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Kapitel 4
ОглавлениеNador
Viertes Frühjahr nach der Flucht
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Leannas Wunsch sollte schlimmer in Erfüllung gehen, als sie es ahnte. Als Nadim und Tavar in Nador ankamen, setzte die Schneeschmelze ein. Sie schafften es gerade noch von der Hochebene herunter, bevor die Wege unpassierbar wurden. Dann saßen sie erst einmal fest, in einer feuchten Höhle, während draußen die Welt im Wasser unterging.
Dieser Umstand rettete ihnen vermutlich das Leben. Kaum konnten sie wieder einigermaßen sicher reisen, stießen sie auf ein paar Hirten, die ihnen schreckliche Neuigkeiten brachten: Das Lager der Flüchtigen war aufgeflogen. Einer der Jüngeren hatte es nicht ausgehalten und war in die Stadt zurückgekehrt und gefangen worden. Tavar zog die Schultern ein, als er das hörte, und Nadims bohrender Blick sagte ihm nur allzu deutlich, dass er das hätte sein können. Rasch ließ sich Nadim einen Überblick geben. Sie hatten die Versteckten warnen können. Ein Teil war geflohen, ein Teil war geblieben, um zu kämpfen. Mehr wussten sie nicht, sie trauten sich nicht in die Nähe des Lagers.
Nadim dankte ihnen, riet ihnen, sich zu verbergen, und machte sich sofort auf den Weg dorthin. Er wollte Tavar im Busch zurücklassen, aber dieser weigerte sich und forderte stattdessen eine Waffe von Nadim. Nach kurzem Zögern entschied er sich, Tavar sein altes Bronzeschwert zu geben. »Du wirst es bereuen, mitgekommen zu sein«, warnte er. Seine brauen Augen loderten fast in der Sonne, so kampfbereit war er.
»Vermutlich«, sagte Tavar ungerührt und steckte das Schwert in eine improvisierte Schlinge. Nadim schwang sich ohne ein weiteres Wort auf sein Pferd und ritt ihm voraus.
Sich lautlos zu verständigen, war ihnen in den letzten Monaten zur Gewohnheit geworden. Tavar saß auf Nadims Zeichen hin ab, aber er wäre ohne dies darauf gekommen, dass sie sich dem Versteck näherten. Ein ganz eigentümlicher Geruch, süßlich und muffig, lag in der Luft, und es war still, absolut still. Keine Vögel, kein Wind, es war, als drücke etwas sämtliche Geräusche fort. Tavar stellten sich die Nackenhaare auf, als er geduckt hinter Nadim her schlich, bemüht, ja kein Geräusch zu machen.
Der Geruch wurde bald derart unerträglich, dass Tavar die Luft anhielt. Vor sich hörte er Nadim heftig einatmen. Er schob sich um Nadim herum, damit er etwas sehen konnte. Sein Fuß berührte etwas Weiches. Es schmatzte eigenartig, als er ihn hastig zurückzog. Er sah nach unten, und nur Nadims Hand auf seinem Mund verhinderte, dass er aufschrie. Sie standen vor einer Leiche, oder vielmehr in den Überresten von dem, was einmal ein Mensch gewesen war. Ein aufgedunsenes, kopf- und gliedloses Etwas, halb im Schmelzwasser, halb in der Sonne liegend. Nadim packte Tavar und zerrte ihn zurück. Eine harte Ohrfeige verhinderte, dass er sich an Ort und Stelle erbrach. Er bekam von Nadim ein mit Alkohol getränktes Tuch ins Gesicht gepresst. »Sieh hin, sieh gut hin, damit du merkst, was passiert, wenn du unvorsichtig bist!«, zischte er mit wutverzerrter Stimme und zwang ihn, auf die Lichtung zu sehen.
Voller Schrecken blickte Tavar auf die vielen, vielen in der Sonne und Wasser verwesenden Leichen. Nadims Handeln half ihm. Nach der ersten, alles betäubenden Übelkeit regte sich Erstaunen in ihm, wie gleich sie alle aussahen, Freund wie Feind. Grau, grün, braun, alles wurde wieder zu Erde, und es würde nichts von ihnen übrigbleiben als bleiche Knochen.
»Es sind nicht nur unsere Leute«, flüsterte Nadim und wischte sich erschüttert mit der Hand über die grimmige verzerrte Miene. Nachdem er sich gefangen hatte, konnte er sich auf die weitere Umgebung konzentrieren. Er nahm die Lichtung mit den verkohlten Hütten in Augenschein. Das war wahrlich nicht das erste Schlachtfeld, das er sah, aber etwas war hier merkwürdig, etwas, das ihn erschaudern ließ. Müsste es nicht hier vor Aasfressern geradezu wimmeln? Ein solches Festmahl würden sie sich doch nicht entgehen lassen, es sei denn.. Nadim wich zurück, Tavar mit sich zerrend. Etwas hielt sie vom Fressen ab. Sein Instinkt riet ihm, schleunigst das Weite zu suchen.
»Willst du denn gar nicht..«
»Nein, sei nicht..« Nadim schrie auf, stieß Tavar zu Boden und hatte sein Schwert gerade noch rechtzeitig abwehrbereit in der Hand, als ein anderes in tödlichem Schwung auf sie hernieder fuhr. Eine der Leichen war plötzlich höchst lebendig, eine schwarz gewandete, verdreckte Gestalt mit einem neuen Schwert. Zum Glück für Nadim war der Soldat ungeübt im Kampf damit, sodass er seinen Gegner bezwingen konnte.
Dicht neben Tavar schlug der tödlich getroffene Gegner ins schlammige Wasser. Er rollte sich mit einem Schrei zur Seite und fand dicht vor seiner Nase eine verwesende Leiche vor. Sein Tuch vor der Nase half da wenig, die Übelkeit kam mit Macht hoch. Er wollte aufspringen, sich in Sicherheit bringen.
»Bleib unten!« Nadim drückte ihn zurück in das stinkende Wasser. Das blutige Schwert in der Hand spähte er die Lichtung aus. Tavar presste Mund, Augen und Fäuste zusammen, um regungslos liegen zu bleiben und nicht dem alles überwältigenden Drang zu würgen nachzugeben und zu fliehen.
Ganz langsam richtete Nadim sich auf, alle Sinne auf die Umgebung gerichtet. Nichts war zu sehen, nichts zu hören. Die Gefahr war noch nicht vorüber. »Bleib, wo du bist!«, zischte er Tavar zu. Er kniff die Augen zusammen, um gegen die sich im Wasser spiegelnde Sonne etwas sehen zu können. Vorsichtig begann er die nähere Umgebung abzuschreiten, das Schwert fest in der Hand.
Tavar hörte ihn davonplatschen, er machte die Augen wieder auf und drehte sich eilends von der verwesenden Leiche fort. Den Anblick des gerade gestorbenen Mannes fand er wesentlich leichter zu ertragen. Er verfolgte Nadims Weg und streckte langsam die Hand nach dem Schwert des Tempelmannes aus, das neben ihm im Wasser lag. Einen kurzen Moment wurde er von dem Glanz der Klinge abgelenkt, der durch das Wasser zu ihm durchschien. Er hob unmerklich den Kopf, um es genauer zu betrachten, und so entging ihm eine Bewegung vor ihm.
Eine weitere Leiche erwachte plötzlich zum Leben und griff Nadim von hinten an. Tavars Warnschrei blieb ihm im Halse stecken, als er sah, wie Nadim von einem mächtigen Hieb getroffen wurde. Er fiel kopfüber ins Wasser und verlor sofort sein Schwert, das er mit seiner versehrten Hand eh nicht richtig zu führen vermochte. Tavar sprang auf. Er merkte nicht, dass er das Schwert des Tempelmannes aus dem Wasser riss und auf ihren Feind zustürzte, es war reiner Instinkt. Nadims Schrei übertönte seine lauten Schritte im Wasser. Er setzte über eine weitere Leiche hinweg, sprang den Tempelmann an und stieß ihm die scharfe Spitze in den Rücken. Sein Gegner brach auf Nadim zusammen, aber Tavar hatte nicht richtig getroffen, er rührte sich noch. Tavar schlug erneut zu, und diesmal traf er richtig, in den ungeschützten Hals. Gurgelnd hauchte sein Feind sein Leben aus.
»Nadim!« Tavar stürzte zu ihm, zerrte den Toten von ihm herunter und riss seinen Kopf aus dem Wasser, damit er wieder Luft bekam. Nadim hustete und stöhnte. Er war nicht richtig bewusstlos, aber auch nicht wach. Tavar riss ihm die blutige Kleidung auseinander und enthüllte eine tiefe Wunde in der Schulter, die heftig blutete. Er musste schnell handeln und die Blutung stillen.
Keinen Gedanken verschwendete er an möglicherweise noch existierende Feinde. Hastig durchsuchte er Nadims Taschen und fand einen langen, trockenen Leinenstreifen. Er band die Wunde ab, so gut er konnte. Dann sah er auf. Mit einem Mal wurde er gewahr, dass er ein hervorragendes Ziel bot. Er duckte sich, sah sich um, lauschte. Etwas war anders als vorher, das merkte er sofort. Er hörte Vögel, Krähen, einige hatten sich schon auf der Lichtung niedergelassen. Das sagte Tavar, dass das, was auch immer sie abgehalten hatte, fort war. Es drohte keine Gefahr mehr.
Tavar atmete auf. Nun konnte er sich vollends Nadim widmen. Mühsam schleifte er den schweren Mann zu ihren Pferden zurück. Warum musste er auch so dick sein? Bei ihren Pferden angekommen, konnte er Nadim das erste Mal richtig versorgen. Er wusch seine Wunde gründlich mit sauberem Wasser aus, kippte eine großzügige Portion von dem kostbaren Alkohol hinein und verband sie straff mit sauberen Tüchern.
Dann erst gestatte er sich zu verschnaufen. Was sollte er jetzt tun? Er war auf sich allein gestellt. Panik überkam ihn, die ihn am klaren Denken hinderte. ›Komm schon, sei kein Schwächling!‹ Er zwang sich, logisch vorzugehen. Hierbleiben war zu gefährlich. Also fort. Aber wohin? Nach Nador? Mit einem Schwerverletzten würde er den Feinden direkt in die Arme laufen. Er musste die Versprengten finden, das war seine einzige Möglichkeit, Nadim zu helfen. Aber wie? Nadim konnte nicht reiten, er musste liegen. Er brauchte eine Trage, die er irgendwie zwischen den Pferden befestigen musste. Aber wie sollte er das allein anstellen?
›Denk nach, denk nach, denk nach!!‹, fauchte er sich selbst zu. Hatten sie nicht irgendwo eine Axt? Nein, hatten sie nicht, fand er nach gründlichem Suchen in ihrem Gepäck heraus. Wer brauchte in der Steppe schon eine Axt!
Stattdessen fand er in Nadims persönlichen Habseligkeiten etwas, das ihn in helle Aufregung versetzte. Ein weiteres, merkwürdig glänzendes Schwert, das, so vermutete er, von dem Tempelmann stammte, der ihn vor vielen Wochen im Busch überfallen hatte. Sein Blick fiel auf das Schwert, das er seinem Gegner abgenommen hatte. Es sah genauso aus, Nadims auch. Das hatte er noch nie richtig gesehen. Jetzt ging ihm auf, dass sie völlig anders waren. Erstaunt wischte er sie alle sauber und fand sich einem unbekannten Metall gegenüber. Waren dies jene Waffen, welche die Saraner dem König verkauft hatten? Viele Gerüchte gab es über diese Waffen, bis hin zu solchen, die von Zauberei sprachen. Vielleicht war da etwas dran?
Tavar jedenfalls war klar, dass er mit seinem einzigen Bronzeschwert keinesfalls ganze Bäume fällen wollte, und seien es nur die kümmerlichen Birken, die um ihn herumstanden. Es war seine einzige brauchbare Waffe, und er wollte nicht riskieren, sie zu beschädigen. Unschlüssig beäugte er die vor ihm aufgereihten Schwerter. Sollte er es mit diesen wagen? Wenn der König sie kaufte, musste ja etwas Besonderes an ihnen sein. Also wagte er einen Versuch mit ihnen und erlebte eine Überraschung. Sie waren härter und schärfer als alles, was er kannte, und ließen sich zudem gut führen. Nadim musste ihm unbedingt zeigen, wie man damit richtig kämpfte, falls er..
›Wenn er wieder gesund ist!‹, beschimpfte er sich selbst, während er auf das Holz einhieb. Er brauchte lange, bis er eine Trage gefertigt und Nadim darauf gezogen hatte. Anschließend spannte er die überstehenden Enden zwischen die Pferde. Zum Glück waren sie derartig gutmütig, dass sie alles mit sich machen ließen. Schließlich wartete er mit angehaltenem Atem, ob es hielt, selbst als er die Pferde voranführte. Es hielt. Tavar jubelte nicht und verschnaufte auch nicht, er sah zu, dass er fortkam von diesem Schreckensort.
Mehrere Tage irrte er durch den Sumpf auf der Suche nach den Versprengten. Nadim bekam hohes Fieber, seine Wunde entzündete sich, und er war so schwach vom Blutverlust, dass er sich nicht einmal rührte, als Tavar ihm die Wunde in höchster Not ausbrannte, weil er gehört hatte, das solle helfen. Seine Verzweiflung wuchs. Wie sollte er die Leute in diesem Gewirr finden? Längst hatte er alle erkennbaren Pfade verlassen, das Dickicht wurde immer undurchdringlicher. Ständig steckte er in Sackgassen fest, aus denen er ihre Pferde umständlich wieder hinausmanövrieren musste, und langsam gingen seine Vorräte zur Neige, da er Nadim nicht allein lassen konnte, um auf die Jagd zu gehen.
Gerade als er die Hoffnung gänzlich zu verlieren begann, stolperte er sozusagen über sie oder vielmehr sie über ihn. Plötzlich waren ein halbes Dutzend Waffen auf ihn gerichtet.
»Wen haben wir denn hier?« Ein Speer ruckte an seine Kehle. Tavar stand mit unter seiner Kapuze gesenktem Kopf da und wagte nicht, sich zu rühren, geschweige denn, dass er es konnte, so eingekeilt, wie er war.
Einer der Männer hatte die Gestalt auf der Trage entdeckt. »Mein Gott, es ist Nadim!«
Die Stimme kam Tavar bekannt vor. Er wandte den Kopf. »Ja, es ist Nadim. Wir sind in eine Falle geraten.«
»Nehmt die Waffen herunter, es ist Tavar«, sagte einer der Männer und nahm das Tuch von seinem Gesicht.
Tavar sackte erleichtert zusammen. »Rittmeister Eachan, oder seid Ihr sein Bruder?«
»Nein, diesmal bin ich es selbst, Junge. Was ist passiert? Du siehst so aus, als hättest du einen ganz schönen Ritt hinter dir.«
»Ich suche Euch schon seit Tagen. Ihr müsst Nadim helfen, es hat ihn schlimm erwischt.«
»Oh ja, das sieht nicht gut aus«, sagte derjenige, der Nadim entdeckt und untersucht hatte.
Der Rittmeister legte Tavar eine Hand auf die Schulter. »Sag, ist jemand von ihnen entkommen? Hat euch jemand gesehen?«
Tavar schluckte und schüttelte den Kopf. »Den Letzten habe ich getötet, es war derjenige, der Nadim verwundet hat. Dort lebt niemand mehr.«
»Wo und wann war das?«, fragte ein anderer scharf.
»Auf der Lichtung, wo sie Euch überfallen haben, vor einigen Tagen. Ich weiß nicht mehr genau, vor wie vielen!« Plötzlich merkte er, wie erschöpft er war. »Oh bitte, können wir Nadim nicht endlich..«
»Gleich, Junge. Das muss ein furchtbarer Anblick gewesen sein. Warum bist du nicht nach Nador geflohen?«, setzte ein anderer in einem Ton nach, der an ein Verhör erinnerte.
Sie trauten ihm nicht, erkannte Tavar, vermutlich, weil er der Sohn seines Vaters war. »Ich konnte nicht, weil dann alles verraten gewesen wäre. Außerdem habe ich einen Eid geleistet, und der bindet mich«, erklärte er so überzeugend, wie er nur konnte.
»Es ist gut, lasst ihn«, mahnte Eachan. »Du musst uns verstehen, wir sind sehr vorsichtig geworden.«
»Nachdem, was ich auf der Lichtung gesehen habe, kann ich das verstehen«, sagte Tavar.
Sie brachten ihn trotzdem mit verbundenen Augen in ihr Lager. Es waren eigentlich mehr ein paar Feuerstellen mit ein paar aufgespannten Fellen als Wind- und Sonnenschutz, mehr nicht. Ein, zwei primitive Hütten befanden sich in Bau. Zu seiner Überraschung gab es hier nicht nur die überlebenden Männer, sondern auch Frauen und Kinder.
»Geiseln der Tempelwache«, erklärte ihm Rittmeister Eachan auf seinen fragenden Blick hin. »Lass deine Pferde ruhig hier, wir kümmern uns um Nadim und um eure Sachen. Du solltest ein Bad nehmen, wenn du meinen Rat hören willst.«
Angesichts dieses primitiven Lagers und der Lebensumstände der Leute hätte Tavar beinahe gelacht, aber noch mehr wog, dass er es hasste, wie ein kleiner Junge behandelt zu werden. Er dachte an Nadim, an ihre Beute, und schüttelte entschieden den Kopf. »Danke, aber ich kümmere mich selbst um alles. Helft mir nur, Nadim herunterzuheben. Kennt sich eine der Frauen in der Heilkunde aus?«
»Meine Schwester kennt sich damit aus. Ich schicke sie zu euch«, sagte einer der Männer. Täuschte sich Tavar oder sprach er mit wesentlich mehr Hochachtung als vorher? Es schien so, dachte er in grimmiger Genugtuung. So erschöpft er war, er baute ihr Zelt in aller Sorgfalt auf, bereitete Nadim ein bequemes Lager und versorgte die Pferde.
Wie versprochen kam eine der Frauen mit heißem Wasser und Tüchern und begann, sich um Nadims Wunde zu kümmern. Sie schickte Tavar energisch fort. »Sieh zu, dass du den Schmutz von dir herunter bekommst. Du stinkst wirklich erbärmlich!«
Das war nur allzu wahr. In der Nähe fand Tavar einen wunderbar klaren kleinen Fluss. Er warf sich mit samt seiner Kleidung hinein, genoss es, wie das eiskalte Wasser ihn wieder wach machte und erfrischte. Anschließend schrubbte er alles gründlich durch und zog die nasse Kleidung wieder an.
»Du wirst dir den Tod holen!«, schimpfte die Frau, als er triefend ins Zelt kam.
Tavar sah, dass sie Nadim entkleidet, gewaschen und verbunden hatte. »Ist mir egal, Hauptsache sauber.« Er kramte in seinem Bündel nach sauberer Kleidung. »Würdet Ihr wohl..« Er machte eine auffordernde Handbewegung zum Zelteingang.
»Natürlich, ich warte draußen«, sagte sie belustigt. Offensichtlich hielt auch sie ihn für einen kleinen Jungen. »Was hat da so an euch beiden gerochen?«, fragte sie von draußen herein.
»Das wollt Ihr nicht wissen.« Tavar streifte erleichtert seine feuchte Tunika ab und zog sich eine trockene über. »Oh, schon viel besser«, seufzte er erleichtert.
»Warum nicht?« Sie kam wieder herein.
Tavar sah sie an, bemerkte ihren spöttischen Blick und beschloss ein für alle Mal, ihr Bild vom kleinen Jungen gründlich zu zerstören. Ihm reichte es. »Wir mussten uns zwischen den Leichen in Eurem vorherigen Lager verbergen«, erklärte er ihr mit einer Gelassenheit, die er nicht fühlte.
»Herr im Himmel!«, rief sie entsetzt und wich kreidebleich vor ihm zurück.
Tavar sah sie ungerührt an, dabei wurde ihm allein bei dem Gedanken daran übel. »Ich sage ja, Ihr wollt es nicht wissen. Aber genug davon. Wie steht es um Nadim? Und verratet Ihr mir Euren Namen?«
Sie holte zitternd Luft. »Mein Name ist Rhiba. Und du bist Tavar, nicht wahr?« Sie wartete, bis er nickte. »Nadims Wunde scheint zu heilen, obwohl er noch hohes Fieber hat. Du hast die Wunde ausgebrannt, nicht wahr? Das hat ihn gerettet, sonst wäre er jetzt schon tot.« Sie packte ihre Sachen zusammen und wandte sich dem Ausgang zu, drehte sich aber noch einmal um. Ihr Gesicht war voller Trauer und wirkte erschöpft, als er sie zum ersten Mal längere Zeit in hellerem Licht betrachteten konnte. »Mein Mann ist unter jenen Toten auf der Lichtung. Er starb im Kampf.«
Tavar zuckte beschämt zusammen. Er schluckte. »Das.. das tut mir leid.«
»Wenn sein Leichnam euch noch als Schutz diente, um zwei von ihnen zur Strecke zu bringen, dann war es gut so«, erwiderte sie und ließ ihn allein.
Tavar stand schwankend in dem niedrigen Zelt. Mit einem Mal brach die Erschöpfung über ihm zusammen. Er schaffte es gerade noch, sein Lager herzurichten, dann fiel er in einen totengleichen Schlaf.
Als es dunkel wurde, wachte er wieder auf. Besorgt fühlte er Nadims Stirn und erschrak, wie heiß dieser sich anfühlte. Neben ihm stand eine halb geleerte Schale, und Nadim trank reflexartig, als er ihm diese an die Lippen setzte. Das sagte ihm, dass es Nadim besser ging.
Jemand hatte seine nassen Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt und sich auch um Nadims gekümmert. Rhiba, vermutete er. Draußen hatten sich die Leute um die Feuer versammelt. Er sah den Rittmeister und ein paar andere etwas abseits um ein Feuer sitzen und sich mit ernsten Mienen beraten. Was sollte er jetzt tun? Er war hungrig, aber noch mehr drängte es ihn zu erfahren, was die Männer planten. Sein Blick fiel auf ein sorgfältig an der Wand eingerolltes Bündel, die erbeuteten Schwerter. Nadims und ein anderes hatte er für sich auf die Seite gelegt, aber es waren noch zwei übrig.. spontan beschloss er, die anderen beiden mit zu den Männern zu nehmen.
Sie verstummten, sobald sie ihn kommen sahen. Tavar begegnete ihren Blicken ruhig. Ohne aufgefordert zu werden, setzte er sich zu ihnen. »Ich möchte Euch etwas zeigen«, sagte er und wickelte die beiden Schwerter aus.
Es sorgte für einiges Erstaunen. »Ich dachte, das mit den saranischen Schwertern sei nur ein Gerücht«, sagte Eachan, der ehrfürchtig eine der Klingen im Feuerschein drehte.
»Nein, sind sie nicht. Sie sind unheimlich hart und scharf. Ich habe damit das Holz für Nadims Trage gefällt.«
»Gefällt? Das ist wirklich erstaunlich, ich sehe nicht eine Kerbe!« Das Schwert machte die Runde, aber Tavar sah weiterhin den Rittmeister an, der ihn fixiert hatte. »Was hast du jetzt vor, Junge?«
»Hierbleiben, bis Nadim wieder gesund ist, und dann dahin aufbrechen, wohin wir unterwegs waren.«
»Und wohin soll das sein?«, fragte einer der anderen Männer.
»Ich möchte Euch bitten, mir diese Antwort zu erlassen. Das ist allein Nadims Sache«, sagte Tavar ruhig.
»Also hör mal, das geht doch..«
»Der Junge ist vereidigt, also lasst ihn«, ging der Rittmeister dazwischen. Er wusste, dass Tavar getötet hatte und vermutlich viel erwachsener war, als er aussah. »Du wirst also nicht nach Nador zurückkehren?«
›Aha, darauf wollen sie also hinaus‹, dachte Tavar und schüttelte den Kopf. »Nein, was dann geschieht, habe ich gesehen. Aber was habt Ihr vor? Wollt Ihr Euch hier verkriechen? Was ist mit den Toten? Sollen sie dort draußen vermodern? Oder wollt Ihr sie bestatten?«
Die Männer verzogen die Gesichter, finster, grimmig, schmerzhaft, empört, alles auf einmal. Er hatte einen empfindlichen Nerv getroffen. »Du hast als Neuling nicht das Recht, diese Fragen zu stellen!«, rief einer wütend und hätte ihn am liebsten gepackt. Nur die Anwesenheit des Rittmeisters verhinderte es. »Glaube ja nicht, dass wir nicht ständig darüber nachdenken und uns Vorwürfe machen, schließlich sind es unsere Angehörigen, die dort draußen liegen.« Einer nach dem anderen stand auf und verließ das Feuer, alle bis auf der Rittmeister.
»Aber, ich habe doch nicht..«
»Es klang danach, als ob du uns unterstellst, wir hätten nichts getan. Ich weiß, das hast du nicht beabsichtigt, aber es ist so«, rügte Eachan.
»Tut mir leid.« Tavar biss sich auf die Lippen, aber zu spät, seine Neigung, sich immer zu entschuldigen, war schneller.
Der Rittmeister legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe. Takt, das ist es, woran es dir mangelt, aber im Grunde hast du recht. Es wird Zeit, dass wir uns besinnen und wieder zu handeln beginnen. Vielleicht ist die Bestattung ein guter Anfang. Gib ihnen ein wenig Zeit. Sie sind voller Trauer.« Der Mann schwieg eine Weile, in düstere Erinnerungen versunken.
Tavar war stocksteif sitzen geblieben. Jetzt wollte er nur noch fort und stand auf. »Ich glaube, ich gehe lieber schlafen, bevor ich noch jemanden verletze.«
»Hast du denn gar keinen Hunger?«, fragte Eachan und sah auf.
»Doch, ein wenig..«, gab Tavar zu.
»Dann komm, holen wir uns etwas zu essen.«
Anders als die Männer machten die Frauen und Mädchen großes Aufsehen um ihn. Wieder einmal wurde Tavar gefüttert, bis er fast platzte, und er war gezwungen, sich energisch zurückzuziehen, sonst hätte sie ihn vermutlich noch eingewickelt und genötigt, bei ihnen am warmen Feuer zu schlafen. Da war ihm die Abgeschiedenheit ihres Zeltes wesentlich lieber.
In den darauf folgenden Tagen kümmerte er sich vornehmlich um Nadim und ruhte sich aus. Außer mit Rhiba sprach er mit niemandem und ließ sich auch nur von ihr versorgen. Es schien ihm das Beste zu sein, nachdem die Männer so erbost über ihn waren. Zu tun blieb ihm auch so genug, er sah ihre Sachen durch, flickte dieses und reparierte jenes. Einen geschlagenen Abend saß er vor dem Päckchen, das die Briefe nach Temora beinhaltete. Es dauerte lange, bis er sich traute, sie auszuwickeln, und selbst dann sah er immer wieder wachsam zu Nadim herüber, ob dieser sich rührte. Es waren mehr geworden, neben den beiden Briefen, die sie nach Temora bringen sollten, war noch ein ungekennzeichnetes gefaltetes Blatt hinzugekommen und ein etwas dickerer Brief mit einem großen ›P’ darauf. Vermutlich Leannas Brief an ihren Bruder.
Tavar zögerte. Sollte er sie wirklich lesen? Falls Nadim..? Er ging in sich und war ehrlich zu sich selbst. Es war reine Neugier, nicht das Bedürfnis zu helfen. Wenn er dies tat, war alles Vertrauen von Nadim und Leanna in ihn nur eine Farce. Er hätte sie betrogen. Also ließ er es und wickelte das Päckchen mit einem kleinen stolzen Gefühl wieder ein.
Als Nadim nach einigen Tagen die Augen aufmachte und zum ersten Mal seine Umgebung wahrnahm, war das der Hoffnungsschimmer am Horizont. Am selben Abend erbat der Rittmeister Einlass in ihr Zelt. Nadim war wach und begrüßte seinen alten Freund mit einem geisterhaften Grinsen. Sprechen konnte er noch nicht, und ihm fielen auch gleich wieder die Augen zu, kaum hatte Eachan angefangen zu berichten.
»Verschieben wir das auf später«, sagte er und zog Nadims Felle zurecht. Er wandte sich zu Tavar um, der sie stumm von seiner Schlafstatt aus beobachtet hatte. »Wir haben entschieden, morgen die Toten zu bestatten, und wir möchten, dass du uns dorthin begleitest.«
Tavar war zu Recht stolz auf sich, dass er nicht zusammenzuckte. Die Aussicht erfüllte ihn mit Grauen. Er ahnte, dies war seine Feuerprobe, ob er bestand und gleichwertig von ihnen aufgenommen werden sollte. »Wenn Ihr es wollt, dann werde ich Euch behilflich sein«, sagte er ruhig.
Der Rittmeister nickte. »Wir brauchen deine Trage und eure Waffen, denn wir haben kaum noch welche, da die meisten im Kampf verloren gingen.«
Tavar runzelte die Stirn bei diesen Worten. Eine Erinnerung nagte an ihm. »Merkwürdig. Ich meine, keiner der Toten trug eine Waffe. Meint Ihr, sie haben die Waffen eingesammelt? Dann liegen sie vielleicht noch in der Nähe herum.«
»Das wäre ein Glücksfall, auf den wir nicht hoffen sollten. Wir werden sehen.« Eachan stand auf. »Morgen bei Sonnenaufgang reiten wir los.«
Sie brauchten lange dorthin, zwei ganze Tage. Die Sonne stand schon hoch, und es war fast schon heiß, als Tavar erstmals wieder diesen Übelkeit erregenden Geruch wahrnahm. Er war sich erst jetzt bewusst, wie weit er sich in den Sumpf verirrt hatte, und war froh darum. Nadim war weit davon entfernt, von den Tempelwachen entdeckt zu werden.
Es wurde das Schlimmste, das Tavar je erlebt hatte. Zum Glück hatte er daran gedacht, Nadims Gebrannten mitzunehmen, sodass ihnen das getränkte Tuch vor dem Mund etwas Linderung verschaffte. Dennoch mussten alle Männer von Zeit zu Zeit schnell in sichere Entfernung verschwinden, weil sie es nicht aushielten. Tavar biss die Zähne zusammen und hielt als Einziger durch, vielleicht, weil er es schon einmal gesehen hatte. Als es Abend wurde und sie grau vor Müdigkeit und Trauer zurückritten, behandelten die Männer ihn mit wesentlich mehr Respekt als zuvor. So schlimm es gewesen war, er war doch froh darum.
Die Bestattung der Toten bildete einen Wendepunkt im Leben der Flüchtigen. Sie begannen wieder zu planen. Sie befestigten das Lager, Hütten entstanden, die Zuwege wurden verborgen, und sie schafften tödliche Fallen.
Tavar war überall dabei, brachte seine vielen Ideen ein, fasste mit an und wurde schnell als gleichwertig akzeptiert. Die Frauen bemutterten in nach wie vor, die wenigen Mädchen umwarben ihn.. es konnte ihm nicht besser gehen. Einzig Nadim machte ihm Sorgen. Dessen Genesung ging sehr langsam vonstatten. Er war und blieb unverändert schwach, trotz aller Bemühungen Rhibas, die sich mit der Pflege von ihrer Trauer abzulenken versuchte. Es war nicht nur die seltsame Schwäche, die Tavar Sorgen machte, sondern auch Nadims Teilnahmslosigkeit. Er schien gar nicht wissen zu wollen, was um ihn herum vorging, egal, was Tavar ihm auch erzählte. Schließlich ließ er ihn einfach in Ruhe, vornehmlich auch, weil er jetzt, im fortgeschrittenen Frühjahr, mit den Männern zu mehrtägigen Raubzügen aufbrach.
Er lernte, sich wie sie lautlos und unsichtbar im Sumpf zu bewegen, die gangbaren Stellen von den tückischen zu unterscheiden, wie man Fallen stellte und wirklich jagte und wie man sich mit dieser stinkenden Pflanze die gefährlichen Mücken vom Leibe hielt.
Gleich der erste Raubzug brachte ihnen unverhoffte Beute. Sie überfielen nicht nur einen Gefangenenzug und befreiten die Geiseln, auf dem Weg dorthin fanden sie auch die versteckten Waffen. Tavar hatte recht behalten. Anders als früher nahmen sie die Befreiten nicht mit in ihr Lager, sondern schickten sie fort. Sie sagten ihnen, dass sie sich selbst bei Verwandten verbergen sollten. Die Sicherheit des Lagers ging vor.
Den ganzen Sommer und weit in den Herbst hinein gingen sie so auf Jagd, erbeuteten Vorräte und Waffen. Rittmeister Eachan war der Einzige, der sich nach Nador zurückschlich und mit beunruhigenden Neuigkeiten wiederkam. Wie es schien, hatten sie den Mönchen derart zugesetzt, dass diese jetzt eine permanente Wache in Nador eingesetzt hatten und auch die Karawanen stärker bewachten. Fürst Tanaar war nicht mehr Herr über seine eigenen Soldaten.
Aller Augen waren auf Tavar gerichtet, als Eachan das berichtete, doch er stellte fest, dass er sich gar nicht nach Hause zurücksehnte, zu aufregend war das Leben hier in den Sümpfen, und die Anerkennung der Männer, das war etwas, was er noch nie bekommen hatte. Es verhalf ihm zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein, jenseits aller Großspurigkeit, zu der er früher geneigt hatte. Im Gegenteil, er wurde ruhiger, entwickelte die Geduld eines Jägers, der erst dann zuschlug, wenn es für ihn am günstigsten war. Er wurde ein geschickter, tödlicher Gegner, der dieses neue Schwert wie kein zweiter unter den Männern führte, aber er ahnte, dass es nichts war im Vergleich zu dem, was ein richtiger gildaischer Soldat zu tun vermochte. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als dass Nadim endlich genesen würde und ihn richtig unterweisen konnte.
Der Sommer ging schnell in den Herbst über. Sie waren gut auf den Winter vorbereitet, hatten sie in letzter Zeit doch weite Streifzüge in das Hinterland unternommen und reiche Beute mit nach Hause gebracht. Bei ihrem letzten Streifzug jedoch waren sie auf etwas Ungewöhnliches gestoßen. Sie meinten Spuren im Sumpf gefunden zu haben, von Pferden und Menschen, schon älter, aber noch sichtbar, und sie fragten sich, ob sie wirklich so sicher vor Entdeckung waren, wie sie dachten. Heftig diskutierend kehrten sie ins Lager zurück, unsicher, ob sie das genauer ergründen sollten oder wieder Gefahr liefen, in eine Falle zu tappen.
Auf dem Weg eilte ihnen plötzlich ein Schatten entgegen. Rhiba stürzte auf sie zu. »Tavar, komm schnell, Nadim geht es sehr schlecht. Besser, du bist jetzt bei ihm.«
Tavar hieb seinem Pferd die Hacken in die Flanken und galoppierte zu ihrer gerade erst fertiggestellten Hütte. Er konnte Nadim schon von Weitem schreien hören. »Oh, schnell!« Rhiba eilte an ihm vorbei.
Sie mussten Nadim zu zweit niederhalten, und es bedurfte der Hilfe des Rittmeisters, ihn an sein Lager zu binden, damit er nicht herunterfiel.
»Sie doch nur, wie er kämpft!«, flüsterte Rhiba bedrückt. Sie ließen Nadim nicht mehr aus den Augen, die ganze Nacht und den folgenden Tag nicht. Keine Scham gab es zwischen ihnen, wenn sie sich beim Wachen abwechselten und der andere am hinteren Ende der Hütte schlief.
Nadim kämpfte wie ein Besessener. So und nicht anders mochte es Tavar bezeichnen. Nach einigen Tagen wurde er langsam ruhiger und schwächer, wie es ihnen schien. Schließlich sackte er in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Nur noch ganz leichte Atemzüge waren von Zeit zu Zeit zu hören.
»Verdammt, tu mir das nicht an!«, flüsterte Tavar und griff nach Nadims Hand. So sehr er sich zuerst über Nadim geärgert hatte, längst hatte er erkannt, dass er durch diesen Mann eine ganz besondere Gelegenheit bekommen hatte: seine Freiheit. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, was er tun wollte, Luft zum Atmen, große Taten, Reisen in unbekannte Weiten. Er wollte weiter mit ihm gehen, wo auch immer es hingehen sollte.
Rhiba fand ihn schlafend vor, als sie aufwachte, den Kopf auf Nadims Lager gesunken und dessen Hand fest umklammert. Selbst noch hundemüde beschloss sie, sich wieder hinzulegen und noch ein wenig zu ruhen.
Tavar wurde am Morgen von einer Bewegung an seiner Hand wach. Leise stöhnend richtete er sich auf, denn er hatte nicht eben in der bequemsten Lage geschlafen. Das vergaß er jedoch, als er auf Nadim blickte. Er atmete tief und ruhig, und zwei wache und vor allem klare, hellbraune Augen sahen ihn an. »Nadim!«
»Schön dich zu sehen«, flüsterte Nadim und grinste schwach. »Sie haben dich nicht bekommen.«
Tavar schluckte und merkte, dass er immer noch Nadims Hand hielt. Er drückte sie vorsichtig. »Nein, haben sie nicht.«
»Wo..?« Nadims Augen irrten durch die unbekannte Hütte und blieben an dem Lager an der hinteren Wand hängen.
Dort rieb sich Rhiba verwirrt über das müde Gesicht. »Ich glaube, ich träume!« Sie riss erstaunt die Augen auf und kam lächelnd zu ihnen hinüber.
»Ich.. ich erinnere mich an Euer Gesicht. Wo sind wir hier?« Nadim schluckte trocken und leckte sich über die rissigen Lippen.
»Im Lager der Geflüchteten«, sagte Tavar. Er nahm eine Schale von Rhiba entgegen und setzte sie Nadim an die Lippen. »Hier, trink etwas. Das wird dir gut tun.«
Er trank durstig. »Danke..«, keuchte er. »Ich.. ich weiß nicht mehr viel. Nur dass..« Er schrak sichtlich zusammen und begann hastig, nach seiner Schulter zu tasten, fand dort aber nur den Stoff seiner Tunika vor.
»Sie ist längst verheilt«, sagte Rhiba aufmunternd.
»Verheilt..« Nadim runzelte die Stirn. »Er hat mich mit voller Wucht erwischt. Das kann nicht.. oh verflucht, wie lange liege ich schon hier?« Er sackte zurück und schloss die Augen, erschöpft vom vielen Reden.
»Ganz ruhig, du warst sehr lange krank. Es ist bereits Herbst, bald ist der Winter da. Wir sind in Sicherheit«, beruhigte Tavar, weil er sah, dass Nadims Gesicht fahl geworden war. Er wechselte einen beunruhigten Blick mit Rhiba. »Du musst schnell wieder gesund werden, damit wir wieder aufbrechen können, hörst du?«
»Oh ja«, flüsterte Nadim schwach. »Brauche Hilfe. Alles ist in Gefahr. Müssen nach Temora. Hab’s versprochen..« Er drehte den Kopf fort und schlief wieder ein.
Tavar und Rhiba starrten auf ihn herunter und wussten nicht, was sie sagen sollten. Es war, als hätte sich plötzlich ein Schatten auf sie gelegt. Hastig sah Tavar zur Tür, als ob dort jemand stand, aber dort war niemand.
»Was meinte er damit?«, fragte Rhiba unbehaglich.
»Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Hoffen wir, dass dies der Weg zur Besserung ist«, sagte Tavar mit mehr Zuversicht, als er fühlte.
Nadim begann, sich langsam zu erholen. Bald war er in der Lage, Besucher zu empfangen und längere Gespräche mit dem Rittmeister und den anderen Männern zu führen. Tavar saß wie immer dabei und beobachtete mehr ihn, als dass er den Gesprächen Aufmerksamkeit schenkte. Äußerlich gesehen ging es Nadim wirklich besser, und alle waren guter Hoffnung für ihn, nur Tavar nicht. Er sah etwas, das vorher nicht da gewesen war, etwas, das Nadims sonst so starke Wachsamkeit, seine Persönlichkeit, unterdrückte. Einen Schatten. Voller Unruhe verbrachte er die Zeit von Nadims Genesung stets in dessen Nähe und hoffte, dass der Winter schnell vorübergehen würde, damit sie endlich aufbrechen konnten dorthin, von wo sich Nadim Hilfe erhoffte: nach Temora.
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