Читать книгу Weltschmerz und Wahnsinn - Magdalena Ungersbäck - Страница 7
ОглавлениеJack
61 Jahre, Nähe Houston, Texas, USA
27. November 2019
Ich mache meinen stündlichen Rundgang, um zu sehen, ob auch alles seine Ordnung hat. Die Rinder sind schon wieder unruhig und bocken nur. Am liebsten würde ich ihnen allen nacheinander die dummen Schädel durchschießen. Aber am nächsten Tag würde ich es bereuen, da bin ich mir sicher. Eigentlich liebe ich sie doch. Und ich brauche sie, halte sie nicht zum Vergnügen. Meine Farm ist riesig, meine Rinderherde auch. Trotzdem bin ich weit und breit der einzige Mensch hier. Da und dort tummeln sich ein paar Farmarbeiter herum, aber eigentlich bin ich allein. Drei Söhne habe ich in diese gottverdammte Welt gesetzt und keinem dieser Idioten scheint mein Erbe etwas zu bedeuten, keiner dieser Nichtsnutze will meine Farm übernehmen. Nun gut, Benny, meinem Ältesten, sei es verziehen, denn er dient dem Vaterland, riskiert sein Leben als Soldat. Ein richtiger Mann. Aber die anderen beiden – pure Versager. Luke kritzelt irgendwelche Bilder, nennt sich Künstler und verdient nicht einmal genug zum Fressen. Und Josh? Keine Ahnung, wie man das nennen soll, was er da macht. Nimmt sein Leben mit der Kamera auf und irgendwelche Leute, die nichts Besseres im Sinn haben, schauen sich seine Videos im Internet an. Idiotisch. Wenn er wenigstens im Fernsehen wäre. Seit 61 Jahren lebe ich auf dieser Farm, auf der schon mein Vater und Großvater gearbeitet haben, und meinen Söhnen ist das egal. Sobald ich unter der Erde liege, werden sie mein Lebenswerk verkaufen. Die hundert Rinder, die vier Pferde, den Hund, die Katzen, die von selbst immer mehr werden, die Felder, die Ställe, mein Haus. Alles für nichts. Deshalb habe ich sie auch verjagt, will sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Nur von Benny bekomme ich noch ein Lebenszeichen. Hin und wieder, wenn es seine Situation zulässt. Ich drehe um, stapfe ins Haus zurück, neben dem die amerikanische Flagge im Wind flattert. Mein Haus, meine Farm, alles hier ist Amerika, wie ich es liebe. Das alles erinnert an Westernfilme, in denen Cowboys durch die Gegend reiten. Hier bin ich der Cowboy. Oder zumindest war ich es einmal. Vor langer Zeit. Als die Welt noch in Ordnung war. Ich stehe in der dunklen Küche und starre in den Spiegel, der neben dem Kühlschrank hängt. Vor vielen Jahren hatte ihn Sarah dort platziert. Sie brauchte in jedem Zimmer einen Spiegel, musste immer wissen, wie sie aussah. Wie sehr ich es liebte an ihr! Nun schaue ich in diesen Spiegel, sehe nur ein grimmiges, faltiges Gesicht mit einem zerschlissenen Cowboyhut auf dem Kopf. Wie wütend mich dieser Anblick macht! Ich erinnere mich daran, als Josh vor zwei Monaten hier war, wahrscheinlich das letzte Mal in seinem Leben und, genauso wie Sarah damals, in den Spiegel sah. Kurz war ich gerührt. Doch dann fing er an, sich über die Internetverbindung zu beschweren und tobte wie ein Rumpelstilzchen, welche Katastrophe es war, dass er sein Video nun nicht pünktlich „hochladen“ konnte. Wo auch immer er es „hochladen“ wollte. Er meinte, er habe fast vergessen, wie öde es hier war. Nicht so aufregend und glamourös wie in Miami, wo er nun mit seinen Millionen auf dem Konto lebt, wie er immer keck andeutet. Sein Geld war mir egal, seine Videos, sein blondes, langbeiniges Model auch, und sein beschissenes Miami sowieso. Er tippte ständig auf seinem Smartphone, war gar nicht richtig ansprechbar. Wie im Koma. Und als er dann noch meckerte, warum ich nicht einmal ein Smartphone habe, nur einen alten Fernseher und ein Tastenhandy und generell noch im 19. Jahrhundert lebe, packte mich die Wut und ich vertrieb ihn mit allem, was mir in die Hände fiel. Jetzt sehe ich nur mich selbst und mein grausames Leben im Spiegel. Beinahe drohe ich vor Wut zu platzen. Früher hätte mich Sarah angelächelt, mir über den Rücken gestreichelt und alles wäre gut gewesen. Doch sie ist ja nicht mehr da. Das Einzige, das bleibt, sind Fotos. Und meine Rinder. Meine Kehle schnürt sich zusammen und ich verliere mich in meiner Wut, stehe neben mir, wie der Statist meines Lebens. Ich raste aus, schnappe über, hasse alles und jeden. Schlage brüllend mit der Faust auf den Spiegel ein, bis die Scherben sich in meine Haut fressen, die Scherben meines Lebens, die Scherben der Erde. Das Blut läuft mir die Hand hinunter, tropft langsam auf den Boden. Und trotzdem wird es einfach nicht besser.