Читать книгу Weltschmerz und Wahnsinn - Magdalena Ungersbäck - Страница 6
ОглавлениеLing
44 Jahre, Peking, China
20. November 2019
Mein Handy hat vibriert und ich habe es ignoriert. Obwohl es auf dem Tisch liegt, direkt neben mir. Obwohl ich gesehen habe, dass es Xiaolong war, mein Mann. Ich sitze, wie fast jeden Tag, hier im Büro als Sekretärin einer Modefirma. Der Raum ist riesig, fast eine Halle, und nebeneinander stehen gefühlt Tausende Schreibtische mit Tausenden Computern. Und unter diesen Tausenden Menschen, die hier arbeiten, sitze ich unbemerkt da, starre auf meine Tastatur und ignoriere meinen Mann. Ich weiß doch, was er mir sagen will. Ich könne ruhig Überstunden machen, ich solle mich brav von allen verabschieden, wenn ich nach Hause gehe, ich müsse aufmerksam die Straßenverkehrsregeln beachten, wenn ich zur U-Bahn eile und dürfe dort auch keine Auffälligkeiten von mir geben. Er bläut mir dies schon seit Ewigkeiten ein und natürlich habe ich es immer fügsam befolgt. Nur die Überstunden nicht. Auf die verzichte ich. Wie auch heute. Ich will nach Hause. Zu meinem Kind, zu meinem Bett und auch ein bisschen zu meinem Mann. Ein bisschen. Ich schalte den Computer aus, erhasche mein angespanntes Gesicht auf dem schwarzen Bildschirm, stehe auf, sage brav zu allen „bis morgen“ und mache mich auf den Weg nach Hause. Es ist schon fast dunkel und ich will mich beeilen, aber nicht zu sehr, denn dann wäre ich auffällig und unaufmerksam und würde vielleicht einen Fehler machen. Bei Rot über die Straße laufen oder jemanden anrempeln. Das wäre fatal. Vorsichtig hebe ich den Blick. An jeder Straßenecke sind Kameras, die sofort wissen, wer ich bin, sobald sie mich eingefangen haben. Eigentlich leben wir in einer totalüberwachten Welt. Aber das ist auch nicht weiter schlimm, ich habe nichts dagegen. Es ist sogar gut, es verspricht Sicherheit. Sicherheit für uns alle, wenn sie sehen, was wir tun. Sicherheit sollte man vor Freiheit stellen, nicht wahr? Das ist vernünftig und vernünftig sollten wir sein. Dann können Kriminelle sofort identifiziert und verhaftet werden. Gut, ich bin dafür. Ich eile durch Peking, das am Abend immer schriller und bunter wird, Tausende Geräusche und blinkende Lichter prasseln auf mich herab. Zügig husche ich durch die U-Bahn-Stationen und die Wohngassen, bis ich unsere Wohnung erreiche. Die schwere Eingangstür des Gebäudes aufgemacht – die Stiegen hinauf, die bis in die Unendlichkeit zu führen scheinen – den Schlüssel in die Wohnungstür – drehen – Knack – und offen. Ich trete ein und sehe Xiaolong am Küchentisch sitzen, den Kopf über eine Zeitung gebeugt.
„Hallo, da bin ich!“
„Hallo Ling, sieh da!“ Er winkt mich gleich zu sich und trommelt auf die Zeitung: „Das scheint die perfekte Wohnung zu sein!“
Ich beuge mich zu ihm, betrachte das Bild und den Preis und sage: „Ja, perfekt.“
Wir wollen nach Shanghai ziehen, brauchen dort eine schöne Wohnung. Eine schönere als jetzt. Und eine größere. Xiaolong hat nämlich ein Jobangebot dort erhalten. Er will es annehmen, denn dann ist er bedeutender als jetzt. Kein gewöhnlicher Polizist mehr, nein, ein richtig einflussreicher Polizist, so sagt er.
Er schlägt die Zeitung zu und mustert mich.
„Du hast nicht abgehoben.“
„Ich wusste doch, was du mir sagen willst.“
„Gut.“ Er stockt, dann holt er nochmals aus: „Ling, es ist wirklich wichtig. Wir müssen uns benehmen!“
„Tun wir doch.“
„Ja. Wir brauchen nämlich die Punkte, wenn wir die Wohnung bekommen wollen und du einen neuen Job in Shanghai willst!“
„Ich weiß. Das ist jetzt keine Neuigkeit mehr!“ Ich bin genervt von seiner ständigen Leier wegen der Punkte.
Seit einigen Jahren gibt es eine Testphase in einigen chinesischen Städten für das Sozial-Kredit-System. Danach bekommt man Plus- oder Minuspunkte für sein Verhalten. Wenn du zum Beispiel auf die Straße spuckst oder bei Rot über die Straße läufst, bekommst du Minuspunkte. Wenn du regelmäßig deine Eltern anrufst oder jemandem hilfst, Sachen, die ihm zu Boden gefallen sind, aufzuheben, dann bekommst du Pluspunkte. Das soziale Verhalten zählt. Die Kameras nehmen alles auf. Sobald du zu viele Minuspunkte auf deinem Konto hast, kommst du auf die Schwarze Liste und dann ist dein Leben eigentlich gelaufen. Du wirst kein Zug- oder Flugticket mehr erhalten, keine Wohnung und keinen Job finden oder deine jetzigen Besitztümer sogar verlieren. Wie surreal das klingt! Ab 2020 soll dieses Punktesystem in ganz China gelten. Xiaolong und ich wollen natürlich jetzt schon viele Punkte machen, damit wir bald in Shanghai ein schönes Leben beginnen können. Ein schönes Leben. Er soll trotzdem mit dem Geschwafel von den Punkten aufhören. Das Kind ist wohl wichtiger.
„Wie geht es Maja?“, frage ich ihn, „wart ihr im Krankenhaus?“
„Ja. Sie schläft jetzt. Sie hat die Infusionen bekommen und auch neue Medikamente“, antwortet mein Mann, ohne den Blick von der geschlossenen Zeitung zu nehmen.
„Hat sie wieder erbrochen?“
„Ja, aber nur ein einziges Mal!“
„Gut. Ich gehe zu ihr!“
Ich drehe mich um und gehe in Majas Zimmer. In das Zimmer meiner zwölfjährigen Tochter. Vorsichtig öffne ich die Türe und schleiche mich an ihr Bett. Es ist stockdunkel, die Vorhänge sind zugezogen und es riecht nach Schlaf. Ich sehe rein gar nichts, muss mich langsam und unbeholfen vorantasten. Nur ihr sanftes Atmen ist zu hören. Sachte lasse ich mich auf ihrem Bett, neben ihr, nieder und streichle ihr zartes, warmes Gesicht. Sie hat das alles nicht verdient. Sie ist zu lieb für diese Welt, für dieses Schicksal. Mein armes Kind. Der Vater redet nur von Punkten, die Mutter ständig im Büro, das Kind verseucht von Leukämie.