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d) Geschichte als Ordnungsmacht: Reflexionen über Verschweigen und Vergessen
ОглавлениеBedeutung von multinationalen Firmen und familiären Netzwerken
Geschichte arbeitet als Wissenschaft mit zeitlichen und räumlichen Ordnungskriterien. Die Vergangenheit an sich bleibt unzugänglich. Dennoch sorgt die kritische Reflexion über Auswahlkriterien dafür, dass Vergessenes und Verdrängtes nicht verschwindet. Was also wird in der hier vorgeschlagenen breiten Definition internationaler Organisationen verschwiegen, vergessen oder gar verdängt? Es sind vor allem drei Aspekte, die in jüngster Zeit in der Geschichte internationaler Organisationen eine zusehends wichtige Rolle spielen: die Frage nach deren Begrenzung auf Non-profit-Organisationen, nach dem Einbezug grenzübergreifender familiärer Netzwerke und die Rolle der geografischen Verortung internationaler Ämter:
Multistakeholder partnerships
1) Internationale Organisationen werden seit dem 19. Jahrhundert als non-profit-Organisationen definiert und daher multinationale Unternehmen ausgeschlossen. Der Unterschied zwischen Shell und dem Internationalen Olympischen Komitee leuchtet auf den ersten Blick ein – dennoch sollte nicht das Missverständnis entstehen, dass internationale Organisationen ökonomisch irrelevant wären oder prinzipiell nicht mit Unternehmen zusammenarbeiten würden. Seit dem Ende des Kalten Kriegs und seit der Klimakonferenz von Rio de Janeiro 1992 hat die Zusammenarbeit zwischen der UNO und privaten Firmen zugenommen. So genannte „multistakeholder partnerships“ beschreiben eine zusehends engere Zusammenarbeit zwischen IGOs, NGOs und multinational tätigen Firmen. Allerdings sind solche Verbindungen auch bereits im 19. Jahrhundert nachzuweisen. In der Internationalen Telegraphenunion spielten beispielsweise private Firmen insbesondere bei denjenigen Staaten eine wesentliche Rolle, die, wie die USA, für die Telegrafie über kein Staatsmonopol verfügten.
Zivilgesellschaft
2) Mit dem Begriff der Zivilgesellschaft ist der Blick auf die privaten Netzwerke substantiell erweitert worden. Allerdings schließt die gängige Definition der Zivilgesellschaft als Aktionsfeld zwischen Familie, Staat und Wirtschaft familiäre Netzwerke aus. Damit geraten die grenzübergreifenden Verbindungen des europäischen Adels ebenso aus dem Blick wie Generationen von Händlerfamilien, die, sei es von Hyderabad oder von Hamburg aus, ihre Handelsniederlassungen quer über die Kontinente eröffneten.
Verortung internationaler Organisationen
3) Von der Aufwertung internationaler Organisationen zu Akteuren internationaler Politik profitierten jene Länder, die internationale Ämter aufwiesen. Allerdings wäre auch die Vorstellung denkbar, dass die Eröffnung internationaler Büros auf die Bedeutung des jeweiligen Ortes als internationalen Knotenpunkt schließen lässt, und nicht etwa umgekehrt. Die Seidenstraße war, so ließe sich argumentieren, Jahrhunderte lang Transportweg für Güter, Menschen und Ideen. Im 19. Jahrhundert eröffneten allerdings die internationalen Organisationen ihre Büros in den europäischen Hauptstädten. Die Territorialität internationaler Organisationen weist ein charakteristisches Entwicklungsmuster auf: internationale Ämter waren erst in Europa und in den Hauptstädten lokalisiert und der Aufsicht des jeweiligen Sitzlandes unterstellt. Mit der Eröffnung des Völkerbundsekretariates in Genf verließen internationale Organisationen die enge Bindung an die Hauptstädte und die politischen und diplomatischen Zentralen. Nach 1945 eröffnete die bedeutendste internationale Organisation, die UNO, ihren Hauptsitz im neuen Zentrum der Macht, in den Vereinigten Staaten. Im 21. Jahrhundert gibt es zwar unterdessen bedeutende regionale Zentren der UNO – allerdings mit dem fundamentalen Unterschied, dass die Präsenz internationaler Organisationen sich deutlich verschoben hat: Während internationale Organisationen fast hundert Jahre lang für Hauptsitz und Konferenzen ein ruhiges Plätzchen mit politisch stabilen Verhältnissen suchten und daher neutrale Kleinstaaten wie die Schweiz und Belgien bevorzugten, sind die blauen Nummernschilder der UNO heute zum Merkmal von Krisengebieten geworden.