Читать книгу Damian - Falsche Hoffnung - Madlen Schaffhauser - Страница 6
2.
ОглавлениеBereits zum dritten Mal lese ich die Schrift auf der grossen Tafel, die vor dem Eingang des Meyer Empires steht und versuche ein heimisches Gefühl für die Firma zu bekommen, für die ich ab heute arbeiten werde. Ich nehme die Worte wie ein Stück Schokolade in den Mund und lasse sie genauso darauf zergehen, als wären sie ein Teil dieser süssen Köstlichkeit.
In wenigen Minuten beginnt mein erster Arbeitstag. Denn wie versprochen, hat sich Mrs Morgan schon einen Tag nach meinem Gespräch mit Mr. Meyer kontaktiert und mich gebeten vorbeizukommen, um den Vertrag zu unterschreiben.
Aufgeregt? Zappelig? Erregt? Ich weiss nicht, wie ich meinen Gemütszustand beschreiben soll. Es sind schon einige Wochen vergangen, seit ich einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen bin. Ich habe genug Zeit verstreichen lassen, um mich wieder zu fangen und bis vor Kurzem glaubte ich auch, ich hätte mich wieder unter Kontrolle. Aber jetzt, wo ich die Möglichkeit erhalten habe, ein Teil von einem der grössten Unternehmen von ganz England zu werden und vor diesem riesigen Gebäude stehe, drohen mir meine Beine nicht zu gehorchen.
Wie festgefroren stehe ich da und schweife mit meinen Augen ständig von den gläsernen Drehtüren vor mir nach oben, wo ich mein zukünftiges Büro vermute, dabei kann ich nicht einmal das obere Ende des Wolkenkratzers sehen.
Ich starre durch die Glastüren in die Lobby, in der sich viele Frauen und Männer hin und her bewegen oder vor den Fahrstühlen warten, bis sie mit einem der drei Aufzüge nach oben fahren können.
Plötzlich fühle ich mich um einige Jahre zurückversetzt und sehe mich, wie ich auf das nicht mehr ganz so weisse Schulhaus zugehe, in dem ich meine nächsten zwei Jahre verbringen werde. Jenes Haus, in dem ich meine obligatorische Schulzeit zu ende bringen werde. Viele mir fremde Gesichter sehen in meine Richtung, während ich mit unsicheren Schritten auf die Treppe zugehe. Teenager, Junge wie Mädchen verziehen ihre Münder und tuscheln hinter vorgehaltenen Händen miteinander, als ich näher komme.
„Wollen Sie nicht endlich hineingehen?“
Erschrocken drehe ich mich zu der mir bereits bekannten Stimme um, die mich soeben aus meinen trüben Erinnerungen holte. „Wie?“
„Macht Ihnen dieser kalte Wind etwa nicht zu schaffen?“ fragt mich Rose Morgan etwas verwundert und zieht sich ihren Schal ein klein wenig enger um den Hals, damit die frostige Kälte nicht an ihre Haut gelangt. „Kommen Sie, Ihr neuer Vorgesetzter wird sicher schon auf Sie warten. Mr. Baker ist nämlich immer einer der ersten und kann es ausserdem nicht ausstehen, wenn man unpünktlich zur Arbeit erscheint.“
„Dann lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren.“ Ich gehe neben Mrs Morgan durch die Drehtüren. Sie geht auf den Empfang zu und unterhält sich kurz mit der Dame dahinter. Daraufhin händigt mir die Frau mit den lockigen, blonden Haaren hinter der langen Theke einen Ausweis aus, damit ich von nun an ohne mich jedes Mal anmelden zu müssen, in die oberen Stockwerke gelange.
„Bitte weisen Sie den jeweils vor, wenn Sie nach oben wollen.“ Rose Morgan zieht ihren eigenen hervor und zeigt ihm dem Mann, der vor den Fahrstühlen Wache steht. Ich mache es ihr gleich und augenblicklich gehen die Fahrtüren auf und wir steigen ein.
„Sie brauchen nicht nervös zu sein.“ Sie blickt auf meine Finger, die ich unbewusst ineinander verkeilt habe und lächelt mich an. „Schliesslich haben Sie den Job schon längst in der Tasche.“
„Ich weiss. Obwohl sich meine Arbeit hier von meiner letzten nur in wenigen Dingen unterscheiden wird, ist das was auf mich zukommt trotzdem etwas Neues. Ich kenne keinen Menschen. Ich habe keine Ahnung, wie mich meine neuen Mitarbeiter aufnehmen werden und ob ich wirklich die Leistungen bringen werde, die Mr. Meyer von mir erwartet.“
„Was kann schon schieflaufen?“ Die Frau neben mir, die mir nun schon so oft moralische Unterstützung gegeben hat, sieht mich fragend an. „Sie können sich nicht mit allen gleich gut verstehen. Das kann niemand. Aber die Mitarbeiter von Meyer Enterprises sind wie eine Grossfamilie. Alle wurden persönlich von Damian“ Sie spricht diesen Namen auf eine Art aus, als wäre es ganz natürlich unseren Chef mit Vornamen anzusprechen. „eingestellt und wenn irgendwer denkt, er könne ihn hinters Licht führen oder einen anderen Kollegen mobben, fliegt dieser jemand schneller aus der Firma, als ihm lieb ist.“
Ihre Worte dringen tief in mein seelisches Empfinden, aber sie können meine Ängste und Zweifel, die mich schon seit Monaten verfolgen, nur ein klein wenig schmälern.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fährt sie fort: „Ausserdem kennen Sie ja mich. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie irgendein Problem haben oder jemanden brauchen, um sich auszusprechen. Egal was.“
In den wenigen Momenten, in denen ich dieser Frau begegnet bin, hat sie mich jedes Mal freundlich und liebevoll behandelt. Wie oft in meinem Leben habe ich mir schon gewünscht, solch eine Mutter zu haben, die mir hilft meinen richtigen Platz im Leben zu finden und mich in allen Belangen unterstützen würde? Ich habe keine Ahnung. Aber seit dem Tag, an dem meine Mutter mich und meinen Vater einfach im Stich gelassen hat, verging kein einzelner Tag, an dem ich nicht wünschte, eine solche Person wie Mrs Morgan an meiner Seite zu haben.
Mein Vater ist der beste, fürsorglichste und einfühlsamste Dad, den man sich überhaupt erträumen kann und doch hat in all den Jahren meiner Kindheit die Wärme einer Frau gefehlt, die Stimme und das Lächeln einer liebenden Mutter.
„Miss Weber?“
„Ja?“ Ich blicke Rose Morgan fragend an.
„Zeit für Sie auszusteigen.“
Die Aufzugstüren sind bereits geöffnet, wie ich erst jetzt feststelle und sehe mich verlegen über meine Schultern nach Mrs Morgan um, als ich in den langen, hellen Flur hinaustrete.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Start.“ ruft sie mir noch schnell zu, bevor sich die Türen wieder schliessen.
„Danke.“ und hebe die Hand zum Gruss.
Ich habe wackelige Beine und mein Herz flattert. So aufgeregt und zugleich erwartungsvoll habe ich mich schon seit langem nicht mehr gefühlt. Genau genommen seit dem Tag nicht mehr, als ich die Stelle in einem grossen Schweizerkonzern als Abteilungsleiterin der Buchhaltung bekommen habe. Jenen Arbeitsplatz den ich geliebt und erst vor wenigen Wochen gekündigt habe, um mich aus meinem alten Leben befreien zu können, das sich in letzter Zeit in ein einziges Chaos verwandelt hat.
Mein Büro das ich mit einer gleichaltrigen Mitarbeiterin teilen werde, liegt nur einige Schritte vom Fahrstuhl entfernt. Mr. Baker zeigte mir den Raum bei unserem Gespräch, das mittlerweile etwas mehr als einer Woche zurückliegt.
Ich atme nochmals kurz tief durch und wappne mich für meinen ersten Arbeitstag bei Meyer Enterprises. Der geräumige Raum, in dem zwei grosse Schreibtische einander gegenüber stehen, ist noch leer. Meine neue Mitarbeiterin, ich glaube ihr Name ist Mira oder so, ist offenbar noch nicht erschienen. Also lege ich erst einmal meinen Mantel ab und hänge ihn an die Garderobe, die gleich neben der Tür steht.
Ich gehe an das über zwei Meter grosse Fenster, das von der Decke bis zum Boden reicht und lasse meinen Blick über die Stadt und in die Ferne schweifen, wo ich sogar die Themes ausmachen kann und sehe, wie sie sich durch London schlängelt. Aber auf die Strasse unter mir, riskiere ich keinen Blick, sonst werde ich noch von Schwindel befallen. Schliesslich befinde ich mich im fünfundvierzigsten Stock, knapp hundertfünfzig Meter über Boden. Ich hätte mir niemals ausmalen können, irgendwann in dieser Höhe zu arbeiten. Ganz zu schweigen davon, dass ich mal in London leben werde. Und jetzt bin ich hier.
Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch und frage mich, was ich nun machen soll. Soll ich hier warten, bis endlich jemand kommt und mich in meine neuen Aufgaben einarbeitet oder wäre es vielleicht klüger das Büro meines Vorgesetzten aufzusuchen? Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken und trete wieder in den Flur hinaus.
Während ich den Korridor entlanggehe, komme ich an anderen Räumen vorbei und lächle jedem zu, der mir einen Blick entgegenwirft. Als ich am Ende des langen Ganges in einen Vorraum vor Mr. Bakers Büro trete, erkenne ich die Frau wieder, die mich schon bei meinem Vorstellungsgespräch empfangen und sich als Mr. Bakers Sekretärin vorgestellt hat. Sie lächelt mir zwar zu, während sie von Bakers Tür auf mich zukommt, aber es erscheint mir genauso kalt, wie ihr Charakter auf mich wirkt. Schon bei meinem ersten Besuch hatte ich ein eigenartiges Gefühl bei ihr. Ich kann mir nicht erklären warum, aber sie erweckt in mir das eigenartige Gefühl, als müsse ich mich bei ihr in Acht nehmen. So wie bei Michael. Nur dass ich es bei ihm viel zu spät festgestellt habe.
Auch dieses Mal trägt sie ein makelloses Kleid. Ein Ensemble aus weisser Seide. Dazu passenden Schmuck, perfekt manikürte Fingernägel und ein stark geschminktes Gesicht. Was für meinen Geschmack, für den beruflichen Alltag, zu aufgedonnert ist. Und wieder frage ich mich, wie sie diese teuren Sachen leisten kann. Hat sie als persönliche Sekretärin einen derart guten Lohn, dass sie sich mit solchen Kostbarkeiten eindecken kann? Ich kann mir jedenfalls kein Bild davon vor Augen führen. Aber vielleicht bin ich ja einfach nur eifersüchtig auf sie. Was ich mir wiederum nicht erklären könnte.
„Sie haben den Job also gekriegt?“ fragt mich die Blondine in einem herablassenden Ton und etwas zu hoher Stimme. „Mr. Baker hat mich soeben informiert, dass Sie heute erscheinen werden und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er gleich Zeit für Sie hat. Nur einen kleinen Moment.“
„Danke.“ Ich bleibe stehen, wo ich bin. Die Möbel scheinen in der ganzen Firma das gleiche Muster zu haben und aus demselben Holz zu stammen. Genau wie in Mr. Meyers Büro. Cremefarbene Wände und Möbel aus Mahagoni.
Ich bin angenehm überrascht, dass der Inhaber dieser Firma sich nicht scheut für sein Personal ebenfalls so viel Geld auszugeben, wie für sich selbst. Meine Gedanken schweifen zu jenem Gespräch vor einer Woche zurück. Abermals betrete ich Damian Meyers Büro und sehe ihn hinter seinem riesigen Tisch, wie er lässig dahinter sitzt und seine Augen über mich schweifen lässt. Als wäre ich eine seltene Schönheit oder auch das genaue Gegenteil.
Seine glänzend braunen Augen, die mich jedes Mal an ein grosses Raubtier erinnern, wenn ich sie in meinem Gedächtnis wiedersehe, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie zogen mich damals sofort in seinen Bann und liessen mich nicht mehr los. Bis jetzt nicht.
„Hat man Ihnen Ihr Büro schon gezeigt?“
Erschrocken drehe ich mich um und sehe genau in jene Augen, die soeben noch meine Gedanken beherrscht haben. „Äh...ja. Nein.... Also.“ Ich stottere wie ein Kleinkind herum, das man bei etwas Verbotenem ertappt hat. Dafür könnte ich mich ohrfeigen.
„Guten Morgen Miss Weber.“ Er lächelt mich an und reicht mir seine Hand zur Begrüssung, die ich schnell ergreife. Vielleicht eine Spur zu schnell.
„Tut mir leid. Guten Morgen Mr. Meyer. Ich habe Sie nicht gehört. Sie haben mich ein wenig überrascht.“
Er löst seine Hand von meiner. „Das habe ich bemerkt.“ Wieder dieses freundliche Lächeln. „Und haben Sie?“
„Was habe ich?“ frage ich ahnungslos.
„Ihren Arbeitsplatz gefunden?“ Ich bin ihm dankbar dafür, dass er sich in unserer Muttersprache mit mir unterhält. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Bakers Sekretärin jedes Wort von unserer Unterhaltung mitanhören würde, wenn sie es verstehen könnte.
„Ja. Ich warte nur noch auf Mr. Baker, damit er mich in meine neuen Aufgaben einführt.“
„Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen guten Start und heisse Sie herzlich willkommen bei Meyer Enterprises.“ Ohne ein weiteres Wort geht er weiter zu Bakers Assistentin.
Ich höre, wie er ihr einen guten Morgen wünscht. Mit jener weichen Stimme, wie er mich willkommen hiess. Warum sollte er nicht alle auf die gleiche Art begrüssen wie mich? Ich hebe meine Augenbrauen und verdrehe die Augen, um mich selbst zu tadeln, weil ich annahm, er würde mich als jemand besonderen betrachten.
Mir schwirrt beinahe der Kopf. Zwar war der Tag sehr interessant, aber trotzdem bin ich froh, dass ich endlich in mein Hotelzimmer, das ich seit gut zwei Wochen bewohne, zurückkehren kann. Ich habe viele neue Leute kennengelernt und von Mr. Baker etliche Erklärungen und Papiere erhalten, die meine Aufgabe in der Firma Meyer Enterprises betreffen.
Auch wenn die Arbeit nicht so anspruchsvoll sein wird, wie meine letzte als Chefin der Buchhaltung, freue ich mich trotzdem sehr darüber, dass ich die Stelle in der Kreditabteilung erhalten habe und die damit verbundene Chance in London ein neues Leben aufzubauen.
Mrs Morgan hatte kein bisschen damit übertrieben, als sie meinte, dass die Meyer Enterprises wie eine Grossfamilie sei. Alle gehen freundlich, hilfsbereit und respektvoll miteinander um, ausser die Superblondine von Mr. Baker, wie ich sie insgeheim getauft habe. Sie scheint bei fast allen ein Dorn im Auge zu sein. Sicher bei den Frauen. Bei den männlichen Arbeitskollegen ist das etwas schwieriger zu beurteilen.
Ich schlüpfe aus meinen Stiefeletten und falle erschöpft auf das breite Bett, das zusammen mit einem Kleiderschrank und einem kleinen Sekretär das Zimmer schmückt. Der Raum ist zwar nicht gross, aber er erfüllt seinen Zweck.
Viel lieber wäre ich jetzt in meiner alten Wohnung. Mit meinen persönlichen Möbelstücken und meinem Vater in der Nähe, den ich unheimlich vermisse. Und doch ist mir bewusst, dass der Neubeginn in London, die richtige Entscheidung ist, so schwer mir dieser Schritt auch fallen wird.
Kurzerhand überlege ich mir meinen Dad anzurufen, da klingelt schon mein Telefon. Schmunzelnd nehme ich den Anruf entgegen. „Du kannst wohl Gedanken lesen?“
„Ich habe dich vermisst. Wie geht es dir mein Liebling?“
„Soweit ganz gut.“
„Wie war dein erster Arbeitstag?“
„Gut.“
„Nur gut?“ hakt er nach.
„Nein, nicht nur gut. Die Leute da sind wirklich nett. Nicht so wie...wie...“
„Du brauchst es nicht auszusprechen, meine Liebe. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass deine neuen Mitmenschen dich so sehen, wie du wirklich bist und dass du dich wohl fühlst, da wo du jetzt bist.“
„Ach Dad. Es klingt ja beinahe so, als hättest du keine Ahnung, wo ich bin. Dabei weisst du ganz genau, wo ich mich aufhalte und du kennst meine Telefonnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen oder mich besuchen. Das haben wir abgemacht, oder?“
„Ja, das haben wir abgemacht.“ murmelt mein Vater am anderen Ende der Leitung in den Hörer. „Nur haben wir meine Flugangst vergessen.“
„Du kannst mit dem Auto kommen.“
„Ja.“ Er klingt plötzlich ziemlich bedrückt.
„Ich werde dich bald besuchen.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
„Geht es dir auch wirklich gut?“
„Gut wäre etwas übertrieben. Aber mit jedem Tag, an dem ich weit von ihm entfernt bin, geht es mir besser.“
„Ich wünsche es dir.“
„Ich weiss.“ Ein kurzer Moment herrscht eine angespannte Stille in der Verbindung, bevor mein Dad sie vorsichtig beendet. „Sandy hat nach dir gefragt.“
„Was hast du ihr gesagt?“
„Das Übliche. Aber ich weiss nicht, wie lange ich sie noch hinhalten kann. Was soll ich ihr nur sagen?“
„Dass ich sie schrecklich vermisse.“
„Willst du dich nicht wenigstens bei ihr melden?“
„Das geht nicht.“ Meine Stimme klingt brüchig. Verzweifelt versuche ich meine innere Unruhe zu überspielen. Nur dass es vor meinem Vater nicht verborgen bleibt.
„Ach Jessica. Es tut mir im Herzen weh, dich so leiden zu hören.“
„Es wird schon wieder. Das habe ich mir geschworen.“
„Das ist mein starkes Mädchen. Ich hab dich lieb.“