell sie konnten, huschten sie über die Gasse in den Hof des Wirtshauses, der direkt an dem Felsen lag. Rynan ging zielsicher zu einem Haufen Unrat hinüber und hob einen großen Korb an. Er winkte Leanna, und sie kletterte geschickt an ihm vorbei in ein Loch hinein. Tavar war der Nächste, dann folgte Rynan, der den Korb wieder vor der Öffnung platzierte.
Sie waren in einer Art Kellerraum, das roch Tavar sofort. Es war stockfinster. Er spürte, wie eine Hand sich an seinem Arm entlang tastete und dann seine Hand fest umschloss. Leannas, wie er sogleich merkte, so klein, wie sie war, aber überraschend warm und fest, nicht so schwach wie bei manch anderem Mädchen. ›Du Dummkopf!‹, schalt er sich augenblicklich. Sie musste bestimmt tüchtig mit anfassen, Tochter des Königs hin oder her. Zielsicher führte sie ihn durch das Dunkel. Er stieß nicht einmal irgendwo an. Einmal hielt sie an und drückte seine Hand als Warnung. Der Zug ihrer Hand veränderte sich, und er begriff, dass es Stufen hinaufging, in einem engen Tunnel dem Hall nach zu urteilen.
Die Stufen wollten und wollten nicht enden. Irgendwann bemerkte er, dass ein frischer Luftzug zu ihnen heranwehte. Auf einmal konnte er die Schemen der Stufen erahnen. Er sah, dass durch schmale Schlitze in der Wand fahles Licht hereinfiel. Mondlicht oder.. waren sie etwa irgendwo in der Nähe eines Signalfeuers? Ihm dämmerte etwas: Sie waren auf dem Weg in die Festung! So und nicht anders konnte es sein, derartig viele Stufen konnten nur den Felsen hinaufführen. Beinahe hätte Tavar seine Disziplin gebrochen und doch gefragt. Er war unwillkürlich stehen geblieben und spürte jetzt Leannas fordernden Händedruck. Er nahm sich zusammen. Er würde erst fragen, wenn sie ihn aufforderten zu sprechen, und nicht gegen ihre Abmachung verstoßen.
Die Luft wurde wieder feuchter, und es wurde noch heller. Leanna ließ seine Hand nun los. Tavar hörte in der Ferne ein leises Rauschen und wunderte sich. Was war das? Wind? Er täuschte sich. Es war Wasser. Sie kamen in eine Höhle, in der durch einen Vorhang aus herabstürzendem Wasser noch mehr fahles Licht hereinfiel. Auf einmal konnte er wieder sehen. Vor ihnen stand ein merkwürdiges Gebilde aus Flechtwerk, lang und mit einem Dach versehen. Erst als Rynan das Ding durch die Wasserwand schob, erkannte er, dass es ein Steg war, der sie trocken hinüber auf die andere Seite brachte. Noch immer sprachen die beiden nicht, und Rynan schlug auch nicht die Fackeln an, die Tavar in seiner Hand entdeckte. Er musste sie wohl irgendwo unterwegs aufgenommen haben. Tavar folgte ihnen schweigend, bis sie im Schwinden des letzten Lichtes stehen blieben und sich gleichzeitig zu ihm umwandten und ihn fragend ansahen, so, als wüssten sie, dass er darauf brannte zu erfahren, wo sie ihn hinbrachten.
Er holte tief Luft. »Was sind dies für Gänge? Sind wir auf dem Weg in die Festung? Und warum weiß mein Bruder davon?«
Also begann Leanna ihm von Phelan und Althea zu erzählen, von ihrem eigenmächtigen Handeln, von ihrer Flucht, während sie immer weiterliefen. Tavar überraschte sie erneut. Er stellte derart zielgerichtete Fragen, dass sie ihm bereits kurz vor der Höhle das Wesentliche erzählt hatte. Rynan hörte nur zu. Er merkte gleich, dass sie Tavar über Altheas Fähigkeiten im Dunkeln ließ und es eher so hinstellte, das sei Phelan die treibende Kraft des Ganzen gewesen. Er akzeptierte dies vorbehaltlos, konnte er doch selbst erst seit Kurzem vollständig glauben, was sie ihm über Althea berichtet hatte. Seit Meda und Leanna beide denselben Traum von ihr gehabt hatten: Dass sie in Gefahr war.
Am Ende einer weiteren, durch den Fels gewundenen Treppe hielt Rynan sie zurück. »Wartet einen Moment, ich muss die Fackel löschen. Man kann das Licht von außen sehen.« Das wusste er von einem der Stallburschen. Die Geisterlichter in der Festung. Er erzählte Tavar davon.
Der musste lachen. »Das muss sie wirklich verstören. Es passt so schön zu dem, was an schaurigen Gerüchten in Umlauf ist. Geht ihr deswegen auch die lange Treppe ohne Licht?«
Leanna fand das gar nicht komisch, schließlich waren sie beobachtet worden. »Ja, das tun wir. Hoffentlich zieht niemand die richtigen Schlüsse daraus, dann wäre alles verloren.« Sie winkte die beiden weiter, einen ebenerdigen, aus einer Öffnung mondbeschienen Gang hinab. Staunend fand sich Tavar in einer Höhle wieder. Leanna und Rynan lagerten hier Decken und Felle, Fackeln, sogar Waffen, einen Bogen, Speere und einen Schild. Leanna ging zu einem Korb herüber, zog ein gerolltes Pergament hervor und hielt es Tavar hin. »Sieh es dir an. Wir sind jetzt direkt unterhalb der beiden vorderen, nördlichen Türme.«
Tavar nahm neugierig das Pergament in die Hand, trat an die Öffnung der Höhle und hielt es in den schmalen Streifen einfallenden Mondlichtes. Unten konnte man nichts erkennen, der Nebel waberte über die Steppe, aber hier oben war die Luft klar. »Das.. das ist ein vollständiger Plan dieser Gänge?« Mühelos fand er den Weg bis zu ihnen hinauf. »Das ist eine sehr schöne Zeichnung. Wer hat die gemacht?«
»Meine Cousine Althea«, sagte Leanna und trat zu ihm.
Tavar sah auf. Sie wirkte traurig. »Warum bist du nicht mit ihnen gegangen? Hier ist es doch viel gefährlicher für dich.«
Sie seufzte und sah auf das Pergament herab. »Das haben mich alle schon gefragt. Currann wollte es nicht, Fürst Bajan wollte es auch nicht, aber ich.. versteh doch, ich musste bleiben, in Mutters und Lelias Nähe. An meiner statt ist Noemi mit ihnen gegangen, sie ist eine Freundin von Phelan und Althea, eine Waise, die sonst niemanden hat. Ich bin unter ihrem Namen bei Meda geblieben, und bisher hat es mich gut geschützt. Aber sieh dir den Plan an. Fällt dir etwas auf?«
»Was meinst du..?« Tavar verfolgte die Linien weiter und landete bei einigen Namen, deren Anblick ihm einen erstaunten Ausruf entlockte. »Der Tempel? Alia? Der König! Und.. der Gästetrakt!? Daher wisst ihr das also alles? Ihr belauscht sie?« Er sah flüchtig zu Rynan, der sie regungslos beobachtete. »Daher weißt du all diese Sachen?«
Rynans Miene verdüsterte sich, doch dann nickte er. Der Fürstensohn hielt wohl nicht viel von seinen Fähigkeiten, das hörte er deutlich heraus.
Tavar ging mit einem Mal ein Licht auf. »Du kennst mich nicht von dem Lager her, sondern von hier. Ihr habt uns belauscht! Wart ihr auch bei der Hochzeit hier? Und habt ihr miterlebt, wie die Fürsten auf mich losgegangen sind?«
»Jaahh, haben wir«, grinste Rynan und rächte sich damit für Tavars herablassende Worte. »Dein Vater brüllte so laut, dass man es fast bis hier unten hören konnte. Sie hätten euer Quartier gar nicht nach verborgenen Lauschposten absuchen brauchen, er war laut genug, dass sie es vermutlich alle im Palast gehört haben und..«
»Hört auf damit, alle beide!«, unterbrach Leanna sie scharf. »Wir haben keine Zeit, uns gegenseitig zu verspotten.«
»Nein. Es tut mir leid«, sagte Tavar in Rynans Richtung. Der nickte nur und sagte nichts.
»Hör zu, Tavar, du hast gesagt, dass du uns helfen willst«, erinnerte Leanna ihn und erzählte ihm Nels Geschichte, vom Tod ihrer Mutter, wie sie Leanna im Heilerhaus gefunden hatte und in welchem Zustand sie danach war. »Rynans Schwester Lina hat sich die letzten beiden Jahre um sie gekümmert. Meda hat sie dem Ratsherrn Nestan als Magd untergemogelt, in der Hoffnung, dass sie durch die Gesellschaft einer Freundin gesund wird und begreift, dass sie uns nicht verraten darf. Sie hat es fast geschafft, Nel war dabei, sich ihr zu öffnen, aber in letzter Zeit hat Nestan immer mehr die Geduld mit ihr verloren.«
»Was meinst du damit, die Geduld mit ihr verloren? Sie ist doch sehr krank?«, fragte Tavar.
»Lina sagt, dass Nestan denkt, sie sei nur verstockt. Dass sie ihm böse ist und sich an ihm rächen will, weil sie ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter gibt und daran, dass ihr Bruder Sinan fliehen musste und nun als Verbrecher gilt. Mit Letzterem hätte sie nicht unrecht, aber die Mutter starb durch einen Unfall, einen schrecklichen Unfall«, erklärte Rynan. Er legte den Groll gegenüber Tavar vorerst ab und kam zu ihnen herüber. »Gestern Morgen hat Nestan seine Schwester samt all ihrer Sachen in eine Sänfte gesteckt und sie fortgebracht. Wir wissen nicht, wohin, auch die Mägde in Nestans Haus wissen es nicht, aber wir vermuten, dass er sie hierher gebracht hat, in die Festung.«
»Denn was könnte dem edlen Ratsherrn besser anstehen, als dass seine Schwester Alias Zofe wird?«, fügte Leanna bitter hinzu. »Wir müssen sie finden, bevor sie sich vergisst und etwas ausplaudert. Dann ist alles in Gefahr.«
Tavar sah von einem zum anderen. »Haltet ihr sie für so krank? Das klingt beinahe, als sei sie gestört!«
»Nenn sie nicht gestört!«, fuhr Leanna ihn an und biss sich sofort auf die Lippen. »Sie ist verstört, das ist ein großer Unterschied. Ich denke, wenn man sie erreicht und ihr sagt, dass ihr Bruder Sinan lebt, dann wird es ihr besser gehen. Aber dazu müssen wir sie erst einmal finden. Wie sollen wir das nur anstellen?« Mutlos ließ sich Leanna auf die steinerne Schlafstatt nieder. Beide Jungen folgten ihr und ließen sich neben ihr nieder, jeder an einer Seite. Sofort fühlte sich Leanna von ihrer Gegenwart getröstet.
Tavar überlegte. »Ihr bräuchtet jemanden, der in der Festung nach ihr sucht. Ihr selbst dürft das auf keinen Fall! Das ist dir doch klar, Leanna?«
»Aber wen? Es gibt niemanden«, sagte sie hoffnungslos.
Rynan ergriff ihre Hand. »Lass uns erst einmal sehen, ob wir nicht so etwas erfahren können. Wir haben ja noch nicht einmal angefangen zu suchen, einverstanden?«, tröstete er sie und zog sie hoch.
Tavar folgte ihnen eine weitere lange Treppe hinauf. Er lernte die Wesen in der großen Höhle kennen, bestaunte sie und erfuhr, wie man sie verjagte. »Diese Höhle liegt unter dem Platz vor der großen Halle«, erklärte Leanna und zeigte auf zwei dunkle Schatten am anderen Ende. »Der Gang dort führt einmal um die Fundamente der Halle herum und hat verschiedene Abzweigungen, die alle zu weiteren Ausgängen im Palast und im Kloster führen. Rynan, was meinst du, wollen wir im Kloster anfangen?«
»Ich glaube zwar nicht, dass sie dort ist, aber sicher ist sicher.« Wieder übernahm Rynan die Führung, und sie bogen in den linken Gang ein. Er behielt recht. Der Tempel lag im Dunkeln, und auch im Innenhof des Klosters war niemand zu sehen. Sie brauchten sich gar nicht bis zu den kurzen Treppen an den Ausgängen vortasten, sondern kehrten gleich wieder um, weil sie sich der drängenden Zeit sehr bewusst waren.
»Ich würde sagen, wir versuchen es als Nächstes in Alias neuen Gemächern. Das ist der ehemalige Gästetrakt«, erklärte Rynan Tavar, als er sie an einer weiteren Reihe Öffnungen vorbeiführte, bis er in eine bestimmte einbog. Wie auch schon zuvor ließ er die Fackel im Gang liegen.
Tavar lief neugierig voraus. Bisher hatte er noch nicht viel erkennen können und fand sich zu seinem Erstaunen vor einer kurzen Treppe wieder. Es fiel ein schmaler Lichtstreifen in den Gang. Mehr als neugierig spähte er durch den Spalt und prallte sofort zurück. »Oh verflucht!«, wisperte er und wäre beinahe die Treppe wieder heruntergerutscht. Unmittelbar vor ihm saß Alia, und um sie herum ihre Zofen: Leannas Zwillingsschwester Lelia, Daria, an die er sich noch gut von der Fürstenvereidigung her erinnern konnte, und ein drittes Mädchen, das er nicht mit Namen kannte. Rynan und Leanna waren sofort neben ihm. »Ihr habt uns ja wirklich ausgezeichnet sehen können«, flüsterte Tavar Leanna zu.
Sie sagte nichts, sondern ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, und plötzlich sah sie, was sie erhofft hatte. »Da, das ist Nel!«, zischte sie und deutete auf ein dünnes, blasses Mädchen, das bisher verdeckt zwischen Lelia und Daria gesessen hatte.
Lelia war aufgestanden. »Dürfen wir uns zurückziehen, Mutter?«
Tavar spürte, wie Leanna neben ihm zusammenzuckte. Er traute sich nicht, sie zu berühren, aber am liebsten hätte er ihr tröstend den Arm um die Schultern gelegt. Wie musste sie das schmerzen!
Alia gab ungehalten ihr Einverständnis. »Nun gut, dann geht, aber morgen werdet ihr die volle Zeit hierbleiben, verstanden?«
»Ja, Hoheit.« Die Mädchen erhoben sich und knicksten, nur Nel blieb sitzen und wurde von Daria sanft hochgezogen und aus dem Raum geführt. Kaum waren sie hinaus, ließ Alia die kalte Maske der Gleichgültigkeit fallen. Voller Unmut, beinahe Hass starrte sie den Mädchen hinterher, dann erhob sie sich und lief dicht an ihrem Lauschposten vorbei. Sie hörten, wie ein schwerer Riegel vor die Tür gelegt wurde.
»Ob er..«, setzte Rynan flüsternd an, »oh, da ist er schon.«
Tavar sah, wie sich ein Schatten aus dem Durchgang zu den hinteren Räumen schälte. »Endlich! Ich dachte schon, du lässt sie gar nicht mehr gehen, oh meine Königin!« Die schnarrende Stimme des Fremden troff vor Hohn.
»Wer ist..« Tavar verstummte, weil Alias Stimme dicht über ihnen erklang.
»Sie müssen lernen, so lange aufzubleiben, ich möchte nicht, dass eine von ihnen wieder einschläft, so, wie beim letzten Fest. Welche eine Schande für eine Zofe! Sie werden es lernen, wie sie auch lernen werden, diese Feste zu genießen.« Etwas in ihrer Stimme ließ Tavar einen Schauder über den Rücken laufen, und er spürte, wie sich Leanna neben ihm unruhig bewegte. Alias kostbares Gewand strich an ihnen vorbei. Sie sahen, wie sie mit verführerisch schwingenden Hüften langsam auf den Durchgang zuging.
»Wie wäre es, wenn du dir einfach andere Zofen zulegst? Welche mit sagen wir.. ah, mit etwas mehr Erfahrung und anderem Geschmack?« Eine knochige Hand kam aus dem Dunkel in das warme Licht des Raumes und griff nach ihr. Sie hörten Stoff reißen, Alia wurde in den Durchgang gezerrt. Eine Tür wurde zugeschlagen, und es wurde still.
»Das war’s!« Leanna zog sich von der Treppe zurück. Sie hörte sich erleichtert an.
»Wer war das?«, fragte Tavar. Er folgte Leanna hinaus in den Gang, wo ihre Fackel lag.
Ihr Gesicht war hart, als sie sich zu ihm umwandte. »Der Mann ist ihr Geliebter. Sie hatte ihn von Anfang an, und ich bin sicher, sie hatte ihn auch schon vorher. Er ist vermutlich ein Mönch. Sie fürchtet ihn, sie hasst ihn, aber sie kann nicht von ihm lassen.«
»Wie.. was..« Tavar begann zu stottern und merkte, wie er zu seinem Ärger rot wurde.
Das entging Leanna nicht. Sie verspürte ein geradezu heimliches Vergnügen dabei, seine Fassung noch mehr durcheinanderzubringen. »Sie spielt mit ihm und verliert jedes Mal. Fast ist es so, als brauche sie das, und sie will auch, dass er ihr Schmerzen zufügt. Manchmal holt sie sich auch junge Männer von der Wache hierher und vergnügt sich mit ihnen. Es sieht fast danach aus, als habe sie an der Seite meines Vaters nicht allzu viel davon.« Mit zornig blitzenden Augen ließ sie ihn stehen und lief in die Höhle zurück.
Tavar schnappte nach Luft. Dass ein junges Mädchen so etwas von sich gab! Er sah zu Rynan hinüber, der mit ernstem Gesicht über seiner Fackel stand und ihren Worten regungslos gelauscht hatte. »Sie hat das alles gesehen?!«
»Oh ja«, sagte Rynan.
»Was?! Wie kannst du das nur zulassen!«, zischte Tavar. Er spürte, wie er wütend wurde, nur weshalb, das wusste er nicht so recht, also stürzte er sich auf das Naheliegendste. »Sie ist eine Prinzessin und ein junges Mädchen noch dazu. Du hättest sie das niemals sehen lassen dürfen! Passt du denn gar nicht auf sie auf? Wenn das meine Schwester wäre, dann..«
Rynan machte einen drohenden Schritt auf ihn zu und ruckte die Fackel nach vorne. »Wenn das meine Schwester wäre, dann hätte ich sie niemals hergebracht. Aber Leanna ist es nun mal nicht. Sie ist die Tochter der Königin, und wer bin ich denn, ihr zu widersprechen? Glaubst du nicht, ich hätte ihr den Anblick Alias gerne erspart? Ich sehe doch, wie schwer sie daran trägt und..«
»Darüber habt ihr beide nicht zu befinden!« Unvermittelt erschien Leanna im Schein der Fackel. Sie war zurückgekommen, um zu sehen, wo sie blieben, und hatte alles gehört. Zwingend sah sie die beiden an. »Je mehr wir über Alia und die anderen erfahren, umso besser. Mir gefällt es auch nicht, was ich dort zu sehen bekomme, aber ich fühle mich meinen Brüdern verpflichtet, es fortzuführen. Ich will nicht, dass ihr wegen mir streitet, verstanden? Lasst uns sehen, ob wir bei den anderen Ausgängen noch etwas erspähen können, und dann müssen wir zurück.«
»Aber Leanna..«
»Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen, Tavar!«, unterbrach sie ihn scharf. »Was ist, kommt ihr?« Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Gemeinsam suchten sie alle weiteren Ausgänge ab. Das Gästehaus, Leannas ehemaliges Zuhause, lag im Dunkeln, ebenso wie der Gang zur großen Halle und der Studierraum des Königs. In der Küche herrschte noch Betrieb, aber da die Tür zu der Speisekammer geschlossen war, konnten sie es nur hören, nicht sehen. Beim nächsten Gemach jedoch erlebten sie eine Überraschung.
»Seht doch, da brennt Licht!«, zischte Rynan und legte rasch die Fackel ab.
Leanna unterdrückte gerade noch einen erstaunten Ausruf. »Das ist das ehemalige Gemach Alias. Es stand seit ihrem Umzug leer, und jetzt..« Sie wagte nicht, ihre Hoffnung laut auszusprechen. Wer konnte dort anderes einziehen als der einzige Neuzugang im Palast? Sie schlug sich fast die bloßen Knie an den ausgetretenen Stufen an, so schnell rannte sie zu dem Spalt in der Decke hinüber.
Die beiden folgten ihr, doch zu ihrer Überraschung konnten sie nichts sehen. Etwas hing vor ihrem Beobachtungsposten, etwas, das schwankte. »Ich erwarte von Euch, dass sie spürbare Fortschritte macht. Sie soll der Königin keine Schande machen«, sagte eine männliche Stimme direkt über ihnen.
»Das ist Nestan«, hauchte Leanna und drückte Rynans Hand ganz fest. Der Ratsherr stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und ging auf jemanden zu. »Habt Ihr mich verstanden? Alias Zofen dürfen keine Schande über sie bringen!«
»Ich werde mein Bestes tun, Ratsherr, aber ich glaube, dass Eure Schwester ernsthaft krank ist. Sie hat..«
»Genug!«, fuhr er Daria an, die kerzengerade vor ihm stand und Nel schützend im Arm hielt. »Das glaube ich nicht. Lasst Euch keinen Sand in die Augen streuen. Sie ist eine genauso geschickte Lügnerin wie ihr Bruder, nicht wahr, Schwesterherz, das bist du doch!« Er packte seine zierliche Schwester grob am Kinn und zwang sie, zu ihm aufzusehen.
»Mistkerl!«, zischte Rynan. Sie sahen, dass Nels Blick blind durch ihn hindurch ging. Nestan ließ sie mit einem Laut des Unwillens los und marschierte hinaus, nicht ohne die Tür fest hinter sich zuzuschlagen.
Nel ging wimmernd in die Knie. Daria gelang es gerade noch, sie festzuhalten. »Nicht doch, er ist fort. Du brauchst keine Angst mehr haben, ich bleibe bei dir. Komm, ich bringe dich in dein Bett..« Wie auf ein kleines Kind einredend gelang es Daria, Nel nach nebenan zu führen. Sie hörten ihre tröstenden Worte und lauschten angespannt, ob Nel noch etwas anderes von sich geben würde. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Irgendwann schien sie eingeschlafen zu sein, das leise Weinen verstummte.
Es klopfte. Daria kam wieder in den Vorraum und öffnete die Tür. »Gut, bringt sie herein. Stellt sie dort hin, aber seid leise«, sagte sie und zeigte auf die Ecke des Raumes, in der sich die drei Lauscher verbargen. Herein kamen zwei Palastdiener, die eine Liege zwischen sich trugen, gefolgt von einer Magd mit einem Stapel Decken und Kissen auf den Armen. »Ich werde bis auf Weiteres hier schlafen, so lange, bis es der Herrin Nelana wieder bessergeht.«
»Dürfen wir Euch noch etwas bringen, Herrin?«, fragte die Magd ehrerbietig. Sie richtete die Schlafstatt her und breitete Darias Nachtgewand auf der Liege aus, aber sie schien dabei stets neugierig in den angrenzenden Raum zu sehen.
Energisch zog Daria die Vorhänge des Durchganges zu. »Nein, wir haben alles. Lasst uns nun allein und kommt morgen zur gewohnten Zeit, um uns zu helfen.« Daria schloss selbst die Tür hinter ihnen und legte sogar den Riegel vor. Dann verharrte sie eine Weile mit gesenktem Kopf, straffte die Schultern und atmete tief durch. Vorsichtig sah sie sich um, als ahnte sie, dass sie beobachtet wurde. Sie begann an der Wand entlang zu gehen, das Gesicht immer auf die kostbaren Verzierungen gerichtet und die Hände über den Stein fahrend.
»Was macht sie da?«, fragte Leanna.
»Keine Ahnung«, flüsterte Rynan. Sie beobachteten, wie Daria langsam den Raum abschritt und schließlich dasselbe mit der Decke machte. Schließlich schien sie alles zu ihrer Zufriedenheit abgeschritten zu sein. Sie setzte sich auf einen Schemel und begann, ihre Chadra zu lösen.
»Und jetzt werden wir gehen«, flüsterte Leanna und zog Rynan energisch von der Treppe fort. »Tavar! Du auch!«
»Ach! Aber du darfst bei Alia..«, hob er an und erntete einen unsanften Stoß.
»Das ist etwas ganz anderes«, zischte Leanna erbost. »Daria ist auf Mutters Seiten, nicht auf Alias, das weißt du doch ganz genau. Sie ist ein ehrenvolles Mädchen, es steht euch nicht an, sie zu beobachten, schon gar nicht, wenn sie sich auskleidet. Wir wissen jetzt, wo Nel ist und dass sich jemand um sie kümmert. Das ist doch schon etwas, oder nicht? Kommt jetzt, wir müssen zurück.« Sie wollte sich abwenden, aber Tavar hielt sie fest.
»Du willst jetzt einfach so fort? Rynan, sag doch was!«
»Was soll ich denn..?« Rynan schaute ihn verdutzt über seine Fackel hinweg an.
Tavar verdrehte die Augen. »Ja, begreift ihr denn nicht? Das ist die Gelegenheit für euch!«
»Was meinst du.. oh nein! Du willst doch wohl nicht etwa mit Daria Verbindung aufnehmen?«, flüsterte Leanna. Sie bekam einen mächtigen Schrecken. »Was ist, wenn uns jemand sieht oder hört?«
Tavar musste ihr recht geben, aber er hatte schon weiter gedacht. »Wir warten, bis sie sich hingelegt und das Licht gelöscht hat und eingeschlafen ist. Dann öffnen wir die Tür. Sie geht doch recht lautlos auf, nicht wahr, Leanna?«
»Du willst sie hier herunterholen!?«, rief Leanna entsetzt.
»Pst, nicht so laut!«, zischten die beiden anderen wie aus einem Munde.
Sie ignorierte es. »Das ist nicht dein Ernst! Es ist viel zu gefährlich, und außerdem wissen wir doch gar nicht..«
»Doch, ich weiß es, ich habe sie schließlich kennengelernt. Sie liebt einen von Curranns Kameraden und würde alles für ihn tun«, sagte Tavar und sah Leanna beschwörend an. »Verstehst du nicht? Das ist vielleicht die einzige Gelegenheit, mit jemandem in der Festung Verbindung aufzunehmen, und wer böte sich da besser an als sie? Leanna..«
»Ich.. ich weiß nicht.« Sie zögerte. Bisher waren sie kaum Risiken eingegangen, sah man davon ab, dass sie jedes Mal nachts durch die Stadt liefen. »Sie hatte eine Vorliebe für Sinan, Nels Bruder, aber ob das richtige Liebe war..« Leanna wusste es nicht zu sagen. Woher auch?
»Sie trauerte aufrichtig um ihn. Willst du denn nicht, dass sie zu uns gehört?«, fragte Tavar.
Leanna sah zur Seite. Sie rang mit sich. »Doch, schon. Aber was ist, wenn man uns hört? Oder sie schreit?«
»Wir müssen ihr ganz schnell den Mund zu halten und sie herunterzerren oder sie zwingen, ruhig zu sein«, sagte Tavar, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.
Ungläubig starrten die beiden anderen ihn an. »Aber Tavar, doch nicht mit Gewalt..«
»Hat Nadim bei mir auch gemacht, bevor ich zu viel Lärm machen und ihn verraten konnte.« Tavar tat, als sei es nichts gewesen, aber er konnte Leanna nicht täuschen. Sie kniff die Augen zusammen, und er musste dann doch zugeben: »Naja, zuerst ist der Schreck groß, aber der wird ihr doch vergehen, wenn sie dich sieht, nicht wahr?« Er zwinkerte ihr vertraulich zu.
Sie ließ sich das nicht gefallen und trat mit entschlossener Miene einen Schritt zurück. Diese Vertraulichkeit ging ihr entschieden zu weit. »Aber was ist, wenn auch sie sich verändert hat?«, fragte sie scharf. »So wie viele andere? Was, wenn …«
»So sah mir das aber nicht aus«, wandte Tavar voller Überzeugung ein. »Sie schien Nestan nicht zu mögen, hat ihm sogar widersprochen. Das wagt in der Stadt niemand mehr. Wenn auch sie verändert wäre, dann hätte sie sich nie so um die Kleine gekümmert.«
»Du kennst sie doch gar nicht richtig..«, erwidert Leanna.
»Doch, das tue ich, dafür habe ich mich lange genug mit ihr unterhalten.« Leanna schnaubte nur. Tavar griff zu einer List. Er drehte ihr Argument einfach um: »Du hast recht, wir müssen herausfinden, wo sie steht, und das können wir nur hier. Was meint ihr, ist die Neuigkeit über meinen Tod bereits in der Festung angelangt? Wie sie wohl reagieren wird, wenn sie mich sieht?«
»Also, ich weiß nicht..« Leanna zögerte immer noch. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als sie an die vielen Gefahren dachte.
»Rynan, du bist Soldat, du musst doch wissen, wie man so etwas macht«, forderte Tavar.
»Wie man junge Frauen entführt? Nein, nicht wirklich.« Bisher hatte Rynan stumm ihrem Wortgefecht zugehört. Er wusste, dass es gefährlich war, was sie planten, aber andererseits wollte er auch nicht vor Tavar zurückstecken.
»Ich meinte, du weißt doch, wie man jemanden überwältigt, oder?«, setzte Tavar nach.
Rynan schluckte. »Das schon, aber ich kann doch nicht.. ich meine.. sie ist doch eine hochgestellte junge Frau, und wir dürfen nicht..«
Tavar verdrehte die Augen. »Wie denn sonst? Sag es mir!« Rynan konnte nur die Schultern heben. Ihm fiel kein Argument ein, außer dass es zu gefährlich war. »Als ich Meda zuhörte, hatte ich das Gefühl, dass ihr in einer Sackgasse angelangt seid«, setzte ihnen Tavar weiter zu. »Irgendwie.. geht es bei euch nicht voran. Alle bleiben in Deckung und versuchen zu überleben. Aber das reicht nicht. Leanna, es reicht doch nicht.«
»Nein.« Leanna sah auf. Ihr Gesicht wirkte hart. »Nein, es reicht nicht. Wir müssen mehr tun. Aber Tavar, wenn wir Daria hier herunterholen und wir feststellen, dass sie verändert ist, dann ist dir doch klar, worauf das hinausführt?« Sie dachte an Nadim. Der hatte es ihr und Rynan bereits einmal leibhaftig gezeigt.
»Was meinst..?«
»Dann muss sie sterben, und zwar von unserer Hand«, sagte Rynan und sah ihn verächtlich an. »Das hast du bei deinem tollen Plan nicht bedacht, nicht wahr? Was denkst du denn, was wir hier tun? Wir schützen Leanna und ihre Geschwister. Jeder, der zur Gefahr für sie wird, muss sterben!«
Tavar senkte den Kopf, mit einem Mal beschämt. Er hatte gedacht, er könne vor Leanna mit seinen tollen Einfällen glänzen, und hatte dabei übersehen, dass es tödlicher Ernst war. Er spielte mit ihrem Leben. »Verzeih mir«, bat er kleinlaut. »Nein, ihr habt recht. Es ist zu gefährlich..«
»Ach, jetzt, wo du selbst unangenehme Folgen auf dich nehmen musst, steckst du zurück?« Leanna blitzte ihn verächtlich an und registrierte mit einiger Genugtuung, wie er die Schultern einzog. »Nein, wir werden es trotzdem versuchen«, entschied sie. Sie sah beide zwingend an. »Daria ist die Einzige, die auf Nel aufpassen und dafür sorgen kann, dass sie nichts Unbedachtes sagt. Wir müssen es wagen. Rynan, glaubst du, dass du das schaffen wirst?«
Er verzog das Gesicht. »Jaahh, ich denke schon. Ihr müsst mir helfen. Wir dürfen kein Geräusch machen.«
Sehr zögerlich kehrten sie in den kleinen Gang zurück und stiegen wieder die Treppe hinauf. Sie wussten immer noch nicht, wie sie das beginnen sollten. In dem Raum über ihnen herrschte Dämmerlicht. Durch den Vorhang fiel ein Streifen Licht herein, sodass es nicht ganz dunkel war. Offensichtlich hatte Daria für Nel ein Licht brennen lassen, damit sie sich nicht so fürchtete. Rynan presste sich an die äußerste Ecke der Treppe, sodass er Darias Liege sehen konnte. Er nickte ihnen zu. Sie lag darauf und schien zu schlafen.
Leanna überlegte fieberhaft. Die Geheimtür befand sich unmittelbar neben Darias Kopf. Jedes Geräusch würde sie sofort hören. Doch dann kam ihnen ungewollt ihre Sorgenfreundin zu Hilfe. Nel begann sich herumzuwerfen und stieß wimmernde Laute aus. Mit einem Satz war Daria von ihrer Liege herunter und nach nebenan geeilt. Leanna überlegte nicht. Sie löste die Verriegelung der Geheimtür. Das Klacken klang in ihren Ohren unheimlich laut, aber Daria hatte es bestimmt nicht gehört. Gerade als sie die Griffmulden packen wollte, verstummten die Geräusche aus dem Raum nebenan. Daria kam zurück. Sie verharrte eine Weile lauschend an dem Vorhang, seufzte schließlich und legte sich wieder hin. Die drei in ihrem Versteck hielten den Atem an. Konnten sie es wagen, die Tür zu öffnen? Rynan packte Leannas Hand und zog sie zurück. Lieber nicht.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Nel rührte sich erneut, sodass Daria wieder hinauseilte. Rynan hatte sein warmes Halstuch abgebunden und Tavar in die Hand gedrückt. Er nickte Leanna zu. Leiser, als sie es erwartet hatten, glitt die Deckenplatte zurück und gab die Öffnung frei. Leanna wich unwillkürlich zurück, unbemerkt von den beiden Jungen, die sich lautlos nach oben schlichen. Die schützende Wand war fort. Es war etwas ganz anderes, als in den leeren Palast ihrer Mutter zurückzukehren. Hier lebten Menschen, und sie waren nur einen Hauch von einer Entdeckung entfernt.
Rynan und Tavar postierten sich zu beiden Seiten des Vorhanges. Sie konnten Daria flüstern hören. Tavar spähte durch den Spalt. Daria hatte Nels Kopf auf dem Schoß und hatte sie mit beiden Armen umfasst. Leise summend wiegte sie das Mädchen wie eine Mutter ein kleines Kind. Tavar konnte sehen, wie sehr sie dieser Abend angestrengt hatte, die Linien in ihrem Gesicht wirkten hart, aber nichts davon ließ sie Nel spüren. Er wusste bereits in diesem kurzen Augenblick, dass sie noch das Mädchen war, das er vor zwei Jahren auf der Fürstenversammlung kennengelernt hatte. Einen raschen Blick auf Rynan werfend, entdeckte er, dass dieser mit vor Konzentration geschlossenen Augen auf der anderen Seite des Vorhanges stand.
Tavar konnte nicht ahnen, wie es für Rynan war, das erste Mal in einem solchen Raum zu stehen. Er war sehr schlicht, kein Vergleich zu den Räumen Alias, aber dennoch.. wie es hier allein roch! Nach kostbaren Ölen, duftenden Kerzen, und der Stoff des Vorhanges, den er unter seinen Fingern spürte, das war wertvoller als das, was er seiner Familie in einem Jahr an Sold nach Hause brachte. Er hatte Mühe, nicht in Panik zu verfallen. Was tat er hier? Er war im Begriff, eines der höchstgestellten Mädchen im ganzen Königreich zu entführen. Wie war er da nur hineingeraten? Er hatte sich überrumpeln lassen von diesem Fürstensohn, der seine Zunge so schnell führte wie ein Schwert. Und Leanna.. der Gedanke ließ ihn wieder zu sich kommen. Er tat das für Leanna, für Phelan. Das Mädchen würde es verstehen.
Rynan atmete tief durch und nickte Tavar zu. Hinter dem Vorhang hörten sie ein Rascheln. Daria hatte Nel fest zugedeckt und kam nun mit leisen Schritten auf sie zu. Tavar fuhr zurück und presste sich an die Wand. Es verursachte ein leises Geräusch. Die Schritte hielten inne. Rynan biss sich auf die Lippen, um Tavar nicht lauthals zu verfluchen. Sie hörten Daria stoßartig einatmen, sie zögerte, dann teilte sie den Vorhang.
Rynan wartete nicht, bis sie ganz im Vorraum war, er packte zu, sobald er ihr Gesicht sehen konnte. Ihren Aufschrei erstickte er mit der Hand. »Keinen Laut! Ein Messer sitzt an Eurer Kehle. Rührt Euch ja nicht«, zischte er. Es war zwar nur einer seiner kalten Finger, aber das wusste sie ja nicht. Mitleidig spürte er, wie sie zu zittern begann, und nickte Tavar zu. Der band ihr rasch das Tuch über die Augen. Halb trugen, halb zerrten sie Daria durch den Raum und die Stufen hinunter und verursachten dabei kaum einen Laut. Nur ihre heftigen Atemstöße waren zu hören, als sie unten im Gang ankamen. Tavar schob erleichtert die Deckenplatte hinter ihnen zu. Rynan wurde ganz elend, als er sie weiter den Gang hinunterzerrte. Er konnte fühlen, dass sie am ganzen Leib wie erstarrt vor Furcht war. Wo war nur Leanna? Eigentlich hätte sie gleich hinter der Biegung auf sie warten müssen, aber dort war sie nicht. Nur ihre Fackel brannte ruhig, wo sie diese zurückgelassen hatten.
Rynan zwang Daria auf die Knie. Er spürte, dass sie bereits den ersten Schreck überwunden hatte und bereit war, sich mit allen Mitteln zu wehren. Sie mussten handeln, und zwar schnell. »Habt keine Angst, Euch wird nichts geschehen. Wir dürfen nur nicht zulassen, dass Ihr laut schreit. Habt Ihr verstanden?« Sie zuckte furchtsam vor seiner Stimme zurück, doch sein Griff war unerbittlich. »Nicht schreien. Wir nehmen Euch jetzt die Augenbinde..« Sie warf sie vorwärts, und beinahe wäre sie Rynan entglitten. Er packte sie fester. »Nimm ihre Füße!«, zischte er Tavar zu. Nur mit Mühe gelang es ihnen, die sich windende Daria zu bändigen. Sie zerrten sie weiter den Gang hinab, fort von allen Ausgängen und der Gefahr, dass man sie hörte, bis in die große Höhle.
Dort stießen sie endlich auf Leanna. Sie sprang auf. Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund, als sie sah, wie verbissen und mittlerweile auch weinend sich Daria gegen ihre Entführer wehrte. »Setzt sie ab! Macht schon!« Es war nur ein Flüstern, aber die Jungen gehorchten sofort.
Tavar schüttelte den Kopf, als sich Leanna vor Daria knien wollte. ›Lass mich das machen‹, bedeutete er ihr. Sie trat hinter Rynan, damit Daria sie nicht sah. Tavar holte sich die Fackel, damit genug Licht auf sein Gesicht fiel, und nahm Daria die Augenbinde ab. Furchtsam zuckte sie zurück, und es dauerte eine Weile, bis sie durch den Schleier ihrer Tränen etwas sah, doch dann weiteten sich ihre Augen, und sie hörte auf, an Rynans Armen zu zerren. »Hmmm?!« Rynans Hand erstickte ihren Ausruf.
Tavar lächelte sie beruhigend an. »Ich bin es, ja, du siehst richtig. Bitte schreie nicht, dann lassen wir dich sofort los. Einverstanden?« Daria nickte schwer amtend. Er bedeute Rynan, sie loszulassen.
Sofort befreite sich Daria mit einem Ruck. Sie starrte auf den vor ihr hockenden Tavar, der breit grinste. »Bist du es wirklich? Es hieß, du seiest tot!« Sie streckte ungläubig die Hände aus.
Tavar ergriff sie. »Ja, Alia hat mich nicht bekommen. Es tut mir leid, dass wir dich so hierherzerren mussten, aber anders konnten wir es nicht erreichen, ohne dass du den ganzen Palast zusammengeschrien hättest. Daria, was ist denn?«
Ihre Miene hatte sich verzerrt. »Oh Tavar!« Sie umarmte ihn einfach und brach in Tränen aus. Es war wohl mehr der Schreck über ihre gewaltsame Entführung als die Erleichterung, ihn lebend zu sehen, der sie das tun ließ.
Sichtlich verlegen tätschelte Tavar ihr den Rücken. »Ist ja gut. Es tut uns leid, dass wir dich so erschreckt haben.«
»Wir?« Noch ganz verwirrt richtete Daria sich wieder auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
Tavar lächelte ihr aufmunternd zu. »Ja, wir. Dreh dich mal um.«
Daria tat es langsam. Als Erstes fiel ihr Blick auf die hohe Gestalt eines jungen Mannes in der Kleidung eines einfachen Heeressoldaten, der sie verlegen ansah, und dann entdeckte sie eine weitere kleine Gestalt, die sich langsam aus dem Dunkel schälte. »Leanna..« Ihre Augen weiteten sich. Daria kam auf die Füße und machte einen ungläubigen Schritt auf sie zu. »Leanna.. oh, bist du das wirklich?« Sie umarmten sich, und Daria lachte und musste schon wieder die Tränen zurückhalten. »Was tust du hier? Und wie..« Daria ließ sie nach einer halben Ewigkeit wieder los und lächelte sie verweint an. »Oh, du hast dich als Junge verkleidet. Deine Haare..«
»Das erzählen wir dir gleich«, sagte Leanna. »Ist dir nicht kalt?«
Daria sah verwundert an sich herunter und bemerkte mit einem Mal, dass sie hier mit bloßen Füßen und nur in einem dünnen Nachtgewand stand, noch dazu vor zwei Fremden. Hastig raffte sie den Halsausschnitt fester um sich und wünschte, sie hätte ein Tuch, um ihre Haare zu bedecken.
Da bekam sie von dem jungen Soldaten seinen Umhang gereicht. »Hier, nehmt ihn, Euch muss kalt sein. Mein Name ist Rynan. Verzeiht bitte, dass wir Euch so gewaltsam hierherzerren mussten, aber wir durften nicht riskieren, gehört zu werden.«
»Ihr seid Phelans Freund aus der Heerschule? Das hätte Euch normalerweise den Kopf gekostet«, erwiderte sie kühl und sah, wie der junge Mann hastig den Blick senkte. Sofort tat es ihr leid. Vermutlich war das nicht einmal seine Idee gewesen, sondern Tavars, so zufrieden, wie der grinste. Dankbar schlang sie den warmen Umhang um ihre Schultern und zog die Kapuze über ihre Haare.
Tavar breitete seinen Umhang auf dem Boden aus. »Hier, setz dich darauf, dann kannst du deine Füße einwickeln.«
Daria musste leise lächeln. Es war geradezu rührend, wie sie den angerichteten Schaden wieder gut zu machen versuchten. Sie setzten sich alle um sie. »Nun erzählt, wie kommt ihr hierher? Und wo wart ihr die ganze Zeit?«, fragte sie und griff nach Leannas Hand. In ihrem Herzen breitete sich langsam eine wohltuende Wärme aus. Es war, fiel die ganze Starre der letzten Jahre von ihr ab. Sie konnte es nicht fassen und sah immer wieder fasziniert auf die beiden vertrauten Gesichter. Sie war nicht mehr allein.
Leanna zögerte merklich. Sie erzählte ihr nur, dass dies die Gänge waren, durch die sie geflüchtet waren, dass sie sich seitdem versteckt hielt und dass die anderen am Leben waren. Mehr nicht. Sie sah Daria an, dass sie es gemerkt hatte, und bat: »Verzeih, dass ich dir nicht mehr erzählen kann. Du bist in der Festung, und wer weiß, was noch geschieht.. verstehst du das? Was, wenn es ihnen gelingt, etwas aus dir herauszubekommen? Je weniger du weißt, desto besser.«
»Aber Leanna, ich würde doch nie..«, hob Daria zum Protest an und ließ ihre Hand los.
»Nein, du würdest uns nicht wissentlich verraten«, unterbrach Leanna sie und tauschte einen Blick mit Rynan.
Er fuhr fort: »In der Stadt geht das Gerücht, dass alle, die mit der Festung zu tun haben, sich sehr verändern. Ich selbst weiß es aus erster Hand, von meinem Vater.« Er erzählte Daria und Tavar von ihm. »Wenn das jetzt schon als Gerücht herumgeht, muss irgendetwas hier vorgehen. Es ist gefährlich.«
Daria holte tief Luft. »Das muss schlimm für deine Mutter sein«, sagte sie verständnisvoll. »Ich habe es auch schon bemerkt. Tavar, du weiß, dass ich mich manchmal mit den Wachen unterhalten habe, und hast es den anderen mit Sicherheit erzählt?«
»Das war nicht nötig«, lächelte Leanna. »Wir beobachten euch schon die ganze Zeit. Es gibt viele Ausgänge, auch einen zu Alias Gemächern. So bekommen wir sehr viel mit, was hier vor sich geht. Du musst wissen, dass auch Alia bemerkt hat, wie du dich mit den Wachen unterhalten hast. Du musst viel vorsichtiger sein. Was ist mit den Wachen geschehen?«
»Alia weiß es?!« Daria unterdrückte ein Schaudern. Daran mochte sie nicht denken. »Nun, bis zum letzten Frühjahr bin ich oft in den Gärten gewesen und habe mich mit ihnen unterhalten. Es.. versteht doch, ich habe sonst niemanden, mit dem ich sprechen kann. Lelia kümmert sich nur um ihre Eitelkeiten und Vara um ihr Gebetsbuch. Ich.. eines Tages traf ich einen Wachmann, der so merkwürdig war. Er hat versucht.. er ist mir zu nahe getreten.« Sie spürte Leannas Händedruck und eine weitere Hand auf ihrem Arm.
Tavar sah sie erschrocken an. »Hat er..?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich konnte mich wehren und fliehen. Das war am Anfang des Sommers. Seither habe ich es nicht mehr gewagt, allein den Garten aufzusuchen.«
»Moment mal«, Rynan hatte die Stirn gerunzelt, »am Anfang des Sommers? Leanna, das war doch zu dem Zeitpunkt, als wir zum ersten Mal Alia..«
»Du hast recht!« Leanna sann darüber nach und erklärte den anderen beiden: »Alia hat im Sommer angefangen, sich Tempelwachen in ihr Gemach zu holen. Meint ihr, da besteht ein Zusammenhang? Dass es dasselbe ist wie bei dem König? Seit er Alia als Geliebte hatte, war er ein ganz anderer Mensch. Das habe ich Mutter oft sagen hören.« Das war nicht ganz die Wahrheit. Sie hatte es aus ihrem Tagebuch, aber das brauchten die anderen nicht zu wissen.
Sie sahen sich alle unbehaglich an. »Du meinst.. es geht von Alia aus?« Daria zog fröstelnd den Umhang fester um sich. »Es stimmt, seit sie Königin ist, hat sich der Hof sehr verändert. Erinnerst du dich noch daran, dass es zu Zeiten deiner Mutter fast nur Feste gab, wenn fremde Gesandtschaften empfangen wurden? Das ist nun anders. Sie hält oft regelrechte Gelage ab, und wir müssen immer dabei sein. Es ist mir zuwider, aber sie zeigt kein Erbarmen. Selbst wenn wir zu müde sind, müssen wir bleiben. Ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll, vor allem nicht mit Nel..«
»Ja, Nel«, seufzte Leanna. »Deswegen sind wir eigentlich hier. Sie hat mich am Tag unserer Flucht gesehen und weiß, wo ich Unterschlupf gefunden habe. Das war kurz vor dem Tod ihrer Mutter. Keine Sorge, Daria, die Gerüchte sind reine Lügen, Sinan hatte damit nichts zu tun. Es war ein Unfall«, fügte sie hinzu, als sie Daria zusammenzucken sah.
»Das ist gut«, sagte Daria erleichtert. »Ich habe es auch nie geglaubt. Ist Nel seit dem Tod ihrer Mutter in diesem Zustand?«
Leanna nickte. »Ja, ist sie. Wir befürchten, dass sie unabsichtlich etwas verraten könnte. Wir wollten dich bitten, dich um sie zu kümmern, aber diese Bitte ist wohl unnötig, wie wir gesehen haben. Du tust es ja schon. Bitte, Daria, pass auf sie auf. Wenn sie mich verrät, ist alles verloren, verstehst du?«
»Das.. das macht mir Angst«, gestand Daria und drückte Leannas Hand fest. »Bis zu diesem Sommer war ich davon ausgegangen, dass es der Wille des Einen Tempels ist, der diese neue Entwicklung vorangetrieben hat. Ich kenne meinen Onkel Nusair, ich weiß nur zu gut, wie er ist. Einmal, als ich zu ihm gerufen wurde, hörte ich aus einem anderen Raum Schreie. Sie klangen so gequält, es war furchtbar. Es hieß, sie hätten auch euch gequält. Stimmt das, Leanna?« Sie packte fester zu. »Sag es mir! Bitte!«
Leanna war sich des entsetzten Blickes von Tavar sehr bewusst. Rynan hatte sie vor langer Zeit davon erzählt, ihm vertraute sie, aber dies vor einem fast fremden Jungen auszubreiten, fiel ihr schwer. »Ja, es stimmt. Althea wurde von den Tempelwachen bewusstlos geschlagen, und mich hat Vater geschlagen, vor deinem Onkel, vor Mutter und vor Meister Thorald.«
»Himmel, Leanna..« Tavar machte Anstalten, auch nach ihrer Hand zu greifen, doch sie zog sie fort und funkelte ihn warnend an.
»Das hat uns zur Flucht getrieben. Althea kennt diese Festung in- und auswendig, auch die Gänge. Sie überlistete die Wachen und brachte mich hierher. Hier trafen wir meine Brüder, und mit Fürst Bajans Hilfe brachten sie uns fort. Wir.. es ist gefährlich, was wir hier machen, sehr gefährlich, nur.. ich glaube, wir haben keine Wahl. Wir erfahren so viel, das wir über Umwege an Fürst Bajans Männer weitergeben und die dabei helfen wollen, dass Currann eines Tages zurückkehrt und König wird. Nicht irgendein Bastard Alias. Ich fürchte nur..« Leanna biss sich auf die Lippen. Wie konnte sie am besten sagen, was ihr schon seit geraumer Zeit im Kopf herumging? »Daria, wenn sie uns erwischen, können sie alles aus uns herauspressen. Du hast es selbst schon bei deinem Onkel gehört, wie sie vorgehen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass sie nicht an unser Wissen herankommen können.«
Daria schnappte nach Luft. »Du willst dich ihnen entziehen?!«
Leanna nickte. Sie sah die beiden Jungen blass werden. »Wie wollt ihr ihnen sonst entkommen? Was, wenn dich jemand in der Stadt erwischt, Rynan? Oder dich, Tavar, auf deinen Reisen? Wir sollten Bajans Männer fragen, wie sie sich für den Fall der Fälle vorbereitet haben, und es genauso machen. Ich bin sicher, er hat sie entsprechend angewiesen. Tut mir leid, Daria, es ist nun einmal so.«
Ihre Freundin hatte die Lippen zusammengepresst. Fest umklammerte sie Leannas Hand, sie hatte sie nicht einen Moment losgelassen. »Eher würde ich mich umbringen, als dass sie von mir etwas erfahren. Du hast recht. Es ist der Preis für das, was wir tun, und ich werde ihn gerne auf mich nehmen, für euch und für die Verborgenen, die ganz gewiss jetzt irgendwo ums Überleben kämpfen. Ich verspreche es euch.«
»Das ist gut.« Leanna umarmte sie.
Daria merkte, wie ihr schon wieder die Tränen hochkamen. »Werdet ihr mich wieder besuchen? Ich.. ich halte es kaum noch dort aus. Niemandem kann ich mich anvertrauen, es ist einfach schrecklich. Verzeiht mir«, sie lächelte die Jungen an, »ihr müsst wahrhaft denken, ich bin ein schwaches, weinerliches Mädchen.«
»Wir doch nicht, so, wie du dich gewehrt hast«, grinste Tavar und erreichte, was er wollte. Sie brachen in leises Gelächter aus, und Tavar sagte tröstend: »Du musst dir sehr allein vorkommen, aber sei versichert, du bist es nicht. Sieh mich an, bis ich Fürst Bajans Männer und euch traf, dachte ich das auch, aber jetzt weiß ich, dass es viele gibt, die alles dafür tun, dass unser Land wieder zu dem wird, was es einmal war. Das ist ein gutes Gefühl.«
»Oh ja, das ist es.« Daria lächelte ihm dankbar zu. »Ich werde euch helfen und euch alles wissen lassen, was ich erfahre. Ob es euch hilft oder nicht, das entscheidet ihr. Wie kann ich euch die Neuigkeiten zukommen lassen?«
Leanna überlegte: »Wir treffen uns nicht allzu oft, das ist sehr gefährlich und mit dir noch viel mehr. Du kannst nie sicher sein, ob nicht jemand deine Abwesenheit bemerkt.«
»Du ahnst gar nicht, wie recht du hast«, sagte Daria. »Ihr habt mich doch bestimmt beobachtet, oder? Was ist euch aufgefallen?«
»Du hast den Raum verriegelt und abgesucht.« Plötzlich wusste Tavar, was es mit ihrem merkwürdigen Verhalten auf sich hatte. »Hast du nach verborgenen Lauschposten geforscht?«
Daria nickte. »Ja, das habe ich. Der ganze innere Palast um die Gemächer des Königs ist voll davon. Ich habe schon vieles entdeckt, verborgene Türen, Gucklöcher in den Wandverzierungen, versteckte Gänge.. mein eigenes Gemach habe ich komplett abgesichert, die verborgenen Türen mit Möbeln zugestellt, sodass man sie nicht öffnen kann, sogar die Löcher für die warme Luftzufuhr zugeschmiert … eisig kalt ist es seitdem dort, aber das ist mir egal. Hauptsache, es steht niemand in den Heizschächten und belauert mich. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Dasselbe werde ich auch mit Nels Raum tun, das verspreche ich euch. Aber wie kann ich euch warnen oder euch Neuigkeiten zukommen lassen?«
»Rynan schiebt kleine Pergamentstücke unter der Tür meines Unterschlupfs hindurch«, sagte Leanna. »Willst du es nicht auch so machen? Schiebe sie einfach durch den Spalt der Geheimtür, ein dünnes Blatt Pergament müsste hindurchpassen. Wir holen sie dann bei Gelegenheit. Meinst du, du kannst für längere Zeit bei Nel schlafen?«
»Wenn es ihr weiter so schlecht geht, mit Sicherheit«, antwortete Daria sorgenvoll. »Ihr Bruder ist wirklich herzlos. Wie kann er nur so etwas von ihr denken? Sie ist schwer krank, das sieht man doch!«
Leanna seufzte. »Wir wollten sie erst von uns aus aufsuchen, aber das haben wir nicht geschafft. Nestan war nie für längere Zeit fortgewesen, sodass wir es nicht wagten.«
»Woher wisst ihr das alles?«, fragte Daria verblüfft.
»Bitte stellt keine Fragen, Herrin«, griff Rynan entschieden ein. »Je weniger Ihr wisst, desto besser. Es tut mir leid.«
Sie akzeptierte es mit einem Nicken, wohl auch, weil er nach wie vor die korrekte formelle Anrede gebrauchte. Mit dem Instinkt einer in der Oberschicht aufgewachsenen jungen Frau hatte sie folgerichtig erfasst, woher er stammte, nämlich aus den einfachsten Schichten Gildas, und sie ahnte, dass seine Hauptaufgabe war, Leanna zu schützen und zu begleiten. Eine Leibwache. »Könnt ihr mich trotzdem ab und zu hier herunterholen, damit ich mit jemandem reden kann?« Er nickte vorsichtig.
»Dann sollten wir uns etwas ausdenken, womit du uns zeigen kannst, dass die Luft rein ist«, schlug Leanna vor. »Irgendetwas, das wir auch im Dämmerlicht eurer Kammer sehen können.«
Daria überlegte. »Wie wäre es, wenn ich ein Kissen neben mein Bett fallen lasse? Das müsstet ihr doch sehen können, oder?«, schlug sie vor, nicht ahnend, dass Phelan und Althea seinerzeit dasselbe getan hatten. Damit war es beschlossene Sache. Froh sahen die beiden Mädchen sich an und griffen sich wieder an den Händen. Daria erzählte auf Leannas Bitte hin noch ein wenig von Lelia. Es traf Leanna zu hören, wie biestig ihre Schwester geworden war, und trotzdem sog sie ihre Worte förmlich in sich hinein. Es tat Rynan leid, dass er irgendwann zum Aufbruch drängen musste, denn die Nacht war weit fortgeschritten. Ihre Abwesenheit durfte von Meda und Nadim nicht entdeckt werden. Ohne Licht brachten sie Daria zu der Kammer zurück. Leanna umarmte sie noch einmal, dann öffneten sie die Geheimtür, und Daria kletterte die alten Stufen hinauf in ihr Bett. Leanna war doch erleichtert, als die Tür wieder hinter ihr zugeschoben war. Die dicken Mauern boten ihr Sicherheit. Schweigsam kehrte sie an der Seite ihrer beiden Begleiter in die Stadt zurück.
Nadim saß in dem warmen Wohnraum von Bayrams Haus und traute seinen Augen nicht. Bei ihrer Ankunft hatten sie nicht nur Bayram und Tabea erwartet, auch ihre Kinder waren zu dieser nachtschlafenden Zeit noch wach. Die beiden älteren, ein Mädchen und ein Junge, er kannte sie bereits aus den Erzählungen von Bayram, wurden gleich nach ihrer Ankunft ins Bett geschickt. Die beiden Kleinen jedoch, wieder ein Mädchen und ein Junge und ihm als Zwillinge Brendan und Ioanna vorgestellt, durften bleiben. Während er Bayram aufmerksam zuhörte, irrte sein Blick immer wieder zu Meda und Tabea hinüber. Tabea hielt den kleinen Jungen auf dem Schoß, Meda das Mädchen. Sie erzählten den beiden eine Geschichte. Es schien ein fest eingespieltes Ritual zu sein, so fügsam, wie die Kinder waren. Das kleine Mädchen wandte den Kopf in seine Richtung, es musste wohl spüren, dass er sie beobachtete. Es legte den Kopf schräg und lächelte ihn scheu an, den Kopf gegen Medas Schulter gelehnt. Nadim hatte plötzlich eine handfeste Überraschung vor Augen. Jetzt, da er das Gesicht der Kleinen unmittelbar unter Medas sah, war die Ähnlichkeit unverkennbar. Dasselbe Lächeln, dieselbe Form des Gesichts, die Augen jedoch.. Nadim schnappte nach Luft und musste rasch seinen Blick abwenden, sonst wäre er wohl aufgesprungen.
Auf dem Weg zurück durch die menschenleere Stadt sagte er die ganze Zeit nichts, doch als sie endlich in den sicheren Mauern des Hofes standen, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er hielt Meda zurück, bevor sie ins Haus gehen konnte »Weiß er es?«, fragte er rundheraus. »Ich habe doch Augen im Kopf. Sie ist Bajans Tochter. Eure Tochter, nicht wahr?«
»Kommt ins Haus«, sagte Meda anstatt einer Antwort. Statt in den Raum, in dem sie sonst aßen, führte sie ihn in ihr Empfangszimmer. Nadim kam sich vor, als würde er zum Verhör geführt, und blieb mit verschränkten Armen an der Tür stehen, die Meda energisch geschlossen hatte. Meda wandte sich um. »Nein, er weiß es nicht. Ich wusste bei Eurem letzten Besuch noch nicht, dass ich sie trug.«
»Dann.. wollt Ihr ihm eine Botschaft senden? Ich finde, er hat ein Recht, es zu erfahren.«
Meda stützte sich mit beiden Armen auf ihrem Schreibpult ab und beugte sich vor. Zwingend sah sie ihn an. »Nein, das werde ich nicht tun, und wenn Ihr sein Freund seid, dann werdet Ihr es ihm auch nicht sagen.« Sie schloss kurz die Augen und holte tief Luft. »Glaubt ja nicht, das fällt mir leicht. Nichts würde ich mir sehnlicher wünschen, als ihn hier zu haben, aber Ihr wisst genauso gut wie ich, dass es unmöglich ist. Ich bitte Euch, sagt es ihm nicht. Es würde ihn zerreißen. Die Kinder haben es auch nicht getan.«
»Phelan und Althea wissen davon? Ja, aber woher..« Er verstummte, als er den Ausdruck in Medas Gesicht sah. »Oh, schon gut. Wieder eines dieser Dinge, die niemand wissen soll. Ich werde es schon noch herausfinden, dessen seid sicher.« Nadim wandte sich verstimmt ab und wollte die Tür öffnen, aber Meda hielt ihn zurück.
»Nadim, wartet. Leanna und ich, wir hatten beide denselben schrecklichen Traum von ihr. In derselben Nacht. Sie war in großer Gefahr..«
»Einen Traum?« Nadim merkte auf. »Dasselbe berichtete Leviads Frau. Auch sie wähnte das Mädchen in Gefahr. Was geht hier vor?«
Meda beantwortete die Frage nicht, sondern beschwor ihn: »Ihr müsst zu ihr reisen, ich bitte Euch. Seht nach ihr und versichert Euch, dass es ihr gut geht. Wir sind voller Sorge um sie.«
»Im Frühjahr, das verspreche ich, sobald der Schnee fort ist. Vorher kommen wir nicht über die Berge. Aber da wir gerade ungestört sind, muss ich Euch noch etwas über die Entwicklung in Temora berichten, das Ihr noch nicht wisst..«
Tavar wich von der Tür zurück, sich gewahr werdend, dass er schon viel zu lange hier gelauscht hatte. Er huschte zu Leanna hinauf, die auf dem oberen Treppenabsatz ungeduldig auf ihn wartete. »Schnell!«, wisperte sie. Das war knapp gewesen. Meda und Nadim waren in eben jenem Moment zurückgekehrt, da sie Rynan verabschiedet hatten. »Du bist wirklich total verrückt!«, schimpfte Leanna flüsternd, unverkennbar wütend.
»Gute Nacht!«, grinste Tavar und schlüpfte in seine Kammer. Als Nadim eintrat, lag er ruhig da und tat so, als würde er schlafen. Er spürte, wie sich Nadim kurz über ihn beugte, sich dann aber selbst zur Ruhe begab. Tavar dachte noch lange darüber nach, was er dort gehört hatte. Von wem hatten sie nur geredet?
»Wo bist du gewesen?«
Tavar erstarrte innerlich, und er hoffte, dass er sich mit ruhigen Bewegungen weiter anzog. »Was meinst du?«, fragte er Nadim über die Schulter.
Genauso beiläufig sagte Nadim: »Wo du gewesen bist, fragte ich dich. Deine Stiefel standen heute Nacht in einer nassen Pfütze. Du warst draußen im Schnee.«
»Ach so!« Tavar durchfuhr ein eiskalter Schrecken. Fieberhaft überlegte er sich eine plausible Ausrede: »Rynan ist heute Nacht da gewesen. Wir haben geredet, ziemlich lange sogar.«
»Hmm, gut, freunde dich nur mit ihm an. Du wirst ihn noch öfter sehen. Beeil dich jetzt, Meda wartet mit dem Nachtmahl.«
Kaum war er hinaus, schloss Tavar erleichtert die Augen und schimpfte sich einen Narren. Auf dem Gang hörte er eine Tür zuschlagen. Er spähte hinaus. »Leanna!« Er winkte sie zu sich herein, nicht ohne sich rasch umzusehen, ob Nadim fort war.
»Was ist?«, flüsterte sie. Er sah beunruhigt aus.
»Nadim hat entdeckt, dass ich in der Nacht draußen war. Ich habe ihm gesagt, dass Rynan da war und wir geredet haben.«
Leanna hatte erschrocken die Luft eingezogen. »Aber wie..«
»Ich hatte Schnee an meinen Stiefeln, das hat er gesehen.«
»Schnee? Hast du sie denn nicht abgeklopft, bevor du hineingegangen bist?«, zischte sie. Wie konnte er nur so dumm sein? Sie tat es jedes Mal.
»Nein, tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst«, antwortete er zerknirscht.
Sie verdrehte die Augen. »Das solltest du besser tun! Zum Glück habe ich mit Meda und Netis heute noch nicht über die Nacht gesprochen. Ich muss Rynan abfangen und es ihm sagen, sonst verrät er uns.« Wütend wollte sie hinaus, aber Tavar hielt sie zurück.
»Warte. Willst du denn gar nicht wissen, was ich heute Nacht bei Meda und Nadim belauscht habe?«
»Nein!«, fauchte sie. »Beeil dich, das Essen ist fertig.«
Tavar musste ihr wirklich Bewunderung zollen. Als sie sich zu den Erwachsenen setzten, ließ nichts aus ihrer Miene daraus schließen, dass sie mehr als verstimmt war. Er mühte sich auch, aber es gelang ihm nicht annähernd. »Was ist denn mit dir los?«, fragte Meda sogleich.
Tavar spürte einen schmerzhaften Tritt am Schienenbein, aber es war zu spät. »Wir.. wir machen uns Sorgen. Rynan war heute Nacht noch einmal da.« Er sah Leanna, wie er hoffte, nicht allzu beschwörend an, und sie verstand, worauf er hinaus wollte.
»Rynan fürchtet, dass die Mönche alles aus ihm herauspressen könnten, wenn sie ihn erwischen. Anders als beim letzten Mal.« Sie setzte eine verzweifelte Miene auf.
»Was ist denn, Kleines?«, fragte Netis fürsorglich. Tavar beobachtete mit angehaltenem Atem, wie es Leanna gelang, die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es gab ihm Zeit, die er brauchte, sich wieder im Griff zu bekommen.
Leanna hatte ein schlechtes Gewissen, sie derart zu täuschen. »Ich habe Mutter einmal sagen hören, dass sie die Leute betäuben und brechen.« Meda und Netis zogen scharf die Luft ein, aber Leanna sprach rasch weiter: »Das muss Fürst Bajan doch auch wissen. Nadim, hat er Euch gesagt, wie Ihr Euch davor schützen könnt?«
»Kleines, ich glaube nicht, dass du..«, hob Nadim an.
»Doch, wir müssen es wissen!«, widersprach Leanna. »Rynan muss es wissen.«
›Und Daria‹, fügte Tavar in Gedanken hinzu und spannte sich an. Er ahnte schon, wie die Antwort lauten würde.
Nadim und Meda wechselten einen kurzen Blick, und Meda nickte. »Na schön.« Nadim band sich sein warmes Halstuch ab und nestelte an dem Kragen seiner Tunika herum, bis er eine an einem Lederband befestigte Kapsel hervorgeholt hatte. »Diese Kapsel enthält ein sehr schnell wirkendes, tödliches Gift. Nur so kannst du ihnen letztendlich entkommen.«
Leanna war bleich geworden, aber sie fragte weiter: »Und könnt Ihr das auch für Rynan besorgen?«
»Nein, kann ich nicht, denn dies hier habe ich vor langer Zeit einmal von einem Händler aus Saran erstanden, der es wer weiß woher hat. Tut mir leid, Kleines.«
»Aber Rynan muss sich doch irgendwie schützen können!«, rief Leanna mit bebenden Lippen. »Denkt doch daran, was geschieht, wenn sie ihn erwischen. Dann sind nicht nur wir, sondern auch seine Familie in Gefahr. Können wir ihm denn gar nichts geben? Ich weiß, er macht sich große Sorgen darum. Denkt doch daran, was sein Vater getan hat!«
Spielte sie nur, oder war sie wirklich so verzweifelt? Tavar wusste es nicht zu sagen. Er konnte sie immer noch nicht einschätzen.
»Leanna, du spielst leichtfertig mit dem Leben anderer, das ist dir doch klar?«, rügte Meda scharf.
»Du doch auch!«, gab Leanna trotzig zurück. »Jedes Mal, wenn er für uns Dinge belauscht, läuft er Gefahr, entdeckt zu werden. Es ist gefährlich, und deshalb frage ich doch auch!«
Meda wollte das nicht gelten lassen und setzte zu einer scharfen Erwiderung an, aber sie wurde von Nadim zurückgehalten. »Ich muss zugeben, dass ich selbst schon über dieses Problem nachgedacht habe. Der Junge weiß einfach zu viel und wäre ihnen im Fall der Entdeckung schutzlos ausgeliefert. So ungern ich das sage, aber Leanna hat recht. Habt Ihr denn nicht irgendetwas, das Ihr dem Jungen geben könnt?
Medas Miene hatte sich verdüstert. »Nie wieder, das habe ich mir geschworen, wollte ich zu einem solchen Schritt gezwungen sein!«
»Nie wieder? Meda, was meinst du damit?« Jetzt erschrak Leanna wirklich und bereute, dass sie so weit vorgeprescht war. Meda hatte recht, es ging um Menschenleben.
»Wir haben schon einmal wissentlich Menschen in den Tod geschickt«, sagte Meda, und Netis nickte düster. »Das war, als sie die Gefangenen abholten. Wir gewährten all jenen den Gnadentod, die es im Lager nicht geschafft und sich nur elendig gequält hätten. Ich hatte mir geschworen, es nie wieder zu tun, doch wie es aussieht«, sie bedachte Leanna mit einem bitteren Blick, der diese ganz elend werden ließ, »haben wir keine Wahl. Nun denn.. jede Art von Arznei wirkt überdosiert wie ein Gift. Wir stellen etwas zusammen, am besten ein Pulver, und verbergen es in einer kleinen Kapsel. Eine Nuss oder eine Hülse, uns wird schon etwas einfallen.«
»Macht mir bitte auch eine oder am besten gleich zwei«, sagte Tavar. »Ich möchte sie an mehreren Stellen tragen, nur zur Sicherheit.« Leannas Kopf fuhr zu ihm herum.
»Bist du sicher?«, fragte Netis.
Es ärgerte Tavar, dass sie ihn immer noch nicht für voll nahmen. »Ich weiß genauso viel wie Rynan, also will ich mich ebenso schützen können wie er. Ja, ich bin sicher«, sagte er mit mehr Überzeugung, als er fühlte. Im Gegenteil, die Furcht kroch ihm kalt den Rücken herunter.
»Dann lasst uns gleich beginnen.« Meda stand auf. »Ich habe dem Händler eine Botschaft zukommen lassen, dass er seine Behältnisse wieder abholen kann. Er wird morgen früh kommen, sobald die Stadttore geöffnet sind.«
»Morgen schon?« Tavar fühlte einen leisen Stich der Enttäuschung. Darüber vergaß er sogar seine Furcht vor dem Gift. So schwierig das Auskommen mit Leanna war, er war gerade dabei, ihr Vertrauen zu gewinnen, und nun musste er schon wieder fort. Sie hatte wie so oft den Kopf gesenkt, um zu verbergen, was sie dachte. War sie traurig über die Abreise oder froh? Tavar gestand sich ein, dass es wohl eher Letzteres war, und er dachte bei sich, dass es wohl wirklich besser war, wenn sie gingen.
»Ja, es ist wirklich besser, wenn wir jetzt aufbrechen«, sagte Nadim, als hätte er seine Gedanken erraten. Seine Augen funkelten belustigt, als er Tavars überraschte Miene sah. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Wo willst du hin?«, fragte Tavar.
»Nach Mukanir.«
»Zu Mutter?«, kam es leise von Leanna. »Kommt Ihr auf dem Rückweg wieder her und sagt mir, wie es ihr geht? Bitte, Nadim!«
»Natürlich werden wir das, Kleines.« Leanna verzog bei dem Wort unmerklich das Gesicht. Tavar konnte es gut verstehen, das hatte sie heute Abend schon zu oft gehört. Er zwinkerte ihr zu, was sie mit einem giftigen Blick beantwortete.
Am folgenden Morgen machten sich Nadim und Tavar noch im Dunkeln aufbruchfertig. Leanna brachte Tavar in den Stall, wo seine Amphore stand. Zum ersten Mal seit dem gestrigen Abend konnte sie ungestört miteinander sprechen. Etwas verlegen standen sie nebeneinander und wussten nicht, was sie sagen sollten. Da fiel Tavar einer der beiden kleinen Beutel ein, die Medas tödliche Gaben enthielten. Er suchte ihn heraus. Er enthielt eine Nuss, die erst sauber in zwei Hälften geteilt, mit dem Pulver gefüllt und dann wieder zugeleimt worden war. Tavar wollte gar nicht genau wissen, was sie alles enthielt, er meinte nur, auf einem der vielen Döschen Fingerhut gelesen zu haben. Bei dem Gedanken lief es ihm kalt den Rücken herunter.
Er streckte Leanna das Beutelchen hin. »Hier, das ist für Daria. Sie wird es brauchen.«
Sie nahm es zögerlich entgegen. »Nein, Rynan kann ihr seine zweite Nuss geben. Diese hier nehme ich für mich.«
»Für dich? Aber Leanna..« Am liebsten hätte er den Beutel wieder an sich genommen, streckte schon die Hand danach aus.
Sie wich zurück und drückte den Beutel fest an sich. »Hör endlich auf, mich wie ein kleines Mädchen zu behandeln. Ich kann das ebenso wenig leiden wie du!«, zischte sie mit eben jenem harten Gesichtsausdruck, der sie um so vieles älter wirken ließ, als sie vermutlich war. »Du solltest jetzt in die Amphore steigen. Die Schwestern werden bald hier sein«, fügte sie kalt hinzu.
Tavar merkte, dass sie wieder einmal schlecht auf ihn zu sprechen war. Um des lieben Friedens willen stieg er folgsam hinein, er wollte nicht im Streit mit ihr auseinandergehen. »Tut mir leid«, sagte er mit jenem zerknirschten Gesichtsausdruck, bei dem man ihm einfach nicht mehr böse sein konnte.
»Oh, warum entschuldigst du dich andauernd?«, rief sie entnervt und stopfte ihm ein wenig Stroh hinein.
»Was soll das..« Tavar bekam mit voller Absicht eine Ladung Stroh ins Gesicht.
»Merke dir, ich bin weder ein kleines Mädchen noch ein zartes Pflänzchen, das man mit Samtfingern anfassen muss! Warum behandelst du mich nicht einfach normal? Ach, und bevor du fragst, ich bin dreizehn Jahre alt!« Beinahe hätte sie über seinen dummes Gesicht laut gelacht. »Das mit dem ausdruckslosen Gesicht muss du wirklich noch lernen!«, rief sie und knallte den Deckel auf die Amphore. Keinen Moment später hörte er die Tür hinter ihr zuschlagen.
Sprachlos hockte Tavar im Dunkeln. Was hatte er nun schon wieder verbrochen? »Ach, mach doch, was du willst!«, rief er hinter ihr her und rieb sich unwirsch die Strohhalme aus dem Gesicht.
Leanna kehrte außer sich vor Zorn in ihre Kammer zurück. Was fiel ihm eigentlich ein? Kam hier einfach herein und meinte, von nun an alles bestimmen zu können, einfach so? Das würde sie sich nicht gefallen lassen!
Als sich ihr Zorn im Laufe des Tages ein wenig gelegt hatte, begann das schlechte Gewissen an ihr zu nagen. Sie gingen auf eine gefährliche Reise, und anstatt ihnen alles Glück zu wünschen, machte sie Tavar nieder, beschämte ihn sogar, und war wie eine beleidigte dumme Gans davongelaufen! Nicht einmal von Nadim hatte sie sich verabschiedet. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Mit Rynan kam Leanna überein, dass Daria ihre Nuss schnellstmöglich erhalten sollte. Leanna war auf ihrem Weg in die Festung völlig in Gedanken. Ihr schlechtes Gewissen drückte sie, außerdem hatte Meda ihr berichtet, wie es ihrer Cousine wirklich bei der Ankunft in Temora ergangen war. Die Sorge darum, in welcher Gefahr Althea womöglich schwebte, verbunden mit dem Traum, ließ und ließ sie nicht los, als sie sich auf den Weg in die Festung machten.
Eine schweigsame Leanna war Rynan gewöhnt, ja, bei Tavars Besuch hatte sie sogar ungewöhnlich viel geredet, aber eine Leanna, die völlig in Gedanken an der Abzweigung in die Festung vorbei lief, dann doch nicht. »Sag mal, ist etwas mit dir? Machst du dir Sorgen? Ihnen wird schon nichts geschehen.«
Leanna schnaubte nur. »Ach, denen doch nicht«, sagte sie verächtlich und fühlte gleich einen Gewissensstich, weil es ihr wirklich seltsam gleichgültig war.
»Und warum denkst du dann die ganze Zeit an sie? An Nel kann es jedenfalls nicht sein, sonst wärest du schon vorher so gewesen«, bohrte Rynan in seiner einfachen, aber unbestechlichen Logik weiter.
Ertappt zuckte Leanna zusammen. »Hör auf! Ich will nicht darüber reden!«, rief sie und rannte voraus.
Da wusste Rynan, dass er auf der richtigen Fährte war. Seelenruhig ging er mit langen Schritten hinter ihr her. Er wusste, er würde sie bald einholen, denn so schnell würde sie es niemals die Treppen hinauf schaffen. Er behielt recht. Auf halbem Weg fand er eine schnaufende Leanna vor. »Es ist etwas passiert, nicht wahr? Was denn?«
Da sie ihm nicht ausweichen konnte, blitzte sie ihn böse an, gab dann aber zu: »Wir hatten einen Streit, das ist passiert! Er hat versucht, mir Vorschriften zu machen, und das habe ich mir nicht gefallen lassen. Was bildet er sich eigentlich ein?«
Kopfschüttelnd lief Rynan neben ihr weiter. »Am Anfang hat es mir gar nicht gepasst, dass du ihn einfach so eingeweiht hast, und jetzt passt es dir nicht, dass er sich einbringt? Er hat uns eine Menge guter Ideen gebracht, gib es zu, und er hat uns keine Vorschriften gemacht, die ganze Zeit nicht. Was also dann? Leanna!« Er hielt sie fest und hielt die Fackel hoch, damit er ihr Gesicht besser sehen konnte. »Ist er dir zu nahe getreten?«, fragte er in einem zornigen Moment des Verdachts.
»Rynan, was denkst du nur! Nein, das ist es nicht.« Leanna biss sich auf die Lippen und suchte nach einer Ausrede. »Ich.. ich weiß es nicht. Ich.. kann es nicht sagen«, sagte sie und floh aus dem Lichtkreis der Fackel.
Rynan sah ihr verdutzt hinterher. Sie klang ja geradezu ertappt.. er riss die Augen auf. »Warte! Warum beunruhigt er dich so? Kann es sein..« Er kam langsam auf sie zu und hielt die Fackel hoch.
Leanna drehte den Kopf fort und wandte sich um. »Ach lass doch, so wichtig ist es doch nicht.«
»Du magst ihn.« Ein breites Grinsen erschien auf Rynans Gesicht.
Leanna fuhr herum. »Was?! Du bist verrückt!«
»Oh ja, du magst ihn!« Er lachte schallend los über ihr errötendes Gesicht. »Und wie!«
»Hör auf, das ist doch absurd! Du hast wirklich nichts als Unsinn im Kopf!«, zischte sie nun wirklich ärgerlich. Wo hatte sie sich da nur hineingeritten? Und das alles nur, weil sie in Gedanken gewesen war und davon ablenken wollte! Jetzt saß sie schön in der Patsche. »Na gut, hör zu. Ich habe nicht an Tavar gedacht, sondern an Althea. Meda hat mir etwas sehr Schlimmes von ihr berichtet, etwas, das Nadim nur ihr erzählt hat. Sie wollten nicht, dass Tavar davon erfährt.«
Rynan starrte sie an. »Und ich soll es auch nicht, oder?«, riet er.
Sie nickte bedrückt. »Versteh doch, sie wollen dich schützen. Wenn du es nicht weißt, kann es aus dir auch niemand herausholen. Rynan, bitte sei nicht böse«, flehte sie. Es war ihr ernst, das merkte er an ihrer verzagten Miene. Leanna brauchte ihn und konnte es nicht ertragen, wenn er ihr gram war.
Es stimmte ihn versöhnlich. »Vielleicht ist es besser, wenn ich es nicht erfahre«, sagte er und wandte sich wieder der Treppe zu.
»Nein, wenn ich jetzt so denke.. vielleicht brauchst du das Wissen noch, wenn du zum Steinbruch gehst.« Also erzählte sie ihm von Altheas Flucht aus Temora.
»Verdammt, da ist sie ja in etwas hineingeraten! Aber wie ich sie kenne, wird sie sich das nicht gefallen lassen haben«, versuchte Rynan, sie aufzumuntern. Schließlich hatte er ja auch so seine Erfahrungen mit Althea gemacht.
Leanna konnte schon wieder lachen. »Das glaube ich auch. Ich bin gespannt, was Tavar zu ihr sagt, wenn sie sich das erste Mal begegnen. Wahrscheinlich flüchtet er vor Schreck zurück nach Nador!«, spottete sie.
Rynan sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. »Und ich glaub’, du magst ihn doch«, grinste er und neckte sie noch damit, als sie vor Darias Kammer angelangt waren.
»Hör endlich auf!«, zischte Leanna und tastete sich bis zu der Treppe vor. Sollte er doch glauben, was er wollte.
Angestrengt spähte sie durch den Spalt. Innen war alles dunkel, selbst bei Nel brannte kein Licht. Dafür ertasteten ihre Finger auf den Stufen der Treppe eine ganze Reihe Pergamente. »Oh, Daria war fleißig. Lass sie uns lesen, dann versuchen wir es nachher noch einmal.«
In der großen Höhle lasen sie Darias Botschaften. Nel hatte sich etwas beruhigt und aß auch wieder richtig. Es erleichterte sie, das zu hören. Chrysela war bei Alia gewesen. Statt ihr irgendeine heilsame Medizin zu geben, hatte sie zu mehr Enthaltsamkeit in Essen und Trinken geraten. Das war natürlich nicht das, was Alia hören wollte. Voller Zorn hatte sie Chrysela hinausgeworfen, nicht ohne den Befehl, das nächste Mal mit etwas Wirksamerem zurückzukommen.
›Sie hatte so schlechte Laune, dass sie uns bereits am frühen Nachmittag entlassen hat. Für uns war es der erste freie Nachmittag seit langer Zeit. Ich bin mit Nel im Palastgarten spazieren gegangen. Sie freute sich über den Schnee und hat zum ersten Mal gelacht.‹
Eine andere Botschaft stimmte sie nachdenklich: ›Heute bekamen wir eine neue Magd. Sie ist erst acht Jahre alt, ein völlig verängstigtes, ausgemergeltes Mädchen. Unter Bridas Herrschaft halten es nicht viele aus, die älteren Mägde sehen zu, dass sie heiraten oder anderweitig unterkommen können. Die Kleine war nicht in der Lage, mich anzukleiden und uns zu dienen. Sie wusste nicht, was zu tun ist, aber zu Brida zurückschicken wollte ich sie auch nicht, das hätte für sie bestimmt Schläge gegeben. Also habe ich sie gefüttert, und stellt euch vor, Nel hat mir geholfen! Sie spricht immer noch nicht, aber ganz offensichtlich hat das Mädchen sie wachgerüttelt.‹
»Oh, das klingt gut«, lächelte Leanna. Sie faltete das nächste Pergament auseinander. Kaum hatte sie die ersten Zeilen gelesen, verblasste ihr Lächeln. »Daria hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie wird nicht mehr allein im Palast umhergehen.« Sie schrak auf. »Ich will sie sehen. Lass es uns noch einmal versuchen.«
Diesmal hatten sie Glück. Daria hatte Nel zu Bett gebracht und saß nun auf ihrer Liege, bereit, sich für die Nacht herzurichten. Leanna beschloss sie anzurufen, bevor sie anfing, sich zu entkleiden. »Daria!«, zischte sie, nicht sicher, ob sie das hören würde.
Darias Hand, die eben die Chadra lösen wollte, hielt inne. Sie hob den Kopf. Leanna fand ihren Verdacht bestätigt, dass man die Geräusche aus den Gängen oben hören konnte. Sie beobachtete, wie Daria zu Nel hereinspähte und dann das Licht löschte. Leanna löste die Verriegelung der Geheimtür, sprang die Stufen hinauf und zog Daria zu sich hinab. Sie umarmten sich kurz und liefen bis in die sichere große Höhle, bevor sie sprachen.
»Oh, es tut gut, euch beide zu sehen! Habt ihr meine Botschaften gelesen?« Sie bedachte Rynan mit einem vorsichtigen Nicken, das er ernst und mit einer Verneigung erwiderte.
»Sagt, wer hat Euch verfolgt?«, fragte er.
Ihr Lächeln schwand. »Ich weiß es nicht. Es war gestern Nacht. Nel bekam Fieber, und ich wollte ihr einen Tee kommen lassen, fand aber keine Magd. Da bin ich selbst losgegangen.« Daria unterdrückte ein Schaudern. »Es war unheimlich, die Gänge so still und leer. Keine Wachen, keine Bediensteten, keine Boten.«
»Keine Wachen?« Leanna wunderte sich. »Zu Mutters Zeiten standen auch nachts überall Wachen, selbst als es schon die Tempelwachen waren. Das finde ich merkwürdig..«
»Ob er sie abkommandiert hat? Damit er sich frei bewegen kann?«, überlegte Rynan.
»Wen meinst du mit er?«, fragte Daria verwundert. Sie erzählten ihr von Alias Liebhabern. Daria lauschte mit konzentriert gerunzelter Stirn. »Irgendwie wundert es mich nicht, dass sie welche hat, obwohl es das eigentlich sollte«, seufzte sie. »Zwischen dem König und Alia herrscht eine Eiseskälte, seit er wieder halbwegs genesen ist. Er ruft sie kaum noch zu sich. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, so, wie deine Mutter damals auch, nur mit eben diesem gewissen Unterschied. Es wundert mich nicht, dass sie die Wachen nicht dort haben will.«
»Oh bitte, Daria, sei vorsichtig«, bat Leanna.
»Das bin ich, keine Sorge. Von Alia nehme ich nichts an, keine Speisen, keine Getränke, so, wie deine Mutter es getan hat. Sie war eine gute Lehrherrin in diesen Dingen«, sagte Daria traurig.
Rynan stieß Leanna an. »Wir haben noch etwas für dich«, sagte sie, und er hielt ihr den Beutel mit der Nuss hin.
Lange starrte Daria darauf, dann nahm sie den Beutel in die Hand und umschloss ihn fest. »Das ist meine Sicherheit. Ich danke euch.« Sie holte ein kleines, mit einem heiligen Baum verziertes Medaillon unter ihrem Kleid hervor, tat die Nuss hinein und drücke es an ihre Lippen. »Auf dass ich es nie mehr öffnen muss und dass es niemand findet. Wenn meine Mutter wüsste, wozu ich ihr Geschenk gebrauche.« Sorgsam steckte sie es fort. Ihre Freude über das Wiedersehen mit den beiden war verflogen und hatte der Sorge Platz gemacht. Auf einmal waren sie sich der Gefahr und der drängenden Zeit wieder bewusst. Daria umarmte Leanna zum Abschied und schenkte Rynan zum ersten Mal ein vorsichtiges Lächeln, das er mit einer leichten Verbeugung, es war ein Dank, erwiderte. Wie es schien, hatte sie ihm ihre Entführung verziehen und war gewillt, mit ihm Freundschaft zu schließen.
Ein paar Tage später brach Rynan zu seiner Mission zu dem Steinbruch auf. Er sagte Leanna absichtlich nichts, denn er wusste, dass sie kein Auge zutun würde, bis er nicht heil zurückgekehrt war. Eines Abends stand er aufgekratzt in dem kleinen Lagerraum, grinste breit bis über beide Ohren und lief, ohne Leanna ein Wort zu sagen, hinüber ins Heilerhaus. Sie wusste gleich, dass er dort gewesen war, und konnte ihm irgendwie nicht böse sein, ja, sie war sogar erleichtert, dass er ihr einige schlaflose Nächte erspart hatte.
»Nun sag schon!«, stieß sie ihn ungeduldig an, kaum dass er den ersten Löffel seiner üblichen Essensportion in den Mund geschoben hatte.
Rynan grinste mit vollem Mund, schluckte, und dann lachte er. »Ich habe eine Überraschung für euch.« Alle drei konnten ihre Erwartung kaum zügeln, und Rynan kostete es aus, nahm noch einen Löffel, sodass Leanna ihm diesen ungeduldig aus der Hand nahm. Grinsend holte er ein gerolltes Blatt Pergamentimitat hervor. Leanna wollte es sich schnappen, aber er zog es schnell zurück. »Ich war nicht nur einmal beim Steinbruch, sondern zweimal. Das zweite Mal allein«, berichtete er stolz und auch ein ganz klein wenig angeberisch.
»Zweimal?! Aber Rynan, das..«
»Meda, das erste Mal taten wir, was Nadim gesagt hatte. Wir warfen ein Seil mit einem Haken nach unten und ließen daran Decken und Proviant herunter. Wir dachten schon, das wäre es gewesen, da ruckte es plötzlich am Seil, und zurück kam ein Teil der Decke zu einem Beutel gebunden, und darin fanden wir..«, er griff eine seiner vielen Taschen und holte einen flachen Stein hervor, »das hier.«
Meda beugte sich vor. »Oh, es ist etwas eingeritzt. ›Wer seid Ihr? Thorald schreibt dies.‹«
»Von Onkel Thorald!« Leanna nahm ihm den Stein aufgeregt aus der Hand. »Was hast du dann gemacht?«
»Dreh ihn um«, sagte Rynan. Leanna tat es und fand auf der Rückseite Rynans ungelenk eingeritzten Namen und darunter: ›Bring Pergament!‹ »Und das habe ich getan, beim zweiten Mal. Ich habe mir überlegt, was er wohl am dringendsten wissen möchte, und ihm alles aufgeschrieben, was Nadim von Althea, Phelan und der Königin..«
»Du hast es einfach so hinuntergeschickt, ohne zu wissen, ob er es wirklich ist?!«, unterbrach Meda ihn scharf. »Woher wusstest du, dass es keine Falle war? Woher wolltest du wissen, dass dort unten nicht jemand anderer das Pergament in Empfang nahm? Du hast alles in dem Pergament verraten!«
Anstatt in sich zusammenzusinken, wie es Leanna erwartete, richtete sich Rynan stolz auf. »Weil ich gesehen habe, wie sich dieser jemand durch das Gitter eine Haarsträhne abgeschnitten hat und mir hochgeschickt hat.« Er zog ein zusammengefaltetes Tuch aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. Darin lag eine schmutzig-rote, mit allerlei Grau durchsetzte Haarsträhne. »Meister Thorald muss dasselbe gedacht haben. Er hat uns eine Legitimation geschickt. Dies habe ich natürlich erst nach Tagesanbruch gesehen, aber dann wusste ich, dass ich ihm alles aufschreiben konnte. Außerdem bat mich mein Kamerad, ihn zu fragen, wer dort unten alles mit ihm gefangen gehalten wird. Er macht sich große Sorgen um seinen Bruder, aber er wollte nicht noch einmal dorthin. Er hatte Angst, versteht ihr?«
»Ja, das kann ich gut verstehen«, sagte Meda versöhnlich. »Was geschah dann?«
»Ich schickte ihm dies mit einigen leeren Blättern nach unten. Ich konnte sehen, wie er sich an das letzte Feuer hinten im Tal zurückzog und es allein gelesen und anschließend gleich verbrannt hat. Es dauerte lange, bis er seine Antwort hoch schickte.« Er rollte das Blatt aus und gab es ganz bewusst Leanna. Heraus fielen außerdem zwei Briefe. »Ich weiß nicht, für wen die sind. Ich kann die Zeichen darauf nicht lesen.«
Meda nahm sie auf. »Das ist Temorisch. Sie sind an Althea und Chaya und..« Sie runzelte die Stirn und fuhr mit dem Finger über das Pergament. Verwundert sahen sie, wie Meda daran schnupperte und erschrak. »Oh Himmel, Rynan, sie sind mit Blut geschrieben! Hast du denn nicht an Tinte und Feder gedacht?«
Diesmal kam der Vorwurf zu Recht. Rynans triumphierende Miene schwand. »Nein, daran habe ich nicht gedacht«, murmelte er betroffen.
»Er hat viel geschrieben«, sagte Leanna ohne einen Vorwurf in der Stimme, aber Rynan fühlte sich trotzdem schuldig. »Seht, er schickt eine Liste mit Namen und bittet uns, die Familien zu benachrichtigen, dass es ihnen gut geht, und dann schreibt er, du sollst ihm nichts mehr sagen, denn die Tempelwachen sind wahrhaft teuflisch und versuchen, auf mannigfaltige Weise an das Wissen ihrer Gefangenen heranzukommen. Selbst er konnte sich erst im letzten Augenblick schützen. Wir hatten recht.« Leanna sah auf, das Gesicht bleich.
Meda nahm das Pergament an sich. Mit gerunzelter Stirn las sie zu Ende. »Deutlicher kann die Warnung nicht sein. Rynan, hast du ihm etwas über uns und Leanna geschrieben?«
Rynan stieß erleichtert die Luft aus. »Nein, um ehrlich zu sein, ich habe gar nicht daran gedacht.«
»Es war gut so«, murmelte Meda. »Wenn ich das hier lese.. oh, hört weiter. Die Arbeit im Steinbruch ist sehr hart. Viele sind wegen der Kälte und des schlechten Essens krank. Meister Thorald bittet hier um ein paar Dinge, die er braucht.. ja, ist er denn Heiler?«, staunte sie, als sie die Liste sah.
Das wusste Leanna ganz genau. »Alle Priester Temoras werden auch als Heiler ausgebildet. Das hat er uns erzählt. Meda, was hast du?«
Das Gesicht der Heilerin war hart geworden. »Ganz zum Schluss schreibt er, wer gestorben ist. Bisher waren es nur ein alter Mann und jene Abhängigen, die wir mit dem Gift versorgt hatten. Dann bittet er noch um ein paar einfache Dinge, Decken, Felle und Nahrung. Keine Kleidung, das würden die Wachen bemerken. Und er sendet dir seinen Segen und mahnt dich, vorsichtig zu sein, Rynan. Das ist alles.«
Leanna sah mit Tränen in den Augen auf. »Es ist gut, dass er nichts von uns weiß. Dann können sie nichts aus ihm herauspressen.«
»Oh, lasst uns hoffen, dass er als Temorer noch ganz andere Möglichkeiten hat, sich zu schützen«, sagte Meda und schritt auf ihre übliche Weise gleich zur Tat, bevor sie die Furcht überwältigen konnte. »Nun denn, dann wollen wir ihnen etwas zusammenstellen. Rynan, du darfst nicht allzu häufig dorthin, sonst läufst du Gefahr, entdeckt zu werden.«
»Nein, ich gehe nur in den Nächten, wenn ein starker Wind den Schnee verweht und kein Mond scheint, so, wie es Nadim gesagt hat. Keine Sorge, ich passe schon auf«, versprach er.
Trotzdem war und blieb Leanna über all diese Dinge beunruhigt, aber sie sagte nichts, sondern fraß all ihre Sorgen in sich hinein, weil sie niemanden damit belasten wollte. Ihr immer müder werdendes Gesicht war das einzige Anzeichen dafür, dass sie etwas bedrückte. Immer öfter spürte sie die besorgen Blicke der beiden Frauen auf sich, doch sie bedrängten sie nicht, sondern warteten, dass sie selbst sich mitteilte.
Eines Morgens wurde sie von Netis nach einer viel zu kurzen Nacht geweckt. »Eine Lieferung ist gekommen!«
Verschlafen richtete sich Leanna auf. »Eine.. oohh!« Hellwach sprang sie von ihrer Liege.
Die Amphore war diesmal mit Bohnen gefüllt. »Und, juckt es so scheußlich wie das letzte Mal?« Sie verbarg ihre Erleichterung und Freude, die beiden heil wiederzusehen, hinter beißendem Spott.
»Nicht annähernd. Ich habe meinen Kragen zugebunden«, lachte Tavar, nicht gewillt, sich wieder an ihren Launen zu stören. Behände stieg er heraus. Er sah sofort, dass es ihr nicht gut ging. »Ist etwas passiert? Ist dir nicht wohl?«
»Nein«, wiegelte Leanna ab und winkte ihn mit sich. »Hast du Neuigkeiten?«
»Komm mit, Nadim hat einen langen Brief für dich!« Er lief ihr voraus.
Nadim begrüßte Leanna mit einem Lächeln. »Tavar sagte mir, Ihr habt einen Brief für mich?«
Er lachte. »Oh ja, habe ich, von deiner Mutter und..«
»Wir haben nicht viel Zeit, bevor die Schwestern kommen«, unterbrach Meda ihn. »Sagt uns nur schnell das Wichtigste.«
Nadim rundes Gesicht wurde ernst. »Ich bringe gute, aber leider auch sehr traurige Neuigkeiten. Wir waren bei Jormans Landgut. Er ist letzten Winter gestorben und ebenso die ehrwürdige Mutter Klesa im letzten Herbst.«
»Oh nein!«, riefen die Frauen aus. Netis hatte die Hände vor den Mund geschlagen, und Meda sah ihn fassungslos an. »Wie ist das passiert?«
»Das Alter, sagt Yola, und die Kälte in dem Kloster tat ihr Übriges. Sie ist ganz friedlich eingeschlafen, hatte keine Schmerzen und war nicht krank.«
»Dem Herrn sei Dank!«, flüsterte Netis, wandte sich ab und ging hinaus.
»Netis und die ehrwürdige Mutter waren ihr Leben lang gute Freundinnen«, sagte Meda leise. Auch ihr standen Tränen in den Augen, aber sie beherrschte sich. Fest nahm sie Leanna in den Arm. »Weiter, Nadim.«
»Der Königin geht es gut, und Yola und Meno haben ein Kind bekommen, ein kleines Mädchen, das mir schon auf zwei Beinen entgegengelaufen kam.«
»Oh!« Sie waren hin und her gerissen zwischen Freude und Trauer.
»Hoffentlich hat es nicht Bridas und Menos krumme Beine geerbt«, sagte Leanna.
Nadim lachte ein wenig. »Nein, hat es nicht, und darüber sind sie sehr froh.« Er griff in seinen Umhang und holte ein fest verschnürtes Päckchen hervor. »Dies schickt dir Yola. Jeden Herrentag hat sie, nachdem sie mit deiner Mutter geredet hat, einen Abschnitt darüber geschrieben.«
»Ein Tagebuch..«, flüsterte Leanna und drückte den Schatz fest an sich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, konnte nur schlucken und versuchen, die Tränen zu unterdrücken. All ihre Gefühle waren auf einmal offen in ihrem Gesicht zu sehen.
»Ist ja gut.« Meda nahm sie fest in die Arme.
Leanna erstarrte völlig, weil sie mit aller Macht verhindern wollte, dass sie in Tränen ausbrach. Sie barg ihr Gesicht tief in Medas Kleidern, so sehr schämte sie sich dafür. Tavar starrte sie so verwirrt an, dass Nadim ihm einen mahnenden Stoß verpasste. Hastig sah er woanders hin, aber Meda hatte es trotzdem gesehen und führte Leanna nach draußen. »Willst du in deine Kammer gehen? Ich sage den Schwestern, dass dir nicht wohl ist.« Sie strich Leanna sanft über die kurzen Haare. Leanna ergriff die Möglichkeit zur Flucht sofort und brachte sich vor den Blicken der anderen in Sicherheit.
Die Frauen ließen sie den ganzen Tag in Ruhe. Leanna war froh darüber. Sie brauchte einfach Zeit, um sich wieder zu fassen. Den ganzen Tag über las sie, schlief und las wieder, sie sog die Worte Yolas förmlich in sich hinein.
Ihre Mutter wurde wie eine Gefangene behandelt, außer zu den Gottesdiensten durfte sie nicht aus ihrer Klosterzelle heraus, während die anderen Mönche und Nonnen ihren täglichen Verrichtungen nachgehen mussten, um das Auskommen des Klosters zu bestreiten. Zunächst noch in Gesellschaft der ehrwürdigen Mutter, lebte sie nach deren Tod ganz in ihrer eigenen Welt. Ab und zu bekam sie Arbeit, sie durfte spinnen, nähen und weben, blieb aber ansonsten allein. Zuerst fand es Leanna schrecklich, davon zu lesen, bis sie meinte, zwischen den Zeilen zu hören, dass ihre Mutter langsam ihren Frieden fand.
Yola schrieb abschließend dasselbe: ›Ich habe den Eindruck, dass es ihr besser geht als je zuvor. Mach dir keine Sorgen, Kleines. Unsere Gedanken sind stets bei dir.‹
Als sie am Abend zum Essen hinunterging, war sie ruhig geworden. Nadim und Tavar lernten nun die Leanna kennen, die sie die meiste Zeit war, still und in sich gekehrt. Sie zeigte keine Regung und stellte keine Fragen, als die beiden von ihrer Reise nach Mukanir und Meda von Rynans Expedition zum Steinbruch berichteten. Netis brachte sie schließlich nach oben, weil sie wohl dachte, dass es ihr nicht gut ging, und Meda entschuldigte sie. »Sie trägt schwer am Schicksal ihrer Mutter.«
Tavar mühte sich, seine Verwunderung zu verbergen. Für ihn hatte es eher danach ausgesehen, als wolle Leanna nicht, dass andere ihre Gedanken und Gefühle erahnten. Er konnte es nach dem Ausbruch heute Morgen verstehen und war ein klein wenig neidisch, wie gut sie sich beherrschen konnte, ganz im Gegensatz zu ihm selbst.
Zu seiner großen Enttäuschung kam er nicht mehr dazu, allein mit Leanna oder gar Rynan zu sprechen. Gleich am nächsten Morgen saßen sie wieder in ihren Behältnissen und reisten ab. Leanna war froh darum. Allein seine, wie sie fand, wichtigtuerische Art, wie er von der Reise nach Mukanir erzählte, brachte sie in Rage. Er fand offensichtlich immer noch, dies alles sei ein aufregendes Spiel. Sie hoffte, dass sie ihn nicht allzu bald wiedersehen würde, auch wenn sie sich noch so nach Neuigkeiten von Althea sehnte.
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