Читать книгу Weltschmerz und Wahnsinn - Magdalena Ungersbäck - Страница 10
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3. Januar 2020
Heute ist ein seltsamer Tag. Als ich aufgewacht bin, fühlte ich schon diese Bedrücktheit, diese Unruhe, die der ganze Tag verhieß. Ich hasse diesen Tag jetzt schon. Das fahle Licht versucht sich seinen Weg in unsere winzige Wohnung zu bahnen, aber es scheint ihm nicht zu gelingen, es scheint, als würden die Fensterscheiben alles dafür tun, die Lichtstrahlen nicht hineinzulassen, sie zu verschlucken. Es ist nicht nur furchtbar eng, jetzt ist es auch noch furchtbar dunkel. Ich schleiche in die Küche und ziehe die Kühlschranktür auf. Das, was mir in die Hände fällt, nehme ich heraus und lege es auf den Tisch. Mir ist völlig gleichgültig, was ich esse, ich schmecke sowieso nichts, ich esse bloß, um am Leben zu bleiben. Ich achte nur darauf, was Maja schmeckt und lege es zu den anderen Lebensmitteln dazu. Als ich mich umdrehe, sitzt Maja plötzlich schon am Tisch. Lautlos, wie ein Geist, muss sie geschwebt sein. Ihre langen dünnen Beine und Arme hängen schlaff und ohne Kraft von ihrem Körper. Ihre Hautfarbe ist schneeweiß und ihr Gesicht spitz, fast schon knochig. Eigentlich hatte sie wegen der Chemotherapie ihre kinnlangen, schwarzen Haare verloren, doch sie ist eitel und so kauften wir ihr eine lange, dunkelbraune Echthaarperücke. Sie wollte schon immer lange Haare haben. Kaum ist sie aus dem Bett, setzt sie die Perücke auf. Sie sagt, sie kann sich nicht mit Glatze sehen. Ich setze mich zu ihr und wir essen schweigend. Xiaolong ist vorgestern in den frühen Morgenstunden aus dem Haus gegangen und nach Wuhan gefahren, wo sein Zwillingsbruder lebt. Zwölf Stunden Autofahrt braucht man nach Wuhan. Hin und wieder besucht er ihn für ein paar Tage. Dann gehen sie gemeinsam zu dem Markt und genießen die chinesische Kultur. Ich mag diese Märkt nicht, Xiaolong liebt sie. Ich gehe nie mit ihm mit und deshalb geht er allein oder mit seinem Bruder. Sich durch diese Menschenmengen schlängeln, hin zu den verschmutzten Ständen, bei denen Tausende lebendige Tiere in Käfige gequetscht sind, gibt mir nichts. Alle bezeichnen das als „seltsam“, dass ich nicht viel davon halte und schütteln den Kopf dazu. Fast jeder, den ich kenne, ist von diesen Märkten begeistert. Von Fröschen, Hunden und Katzen bis hin zu Fledermäusen, Affen und Tigerbabys sind dort alle Tiere an die Stände angebunden oder in Stahlgitterkäfigen zusammengepfercht. Sie stehen alle in ihrem eigenen Dreck. Man kann von Stand zu Stand schlendern und sich Tiere kaufen, wenn man will. Dann beißt man Fröschen oder Mäusen den Kopf oder die Glieder ab oder schluckt sie gleich bei lebendigem Leib hinunter. Doch auch Hunde, Katzen oder Tiger werden vor Ort, vor den Augen aller geschlachtet und gegessen. Ein Blutbad, ein Geschrei, ein Fest. Kultur. Ich kann darauf verzichten, Xiaolong aber nicht. Deshalb fährt er regelmäßig nach Wuhan zu seinem Bruder, um das zu erleben, was er für sein Wohlbefinden braucht, was er mit mir nicht erleben kann. Während er heute seinen Tag auf diesem Markt verbringt, werde ich mit Maja wieder ins Krankenhaus fahren. Sie braucht eine neue Infusion. Vorsichtig, als könnte ich ihre Haut zerreißen, berühre ich sie am Arm.
„Wie geht’s dir heute, Maja?“, frage ich besorgt.
„Gut. Alles gut.“ Sie hebt lächelnd den Kopf und fügt hinzu: „Aber wahrscheinlich nicht mehr lange.“
Wie wahr! Diese Infusionen sind ein Graus und sie ist so tapfer. Ich bete jeden Tag, dass ihre Tapferkeit belohnt wird, dass sie die Leukämie bald besiegen wird. Sie ist doch noch so jung, erst zwölf. Ihr Körper will sich doch erst vom Kind zur Frau entwickeln. Sie kann doch jetzt nicht einfach sterben. Sie wird auch nicht sterben, sie wird es schaffen. Es kann gar nicht anders sein, es muss einfach alles gut werden. Wir ziehen uns an und verlassen die Wohnung. Wir gehen durch die Stadt und zur U-Bahn. Aber nur sehr langsam, denn Maja kann nur ganz langsam gehen, ohne völlig außer Atem zu kommen. Wir schleichen fast dahin. Es dauert eine Ewigkeit, bis wir endlich den Krankenhausflügel betreten. Die Halle ist grauenhaft hell und das gesamte Gebäude riecht, als wäre es in Desinfektionsmittel getränkt. Alles ist sauber, komplett steril, nur man selbst ist der Dreck. Mein Kind redet kein Wort. Was sollte sie denn auch groß bereden wollen? Und ich schweige uns tot. Welche Worte könnten uns jetzt noch retten? Die Ärzte dieser Station kennen uns bereits und führen uns auf ein Zimmer. Auch sie sagen nichts, deuten nur auf das Bett und holen die Infusion. Heute haben wir ein Einzelzimmer bekommen. Es riecht genauso wie der Rest der Klinik und ist panikmachend eng. Es erinnert mich an zu Hause. Nur dass das Zimmer hier von Licht durchflutet ist. Doch nicht von warmem Licht, in dem man Sonnenbaden möchte, nein, ein grelles Licht, das dir die Sehnerven zersticht. Ich sitze bei Maja und halte ihre Hand, schaue zu, wie die Flüssigkeit der Infusion in ihre Adern tropft. Ein Tropfen, dann der nächste und wieder der nächste. Jeder Tropfen scheint ein Schlag zu sein. Ein Schlag, der dich gesund schlagen soll. Bizarr. Wir warten und warten. Es dauert und dauert. Doch dann färbt sich ihr Gesicht schon grün und gelb. Sie schwitzt und dreht sich gequält von einer Seite zur anderen, bis sie es aufgibt und einfach nur mit leerem Blick an die Decke starrt. Doch auch das ist nicht lange zu ertragen. Ohne ein Wort steht sie auf, fährt mit der Infusion in das Badezimmer des Raumes. Ich höre, wie sie sich mühsam – wie eine alte, gebrechliche Frau – niederkniet und über die Kloschüssel beugt. Dann kotzt sie sich die Seele aus dem Leib. Langsam stehe ich auf und folge ihr ins Bad, knie mich neben sie und nehme ihr die Perücke vom Kopf. Die braucht sie jetzt nicht, die kann jetzt auch nichts mehr verstecken. Ich stopfe sie in meine Tasche und streiche Maja über den Rücken, halte sie im Arm, bis es vorbei ist. Doch dieses Mal dauert es länger. Sie erbricht und erbricht und hört nicht mehr auf. Sie kotzt sich beinahe leer. Heut ist kein guter Tag. Die Tränen rollen ihr stumm über die Wangen und ich weine mit ihr. Leise, in meinem Inneren. Als alles langsam zu einem Ende kommt, gehen wir wieder zum Bett. Langsam, ganz vorsichtig. Jede Bewegung scheint ein Messerstich zu sein. Sie legt sich hin und schläft ein. Vor Erschöpfung. Nach einiger Zeit kommt eine Ärztin hinein, lächelt milde und dreht an der Infusion.
„Wenn sie aufwacht, können Sie wieder nach Hause gehen. Sie wissen ja, wann die nächste Untersuchung stattfindet“, sagt sie leise zu mir.
„Ja. Danke.“
Und dann geht sie wieder. Mein Blick ruht weiter auf dem Kind. So viele Träume hat sie, so viel kann sie erreichen. Wenn sie doch bloß überlebt. Auf einmal wird mir bewusst, was ich da schon wieder denke und ich beginne mich zu schütteln, schüttle die Gedanken weg. Natürlich wird sie überleben!
Als ich in ihrem Alter war und weit darüber hinaus, hatte ich nur einen Traum: Den Hof und die Plantage meiner Eltern zu übernehmen. Ich komme nicht aus Peking, ich bin vom Land. Mein Ziel war es immer, dort zu bleiben und das zu machen, was mich erfüllt, was mir Freude bereitet: Pfirsichbäume anpflanzen und großziehen. Die Pfirsichplantage hegen und pflegen und die Pfirsiche ernten und verkaufen. Wie meine Eltern es tun. Doch dieser Traum zerplatzte, denn Xiaolong kreuzte meinen Weg. Es war auch höchste Zeit. Ich war bereits achtundzwanzig Jahre alt, galt schon als Restposten. Mit fünfundzwanzig Jahren ist eine Frau in China alt und fast schon unbrauchbar. Das Ziel jeder jungen Frau ist es, bis dahin verheiratet zu sein. Manche bekommen mit zwanzig Jahren schon Panik, finden sich zu alt und glauben, sich mit Schönheitsoperationen attraktiver machen zu können. Meine Eltern schüttelten nur den Kopf über mich und machten sich Sorgen, dass mich keiner mehr mit meinen achtundzwanzig Jahren wolle. Es war pure Schande, die ich in ihr Haus brachte. Ständig musste ich mir anhören, dass ich mich endlich bemühen sollte, einen Mann zu finden, der mir etwas bieten könne, der eine pompöse Hochzeit wolle und mich mitsamt dem zukünftigen Kind versorgen werde. Da kam Xiaolong gerade recht. Rettung in letzter Sekunde. Ich verliebte mich so unglaublich in ihn, dass mir ständig schwindlig war vor Glück. Ich liebte seinen Sinn für Gerechtigkeit und Recht, sein Funkeln in den Augen, sein Lächeln, wenn man ihn endlich einmal zum Lachen bringen konnte. Einfach alles. Doch es wurde schnell klar, dass er nichts vom Landleben hält und ein Stadtmensch ist. Ich wollte ihm überallhin folgen und so ging ich mit ihm nach Peking und ließ meinen Traum sterben. Auch weil man das von mir erwartete, nach meiner langen Suche. Jetzt weiß ich nicht, wofür sich das gelohnt hat. Xiaolong hat nur noch Sinn für Recht und das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, seine Augen scheinen tot und gelacht hat er seit Jahren nicht mehr. Eigentlich will ich nur zu meinen Pfirsichen. Zusammen mit Maja. Sie würde zwischen den Bäumen laufen und lachen und Pfirsiche klauen. Wenn sie gesund ist, besuchen wir meine Eltern und vielleicht können wir auch länger bei ihnen bleiben, bis wir nach Shanghai ziehen.
Als sie langsam wieder aufwacht und ihre Augen öffnet, lächle ich sie an.
„Weißt du, Maja, als ich so alt war wie du, stellte ich mir vor, dass ich später einmal die Pfirsichplantage meiner Eltern übernehmen werde. Ich sah mich zwischen den Bäumen umhergehen und die Berge betrachten, in aller Stille. Jetzt bin ich hier im lauten Peking und sitze in einem Büro mit tausend anderen Leuten.“
„Was willst du mir damit sagen?“, röchelt sie leise und schaut mich erwartungsvoll an.
„Wenn du wieder gesund bist, musst du deinen Träumen hinterherjagen und sie nicht aufgeben, hörst du?“ Ich klopfe ihr auf die zarte Hand.
„Das ist mein Plan!“ Sie lächelt schwach, dann holt sie nochmals aus: „Ich weiß doch, dass du viel lieber bei deinen Pfirsichen wärst als hier in Peking, du schwärmst die ganze Zeit davon. Vielleicht sollten wir nicht nach Shanghai ziehen, sondern zu Oma und Opa. Mir gefällt es dort doch auch! Dann kannst du deinem Traum auch wieder hinterherjagen.“
Ich schaue sie verwundert an. Für einen kurzen Moment fühle ich Hoffnung in mir aufsteigen. Ein Leben bei den Pfirsichen zusammen mit Maja: Das ist mein Traum und sie träumt auch davon. Aber dann falle ich wieder auf den harten Boden der Realität. Xiaolong würde bei diesem Vorhaben niemals mitmachen.
„Dafür ist es jetzt zu spät“, sage ich, „außerdem brauchst du medizinische Versorgung und die bekommst du eben nur in der Stadt.“
Sie nickt verständnisvoll. Dann steht sie auf und wir verlassen das Krankenhaus wieder. Ich rufe uns ein Taxi, das uns nach Hause bringt. Wir reden nicht mehr davon, doch ich kann beinahe hören, wie wir beide darüber nachdenken.
Es ist später Abend und Maja schläft schon. Ich sitze vor dem Fernseher und sehe irgendeine seltsame Show. Ich schalte auf ein anderes Fernsehprogramm und sehe einen Bericht über Wuhan. Ein Sprecher erzählt, dass hier ein neuartiger Virus ausgebrochen ist. Es seien schon einige Leute damit infiziert worden und auch gestorben, aber es gäbe keinen Grund zur Sorge. Ein Arzt hätte auch schon davor gewarnt. Es soll aber eine Falschmeldung gewesen sein. Ich bin trotzdem beunruhigt und denke an Xiaolong. Ganz hervorragend. Er treibt sich irgendwo in Wuhan herum und schleppt das Virus womöglich noch mit nach Hause. Das können wir jetzt gerade noch gebrauchen. Soll er doch gleich dortbleiben. In diesem Moment höre ich einen Schlüssel in der Tür drehen. Die Tür springt auf und Xiaolong tritt herein. Seine alleinige Anwesenheit löst urplötzlich eine Bedrücktheit in mir aus. Ein Gefühl von Abstoßung – ich mag seine Aura einfach nicht mehr.
„Hallo! Wie war die lange Autofahrt?“, rufe ich ihm zu und versuche diese Gefühle zu ignorieren, zu unterdrücken.
„Hallo! Ganz gut, ganz gut!“ Er zieht sich aus und kommt zu mir herüber.
Er gibt mir einen Kuss auf den Kopf und legt sich zu mir. Ich fühle mich unwohl.
„Hast du von dem Virus in Wuhan gehört?“, frage ich ihn.
„Ja, mein Bruder hat mir davon erzählt. Aber es soll halb so schlimm sein. Es übertreiben alle ein bisschen. Es ist bloß eine Art Lungenentzündung und kann gar nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden! Die Regierung hat alles im Griff!“
„Na gut. Hauptsache du hast dich nicht angesteckt“, antworte ich keck und überspiele weiter diese komischen Gefühle.
„Aber nein! Doch leider haben sie die Märkte in Wuhan wegen des Virus seit vorgestern geschlossen. Übertrieben!“ Er blickte kurz ins Leere.
Plötzlich nimmt er die Fernbedienung und schaltet ab. Er sieht mich erwartungsvoll an. In seinen Augen sehe ich ein begieriges Funkeln. Es ist beunruhigend, es ist nicht liebevoll, es macht mir ein bisschen Angst. Ich drehe mich ein Stück von ihm weg und versuche es zu ignorieren. Er beginnt von dem Markt zu erzählen, der leider geschlossen war und wird ganz unruhig. Immer wenn er auf so einem Markt war oder davon berichtet, ist er ganz aufgedreht. Voller Adrenalin. Es ekelt mich an. Plötzlich zieht er an mir, beugt sich auf mich. Sein warmer Atem bläst auf meine Haut. Mir ist, als könnte ich frisches Tierblut an seinen Lippen riechen, obwohl doch der Markt geschlossen war. Er beginnt mich am Ohr und am Hals zu beißen und drückt mich unter sich nieder.
„Ey, hör auf damit!“ Ich versuche mich aus seinem Griff zu befreien. Darauf habe ich gerade überhaupt keine Lust. Doch er macht weiter und zieht an meiner Kleidung.
„Sei doch nicht so bockig!“, flüstert er.
Ich stoße ihn kraftvoll weg und stehe auf, gehe ohne ein Wort weg. Er atmet genervt aus und folgt mir.
„Ling, bleib da!“
Ich begebe mich in unser Schlafzimmer und sage, dass ich müde sei. Trotzig lege ich mich ins Bett und schließe meine Augen. Xiaolong bleibt vor dem Bett stehen und mustert mich. Dann legt er sich neben mich und sagt: „Du bist so anders! Liegt es an Maja? Machst du dir Sorgen?“
Ich drehe mich nicht zu ihm und antworte bewegungslos: „Nein. Wenn du es bemerkt hast, ich bin seit acht Jahren anders. Seit Mulan. Wie du übrigens! Du bist auch völlig anders geworden!“
„Hör doch auf mit Mulan! Mulan hat es nie gegeben, hörst du? Wann begreifst du das endlich?“ Er wird zornig. Er wird immer zornig bei diesem Namen.
Ich schnaufe verächtlich und schließe wieder meine Augen. Doch ich spüre, wie sehr ihn dieser Name aufregt. Seine Muskeln sind angespannt und seine Finger beginnen nervös zu zucken. Plötzlich packt er mich grob und zieht mich zu sich.
„Aua! Bist du wahnsinnig?“, fauche ich ihn an.
Er antwortet nicht. Sein Gesicht ist angespannt, er beißt seine Zähne krampfhaft zusammen. Die Wut strömt durch seinen ganzen Körper und seine Augen blitzen mich gefährlich an. Er setzt sich auf mich, so dass ich mich nicht mehr wegdrehen kann. Er reißt seine Hose hinunter und zieht mir gewaltvoll meinen Pyjama vom Leib. Seine Finger rammen sich in meine Haut. Verzweifelt versuche ich mich zu wehren, schlage ihm gegen die Brust und in das Gesicht. So weit ist es also schon gekommen. Er ist dem Wahnsinn verfallen, er ist ein Gestörter. Es ist sinnlos, er ist viel stärker als ich. Xiaolong hält meine Arme fest und atmet laut. Voller Wut, voller Begierde, voller Macht. Und ich gebe auf, lasse es über mich ergehen.