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Antonio

24. Dezember 2019

Heiligabend. Und ich bin wieder in Bergamo, bei meiner Familie. Der letzte Besuch hat mich aufgebaut und ich war in ihrer Gemeinschaft wider erwarten ein Stück weit entspannter als zuvor. Auch wenn sie fragten, nach allem fragten, mich mit Fragen bombardierten, lenkte ich unbeholfen ab und blühte nach einer Weile sogar auf. Wie eine Frühlingsblume. Fühlte mich plötzlich wohl, bei meinem Ursprung, bei meinen Wurzeln. Nun sitzen wir an diesem edlen Mahagonitisch, den meine Mutter vor kurzem besorgt hat. Sie hielt den alten, abgewetzten Tisch nicht länger aus und wollte endlich eine Spur Eleganz ins Haus bringen. In der Wohnzimmerecke steht der Christbaum, in voller Pracht mit rot-goldenen Kugeln und echten Kerzen, denn meiner Mutter kommen keine unromantischen, elektrischen Kerzen ins Haus. Die kleinen Flammen tauchen unsere Gesichter in warmes Licht und lassen manch verhärtete Züge ganz weich wirken. Wir essen Salat mit Tomaten und Oliven, danach wird der Wolfsbarsch hereingebracht. Wir sind fast in kindlicher Stimmung, wie früher, als alles gut war. Giorgio und seine Frau, Mama und Papa und ich mit mir allein. Das ist auch oft ein Thema. Meine Mutter will endlich wieder eine Hochzeit in der Familie erleben und mein Vater meckert, dass sie keine Hoffnungen in mich setzen soll, denn das stünde in weiter Ferne. Ich könne ja doch keine Frau halten. Viel zu sensibel, der Junge. Nun ja, zumindest heute werde ich von diesen Sticheleien verschont. Wir sind in Weihnachtsstimmung, sind fröhlich, sind andächtig, fast schon glücklich. Ein seltsames Gefühl. Ich wünschte, es würde nicht so flüchtig sein. Bleib doch noch, bleib! Geh nicht, hör ich mich schon rufen in ein paar Stunden, wenn ich gesegnet bin, vielleicht erst morgen oder übermorgen.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, springt meine Mutter auf und zeigt auf die große Pendeluhr, die sich neben dem Christbaum befindet. „Um Gottes willen! Wir haben beinahe die Zeit übersehen, es ist schon fast 22 Uhr, die Christmette beginnt gleich!“ Sie sprintet aus dem Wohnzimmer in das Vorzimmer. Ich muss ein leises Lachen unterdrücken, während ich ihr nachschaue. Wenn sie durch das Haus wuselt und ihr kurviger Körper auf einmal ungewöhnlich hektisch bebt, muss man einfach grinsen.

„Wäre wohl zu schön gewesen, wenn wir die Zeit übersehen hätten“, nuschelt Giorgio in sich hinein.

Seine Frau stößt ihn empört in die Seite. Die Kirche ist schließlich heilig.

„Kommt, lasst uns gehen! Wir wollen ihr doch keine Schande bescheren, zum Schluss muss sie während der Mette durch die ganze Kirche laufen, um einen Platz zu bekommen“, sagt mein Vater lächelnd und steht auf.

Die Messe ist vorbei, wir gehen wieder heim. Das Glücksgefühl ist immer noch da, auch wenn langsam die Gedanken wiederkommen. Es ist kalt und stockdunkel, nur die Straßenlaternen tauchen unsere Gestalten in ein warmes, orangenfarbiges Licht. Wir huschen durch die hübschen Gassen bis zu unserem Haus. Die Messe war etwas Magisches, meine Mutter schwärmt jedes Jahr zu Weihnachten und zu Ostern von der Messe. So magisch. So überwältigend. Die Orgel, der Chor, die Lichter, die Gemeinschaft. Aber ich gebe zu, es ist jedes Jahr aufs Neue wunderschön, auch wenn es banal scheint. Wir tuscheln über weiße Weihnachten und dass es schon so weit in der Vergangenheit liegt. Die Hoffnung, dass es vielleicht nächstes Jahr klappen könnte, ist naiv. Der Gedanke daran ist unwirklich, kitschig. Weiße Ostern scheinen wahrscheinlicher. Giorgio und seine Frau haben dieses kecke, verliebte Grinsen im Gesicht, und meine Eltern das warmherzige, vertraute Lächeln. Ich schleiche neben ihnen her. Ich bin immer dabei und doch bin ich es nicht. Mein Vater öffnet die Tür und wir treten in das Haus. Giorgio und seine Frau verabschieden sich und huschen eilig in den ersten Stock, wo sie wohnen. Morgen früh werden wir sie wiedersehen, wenn die Geschenke überreicht werden. Mein Vater klopft mir auf die Schulter und meint: „Komm, Sohn! Wir trinken noch eine Glas Wein. Du hast doch bestimmt nichts vor.“

Wie recht er hat. Ich nicke, lege meine Jacke ab und folge ihm. Wir setzen uns an den Mahagonitisch und betrachten schweigend den Christbaum. Giorgio kann immer reden, redet mit unserem Vater über alles und jeden und mir fallen nie sinnvolle Worte ein. Doch zum Glück kommen die Schritte meiner Mutter näher. Sie eilt mit der Weinflasche und den Weingläsern herein und redet schon vor sich hin. Sie setzt sich neben uns, schenkt uns ein. Ich spüre eine leichte Anspannung, höre das nervöse Gefasel, als wollten sie mit mir über ein unangenehmes Thema reden, sich aber nicht trauen.

„Was ist los?“, frage ich.

„Ach, Antonio! Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Eigentlich will ich es gar nicht ansprechen, aber es ist so belastend“, fängt meine Mutter bedrückt zu sprechen an.

Ich befürchte, es hat mit mir zu tun. Vielleicht will sie meinen Zustand ansprechen. Vielleicht haben sie gemerkt, dass ich anders bin, ruhig und traurig. Gott im Himmel, was soll ich ihnen sagen? Ich weiß doch selbst nicht, was los ist mit mir. Vielleicht sprechen sie mich auf meinen Job an, dass womöglich alles zu viel ist, dass ich kein „geborener“ Arzt bin. Viel zu sensibel, der Junge! Oder sie werfen mir vor, mich um die Flüchtlinge gekümmert zu haben, dass sie schuld an meinem Zustand seien, dass ich mir das nie hätte antun dürfen. Das könne doch kein normaler Mensch mitansehen, diese verlorenen Seelen. Damit sollten wir nicht in Berührung kommen, das tut uns doch nur weh, höre ich meine Mutter schon vorsichtig flüstern. Ich rutsche verlegen auf meinem Stuhl umher, trinke aus meinem Weinglas besonders lange und mit winzigen Schlucken. Wie ein kleiner Junge fühle ich mich ertappt.

„Antonio, ich weiß, es ist ein unpassender Moment, es anzusprechen. Heute ist schließlich Heiligabend, aber morgen am Abend willst du ja wieder nach Rom fahren.“

„Ich will nicht, Mama. Ich muss. Übermorgen habe ich schon wieder Dienst!“

„Ja, ja, ich weiß doch! Aber es ist wichtig!“

„Was denn?“ Ich werde ungeduldig.

„Also, ich arbeite viel in meinem Modegeschäft. Du weißt doch, Kleider schneidern, Kleider schneidern lassen und natürlich auch verkaufen“, fängt sie an.

„Natürlich weiß ich das, das machst du schließlich schon dein ganzes Leben!“, lache ich ein wenig verwirrt.

„Genau. Und du weißt doch, dass in der alten, riesigen Fabrikhalle in der Nähe jetzt wieder gearbeitet wird. Für irgendein bekanntes Modelabel. Armani, Gucci oder Chanel oder so. Ist ja auch egal, die sind ja alle gleich.“ „Mama? Auf was willst du hinaus? Komm zum Punkt!“

Ich werde ungeduldig, was will sie bloß?

Sie beginnt zu stottern: „Na ja, also ich bin ja nicht so begeistert von diesen Marken und wie du weißt, finde ich Mode von kleinen Boutiquen viel besser und deshalb bin ich dort vor kurzem hingegangen und habe mich ein bisschen umgesehen.“

Ich greife mir auf die Stirn und verdrehe die Augen: „Mama! Warum? Wozu?“

„Nur um zu schauen! Auf jeden Fall habe ich in die Fabrikhalle hineingeguckt. Es war furchtbar!“

Mein Vater schenkt sich mehr Wein ein und übernimmt das Wort: „In der Halle arbeiten ganz viele Chinesen. Allesamt verdreckt und ausgemergelt. Ganz bestimmt alles Schwarzarbeiter, denn sie leben dort richtig versteckt. Wie die Hunde!“

„Ja! Es ist schrecklich! Sie schlafen dort auf schmutzigen Matratzen, sind völlig verwahrlost. Die Frauen bekommen sogar zwischen den Nähmaschinen ihre Kinder! Und bezahlt werden sie wahrscheinlich nur mit einem Hungerlohn!“

Sie wird ganz emotional, greift sich an die Stirn und schaut in die Ferne. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich werde nachdenklich, doch ich weiß nicht, was ich denken soll. Natürlich tun mir diese Menschen leid, doch was soll ich dagegen tun? Dass die Welt ein grausamer Ort ist, das kann ihnen doch nichts Neues sein. Das Leid der anderen sehen meine Eltern, meines jedoch nicht. Überwältigt lehne ich mich an meinen Sessel und blicke zwischen ihnen hin und her. Wie Detektive fühlen sie sich. Ich sehe es an dem Funkeln in ihren Augen. Der Christbaum glänzt, der Mahagonitisch verleiht dem Haus tatsächlich eine ungewohnte Eleganz, die Pendeluhr läutet ein paar Mal und der Wein hat uns erwärmt.

„Habt ihr es Giorgio erzählt?“, frage ich.

„Nein, was soll er denn dagegen tun?“, antwortet meine Mutter mit einer wegwischenden Handbewegung.

„Aha. Und mir erzählt ihr es? Was soll ich denn dagegen tun?“

Ich bin verwirrt. Was erwarten sie von mir?

„Ich weiß nicht, du bist doch Arzt, du kannst sie dir doch einmal anschauen. Außerdem kennst du dich doch mit Flüchtlingen aus!“

„Das ist doch etwas anderes! Ich werde sie mir sicher nicht anschauen! Ich habe schon genug verzweifelte Menschen gesehen!“, beginne ich plötzlich laut zu werden. Ich erschrecke vor diesem ungewohnten Ton.

„Übrigens“, hole ich erneut aus, „chinesische Arbeiter in der Textilindustrie sind in Italien keine Seltenheit! Ich sag nur Pronto Moda! In Prato arbeiten schon seit Jahren Tausende chinesische Migranten in der Textilindustrie. Und in manchen Städten, ja, da sind auch Schwarzarbeiter. Das kann euch doch nicht ernsthaft schockieren! Chinesen sind billig!“ Ich schreie schon fast.

Wahrscheinlich will ich es wegschreien. Diese grauenhafte Wahrheit, diese Ausbeutung der Schwachen. Warum erzählen sie mir davon, warum quälen sie mich mit der Ungerechtigkeit der Welt? Ich habe bereits erfolglos versucht, dieser Ungerechtigkeit entgegenzuwirken. Jetzt will ich sie nur noch verdrängen. Doch es sei mir nicht vergönnt.

„Es tut uns leid, Antonio! Wir haben es nur gut gemeint. Wir dachten, du willst helfen. Wir dachten, du bist damit vertraut, und dass du die Erfahrung und Kraft hast, dich für diese Menschen einzusetzen“, redet mein Vater plötzlich ruhig auf mich ein.

Doch jetzt ist es zu spät. Meine innere Ruhe ist längst vernichtet. Ich springe auf und der Sessel fällt mit einem Scheppern zu Boden. Wie können sie es wagen zu denken, dass ich für irgendetwas noch Kraft hätte?

„Erzählt es doch einfach dem Bürgermeister, der soll sich darum kümmern! Oder ruft die Polizei! Aber lasst mich damit in Ruhe!“, schreie ich ihnen ins Gesicht.

Schon lange war ich nicht mehr so aufgebracht, schon lange habe ich mir den Schmerz nicht vom Leib geschrien. Sie wollen doch gar nicht helfen. Sie wollen einfach keine Schwarzarbeiter, keine Fremden. Wenn sie Menschen helfen wollen würden, wenn ihnen etwas an Menschenleben läge, würden sie sich doch auch um die Flüchtlinge scheren. Dann sähen sie das Leid, das um sie herum geschieht. Würden sie mir dann nicht auch helfen wollen? Ich renne aus dem Wohnzimmer, schlage die Türen hinter mir zu und verschwinde in meinem Zimmer. Wie ein bockiges Kind. Lasse die beiden am Tisch sitzen, nur ein Gefühl von Wut und Ratlosigkeit bleibt zurück. Das weihnachtliche Glücksgefühl ist verpufft, schneller als gedacht. Ich werfe mich auf mein Bett und starre leer an die Decke, spüre das Leid, von dem ich nie erfahren wollte. Mein Herz schnürt sich gefährlich eng zusammen, der Druck auf der Brust wird immer intensiver. Meine Eltern, meine geliebten Eltern, sehen sie mich überhaupt noch? Sehen sie, wer ich bin und was ich brauche? Sie sollten mich beschützen und nicht an die Front schicken.

Weltschmerz und Wahnsinn

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