Читать книгу Internationale Organisationen seit 1865. - Madeleine Herren - Страница 12
a) Staaten und internationale Ordnung
ОглавлениеUnterscheidungsmerkmale internationaler Organisationen
Das sozialwissenschaftlich am besten etablierte Unterscheidungsmerkmal differenziert in der Beschreibung internationaler Organisationen zwischen nongovernmental organizations (NGOs) und intergovernmental organizations (IGOs), also zwischen Nichtregierungs- und Regierungsorganisationen. Dieses Unterscheidungsmerkmal hat längst Einzug in die Alltagssprache gehalten und ist selbst zu einer globalisierten Begrifflichkeit geworden. Unterdessen werden in Indien so gut wie in Deutschland Vertreter internationaler Organisationen mit unüberhörbar negativem Unterton als NGOies bezeichnet. Die scheinbar trennscharfe Aufteilung in staatliche und private Netzwerke bedarf wiederum einer historischen Differenzierung. Die Trennung zwischen NGO und IGO geht auf die Entscheidung des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen zurück. Dieser befand 1950, dass jede internationale Organisation, die nicht auf einem zwischenstaatlichen Abkommen beruhte, als „non-governmental organization“ zu betrachten sei. Damit war eine fortan häufig verwendete Trennung zwischen IGO und NGO geschaffen, die allerdings historischen Untersuchungen nicht Stand hält. Im 19. Jahrhundert gab es nur wenige internationale Organisationen, die ausschließlich Regierungsorganisationen vorstellten und aufgrund eines internationalen Abkommens gegründet worden waren. Diese Organisationen wurden in der zeitgenössischen Literatur als Public International Unions oder Internationale Verwaltungsvereine bezeichnet. Die meisten Organisationen stellten semioffizielle Mischformen dar, sei es, dass private Organisationen staatliche Subventionen erhielten oder staatliche Organisationen private Experten einbezogen. Die Fiktion einer Trennung zwischen staatlicher und privater Initiative scheint aber auch im 21. Jahrhundert immer deutlicher in Frage gestellt zu werden, fantasievolle neue Kürzel versuchen derzeit die Brüchigkeit der Trennung zwischen staatlichen und privaten Organisationen zu kitten. So sind QUANGOs Quasi nongouvernementale Organisationen, welche die Privatisierung ehemals staatlicher Aufgaben unter staatlicher Aufsicht betreiben. GONGOs–Government Organized Nongovernmental Organizations – machen ersichtlich, dass sich derartige Gebilde auch eignen können, um die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft zu verwischen.
Staaten und internationale Organisationen
Eine der wissenschaftlich interessantesten und historisch bedeutendsten Fragen setzt sich mit Wandel und Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staaten und internationalen Organisationen auseinander. Die modernen, im 19. Jahrhundert gebildeten Nationalstaaten hielten am staatlichen Monopol der Regelung von Außenbeziehungen fest. Diplomatie und Außenpolitik sind Arkanbereiche, deren Sicherung gegenüber einer wachsenden Vielfalt von grenzübergreifenden, zivilgesellschaftlichen Organisationen sowohl mit einer internationalen Zivilgesellschaft als auch gegen eine solche geschieht. Wir tun gut daran, diese schwierige Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Einzelfall kritisch zu reflektieren und uns vor Augen zu halten, dass das Spektrum breit ist: Internationale Organisation kann als Opposition gegen nationale Politik konzipiert sein, sie kann aber ebenso gut eine mehr oder minder versteckte Form staatlicher Präsenz darstellen. Das weite Spektrum zwischen Staatlichkeit und Opposition lässt sich am besten an konkreten Beispielen aufzeigen: Die 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation vereinigte als Kampfansage an die Staaten die Proletarier aller Länder – der 1885 gegründete Kongo Freistaat zeigt dagegen, dass aus internationalen Organisationen sogar Staaten werden können (vgl. S. 29). In der Breite dieses Spektrums ist bis zum heutigen Tag (fast) alles möglich. Historiker und Historikerinnen müssen im jeweiligen Fall die Frage nach der staatlichen Anerkennung und nach dem Handlungsspielraum stellen. Selbst für internationale Organisationen, die aufgrund eines internationalen Abkommens gegründet wurden, blieb die Frage ihres rechtlichen Status’ lange Gegenstand höchst kontroverser Auseinandersetzungen. Erst der Völkerbund erreichte Exterritorialität und war damit den diplomatischen Vertretungen gleichgestellt. Die UNO erhielt unter Einschluss ihrer Sonderorganisationen bereits bei ihrer Gründung Exterritorialität zugestanden, öffnet sich nun aber zusehends den Nichtregierungsorganisationen.
Völkerrechtliche Verbindlichkeit, Supranationalität und Weltregierung
Können internationale Organisationen Völkerrechtssubjekte sein und Immunität erreichen? Sind internationale Beamte von der Steuerpflicht ausgenommen? Solche Fragen wurden erst 1961 im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen international geregelt. Zu diesem Zeitpunkt setzten juristische Überlegungen ein, die das Völkerrecht erweitern und internationalen Organisationen einen den Staaten ähnlichen Charakter als Völkerrechtssubjekte gewähren wollten. Ob und inwiefern dies auch für nichtstaatliche Organisationen gelten sollte, ist eine bislang nicht gelöste und sehr umstrittene Frage. Ähnlich verhält es sich mit dem Handlungsspielraum internationaler Organisationen. Staaten waren erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereit, ihre Souveränität einzuschränken und einer internationalen Organisation zu übergeben. Solche supranationalen Organisationen können für die ihnen angeschlossenen Mitgliedsstaaten rechtlich verbindliche Entscheide treffen – allerdings handelt es sich dabei um ausschließlich regionale Zusammenschlüsse (etwa die Europäische Union), während globale Organisationen keinen direkten Zugriff auf die nationale Gesetzgebung haben.
Die Gründung einer „Weltregierung“ blieb bislang aus – aber die Vorstellung, dass eine solche anzustreben sei, begleitet die zahlreichen Versuche, der internationalen Ordnung ein politisches Programm zu verleihen. Eine zentrale Bedeutung nimmt dabei der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) ein, dessen 1795/96 erschienene Schrift „Zum Ewigen Frieden“ in unzähligen Plänen einer föderativen Weltregierung zitiert wird. Solche Pläne erscheinen in typischen Konjunkturen. Im 19. Jahrhundert imaginierten sie eine pazifistische Welt, in der Konflikte durch Schiedsverfahren gelöst werden sollten. Zwischen den Weltkriegen empfahlen Völkerbundsvertreter wie William Rappard (1883–1958) die Erweiterung der Genfer Organisation zur Weltregierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Pläne zur Schaffung einer Weltregierung vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung prominente Befürworter wie den Physiker Albert Einstein (1879–1955) und den britischen Mathematiker Bertrand Russell (1872–1970). Allerdings bleibt auch bei derartigen Plänen festzuhalten, dass sie nicht durchweg von pazifistischen Vorstellungen zur Sicherung des Weltfriedens geprägt waren. Eine ganze Reihe solcher Pläne orientierte sich an Formen gemeinsamer Herrschaft europäischer Großmächte, an der gemeinsamen Verwaltung internationaler Kolonien, dem Modell des British Commonwealth of Nations, der Mandatspolitik des Völkerbunds, also allesamt an europäischen und amerikanischen Herrschaftsmodellen.