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TESTACCIO Im Bauch von Rom
ОглавлениеAuf den Bänken der Piazza Santa Maria Liberatrice gegenüber der Kirche sitzen Zeitungsleser, die Leute grüßen sich und wechseln ein paar Worte, eine Mutter führt ihr Neugeborenes im Kinderwagen vor. In Testaccio, dem ersten von Architekten geplanten Arbeiterviertel Roms am alten Schlachthof, kennen sich die Nachbarn. Die Straßen sind belebt, an der Ecke gibt es eine gut besuchte Trattoria mit römischer Küche. Die vier- oder fünfstöckigen Mietskasernen hinter dem Tiber wurden zwischen 1883 und 1907 gebaut. Sie wirken hell und freundlich, kein Vergleich zu den rasch hochgezogenen, gesichtslosen Neubaugegenden der Nachkriegszeit in der Magliana oder in Pietralata. Die Idee, auf den »Wiesen des römischen Volkes«, wie die Gegend seit jeher hieß, Häuser zu errichten, entstand schon 1873. Die rege Bautätigkeit in Vierteln wie dem Quartiere Ludovisi, wo die Ministerialbeamten unterkamen, und in den Straßenzügen um die Piazza Vittorio, in die vor allem die Ordnungskräfte einzogen, veränderte auch die Bevölkerungsstruktur. Aus den Bauern und Landarbeitern, die vor dem Hauptstadtbeschluss jeden Tag auf der Piazza Montanara oder der Piazza Farnese ihre Dienste für die Aussaat oder die Ernte in der römischen Campagna angeboten hatten, wurden plötzlich Maurer und Straßenbauarbeiter. Waren die Tagelöhner früher in den Heuschobern oder einfachen Häusern auf den Höfen untergekommen und nach Saisonende wieder in ihre Dörfer im Latium oder in den Abruzzen zurückgekehrt, blieben sie jetzt in der Stadt. In den ersten Jahren nach 1870 campierten Zehntausende unter den Arkaden von Campidogli und der Piazza Vittorio, am Ponte Sisto und auf den Stufen von Santa Maria Maggiore oder hausten in provisorischen Baracken an der Porta Portese. Sozialen Wohnungsbau gab es noch nicht; für Investoren waren Villen und elegante Mietshäuser das lohnendere Unterfangen. Als um 1885 das Baufieber nachließ und die bis heute größte Immobilienkrise Italiens einsetzte, zwang man 29000 Bauarbeiter zur Rückkehr in ihre Heimatorte. Der Bedarf an günstigerem Wohnraum war dennoch groß: Schließlich stellten auch die Gas- und Wasserwerke Leute ein, die begüterten Römer brauchten Bedienstete, überall wurden Märkte und Läden eröffnet, und zum ersten Mal gab es Busfahrer. Ein gerissener Unternehmer hatte bereits 1873 die Testaccio-Wiesen von der Familie Torlonia erworben und mit der Stadt einen Vertrag über die Errichtung eines Arbeiterviertels geschlossen. Es dauerte dann zehn Jahre, bis unter einem anderen Unternehmer alles in Gang kam, doch die Bestimmung blieb erhalten. Sauber getrennt von den feineren Quartieren der Stadt schien Testaccio am Rande der Mura aureliane ideal, denn hier schuf man die Versorgungszentralen der Stadt: den riesigen Schlachthof und Handwerksbetriebe, gleich hinter der Mauer war Platz für Lagerhallen, den Großmarkt und die Gaszentrale. Das Tiber-Knie diente schon in der Antike als Abladeplatz des damals nahe gelegenen Hafens. Man betrieb eine Art Mülltrennung und warf die gebrauchten Öl- und Weinamphoren auf einen großen Haufen, der nach und nach anwuchs: der Scherbenberg, der testaccio, vom lateinischen testa, Krug oder Scherbe. Ein kugeliges Gebilde, grün bewachsen, mittlerweile nur noch mit einem Führer zugänglich. Die roten Tonscherben lugen an vielen Stellen hervor. Im 18. Jahrhundert entstand hinter dem Berg an der Cestius-Pyramide der Friedhof für Nichtkatholiken, wo neben zwei Söhnen von Wilhelm von Humboldt auch August Goethe, Keats und Shelley liegen. Tote Protestanten durften nicht in der geweihten Erde der innerstädtischen Bezirke begraben werden. Um Angriffe des Pöbels zu vermeiden, fanden die Beerdigungen der deutschen, englischen oder skandinavischen Einwanderer nachts bei Fackelschein statt. Karl Philipp Moritz wunderte sich über den Lärm aus den Gasthäusern von Testaccio, wo sich das römische Volk vergnügte.
Testaccio war also seit jeher der schmuddelige Hinterhof Roms. Aber Ende des 19. Jahrhunderts durchdachte man zum ersten Mal seine Funktion und wollte ein Quartier mit Modellcharakter schaffen, mit kurzen Arbeitswegen und Infrastruktur. Viele namhafte Architekten waren involviert. Da die Wohnungen klein und funktional gestaltet sein sollten, wollten sie ihre Bravour zumindest an den Fassaden beweisen. Allerdings dauerte es, bis alles funktionierte; über zwanzig Jahre lang mussten sich die Bewohner mit provisorischen Lösungen arrangieren, und die Lebensbedingungen blieben äußerst prekär. Von sechsunddreißig geplanten Blöcken waren 1900 neun komplett fertig und sechs zur Hälfte. Nur ein Teil der Häuser hatte Gasanschluss, die Toiletten waren auf den Balkons, Waschküchen gab es erst ab 1909, eine Schule wurde 1907 gebaut, viele Straßen waren noch nicht gepflastert, und die freien Flächen dienten als Müllhalden. Achttausend Menschen lebten in Testaccio, ausschließlich Arbeiter, oft drängelten sie sich zu fünft oder sechst in zwei Zimmern. Die Kindersterblichkeit in den ersten fünf Lebensjahren lag bei 51,8 Prozent.
Dies waren die Verhältnisse, als Elsa Morante in der Via Amerigo Vespucci 41 aufwuchs. Kein Vergleich mit dem Milieu Alberto Moravias. Das arme Rom taucht in Morantes Erzählungen und Romanen immer wieder auf, und Testaccio ist der Schauplatz ihres berühmtesten Buches La Storia über den Zweiten Weltkrieg. Ihre Heldin Ida Mancuso landet nach ihrer Ausbombung in den Baracken von Pietralata, bis sie 1944 in Testaccio Unterschlupf findet. Zuerst mietet die Lehrerin für sich und ihren kleinen Sohn ein Zimmer bei einer Familie in der Via Mastro Giorgio, dann übernimmt sie 1946 eine Wohnung in der Via Bodoni, gleich hinter der Piazza Santa Maria Liberatrice mit der Kirche, wo auch Idas Schule liegt. Von ihrem Wohnzimmer im obersten Stockwerk des Mietshauses kann sie auf den Platz blicken.
Aus der früher so bescheidenen und überbevölkerten Wohngegend ist mittlerweile ein gefragtes Viertel geworden. Die Häuserblöcke sind gelb, ockerfarben oder weiß gestrichen, in der Via Bodoni gibt es Innenhöfe mit Orangenbäumen und Palmen, vor den Fenstern hängt Wäsche. Vor zehn Jahren wurde knapp die Hälfte der Blocks in Eigentumswohnungen umgewandelt, die damaligen Mieter hatten Vorkaufsrecht, viele machten davon Gebrauch. Die Preise sind um das Zehnfache gestiegen, auch die Mieten liegen bei rund tausenddreihundert Euro für hundert Quadratmeter. Zwischen Scherbenberg und Schlachthof ist gerade die neue Markthalle fertiggestellt, ein Teil des Gebäudes soll von der Universität genutzt werden. Direkt am Berg zieht sich die Via Galvani entlang, eine der neueren Ausgehmeilen der Stadt, wo bis in den Morgen die internationale Easy-Jet-Jugend feiert. Der alte Schlachthof beherbergt inzwischen das Museum für moderne Kunst MACRO. In den riesigen Hallen gibt es immer noch Schienen unter der Decke, an denen man früher die Tierleiber befestigte. Auch auf dem kopfsteingepflasterten Hof zeugen Gevierte aus Eisen, Tränken und Aufschriften an den Backsteingebäuden wie »Häutung« und »Viehställe« von der früheren Funktion der Hallen. Das Gebrüll der Tiere muss in den angrenzenden Straßen zu hören gewesen zu sein. Vor allem im Sommer lag Gestank über dem Viertel. Auf der Suche nach einem möglichst kräftigen und schönen Hauptdarsteller für die schon erwähnte Komödie Bellissima kamen 1951 der adlige Regisseur Luchino Visconti und sein Drehbuchautor Cesare Zavattini hierher. Sie sahen den Schlachter Gastone Renzelli, wie er sein Beil in die Höhe schwang und Pferdeleiber zerteilte, und wussten, dass sie die ideale Besetzung für die Rolle des bodenständigen Ehemannes gefunden hatten. Trotzdem fiel Zavattini bei dieser Gelegenheit in Ohnmacht, weil er den Anblick der hoch aufgetürmten, von Ratten wimmelnden Knochenberge nicht ertrug. Einziges Überbleibsel aus der Zeit, als hier noch Tiere geschlachtet wurden, ist die Bar Mattatoio gleich beim Eingang. Neonröhren, Resopaltische und eine blondierte Siebzigjährige, die den Kaffee serviert.
Elsa Morante wurde am 18. August 1912 geboren, verschwieg aber ihr Geburtsdatum später gern. Darin war sie eigen. »Den ersten Gefallen, um den ich meine Biographen bitte (und den ich mir in diesem Falle selbst tue)«, schrieb sie 1959 in einem Selbstporträt, »ist der, mein Geburtsdatum nicht zu nennen. Nicht weil ich ein bestimmtes Alter einem anderen vorzöge, sondern weil ich gern alterslos wäre. Und dieses Mal gönne ich mir diese Freude.« Den größten Teil ihrer Kindheit verbrachte Elsa in der Via Amerigo Vespucci 41, wo heute eine Gedenktafel angebracht ist. Im Hof gibt es immer noch einen Kindergarten, eine Initiative, die aus der Not kurz nach dem Bezug der Häuser rührte, als die berufstätigen Mütter nicht wussten, wohin mit ihren Kindern. Elsas Mutter Irma kam aus einer jüdischen Familie und war Lehrerin in der gerade eröffneten Grundschule um die Ecke, der Vater Augusto Morante arbeitete als Erzieher in der Jugendstrafanstalt Aristide Gabelli an der Porta Portese, auf der anderen Seite des Tibers. Es gab drei jüngere Geschwister; ein älterer Bruder war verstorben. Die Mutter hatte viel für Literatur übrig, neigte aber zu Nervenzusammenbrüchen und schloss sich manchmal stundenlang im Schlafzimmer ein. Ihren Mann Augusto behandelte sie wie einen Aussätzigen: Er nahm seine Mahlzeiten allein ein, schlief der Legende nach im Keller und wurde vom Familienleben ausgeschlossen. Schon als Kind musste Elsa die Beziehung der Eltern merkwürdig vorgekommen sein, ebenso wie die regelmäßigen Besuche eines sogenannten sizilianischen »Onkels« Francesco Lo Monaco. Er war der leibliche Vater Elsas und aller Geschwister. In den vier großen Romanen und zahlreichen Erzählungen Morantes bilden archaische Familienverhältnisse, uneheliche Kinder und undurchsichtige Beziehungen zwischen den Angehörigen den Glutkern. Die Neigung zu Tabus, Geheimnissen, manipulativen Strategien und untergründigen erotischen Bindungen hat sie ihr Leben lang beschäftigt.
Was den Bildungsanspruch angehe, habe ihre Familie zum Bürgertum gehört, beschrieb Elsa Morante ihre Herkunft, wegen ihrer Armut seien sie der Unterschicht näher gewesen. Sie litt unter Anämie, und als eines Tages ihre wohlhabende Patentante auftauchte, glänzend verheiratet und Besitzerin einer Villa mit Garten hinter der Via Nomentana am anderen Ende der Stadt, nahm diese das Kind kurzerhand in ihre Obhut. Die sechsjährige Elsa blieb über sechs Monate bei der Tante, kehrte auch in späteren Jahren häufig für längere Zeit zurück und war vor allem vom Kleiderschrank ihrer Cousine beeindruckt. »Auf diese Weise habe ich mit armen Kindern gespielt, die auf Abwege gekommen waren, und mit großbürgerlichen. Daraus habe ich mir die Meinung gebildet (die vielleicht falsch ist, aber ich pflege sie bis heute), dass man Menschen nicht nach sozialen oder moralischen Kriterien bewerten sollte, sondern nach Zuneigung. In der Tat – die Soziologen mögen dies bewerten – war mir unter meinen Altersgenossen ein Junge am unangenehmsten, Sohn eines Majordomus, der mich zwang, Benzin zu trinken, während ich einen kleinen Apulier aus der Strafanstalt Gabelli am liebsten mochte: Er war wirklich die Anmut und Ehrlichkeit in Person, und ich frage mich, auf was für eine Art von Abwegen er gekommen sein sollte.« Im Grundschulalter begann Elsa, Geschichten und Gedichte für Kinder zu verfassen, die sogar veröffentlicht und entlohnt wurden. »Es stimmt, dass ich als Kind gern ein Junge gewesen wäre«, erklärte sie später in einem Interview, »denn unter den Jungen stieß ich auf größere Abenteuerlust, auf die Neigung zum Heldenhaften oder sogar zum Unmöglichen, worauf man unter kleinen Mädchen selten trifft, denn der weibliche Charakter ist praktischer veranlagt als der männliche.« Schreiben wurde zu einer Möglichkeit, die Rollen zu wechseln, und mit fünfzehn verlagerte sich Elsa auf Erzählungen für Erwachsene. »Ich war achtzehn, als ich die Schule beendete und von meiner Familie wegging, um das Leben kennenzulernen. Und tatsächlich habe ich es kennengelernt.« 1930 in Rom eine ungewöhnliche Entscheidung für eine junge Frau.
Mit seinen elegant geschnittenen Flanellhosen, dem Tweedjackett und den Wildlederschuhen muss Alberto Moravia sehr etabliert gewirkt haben. Seiner kräftigen Statur sah man die vielen Jahre im Sanatorium nicht an, im Gegenteil, er strahlte etwas Vitales aus. Nur ein leichtes Hinken verriet die frühere Erkrankung. Obwohl er in seinen Romanen mit dem Bürgertum scharf ins Gericht ging, entsprach er rein äußerlich den Vorgaben seiner gesellschaftlichen Schicht. Die Rechnungen beim Schneider übernahm selbstverständlich der Vater, sonst hielt er den Sohn, der plötzlich berühmt geworden war, eher kurz. Fünfhundert Lire im Monat, schließlich wohnte er noch zu Hause. Elsa Morante saß ihm im November 1936 eines Abends in der Bierkneipe Dreher gegenüber; sie war im Schlepptau des Malers Capogrossi dort aufgetaucht. Ihre Familie? Spielte keine Rolle. Geld hatte sie kaum welches. Mittlerweile belieferte sie die Comiczeitschrift Corriere dei piccoli, die Kinderbeilage des Corriere, mit Geschichten. Eine weitere Einkommensquelle waren Doktorarbeiten, die sie unter der Hand für verzweifelte Examenskandidaten schrieb. Freimütig erzählte sie dem erfolgreichen Kollegen, der für große Tageszeitungen bis nach Indien gereist war, von ihren komplizierten Beziehungen: Sie habe einen englischen Geliebten namens Richard, der allerdings homosexuell sei und vor ihren Augen seinen Liebhaber ermordet habe. Bis auf Richard war fast alles komplett erfunden, aber Moravia fiel darauf herein. Als er ein Jahr später aus China zurückkehrte und sie sich wieder über den Weg liefen, ließ sie ihm einen Schlüssel von ihrer Wohnung am Corso Umberto da.
Alberto wohnte weiter in der Via Donizetti, bei seinen Eltern. Von der Verbindung mit Elsa Morante wussten sie nichts. Oder taten zumindest so. Im Frühjahr fuhren Alberto und Elsa nach Capri, wo alles billiger war, und mieteten sich bei einer Witwe in Anacapri ein. An warmen Tagen konnte man schon baden. Sie schrieben und lasen, trafen den Schriftsteller und Journalisten Curzio Malaparte, der ein Grundstück direkt am Meer erworben hatte und ein Haus bauen wollte. Dann folgten Monate in Rom. Am 17. Februar 1938 heißt es in Elsa Morantes Tagebuch: »Bis sieben Uhr wachgelegen. Ich hatte zu viel Alkohol und Kaffee getrunken, zu viele Leute gesehen. Immerzu Angst und Beklommenheit, ab und zu die Hoffnung, aus ›Via dell’Angelo‹ [eine Erzählung, M. A.] etwas Schönes zu machen. (…) Als es Morgen wird, höre ich die Geräusche der Autos, die Glocken. Mir ist, als erwachte ich in einer fremden Stadt, wo niemand dich kennt und die vom Regen beinahe erstickten Laute fern klingen und die Verlorenheit und Einsamkeit noch vergrößern. Ist mir diese Stadt, in der ich geboren wurde, nicht in Wirklichkeit fremd? Wen gibt es dort für mich? Niemand denkt wirklich an mich, niemandem kann ich mich anvertrauen, nur eines verlangen sie, dass ich amüsant bin, und voriges Jahr diese grässliche Geschichte mit G. M. – A. liebt mich nur, wenn ich fliehe, aber ich kann nicht fliehen, ich habe kein Geld. Er ist berühmt und reich, in wenigen Tagen fährt er nach Paris. Außerdem ist er immer verschlossen und düster. Er wird nach Paris fahren, um seinen gegenwärtigen Triumph zu feiern, und ich? Eine schreckliche Einsamkeit, ich stürze ab. Genug. (…) Ich werde es nicht aushalten können, dass er nach Paris fährt. Was tun? Ich habe keine Lira. Ich möchte auch verreisen. Aber wohin? Meine Schönheit wirkt noch jugendlich, aber wie kann ich sie festhalten? Alter und Tod machen mir Angst.« Rivalität bestimmte die Beziehung, obwohl Elsa Morante die schriftstellerische Arbeit Moravias schätzte und unbeirrbar an ihren eigenen Projekten festhielt. Ein Band mit Erzählungen war in Vorbereitung. Schon damals zeigt sich eine Obsession, die im Laufe der Zeit immer bestimmender werden sollte: die Angst vor dem Alter. »Der Tod erschien mir wie ein fahler, aufgeblähter und schleimiger Körper«, schreibt sie am 7. März über einen Traum in ihr Tagebuch. »Eine düstere Zuneigung zog mich zu meiner Mutter hin, die schon von Hässlichkeit und Verfall gezeichnet war, welche über viele Jahre das Ende und den Tod vorbereiten. In Wirklichkeit ist das Leben nichts als der Tod, der sich mit geradezu künstlerischer Sorgfalt ankündigt. Ein Körper ist jung und schön. Jeden Tag arbeitet der Tod an ihm: hier eine Falte, dort ein Zeichen, ein Aufquellen, ein unförmiger, anstößiger Fettwulst. Und das Leben und der Tod enden zusammen. Ich aber habe Angst.« Die privaten Turbulenzen hielten an. »Ist mit A. tatsächlich alles zu Ende?«, fragt sie sich knapp einen Monat später, am 5. April. »Er ist abgereist, ich weiß nicht genau, wohin, vielleicht ist es ein Scherz, ein Albtraum. Ich bin krank. Während er krank war, hatte ich grauenvolle Träume, dass er verreisen musste, ich ihn aber nicht begleiten konnte, dass er krank war. (…) In Wirklichkeit ist er wieder gesund. Er ist zu mir gekommen und hat gesagt: ›Seit einem Jahr sind wir Geliebte und haben nur aneinander gelitten. Es ist besser, damit aufzuhören. Denk nicht mehr an mich. Ich verreise, und du darfst nicht mitkommen.‹ Ich habe ihm gesagt: ›Dann geh sofort.‹ – Und er hat seinen Mantel genommen und ist wirklich aus dem Zimmer gegangen. Ich dachte, es sei kein Ernst, so wie andere Male. Doch hätte ich ihn nicht zurückgerufen, wäre er fortgegangen. Er ist noch mehrmals gekommen, dann ist er abgereist. Drei Tage lang habe ich nicht aufgehört zu zittern. Es kann nicht wahr sein. Ich warte auf ihn. Komm bald zurück, Alberto. Maria, Du Wundertätige, lass ihn bald zu mir zurückkehren.«
Elsa betete noch öfter zur Jungfrau Maria und tauschte sich mit ihrer Freundin Luisa Fantini, einer Illustratorin, brieflich über die Eigenarten der Männer aus. »Lusia, meine Liebe, was soll ich Dir von mir erzählen?«, heißt es in einem Brief vom 14. Juli 1938. »Das Leben ist natürlich nicht so, wie ich dachte, und ich bin dessen etwas müde. In A. bin ich immer noch verliebt. Er hat mich gern, aber flüchtet ab und zu in möglichst weit entfernte Länder. Er sagt, wir müssten uns trennen, um mich dann wieder zu bitten, auf keinen Fall auseinanderzugehen, etc.« Allein käme sie auf der Welt nicht zurecht, gibt sie unumwunden zu. »Ich weiß nicht, wie ich es Dir erklären soll«, schildert sie die Beziehung in einem anderen Brief, »aber ich würde ihm gern wunderschöne Worte sagen, eine kraftvolle Musik, die ihm zeigen könnte, welches die wahren Schönheiten des Lebens und der Welt sind. Stattdessen sehe ich ihn in dieser Art Untergrund herumlungern, wo er sich aufregt, Schläge austeilt, sich langweilt, so sehr ich mich auch anstrenge, ihn da rauszuholen.« Elsa Morante hatte eine theatralische Art, ihre Beziehungen zu gestalten, und daran sollte sie ihr gesamtes Leben lang festhalten. Trotz ihrer starken Emotionalität besaß sie aber einen sehr genauen Blick für den Charakter ihres Freundes. »Vielleicht schicke ich Dir diesen Brief nicht«, heißt es 1938 in einem Entwurf, von dem man nicht weiß, ob Moravia ihn bekam. »Denn dieser Brief ist viel zu wahr, und außerdem bist Du so sehr von Eindrücken abhängig. Du bist wie Wasser, das sich immerzu bewegt und sich von jeder Sache, die es berührt, aufwühlen lässt, und ich habe derartig große Angst vor Dir und Deinen jeweils neuen Gedanken, dass ich nie zur Ruhe komme.« In einem anderen Entwurf aus derselben Zeit analysiert sie das eigene Verhalten: »Einer meiner schlimmsten Gewissensbisse, der schlimmste von allen, ist der, dass ich für Dich nicht das sein kann, was ich gern wäre. Ich weiß, dass ich voller Flatterhaftigkeit bin, voller körperlicher, unklarer Dinge, und vielleicht sind diese Dinge, die für Dich Geheimnisse sind, die es gar nicht gibt, einfach nur Schatten meines Charakters. Aber ich wünschte mir, dass Du hinter diese Dinge schautest, so wie ich mich auch danach sehne, Dir nah zu sein. Ich wäre Dir gern sehr nahe. Du müsstest es bemerken und würdest nicht dauernd vor mir wegrennen, wie Du es bisher tatest. Ich wäre gern etwas Gutes für Dich, und dafür würde ich sogar auf mich verzichten und auf alles, was mich angeht.« Es sind Verschmelzungsphantasien einen sehr jungen Frau, die nach einem Gleichgewicht sucht.
Elsa litt, wenn sich Moravia entzog, mutete ihrem englischen Ex-Geliebten Richard, mit dessen unwahrscheinlichen Kapriolen sie sich 1936 vor Moravia gebrüstet hatte, aber kurze Zeit später dasselbe Spiel zu. Im Frühling 1940 flammte die alte Leidenschaft zu dem Briten wieder auf. Richard T. M. stammte aus einer alteingesessenen englischen Familie und war vermutlich im diplomatischen Dienst tätig, auch wenn sich seine Identität nie endgültig klären ließ. Am 30. Mai schrieb er ihr in eigenwilligem Italienisch aus Rapallo: »My dearest, tiny, birdie, kleine Verlobte, meine über alles geliebte Elsie, ich nenne Dich immer noch mein, mein, auch wenn alle so sprechen, dass ich begreifen muss, dass Du nicht mehr so wie früher für mich bist. Indem sie verschleierte Dinge sagen, glauben sie, es mir begreiflich zu machen, genau wie Du. Aber ich kenne Dich besser als Du Dich selbst und als sie! (…) Du bist wie früher, Du bist mein.« Im Abstand von wenigen Tagen folgten weitere briefliche Liebesschwüre und Heiratsangebote, vor allem begann Richard, auf Moravia einzudreschen, Elsas Duce, wie er ihn nannte. »Jetzt sprechen wir über Signor M.«, heißt es am 7. Juni. »Bis gestern war er Dein großer Liebhaber und Mann. Heute, wer weiß aus welcher neuen Laune Deines lügnerischen Wesens heraus, ist er gar nichts mehr! Er war nie bei Dir zu Hause! Es war nur eine geistige Freundschaft! In dieser reinen Freundschaft wurde der Geist aber sehr beleidigt! Ich habe Dir schon gestern gesagt, wo Dein Geist steckt. Sein Geist steckt nur in seinen Figuren, für die er selbst das beste Beispiel ist. Wenn es so wäre, müsste er ihnen gegenüber Abneigung empfinden und nicht die Lust, sie dauernd zu besingen (?). Er ist ein Dichter (wie Du sagst) Eurer faschistischen Gesellschaft, also ist seine Muse faschistisch, und er selbst ist ebenfalls ein wahrer Faschist und Schüler des Duce! Wie andere Italiener (Chefs) betrachtet er dessen Gesellschaft als der Beachtung würdig. Es wäre besser, sich stattdessen mit anderem zu beschäftigen und das, was schlecht geworden ist und ins Meer geworfen werden wird, den Duce, Graf Ciano und diesen anderen Dichter D’Annunzio, verrotten zu lassen! Dein Dichter ist die Rückseite von D’Annunzio, sein Zwilling. Beide sind ein Unglück für ein Volk, der derzeitige Krieg resultiert aus Gedichten dieser Art. Aber vielleicht messe ich ihm zu viel Bedeutung bei. Du, mein armes Vögelchen, verstehst von alldem gar nichts. Du sitzt im Café und bewunderst Deinen Dichter wer weiß wie sehr, und er lässt sich in seiner Freizeit bewundern als Ausgleich für eine verfehlte Diktatur (seine eigene, meine ich). Du lobst seine tadellose, höfliche Haltung und betrachtest Dich als menschlichen und künstlerischen Geist. Das ist Deine Einbildung. Du kümmerst ihn gar nicht.« So geht es noch seitenlang weiter. Moravia hatte in der Tat einige unterwürfige Briefe mit der Bitte um Unterstützung seiner Auslandsreisen an das Kulturministerium geschickt und auch bei Graf Ciano, Mussolinis Schwiegersohn, wegen seiner zensierten Bücher vorgesprochen. Er war ehrgeizig, wollte präsent sein und veröffentlichte auch in faschistischen Zeitungen. Wie viele Vertreter der Kultur lavierte er herum und suchte nach Nischen. Wegen seiner jüdischen Herkunft, die man ihm in einigen Rezensionen vorgeworfen hatte, und der Ermordung seiner antifaschistischen Cousins Rosselli hielt er lieber still. Am 8. Juni folgte ein weiterer, dramatischer Brief von Richard. Der Kriegseintritt Italiens stand kurz bevor, und Richard wusste, dass er das Land würde verlassen müssen. Er wollte Elsa mitnehmen.
Aber sie blieb in Rom. Ein knappes Jahr später, am ersten Montag nach Ostern, dem 14. April 1941, stand sie mit Alberto Moravia vor ihrem Beichtvater in der Chiesa del Gesù und ließ sich trauen. Elsa war achtundzwanzig Jahre alt, Moravia dreiunddreißig. Unter den Trauzeugen waren der Maler Capogrossi, durch den sie sich kennengelernt hatten, und der Verleger Longanesi. Der Zweite Weltkrieg war im vollen Gange, und Moravia erinnerte sich, dass die Freunde über die Kämpfe an der russischen Front sprachen. »Elsa wollte die Hochzeit, denn sie war sehr gläubig. Ihr Beichtvater war Padre Venturi, der Jesuit, der mit Mussolini über das Konkordat verhandelt hatte. Ich bin nicht gläubig, hatte mich aber einverstanden erklärt, um Elsa einen Gefallen zu tun. Elsa blieb religiös, aber ich glaube nicht, dass sie praktizierende Katholikin ist. Sie ist sehr christlich, in einem modernen Sinne. Für sie ist das Evangelium das wichtigste Buch.« Noch am Hochzeitstag stritt Elsa mit ihrer frisch gekürten Schwiegermutter und mied in Zukunft den Kontakt. Angewiesen auf Unterstützung waren sie und Moravia dennoch. Sie bezogen eine kleine Mansarden-Wohnung der Familie in der Via Sgambati mit einem schönen Blick über den Park der Villa Borghese, flüchteten oft nach Capri und quartierten sich in zwei Zimmern beim ehemaligen Bürgermeister von Anacapri ein, wo sie manchmal über Monate ausharrten. Auf Fotos sieht man Alberto Moravia immer vollständig bekleidet mit Leinenhosen, kurzärmeligem Hemd und unbeweglichen Gesichtszügen, während Elsa Morante, einen Sonnenhut auf dem Kopf, im Bikini neben ihm steht. Moravia war ein systematischer Arbeiter, stand früh auf, schrieb ein paar Stunden und ging dann zur Badestelle an der Piccola Marina hinunter. Unbeirrbar produzierte er Tag für Tag Textmassen, Romanseiten, Artikel, Kolumnen, Reiseberichte, bis ins hohe Alter. Damals entstand seine Novelle Agostino, neben den Römischen Erzählungen eines seiner schönsten Bücher. Elsa Morante schrieb schubweise, manchmal über Monate gar nicht, dann Tag und Nacht. Sie begann gerade mit der Arbeit an ihrem ersten Roman, der in Süditalien spielen und Lüge und Zauberei heißen sollte. »Ich war nicht verliebt, aber von dem Extremen, Qualvollen und Leidenschaftlichen in ihrem Charakter fasziniert. So haben wir in einer Atmosphäre aggressiver Leidenschaft bei ihr und defensiver Zuneigung bei mir fünfundzwanzig Jahre gelebt«, erklärte Moravia später. Auf Capri gaben sie sich als Exzentriker. Elsa führte einen Siamkater an der Leine spazieren, Moravia trug eine Eule auf der Schulter. Er bekam wieder Probleme mit der Zensur, ein neuer Roman war beschlagnahmt worden, und nun erteilte man ihm Schreibverbot. Moravia schlug sich mit Drehbüchern durch. In einem der römischen Salons lief er 1939 dem jungen Regisseur Luchino Visconti über den Weg, der ihm anbot, am Skript von Ossessione (1943) mitzuarbeiten, was Moravia sofort annahm. Visconti sah blendend aus, besaß eine Villa mit Swimmingpool, war immer von einem Hofstaat umgeben und erinnerte Moravia an eine Figur auf einem Renaissancegemälde. Der großzügige, gastfreundliche Mailänder gefiel ihm, und sie wurden Freunde. Im Film hinterließ Moravia allerdings bis auf einen Wortwechsel keine Spuren, sein Name wurde wegen der Rassengesetze im Abspann ohnehin nie genannt.
Als im Juli 1943 der Faschismus zusammenbrach und Mussolini gefangen genommen wurde, waren Alberto Moravia und Elsa Morante in Rom. Malaparte beschwor die beiden, wieder nach Capri zurückzukehren, denn jetzt begann unter General Badoglio eine Phase der Unsicherheit. Aber Moravia war neugierig, was passierte. Luftangriffe der Alliierten und Repressalien der Deutschen waren an der Tagesordnung, und nach dem 8. September, als der Waffenstillstand bekannt gegeben wurde, was einer Kapitulation gleich kam, spitzte sich die Lage zu. Die Deutschen besetzten die Hauptstadt. Durch einen ungarischen Journalisten erfuhr Moravia eines Morgens, dass ein Verhaftungsbefehl gegen ihn vorlag. Eilig kehrte er in die Via Sgambati zurück und gab Elsa Bescheid. Sie krochen einige Tage bei Luchino Viscontis Bruder unter, bis sie entschieden, sich Richtung Neapel durchzuschlagen, das bereits von den Engländern befreit war. Länger als zehn Tage würde der Ausflug wohl nicht dauern, nahmen sie an, deshalb stopften sie nur ein paar Sommerkleider in ihre Koffer und steckten ihre Ersparnisse ein. Alberto Moravia im Grisaille-Anzug und Elsa in einem geblümten Cretonne-Kleid – so gingen sie zur Stazione Termini und bestiegen einen Zug, der auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel in der Nähe von Fondi plötzlich Halt machte. Bombardierungen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Koffer auf einen Esel zu laden und sich auf den Weg ins Gebirge zu machen, wo sie bei einem Bauern eine Unterkunft mieten konnten. Das Dorf hieß Sant’Agata. Ihr Quartier war eine bescheidene Hütte mit einem Blechdach. Ein Jahr lang harrten sie dort aus. Im Herbst fuhr Elsa Morante nach Rom, um Winterkleider und vor allem ihr Manuskript zu holen. Dass sie bei ihrem Mann blieb, obwohl sie nicht gesucht wurde, rechnete ihr Moravia hoch an. Überhaupt seien diese entbehrungsreichen Monate, in denen sie kaum zu essen hatten, die beste Zeit ihrer Ehe gewesen, meinte er später. Im Sommer 1944 kehrten sie nach Rom zurück.
Als Mussolini und seine Geliebte Clara Petacci im Frühjahr 1945 von Partisanen hingerichtet wurden, schrieb Elsa Morante am 1. Mai in ihr Tagebuch: »Ein Volk, das Verbrechen seines Regierungschefs toleriert, wird zum Komplizen dieser Verbrechen. Schlimmer noch: Wenn es sie unterstützt und auch noch applaudiert, wird es sogar zum Verursacher dieser Verbrechen. (…) Ob die Mehrheit des italienischen Volkes wusste, dass die meisten seiner Taten Verbrechen waren? Fast immer wusste es das, aber die Italiener sind so beschaffen, dass sie ihre Stimmen eher dem Starken geben als dem Richtigen, und wenn man sie zwischen Vorteil und Pflicht wählen lässt, entscheiden sie sich, auch wenn sie um ihre Pflicht wissen, für ihren Vorteil. Mussolini, ein mittelmäßiger Typ, grob, ohne jede Kultur, von vulgärer, aber effektvoller Beredsamkeit, war ein perfekter Spiegel der Italiener. Im Innersten schwach, aber Bewunderer der Stärke, entschieden, gegen seine Natur stark zu wirken. Käuflich, korrumpierbar. Ein Schmeichler. Ein Katholik, ohne an Gott zu glauben. Er bestach andere. Eingebildet. Eitel. Gutherzig. Eine simple, berechenbare Sinnlichkeit. Ein guter Familienvater, aber mit Geliebter. Skeptisch und sentimental. Mit Worten gewalttätig, doch vor der Grausamkeit und der Gewalt floh er und zog Kompromisse, Korruption oder Erpressung vor. An der Oberfläche leicht zu rühren, doch nicht in der Tiefe. Wenn er Gutes tat, dann aus diesem Grunde oder aus Eitelkeit, um seine Macht zu ermessen. Er bezeichnete sich als volkstümlich, um der Mehrheit zu schmeicheln, tatsächlich war er ein Snob und verehrte das Geld. Er hegte eine tiefe Verachtung für die Menschen, aber ihre Bewunderung tat ihm gut. Wie eine Hure, die sich von einem alten Mann aushalten lässt und dann mit einem jüngeren Liebhaber über ihn lästert, polemisierte Mussolini gegen das Bürgertum und machte sich bei der Masse beliebt. So wie die Hure glaubt, von einem jungen Schönen geliebt zu werden, der sie jedoch nur ausnutzt und verlassen wird, wenn sie ihm nicht mehr nützt, verhielt sich Mussolini mit der Masse. Ihn blendete das Prestige bestimmter Begriffe: Geschichte, Kirche, Familie, Volk, Vaterland usw. Die Substanz der Dinge begriff er nicht, er verachtete sie aus Unverständnis, aber auch aus Egoismus und Ungeschlachtheit.«
Elsa Morante, die schon in ihren frühen Erzählungen um geheimnisvolle Familienbindungen und unerfüllte Leidenschaften kreiste, dem Irrationalen großen Raum gab, die Trennlinie zwischen realen Begebenheiten und Phantasie aufhob und so wenig in das italienische Panorama zu passen schien, besaß einen analytischen Verstand. Man sollte sich nicht täuschen lassen von ihrem kapriziösen Charakter, den sie mit Genuss kultivierte. Darunter verbargen sich eine scharfe Intelligenz, eine tiefe Liebe zum Kreatürlichen und ein großes Selbstbewusstsein. Nicht nur Moravia fürchtete ihre spitze Zunge. Ihr Schreiben erlebte sie wie eine Berufung; es gibt etwas Bedingungsloses an ihren Büchern. Ihre weitschweifigen fiktionalen Universen entwickeln eine große Dichte und spielen in einer nicht näher benannten Vergangenheit. Der Leser wird in die Rätselhaftigkeit des Schicksals hineingezogen; tastend bewegt er sich durch die bedrohliche Umgebung. Diese Stimmung des Ungefähren steht in einem reizvollen Kontrast zu den prägnanten Beschreibungen der äußeren Welt. Mitten im zukunftsgewissen Neorealismus vertrat Elsa Morante ein pessimistisches Geschichtsbild und durchleuchtete die Mechanismen der Macht, denen ihre Figuren schutzlos ausgeliefert sind. Im dritten Winter nach Kriegsende schloss sie endlich das Manuskript des Romans Lüge und Zauberei ab. Weit über tausend Seiten. Die Schriftstellerin und Lektorin des Einaudi-Verlages Natalia Ginzburg, Witwe des Verlagsgründers Leone Ginzburg, hielt fest: »Achtundvierzig, ich glaube im Winter, traf ein Brief von Elsa Morante ein. Sie habe gerade einen Roman fertiggestellt, ob sie ihn mir schicken dürfe. Ich wohnte in Turin und arbeitete bei Einaudi. Elsa Morante hatte ich irgendwo in Rom kennengelernt, wir hatten nicht sehr viele Worte gewechselt. Aber ich glaube, ich sprach davon, wie sehr ich eine ihrer kurzen Erzählungen geliebt hatte, die viele Jahre zuvor in einer Zeitschrift erschienen war. Soweit ich mich entsinne, waren unsere Begegnungen selten und kurz gewesen. Ich war allerdings im Verlag diejenige, die sie am besten kannte. So bekam ich das Manuskript von Lüge und Zauberei. Es traf per Post ein. Es gab handschriftliche Korrekturen, mit roter Tinte. Ich erinnere mich, wie verwundert ich die Kapitelüberschriften las, weil es mir ein Roman aus einer anderen Epoche zu sein schien, und wie sehr mich einige Wörter mit Anfangsgroßbuchstaben neugierig machten, die mir beim Durchblättern ins Auge fielen: der Pockennarbige, der Cousin … (…) Ich las Lüge und Zauberei in einem Zug durch und liebte es unendlich; aber ich weiß nicht, ob ich damals die Bedeutung dieses Romans begriff. Ich merkte nur, dass ich ihn liebte und seit Langem nichts gelesen hatte, was mir so viel Leben und so großes Glück einflößte. Es war für mich ein unglaubliches Abenteuer, hinter den Kapitelüberschriften, die mir aus dem 19. Jahrhundert zu stammen schienen, unsere Zeit und unsere Städte wiederzuerkennen, in ihrer zerrissenen und schmerzhaften Intensität unserer Gegenwart; es hat mich tief berührt, zu entdecken, dass es in unserer Epoche, in der Romane so verwickelt und geizig sind, ein derart lichtdurchflutetes und großzügiges Werk geben konnte. Vielleicht verstand ich, auf irgendeine Weise, die Größe dieses Buches. Ich arbeitete noch nicht sehr lange im Verlag und hatte natürlich nicht die Macht, alleine über die Veröffentlichung zu entscheiden. Ich beriet mich mit Pavese; er las das Manuskript damals wohl nicht, aber er fand es richtig, das Buch zu machen. Im Frühjahr, als die Fahnen vorlagen, kam Elsa für die Korrekturen nach Turin. Sie wohnte in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs, gar nicht weit von dort, wo Pavese einige Jahre später sterben sollte. Ich hatte einen Abzug der Fahnen und sie einen anderen; ich weiß noch, wie sie vor Mühsal, Aufregung und lauter Angst vor übersehenen Druckfehlern Fieber bekam. Als sie wieder gesund war, ging sie abends immer aus und wartete in einem Straßencafé auf uns. Pavese, Balbo, Calvino und ich setzten uns zu ihr. Mit Pavese diskutierte sie über alles, doch ohne Zorn, obwohl sie nie einer Meinung waren. Empfindlichkeiten gab es nicht.«
Es passte zu Elsa Morante, dass sie sich für den 1933 gegründeten Einaudi-Verlag entschied: Während des Faschismus war das Haus zu einem Sammelbecken kultureller Gegenströmungen geworden. Die jungen Lektoren, die beinahe alle Schriftsteller waren, wollten das Nach-kriegsitalien mitgestalten; sie brachten unbekannte Autoren heraus, waren neugierig, hielten ihre berühmten Mittwochssitzungen ab, die zu einem Treffpunkt der geistigen Elite wurden, und sie waren international auf dem neuesten Stand. Es herrschte eine elektrisierende Offenheit, in die Elsa Morante mit ihrer ungewöhnlichen Schreibweise gut hineinpasste. Don Quichotte und Ariosts Rasender Roland zählten zu den Modellen des neunhundertseitigen Romans, in dem jeder in Sehnsucht gefangen ist und Liebe zu einer fast kultischen Handlung wird. Mit seiner Düsternis und dem sizilianischen Schauplatz, wo sich die Geschichte um die Jahrhundertwende zuträgt, schien das Buch mehr in der Tradition der Brontë-Schwestern zu stehen. Die Literaturkritik zog Vergleiche zu Dostojewski, Melville, Julien Green und Edgar Allan Poe. Die barocke, sinnliche Sprache und die komplexe Syntax waren das Gegenteil der schlackenlosen neorealistischen Erzählweise anderer Einaudianer wie Pavese, Vittorini, Natalia Ginzburg oder Calvino. Mit ihrem Aufgebot narrativer Techniken des 19. Jahrhunderts schwebte Elsa Morante ein Abgesang auf den Roman der bürgerlichen Epoche vor. Italo Calvino, ebenfalls Lektor bei Einaudi und Verfasser des Widerstandsromans Wo Spinnen ihre Nester bauen (1947), nahm in einem Brief vom 16. August 1948 seine Vorbehalte gegen die Sprache Morantes zurück und kündigte ihr eine umfangreiche Rezension des Romans an, die er für die kommunistische Zeitung L’Unità geschrieben hatte. »Du wirst dort mein Urteil finden, streng marxistisch-leninistisch. Hier einige Vorwegnahmen. Die Figuren, die mir am besten gefallen: 1. Elisa, 2. Rosaria, 3. Alessandra. Was mir am meisten auf die Nerven geht: die Verrücktheit. Das wichtigste Gefühl: Vergebung.« In der Besprechung, abgedruckt am 17. August, zollte Calvino der Kollegin großen Respekt. Von dem pittoresken Charakter des Romans dürfe man sich nicht blenden lassen, denn hinter dem raffinierten Spiel mit Elementen der Fabel und des Märchens stecke eine Analyse der Klassengesellschaft. Dass man die eigenen Bücher auch in den Feuilletons der großen Zeitungen lobend besprach, war eine beliebte Praxis des Turiner Verlagshauses. Die Mitarbeiter waren in verschiedenen Bereichen des Literaturbetriebs engagiert; Einaudi stand für eine neue linke Kultur und bemühte sich um Diskurshoheit. Aber gerade unter den linientreuen Kommunisten stieß Elsa Morante auch auf große Ablehnung – ihre Haltung sei zu unpolitisch. Ganz anders das Urteil eines überzeugten Marxisten: Georg Lukács hielt Lüge und Zauberei sogar für den größten italienischen Roman des 20. Jahrhunderts. Am 6. Februar 1968 schrieb Lúkacs der Schriftstellerin aus Budapest: »Die größte Sorge meines Lebens ist, dass die ganze gegenwärtige Zivilisation auf die Zerstörung dessen hinarbeitet, was am Menschen wirklich menschenwürdig ist. Im Kampf dagegen hat man wenig Verbündete. Sie sind eine. In Ihren Büchern zeigt sich immer wieder, dass die menschliche Substanz letzten Endes doch etwas Unzerstörbares ist.«
Als Lüge und Zauberei herauskam, war Elsa Morante Mitte dreißig und keine Nachwuchsautorin mehr. Sie hatte Erfolg, erhielt den prestigereichen Premio Viareggio, und die finanzielle Lage des Ehepaares Moravia verbesserte sich. Elsa Morante und Alberto Moravia zogen in eine größere Wohnung in der Via dell’Oca 27 gleich hinter der Piazza del Popolo, Elsa besaß zusätzlich ein Arbeitsquartier in Parioli, und kaum war Lüge und Zauberei im Juni erschienen, mieteten sie für den Rest des Sommers die pompöse Marmorvilla eines Filmproduzenten auf Capri, luden Natalia Ginzburg und andere Freunde ein und verpulverten vergnügt ihr Geld. Moravia konnte an seine Berühmtheit der Vorkriegszeit anknüpfen. Seine Novelle Agostino war auf Begeisterung gestoßen und in mehrere Sprachen übersetzt worden. Carlo Emilio Gadda hatte die Initiationsgeschichte 1945 in einer ausführlichen Rezension gelobt: Die Klarheit des Stils, die extreme Objektivität und die Art und Weise, wie gesellschaftliche Moral und die Entdeckung der individuellen Sexualität in Widerstreit geraten, all das hatte ihm gefallen. Mit Die Römerin landete Moravia 1947 dann nicht nur bei der Kritik, sondern auch beim Publikum einen Coup. Es war zugleich sein endgültiger internationaler Durchbruch, der durch die Verfilmung mit Gina Lollobrigida noch an Fahrt gewann. Innerhalb weniger Jahre avancierte Alberto Moravia zu einem verlässlichen Vertreter des psychologischen Realismus und veröffentlichte Roman um Roman. Einige glückten, wie Die Römerin, Der Konformist (1951), Die Verachtung (1954) und Cesira (1957), andere weniger. Der Konformist sticht unter den kühlen Sittenbildern der römischen Gesellschaft hervor, denn hier verarbeitete der Schriftsteller die Erfahrung der Ermordung seiner Cousins Rosselli. Es ist das Porträt eines Mitläufers, der sich mehr aus einer inneren Leere heraus denn aus Überzeugung von den Faschisten instrumentalisieren lässt. In seinen anderen konzentriert gebauten, teils chronikartigen Geschichten über manipulative Mütter, triebhafte junge Frauen oder Künstler, die an emotionaler Kälte zerbrechen, diagnostizierte Moravia die neokapitalistische Restauration der Nachkriegszeit. Eros und Sexualität wurden zur Ware.
Wie sehr Alberto Moravia mit seinen Büchern Themen und Stimmungen traf, zeigen die vielen Verfilmungen. Bernardo Bertolucci drehte 1970 nach Moravias Romanvorlage seinen internationalen Kinoerfolg Der Konformist mit Jean-Louis Trintignant, aber schon sieben Jahre zuvor machte Jean-Luc Godard aus Die Verachtung einen Film über die Ästhetik medialer Vermittlung und die Kommerzialisierung künstlerischer Ausdrucksformen: Le Mépris. Es war die Spätphase der Nouvelle Vague, einer Stilrichtung, mit der seit Ende der fünfziger Jahre neben Godard auch François Truffaut, Éric Rohmer, Claude Chabrol und andere die filmischen Erzählformen revolutioniert hatten. Die Regisseure der Nouvelle Vague beriefen sich auf die italienischen Neorealisten, aber auch auf Alfred Hitchcock und Howard Hawks, und Godard galt seit Außer Atem (1960) als ihr radikalster Vertreter. Ihm ging es um Brüche, Tempoverschiebungen und überraschende Schnitte, er hebelte Chronologien aus, arbeitete mit Zitaten und essayistischen Elementen und etablierte eine neue, ungewohnte Bildsprache. Bei der Besetzung von Le Mépris bewies der Regisseur traumwandlerisches Geschick. Michel Piccoli spielte den korrumpierbaren Schriftsteller, Brigitte Bardot seine Frau Camille. Die Geschichte entspinnt sich bei Godard folgendermaßen: Der amerikanische Produzent Jeremy Prokosch, von Jack Palance verkörpert, beauftragt den Schriftsteller, die Odyssee umzuschreiben und einen Filmstoff daraus zu machen. Den Film soll der Regisseur Fritz Lang drehen, der sich selbst spielt, aber mit Prokosch über die angemessene Adaption streitet. Einer der Schauplätze ist die optisch wirkungsvolle Villa Malapartes auf Capri, deren lange Treppe zum Dach Camille alias Brigitte Bardot in der gleißenden Sonne barfuß hinaufsteigt. Jeder Schritt drückt Begehren aus; ihre erotische Anziehungskraft hat etwas Trotziges. Prokosch bedrängt Camille, ihr Mann lässt dies zu, wofür sie ihn verachtet. Godard übernahm von Moravia die Figurenkonstellation und die Verknüpfung von Ehekrise und Filmprojekt, veränderte aber die Nationalitäten des Personals, fügte die geniale Figur der Übersetzerin Francesca ein, stülpte den Zeitrahmen um und ließ die Dreharbeiten für eine Verfilmung der Odyssee, die in der Romanvorlage nur geplant sind, Teil der Handlung werden. Ein Grundkonflikt ist die Frage, ob der antike Stoff publikumswirksam aktualisiert oder historisch vermittelt werden soll. Die karge Geometrie der Malaparte-Villa spiegelt die Innenwelten der Figuren. Der Film ist dem Roman sogar überlegen, weil Moravias Psychologisierungen ins Visuelle verlagert werden und dadurch an Prägnanz gewinnen. Während sich Godard von dem Dilemma zwischen eigenen, künstlerischen Ansprüchen und äußeren Zwängen fasziniert zeigte, ging es Moravia in seinem Roman um den Wandel der Bindungen und Gefühle durch einen neuen Materialismus, der eben auch den Bereich durchdringt, der eigentlich einen Gegendiskurs hervorbringen sollte.
In den folgenden Jahrzehnten variierte Moravia seine großen Themen und passte sie an aktuelle Phänomene an, ohne die Intensität seines Frühwerkes zu erreichen. Ihm fiel das Schreiben mitunter zu leicht, er klimperte auf der Schreibmaschine wie ein Pianist bei Fingerübungen. Nachdem er Ende der fünfziger Jahre das Sommerloch der Zeitungen durch neue Römische Erzählungen gefüllt hatte, lief er eines Abends Italo Calvino über den Weg. »Kannst du es immer noch nicht bleiben lassen?«, fragte ihn der Schriftstellerkollege und traf damit einen wunden Punkt. Ein Automatismus hatte sich eingeschliffen, Moravia produzierte Literatur in Serie. Hatten Die Gleichgültigen und Agostino ihre Kraft aus dem untergründigen Beschwören der Sexualität bezogen, verfiel Moravia nach und nach einem quälenden Beschreibungszwang und listete wie ein Buchhalter in Verführungsszenen die Details auf. Seine Abrechnung mit den entleerten Formeln bürgerlichen Wohlverhaltens und die Entlarvung des Trieblebens entwickelten eine merkwürdige Eigendynamik und richteten sich gegen ihn selbst: Moravia kam nicht mehr los vom Sex und erstarrte im Manierismus. Als Intellektueller und streitbarer Journalist spielte er dennoch eine herausragende Rolle und trug viel zur Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit nach Kriegsende bei. Gemeinsam mit Alberto Carocci übernahm Moravia 1953 die Leitung der gerade gegründeten Zeitschrift Nuovi Argomenti. Der linke Industrielle Adriano Olivetti finanzierte die marxistisch ausgerichtete Publikation, die mit Schwerpunkten zum Stalinismus oder zu Kunst und Kommunismus von sich reden machte. 1955 traf Moravia eine ungewöhnliche Entscheidung und veröffentlichte ein Langgedicht: » Gramscis Asche«. Es stammte von einem jungen Lehrer aus Norditalien, den er bald darauf kennenlernen sollte. Pier Paolo Pasolini.