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Amira

7. Dezember 2019

Natürlich weiß ich, dass ich mir selbst den Stress mache, aber die anderen, die anderen sind doch schuld daran. Sie reichen mir den Koffer aus Angst und Stress und ich trage ihn auch noch. Ich Idiotin schleppe ihn einfach mit, ich tue mir keinen Gefallen damit. Doch es wäre unhöflich und unangebracht, den Koffer einfach stehen zu lassen. Ich weiß, ich sollte den Koffer einfach stehen lassen. Aber ich kann nicht, ich kann es einfach nicht. Wenn man es gewohnt ist, immer gute Leistungen zu erbringen, dann möchte, nein, dann muss man dieses Niveau auch aufrechterhalten. Nicht nur, weil man es sich selbst beweisen will, sondern auch weil die anderen es für selbstverständlich halten. Familie, Lehrer. Die Fallhöhe eines Einserschülers auf eine Vier ist doch gewaltiger, länger und schmerzhafter, als von einem Viererschüler auf eine Fünf. Es sind immer Versagensängste im Spiel. Obwohl es doch eigentlich egal wäre, ob man eine Eins oder eine Vier bekommt, positiv ist positiv. Kein Hahn kräht danach. Wie oft ich das höre und gleichzeitig weiß, dass die Realität ganz anders ist. Die Familie sagt mir, dass Noten nicht wichtig sind, dass sie nicht enttäuscht oder gar böse sind, wenn es ein Vierer und kein Einser ist. Und wenn es dann wirklich einmal eintritt, was dann? Dann werde ich angeschrien oder einfach nur enttäuscht angestarrt. Dann bin ich plötzlich schlampig und faul. Tatsache ist, dass ich angefaucht werde, dass ich noch schön schauen werde, wie das mit mir weitergehe, dass die Fünf schon in Sichtweite sei und die Matura eine Katastrophe werden würde, wenn es so bliebe. Kein Aufmuntern, kein Trost, kein Beschwichtigen. Immer nur Angst, Vorwürfe und Druck. Der Druck der kalten Hand auf meinem Rücken, der immer fester wird. Dann frag ich mich, wie es den tatsächlichen „Fünferkandidaten“ gehen muss, die immer auf der Kippe stehen und in den finsteren Abgrund blicken müssen. Vielleicht ist es ihnen egal, denn sie kennen es nicht anders, sie sind es gewohnt. Warum sich vor etwas fürchten, das bereits normal ist, etwas, das man schon tausendmal erfahren hat und auch bewältigen konnte? Unbeschwert und leicht stelle ich mir das vor. Darauf geschissen. Gerne würde ich mitscheißen. Hätte ich es doch von Anfang an getan, jetzt kann ich mich nicht mehr wandeln. Oder ist jeder Schritt, jeder Gedanke, den sie tun, ein einziger Stressakt, ein verzweifelter Schrei, Angst, dass sie keine annehmbare Zukunft haben werden? Und da fragt sich noch irgendjemand, warum es in der Welt so viele Schulabbrecher gibt, die nicht weiter für ihre Bildung kämpfen! Nicht aus Dummheit und Faulheit, zumindest nicht nur. Möglicherweise gibt es auch diejenigen, die ebenfalls diese grausame Hand im Rücken spüren, die sie gegen die Wand drückt, bis die Atemnot eintritt, die sich in ihr Fleisch rammt, bis das Blut spritzt. Irgendwann hat diese Hand die komplette Kontrolle über dein Leben, über dein Überleben. Irgendwann kann man sich ihr nicht mehr fügen, ist jegliche Hoffnung ausgelöscht und man muss sich ihr endgültig entziehen. Wie sehnlichst ich mich ihr entziehen will! Warum denn keine Bildung, kein Wissen ohne diese gewalttätige Hand? Oder mit einer Hand, die dich aufmunternd anstößt und dir auf die Schultern klopft, anstatt dich labil zu schlagen. Wie schön, wie surreal das wäre! Warum nicht einfach lernen, ohne ständig etwas beweisen zu müssen? Schön wäre es, einfach mal weniger beweisen zu müssen. Wenn man nicht ständig unter Stress stehen würde, wäre man dann nicht von selbst ein bisschen wissbegieriger? So stellt sich die kleine Amira die Welt vor. Warum überhaupt die Maturaprüfungen? Warum kann es nicht möglich sein, die Ergebnisse des ganzen Schullebens zu berücksichtigen, Ehrgeiz und guter Wille inklusive? Nach zwölf Jahren Schule muss man ernsthaft noch etwas beweisen, braucht man wirklich diesen angsterregenden Abschlusstest? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was diese Welt wirklich braucht. Es ist Abend und ich laufe durch meine Heimatstadt Bad Ischl. Ich merke, dass ich schon wieder zu viel denke. Denken ist nicht gesund, Denken macht krank, ich wünschte, ich würde nicht andauernd über diese Welt nachdenken. Mein Onkel feiert heute seinen 40. Geburtstag in einem Lokal in der Innenstadt. Und ich bin spät dran. Die Sterne funkeln mich bereits antreibend an. Meine Eltern sind mit meiner siebenjährigen Schwester Mirjam schon vorausgegangen, denn sie wollten nicht auf mich warten. Normalerweise bin ich ja diejenige, die auf alle warten muss, doch wenn ich selbst einmal ein bisschen trödele, ist das unverzeihlich. Deshalb muss ich mich jetzt allein beeilen. Ich eile an den eleganten Häusern vorbei, sauge die eisige Luft in meine Lunge und ziehe dann die große Glastür des Lokals auf. Leicht angespannt trete ich in den mit orangefarbigem Licht durchfluteten Raum. Leise Musik schwirrt durch die Luft und ich sehe schon alle an einem langen Tisch sitzen. Mit einem breiten Lächeln begrüße ich sie, zuerst natürlich meinen Onkel. Dann setze ich mich zu meinen Eltern und zu Mirjam und bleibe weiter unscheinbar. Ich komme, man sieht mich, erkennt mich, vergisst mich. Wir essen, wir trinken, sind fröhlich und lustig. Heimlich beobachte ich meinen Onkel und seine Freunde, wie sie wieder über Politik diskutieren und glauben, sie könnten dadurch irgendetwas Wichtiges, Weltbewegendes erreichen. Mirjam beginnt an meinem Arm zu ziehen und will etwas mit mir spielen, doch ich schicke sie weg, meine, sie soll mit den anderen Kindern spielen, was sie danach auch macht. Ich beobachte weiter. Plötzlich setzt sich die Frau meines Onkels zu mir. Ich mag sie sehr und freue mich, sie redet mit mir und mit ihrer Schwester und irgendwie baue ich mich mit ein. Doch dann kommt die berühmte Frage, die wohl jeder Schüler einer Oberstufe kennt. Wie sehr ich diese Frage hasse.

„Weißt du eigentlich schon, was du nach der Schule machen willst?“

Ich lächle mein verzweifeltes Lächeln und schüttle den Kopf.

„Überhaupt keine Idee?“, bohrt sie weiter nach.

„Nein, nicht wirklich. Ich bin ziemlich unentschlossen. Es gibt viele Sachen, die mich interessieren, aber nichts, was ich für immer machen will“, antworte ich wahrheitsgemäß, aber nicht zu 100 Prozent ehrlich.

Natürlich denkt ein Schüler viel darüber nach, wohin der Weg gehen soll. Aber sich auf einen Weg fixieren, das ist doch unmöglich. Wie sehr ich es hasse, darüber zu diskutieren! Was willst du werden, was willst du machen? Ich habe keinen blassen Schimmer, was die Zukunft bringt. Was ich heute will und was ich morgen will, das sind doch zwei Paar Schuhe. Oft beneide ich die, die von klein auf wissen, dass sie Rechtsanwalt oder Arzt werden möchten. Ein solider anerkannter Beruf, das wünscht sich jeder für sein Kind. Da weiß man, was man studieren will. Doch dann beneide ich sie auch wieder nicht, denn wenn du merkst, dass die Realität doch kein Traum und der Beruf nichts für dich ist, dann kann deine ganze Zukunftsplanung innerhalb eines Tages einstürzen – bloß die Trümmer eines Trugbildes bleiben zurück. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass mein Herz für Literatur brennt. Für das Spiel mit den Worten, für die alte Ausdrucksweise und die vielen Geschichten. Im Moment. Gerade jetzt, ob morgen auch noch, das steht in den Sternen. Ich entdecke Goethe, Schiller, Brecht und Hesse und Hunderte andere und bade in ihren Worten, stelle mir ihre Weltsicht und ihre Erlebnisse vor, in einer vergangenen Zeit. Stürze mich in Bücher, deren Zeilen meine Seele heilen und bin so unendlich gerührt von dieser Kraft, die Worte ausstrahlen können, wenn man weiß, wie man sie richtig platziert. Doch was fängt man mit dieser Leidenschaft an? Kann ich ernsthaft sagen: „Leute, vielleicht studiere ich Literatur, vielleicht verlieb ich mich in Goethe!“

Ich sehe schon die entsetzten Gesichter, das verwunderte Kopfschütteln, das Kräuseln der Lippen der Leute. Literatur? Was soll man damit „werden“? Das ist eine brotlose Kunst! Nein danke, ich erspare mir diese verletzenden Blicke, warte erst einmal die Entwicklung meiner Hirngespinste ab und sage einfach: „Keine Ahnung, was aus meinem Leben werden soll.“ Schließlich ist es nicht gelogen. Denn ich weiß ja selbst nicht, was man damit werden kann. Ist doch eigentlich auch völlig egal. Ich möchte keinen Plan haben und wissen, wie mein Leben ablaufen soll. Möglichst schön will ich es haben. Doch wenn man sich einen Plan macht, ist das nicht garantiert. Pläne sind sowieso krampfhafte Anklammerungen an Träume. Pläne sind leicht zu durchkreuzen und haben ein Ablaufdatum, man weiß bloß nicht, wann es soweit ist. Lieber habe ich keinen Plan und schwimme einfach im Strom meines Schicksals. Dann werde ich auch nicht enttäuscht von unerfüllbaren Wünschen. Ich will im Hier und Jetzt leben und mich nicht mit meiner Zukunft quälen. Sie macht mich nervös, sie macht mir Angst, obwohl es doch nur besser werden kann. Besser als jetzt, besser als Schule, besser als ein Leben, das ohne mich stattfindet. Darum lächle ich meine Tante und ihre Schwester an, nippe an meinem Weißwein und sage, dass ich es noch nicht weiß. Und das Thema ist für mich erledigt. Redet nicht weiter auf mich ein, fragt mich etwas anderes, macht mir bitte einfach keine Angst.

Weltschmerz und Wahnsinn

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