Читать книгу Rom, Träume - Maike Albath - Страница 8
VIA VENETO Das Leben der Boheme
ОглавлениеVier Delphine stemmen in Gian Lorenzo Berninis Brunnen auf der Piazza Barberini die Muschelschalen mit dem stolzen Tritonen in die Höhe. Dass Bernini keinen Sockel baute, sondern eine offene Struktur aus vier Tierleibern bevorzugte, war 1642 eine gewagte Innovation. Überhaupt ist dies eine Gegend, in der sich die Stadt für Neuerungen öffnete. Von der Piazza Barberini zieht sich die Via Vittorio Veneto in zwei großen Kurven gemächlich bis zur Porta Pinciana einen Hügel hinauf, in Richtung Villa Borghese. Die platanengesäumte Straße, die zwischen 1886 und 1889 eröffnet wurde, hat etwas von einem ruhig dahinströmenden Fluss, trotz des Verkehrs, der zu Stoßzeiten regelmäßig ins Stocken gerät. Nach ein paar Schritten kommt man am rundlich gewölbten Hotel Majestic vorbei, das sich der Straßenbiegung anpasst. Es wurde 1896 von dem Südtiroler Architekten Gaetano Koch gebaut, der viele Spuren in Rom hinterließ, sich auf der Via Veneto gleich mehrfach verewigte und auch beim Altare della patria, dem beeindruckend hässlichen Ehrenmal der italienischen Einheit, seine Finger im Spiel hatte. Es folgt das Palace mit luftigem Art déco. Im Albergo Ambasciatori aus den zwanziger Jahren, das wie ein mächtiges Tortenstück daliegt, kündigt sich, wie in der etwas früher erbauten Banca Nazionale mit ihrem strikten Liktoren-Stil, die Phase des Faschismus an. An der zweiten Kurve gibt es wieder einen Wechsel: Das Excelsior wirkt mit seiner Kuppel sehr weltstädtisch und stammt aus der Entstehungszeit der Straße. Muskulöse Atlanten zieren die Fassade. Der Zuckerbäckerbau könnte ebenso gut in Montecarlo oder an einem Badeort stehen, meinte Alberto Moravia. Der Palazzo Boncompagni an der Via Boncompagni mit seinen drei Bögen und dem ausladenden Balkon diente als Residenz der Königin Mutter, weshalb man ihn auch Palazzo Margherita nennt. Er gilt als wichtigstes Werk von Gaetano Koch, wurde 1890 fertig und beherbergt heute die amerikanische Botschaft. Kehrt man stadteinwärts zur Piazza Barberini zurück, kann man in der Kapuzinerkirche S. Maria della Concezione seine Sünden beichten. Im Untergeschoss befindet sich eine Krypta. Die Bestandteile von viertausend Kapuzinerskeletten sind in mehreren Nischen zu makabren Rosetten, Kreisen und Schleifen arrangiert: Es gibt Muster aus Totenköpfen, Becken, Schienbeinen und Oberschenkelknochen. Ein Memento mori an einer Straße, die sich so sehr der Gegenwart und dem Vergnügen verschrieben habe, so deutete es Moravia.
Denn es sind die Bürgersteige von La dolce vita: Marcello Mastroianni alias Marcello Rubini parkte hier seinen Sportwagen, immer mit seinem Fotografen im Schlepptau. Ein echter Fotograf hatte Federico Fellini, Tullio Pinelli und Ennio Flaiano zu ihrem Film inspiriert: Tazio Secchiaroli, ein abgefeimter Typ, der jeden Tratsch aufschnappte und sofort mit seiner Kamera loszog. Secchiaroli brüstete sich vor dem Regisseur mit einem Schnappschuss des aus seinem Land verjagten ägyptischen Königs Faruq im Café de Paris. Aus Wut über die Indiskretion warf der König a. D. einen Tisch um. Die Fotografen standen enorm unter Druck. Ihre Auftraggeber waren bunte Illustrierte, die von Sensationen lebten und möglichst spektakuläre Bilder erwarteten. Die Meute entwickelte regelrechte Techniken, um Schauspieler mit Blitzlichtgewittern zu provozieren. Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten. Einen solchen Fotografen wollte Fellini auch für seinen Film. Gemeinsam mit seinem Drehbuchautor, dem Schriftsteller Ennio Flaiano, suchte er nun noch nach einem Namen. Sie kamen auf »Paparazzo«, nach einem Wirt aus Catanzaro, der Coriolano Paparazzo hieß und von dem Briten George Giesing 1896 in seinem Reisebericht By the Jonian Sea erwähnt wird, allerdings mit der Anmerkung, es handele sich um einen reizenden Menschen. Flaiano schilderte später in Die Einsamkeit des Satirikers, wie sie das Buch aufschlugen und sofort Gefallen fanden an dem Klang des Namens: Paparazzo. Eine Figur existiere eben erst durch ihren Namen, Flaubert habe sogar zwei Jahre nach Madame Bovary gesucht, und dass man unter »Paparazzo« fortan eine eher unehrenhafte Ausprägung der Fotoreporter-Spezies verstand – nun gut, dies sei das Schicksal von Namen, sie führten ein Eigenleben, entschuldigte sich Flaiano schulterzuckend. Für die Dreharbeiten im Frühling und Sommer 1959 ging Fellini allerdings in die Studios von Cinecittà, wo die Via Veneto nachgebaut wurde; Aufnahmen auf der echten Straße wären nur bei vollem Tageslicht möglich gewesen. Aber alles Wichtige geschah nachts: Seit Ende der vierziger Jahre war die Via Veneto mit ihren Cafés, Buchhandlungen und Hotelbars ein Treffpunkt der Schriftsteller, Drehbuchautoren, Schauspieler, Regisseure und Journalisten. Einer von ihnen war Raffaele La Capria.
In seinem Alter gehe er bei Eis und Schnee nicht mehr aus dem Haus, meint der hochbetagte Neapolitaner an einem überraschend kalten Februartag 2012 am Telefon und lädt mich ein, ihn zu besuchen. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren versinkt Rom im Schnee. Der Verkehr ist zusammengebrochen, Verabredungen trifft man nur von Stunde zu Stunde, jetzt fahren Räumfahrzeuge über den Largo Argentina und streuen Berge von Salz. Fünf Straßenfeger stochern ratlos in einem großen Schneeberg herum, bis sie ihn in ihre Mülltonnen schaufeln. La Capria, Jahrgang 1922, seit 1950 in Rom beheimatet, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Feuilletons und Drehbüchern, verkehrte in den fünfziger Jahren in den einschlägigen Lokalen und gehörte zur römischen Boheme. Die neu gegründete RAI (Radiotelevisione Italiana), wo auch der stilistische Revolutionär Carlo Emilio Gadda unterkam, stellte damals Schriftsteller und Intellektuelle ein; La Capria war für Radiosendungen über Theater zuständig. Unser letztes Treffen liegt einige Jahre zurück, aber La Capria, der in Neapel im Palazzo Donn’Anna aufwuchs, wo er in den Sommermonaten aus dem Fenster direkt ins Meer sprang und täglich kilometerweit schwamm, hat sich die fließenden Bewegungen eines Schwimmers bewahrt. Liebenswürdig nimmt er mich in Empfang und führt mich in einen kleinen Salon. An den Stirnseiten reichen die Bücherregale bis unter die Decke. Die Meridiani, die große Klassikerreihe von Mondadori, die auch La Capria einen Band gewidmet hat, scheint vollständig versammelt. Die Wände sind grün tapeziert. Ich entdecke Gemälde von Ardengo Soffici und Arnaldo Spadini, Erbstücke vom Großvater seiner Ehefrau. Noch bevor La Capria sein Jurastudium abschloss und bei der RAI eingestellt wurde, hatte er im Sommer 1946 Alberto Moravia und dessen Frau Elsa Morante auf Capri kennengelernt. Damals begeisterte er sich für T. S. Eliot und veröffentlichte erste Prosastücke in Zeitschriften. »Elsa Morante mochte junge Leute, ich war damals noch sehr jung, also gefiel ich ihr«, erinnert sich La Capria. »Und wenn ihr jemand gefiel, riss sie sich ein Bein aus, sie feierte mich, stellte mich allen vor, es war mir fast peinlich, denn sie sagte: ›Dies ist der Dichter Raffaele La Capria‹, nur hatte ich noch kein einziges Gedicht geschrieben … ›Dichter‹ war für sie ganz einfach jemand, der eine Seele besitzt, und das waren die Menschen, die ihr die liebsten waren. Auf Capri lebte damals ein berühmter englischer Schriftsteller, Norman Douglas, ein Schwuler mit einer Vorliebe für Heranwachsende, er gehörte zur Kultur-Elite der Insel. Früher galten solche Leute nicht als pädophil, sondern waren ganz einfach Künstler mit bestimmten Neigungen. Wir waren gemeinsam in einer Villa zu Gast: Norman Douglas, Elsa Morante, Moravia und noch ein Engländer. Norman Douglas band sich Weinlaub um den Kopf, so wie ein Satyr, und lief Elsa durch den Garten hinterher. Sie lachte wie von Sinnen. Ich habe diese Szene vor Augen: Norman Douglas mit seinem gekrönten Haupt, Elsa, die halb erschrocken, halb belustigt vor ihm davonlief. Ich habe sie nie wieder so ausgelassen erlebt. Im Laufe der Jahre wurde Elsa dann unduldsamer, manchmal fast böse, weil sie vieles nicht ertrug.«
1951 war Rom noch eine überschaubare Stadt. Während der Kriegsjahre hatte es einen Zustrom aus Süditalien gegeben, die Einwohnerschaft war von 1155722 im Jahr 1936 auf 1651754 gewachsen, aber die meisten Zugezogenen wohnten in den armseligen Vorstädten, den borgate. Im Zentrum war davon nichts zu merken. Raffaele La Capria fand zuerst eine Bleibe in der Via Margutta, wo auch Truman Capote wohnte und an seinem Roman Die Grasharfe schrieb. »Es war die belle epoque von Rom. Die Stadt wurde nicht nur für das Kino zu einem Anziehungspunkt, sondern auch für das Theater, die Literatur, die Kultur überhaupt, und zwar auf internationaler Ebene. Alle Diven aus Hollywood kamen hierher, an den Schauspielhäusern arbeiteten Leute wie Giorgio Strehler und Luchino Visconti, Elsa Morante und Alberto Moravia waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, man traf sich im Café, unterhielt sich, tauschte sich aus. Es war extrem lebendig, es gab ein echtes Kulturleben. So etwas existiert heute nicht mehr. Wir verabredeten uns um drei Uhr nachts, alle Lokale waren geöffnet, man diskutierte bis in die Morgenstunden über den neuesten Film oder das neueste Buch.« Der Faschismus schien Lichtjahre her zu sein; die Intellektuellen und Künstler eroberten den öffentlichen Raum zurück. Der Nachholbedarf war enorm. Intellektuelle Moden wie der Strukturalismus seien aus Paris nach Rom übergeschwappt, meint La Capria, Bücher, Filme, Musik, alles habe man damals aufgesogen. Diese Zeit überschneide sich mit seiner eigenen Jugend, auch deshalb empfinde er sie sicher als besonders schön, aber es liege ihm fern, die fünfziger Jahre zu idealisieren. Es sei schon ein ganz besonderer Moment gewesen, eine ganz bestimmte Phase, in der sich viele Kräfte gegenseitig schürten, die Intellektuellen an Einfluss gewannen, das Land im Umbruch war und viel Neues entstand . Oft waren es private Initiativen: So hatten Maria Bellonci, Verfasserin erfolgreicher historischer Romane, und ihr Mann, der Journalist und Literaturkritiker Goffredo Bellonci, schon während der letzten Kriegsjahre Freunde zu Hause empfangen und die Gründung eines Literaturpreises geplant. 1947 wurde daraus der Premio Strega, benannt nach der Firma des Geldgebers, Hersteller des entsetzlich süßen Strega-Likörs. Weil alles aus einem sonntäglichen Salon hervorgegangen war, hießen die rund hundert Juroren »gli amici della domenica«, was bis heute gilt, obwohl die Gruppe auf 400 Personen angewachsen ist und in keinem Wohnzimmer mehr Platz fände. Die Liste der Preisträger ist beeindruckend: Ennio Flaiano, Elsa Morante, Moravia, Giorgio Bassani, Natalia Ginzburg, Dino Buzzati, Tomasi di Lampedusa, Paolo Volponi, Goffredo Parise. Auch La Capria wurde ausgezeichnet. Er bekam 1961 für seinen Neapel-Roman Ferito a morte den Preis.
Für die ausländischen Besucher zählte nicht nur die Schönheit Roms. Mieten, Restaurantbesuche, Lebensmittel, Personal, selbst Hotels kosteten wenig, denn die Löhne waren niedrig. Auch amerikanische Regisseure kamen auf die Idee, hier zu arbeiten. Das European Recovery Program, besser bekannt als Marshallplan, unterstützte das Engagement. »Die Unternehmer des Landes haben sich nie für die Möglichkeiten der Massenvermarktung interessiert«, klagte der Direktor des ERP Paul G. Hoffman 1949. »Die Dimensionen ihrer Initiativen sind eingeschränkt und die Kosten hoch. Der Gedanke, dass man beim Konsumenten mit niedrigem Einkommen durch Werbung Sehnsüchte nach Dingen erweckt, die er nie gehabt hat, und diese dann zu günstigen Preisen anbietet, ist der größte Beitrag, den der Marshallplan in Italien leisten kann.« Filme galten als preiswertes Umerziehungsmittel, sollten vor dem Kommunismus warnen und für den American way of life werben. Außerdem gab es Cinecittà, die 1937 von Mussolini zu Propagandazwecken eröffneten, modern ausgestatteten Studios an der Via Tuscolana im Osten der Stadt mit günstigen Produktionsbedingungen. Sogar Massenszenen waren bezahlbar. Ein entscheidendes Argument für Mervyn LeRoy, der 1951 nach Rom kam. Für seinen Historienschinken Quo Vadis brauchte er neben den 29 Hauptdarstellern vor allem 30000 Statisten, ganz abgesehen von den 250 Pferden, einer Reihe von Löwen, Stieren und Tauben. Sophia Loren ergatterte ihre erste Nebenrolle und trat als Sklavenmädchen auf. Der erste Sandalenfilm war so etwas wie ein Startschuss: Unzählige amerikanische Schauspieler machten Rom zu ihrer Basis in Europa. Hier war der alte Kontinent verkraftbar, nicht so zerstört und traurig wie Deutschland, aber dennoch ausreichend pittoresk, es gab Kunstschätze und eine romantische Kulisse. Fast schienen die zwanziger Jahre von Paris wieder aufzuleben. Ava Gardner reiste mit ihrem Mann Frank Sinatra an und wurde Stammkundin im Modeatelier der Schwestern Fontana. Der Fotograf Tazio Secchiaroli erwischte nicht nur den geschassten ägyptischen König, sondern deckte auch die Liaison von Gardner mit dem römischen Schauspielstar und berüchtigten Frauenhelden Walter Chiari auf. Es gibt ein Foto, wie der schöne Chiari wutentbrannt auf die Via Veneto stürzt und dem flüchtenden Bildreporter hinterherrennt. Soraya kam 1958, nachdem sie aus der Familie des Schah verstoßen worden war, im Excelsior auf der Via Veneto unter, Henry Fonda heiratete eine italienische Gräfin, Orson Welles hatte in Rom eine Wohnung. An jeder Ecke traf man auf Leute wie die platinblonde Jayne Mansfield, Anita Ekberg, James Stewart, Gary Cooper oder Grace Kelly. Gleichzeitig stand Anna Magnani für Visconti vor der Kamera. Eine Liebe in der Zeit von La dolce vita hat Raffaele La Capria eine schmale Erzählung von 2009 genannt, in der sich die Sphären mischen: Geld, Aristokratie, Kultur, Kunst. »Wir trafen uns an der Piazza del Popolo und in der Via Veneto«, erzählt der Schriftsteller. »Man ging ins Café Rosati, das sowohl an der Piazza als auch auf der Via Veneto eine Niederlassung hatte. Zum Abendessen wechselten wir in die Restaurants auf der Via Croce. Eines hieß Cesaretto, ein anderes Il re degli amici. Cesaretto war das Stammlokal der Intellektuellen, bei Il re degli amici traf man die Filmleute und Regisseure, dann gab es noch das Eliseo-Theater, da waren natürlich die Theaterleute. Aber jeder begegnete jedem, nicht so wie heute, dass nur noch Schriftsteller mit Schriftstellern zusammen sind, nein, man lief Architekten über den Weg, Drehbuchautoren, Schauspielern, Regisseuren und setzte sich an denselben Tisch, die Gespräche drehten sich also nicht nur um bestimmte Dinge, sondern es gab eine unglaubliche Vielfalt.« 1953 drehte William Wyler die romantische Komödie Ein Herz und eine Krone mit Gregory Peck und Audrey Hepburn, die mit diesem Film international bekannt wurde. Auch hier half Ennio Flaiano mit. Immer häufiger kam es zu Koproduktionen. 1954 reiste Kirk Douglas für Ulisse von Mario Camerini an und trieb den Regisseur mit seinen Launen fast in den Wahnsinn. Kolossale Ausmaße nahmen die Dreharbeiten von Krieg und Frieden unter der Regie von King Vidor an, die anderthalb Jahre dauerten: In Cinecittà wurde ein drei Kilometer langes Moskau nachgebaut, das unter tausendzweihundert Kubikmetern künstlichem Schnee versank. Es gab zweihundert Drehtage, an denen Audrey Hepburn, Henry Fonda, Mel Ferrer, Vittorio Gassman, Anita Ekberg und 120000 Komparsen in Aktion waren. Am Ende des Jahrzehnts nahm sich William Wyler dann Ben Hur vor. Dieses Mal wurden 50000 Statisten benötigt. Sergio Leone, der später durch sogenannte Spaghettiwestern von sich reden machte, war einer der Kameramänner. Man karrte tonnenweise Mittelmeersand heran; schließlich musste es bei den halsbrecherischen Wagenrennen authentisch stauben. Am Ende ergatterte Wyler für seine sechzehn Millionen Dollar teure Produktion elf Oscars.
Aber Cinecittà, die glamouröse Welt der Via Veneto und die Treffpunkte der Schriftsteller und Intellektuellen waren nur die äußere glänzende Hülse. Anfang der fünfziger Jahre war Italien noch immer ein durch und durch agrarisches Land. Das Wirtschaftswachstum lag unter dem Griechenlands und Jugoslawiens. 1951 verfügten lediglich 7,4 Prozent aller Wohnhäuser über Elektrizität, fließend Wasser und eine Innentoilette . In Rom, wo die Einwohnerzahl bis 1960 noch einmal um 500000 stieg und die Zwei-Millionengrenze überschritt, fehlten 1950 über hunderttausend Wohnungen. 6,6 Prozent der Unterkünfte waren Baracken, Grotten oder Treppenverschläge ohne Fenster. 42,2 Prozent der italienischen Bevölkerung waren laut der Volkszählung von 1951 in der Landwirtschaft beschäftigt, im Süden waren es sogar 56,9 Prozent. Der amerikanische Soziologe Edward Banfield untersuchte 1955 den Fall des kalabresischen Bauern Carlo Prato, Vater von zwei Kindern, der sich als Tagelöhner verdingen musste und in einem Haus mit nur einem Zimmer ohne Licht, Wasser und Toilette lebte. Die Familie besaß eine einzige Jacke. Prato fand an 180 Tagen im Jahr Arbeit, die Bezahlung bestand oft nur aus drei Mahlzeiten, ein paar Lire und einem halben Liter Öl. Banfield prägte den Begriff des »familiären Amoralismus«, mit dem er die Neigung beschrieb, immer dem Clan und nie dem Gemeinwohl den Vorzug zu geben. In den kommenden zwei Jahrzehnten setzte ein tiefgreifender Wandel ein, doch die Familie blieb das wichtigste Netzwerk. Der Marshallplan kam nicht nur den Regisseuren zugute, sondern spülte auch sonst viel amerikanisches Geld nach Italien: Zwischen 1948 und 1951 waren es 1,4 Milliarden Dollar, die vor allem in die Industrie gesteckt wurden. Der christdemokratische Regierungschef De Gasperi schürte bei den amerikanischen Verbündeten geschickt die Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme und konnte dadurch die Finanzhilfen in die Höhe treiben. Das europäische Wirtschaftswunder begann, in Italien von staatlicher Seite durch die Förderung der Schlüsselindustrien gestützt. Auf internationaler Ebene steigerte sich der Warenaustausch um das Siebenfache, und Italien stieg zu einer Industrienation auf. Ein römischer Arbeiter verdiente Anfang der fünfziger Jahre um die 32000 Lire im Monat, rund 210 DM. Der Brotpreis lag bei 120 Lire, für eine Tramfahrt zahlte man 20 Lire. Eine Vespa war mit vier Monatsgehältern erschwinglich, der kleinste Fiat kostete 665000 Lire. Als 1958 Domenico Modugno mit Nel blu dipinto di blu, das unter dem Titel Volare zum Welterfolg wurde, beim Schlagerfestival in San Remo gewann, zeichnete sich die neue Freizeitkultur schon ab. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs zwischen 1950 und 1958 um 5,3 Prozent pro Jahr, zwischen 1958 und 1963 sogar um 6,6 Prozent. Bis 1964 verdoppelte sich das Pro-Kopf-Einkommen, die Anzahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank auf 25 Prozent. Die Industrie verzeichnete die umgekehrte Bewegung, dort stieg die Anzahl der Beschäftigten von 32 auf 40 Prozent, im Dienstleistungsgewerbe von 28 auf 35 Prozent. Die größten Umwälzungen betrafen die Demographie. Die Statistiken sind nicht verlässlich, aber die Binnenwanderung von Süden nach Norden umfasste zwischen 1955 und 1971 über neun Millionen Menschen. Bis 1964 emigrierten über fünf Millionen ins Ausland. Das italienische Wirtschaftswunder hing einerseits mit den extrem niedrigen Lohnkosten zusammen, wodurch das Land günstig exportieren konnte, aber auch mit dem enormen Nachholbedarf ganzer Regionen. Noch 1960 stellte die Kommune von Mailand fest, dass in dreizehn von hundert Häusern kein Trinkwasser vorhanden war, 24 keine WCs hatten, 42 kein Badezimmer und 51 keine Zentralheizung. 1958 besaßen 13 Prozent aller italienischen Familien einen Kühlschrank, 1965 waren es mehr als die Hälfte und 1975 dann 94 Prozent. Eine zentrale Rolle für die Modernisierung des Landes spielte das Fernsehen, obwohl es sich sehr viel langsamer als in anderen Ländern verbreitete. 1954 gingen die ersten Programme auf Sendung, 25 Jahre später als in den USA und zehn Jahre später als in Frankreich. Kaum jemand konnte sich ein TV-Gerät leisten. Selbst das kleinste kostete 160000 Lire. Zwischen 1954 und 1964 erreichte das Fernsehen sechs Millionen Zuschauer, Mitte der siebziger Jahre waren es über zwölf Millionen. Nach Überzeugung des Sprachwissenschaftlers Tullio De Mauro trug die Verbreitung des Fernsehens mehr zu einer einheitlichen Nationalsprache bei als die allgemeine Schulpflicht. Zum ersten Mal in der Geschichte Italiens sprach man im ganzen Land dieselbe Sprache, zumindest mehr oder weniger. Vor allem Pasolini sollte den Verlust der Dialekte beklagen und die neue Alltagssprache als seelenloses Bürokraten-Italienisch brandmarken.
Anfang der fünfziger Jahre lebten lediglich elf Prozent der Italiener im Wohlstand. Es waren diese Leute, die das Bild von la dolce vita bestimmten, wie es Fellini und Flaiano 1959 in ihrem Film einfangen sollten. Am glamourösen Leben partizipieren durften alle, denn schon lange vor dem Fernsehen gab es die sogenannten rotocalchi, die wegen des Rotationsdruckverfahrens so hießen: Großformatige Zeitschriften mit ausgedehnten Fotostrecken, inspiriert von dem amerikanischen Magazin Life. Die Blätter kosteten um die 30 Lire, lieferten teils hochwertigen Journalismus wie L’Europeo, seit 1945 im Umlauf, oder Il Mondo, vier Jahre später gegründet und von Autoren wie Giorgio Bocca, Camilla Cederna, Oriana Fallacci, Moravia, Flaiano, Giorgio Manganelli und vielen anderen mit Texten beliefert. L’Europeo kam in den sechziger Jahren auf eine Auflage von 230000. Andere drehten sich nur ums Kino und hießen Hollywood, Star oder Novellefilm. Oggi gab es bereits seit 1939, in den Vierzigern hatte hier Elsa Morante ihre Erzählungen veröffentlicht, Elio Vittorini lieferte Kolumnen, und auch sonst erschienen damals zahlreiche Beiträge von Schriftstellern. Nach dem Krieg wandelte sich das Magazin allmählich in ein Boulevardblatt. Fellinis Paparazzo Secchiaroli war einer der Stammfotografen. 1947 gelang Oggi ein Scoop, mit dem sich die Auflage von 100000 auf 250000 steigerte: eine Farbfotostrecke über die Hochzeit der Königin von England. Ingrid Bergman und Roberto Rossellini landeten mit ihren unehelich geborenen Kindern ebenfalls auf dem Titelblatt. In den fünfziger Jahren erreichte Oggi Verkaufszahlen von 500000 und überschritt im Jahrzehnt darauf die Million. »Amerika ist hier«, verkündete das Magazin Hollywood am 17. November 1951 und druckte Bilder der Stars aus den USA ab. »Obwohl Italien ein armes Land ist, kommen viele amerikanische Schauspieler hierher, um in unseren Filmen mitzuarbeiten. Sie finden Glück und Ruhm.« Die Spezies der Fotografen und der Reporter gewann ungeahnten Einfluss.
»In den Fünfzigern begann auch die Zeit von Michelangelo Antonioni und Fellini, denen die Phase von Vittorio De Sica, Roberto Rossellini und den Neorealisten vorausgegangen war, auch Visconti und solche Leute«, meint La Capria, der Anfang der sechziger Jahre als Drehbuchautor für Francesco Rosi großen Erfolg hatte und mit Le mani sulla città über die Bauspekulation in Neapel auf der Biennale von Venedig einen Goldenen Löwen gewann. »Viscontis Ossessione von 1943 gilt ja als erster neorealistischer Film, dann folgten Rossellinis berühmte Kriegszeugnisse Rom, offene Stadt und Paisà. Rosi war Regieassistent bei Visconti, mit dem er 1951 Bellissima drehte, eine ironische Abrechnung mit der neuen Kinoleidenschaft der Italiener und ihrer Leichtgläubigkeit. Anna Magnani spielt eine einfache Römerin, die ihre siebenjährige Tochter um jeden Preis zum Film bringen will, bis sie merkt, dass in Cinecittà Zynismus herrscht und dort nichts als Illusionen produziert werden. Der Neorealismus brachte ja das alltägliche Leben auf die Leinwand, mit all seinen Schwierigkeiten, Hoffnungen und übrigens auch komischen Seiten, wie in Bellissima. Neben Visconti haben dann natürlich Antonioni und Fellini enorm viele Impulse gegeben. Diese Art der Fotografie und der Kameraführung existierte vorher nicht. Fellini mag mitunter zu stilisiert wirken, aber durch seine Neuerungen wurden bestimmte Filme überhaupt erst möglich. Die Hubschrauberszene in Apocalypse Now gäbe es ohne den Anfang von La dolce vita nicht.« Federico Fellinis Drehbuchautor Flaiano sei von unglaublicher Schlagfertigkeit gewesen. Niemand habe mit ihm mithalten können. »Sehr vielschichtig als Mensch, ironisch, geistreich, aber seine Sprüche zeigten auch, dass dieser Gewitztheit eine gewisse innere Bitterkeit zugrunde lag. Ein spitzfindiger Kritiker der italienischen Gesellschaft. In seinem Roman Tempo di uccidere, der 1947 den ersten Premio Strega bekam, hat er den italienischen Kolonialismus als Krankheit beschrieben. Außerdem war er ein großartiger Drehbuchschreiber, jemand, der am laufenden Band Ideen produzierte.« Kaum jemand brachte die Widersprüche Italiens besser auf den Punkt.
Dass der Film La dolce vita eine bitterböse Abrechnung mit den schmarotzenden Journalisten, der im Entstehen begriffenen Mediengesellschaft und dem dekadenten Lebensstil der Oberschicht war und vor allem Magazine wie Oggi im Visier hatte, ist heute in Vergessenheit geraten. Die Szenen haben sich verselbstständigt und sind zu mythischen Kalenderbildern geronnen. Die Hauptfigur Marcello Rubini – von Marcello Mastroianni grandios verkörpert – ist ein charmanter, aber oberflächlicher Klatschreporter, der überall mit seinem sensationslüsternen Fotografen Giovanni Paparazzo im Schlepptau auftaucht. Sein Freund Steiner, ein schriftstellernder Familienvater, in dessen Salon sich Dichter und Gelehrte versammeln, scheint für das wahre Leben zu stehen. In seiner Gesellschaft beginnt Marcello, am Glamour der Filmwelt zu zweifeln, und erinnert sich an seine einstigen Ideale. Als Steiner seine Kinder und sich selbst tötet, ist für Marcello auch dieser Weg abgeschnitten. Steiners Selbstmord wirkt wie eine Kapitulation. Die Geschehnisse drum herum mussten Flaiano und Fellini gar nicht erfinden, sie brauchten sich bloß aus der Wirklichkeit zu bedienen. Anita Ekberg hatte tatsächlich einen trinklustigen amerikanischen Ehemann und war auch im wirklichen Leben einmal im Sommer nach einer durchtanzten Nacht in den Trevi-Brunnen gestiegen, aber um sich die Füße zu kühlen und nicht in einer schulterfreien Abendrobe, sondern in einem unspektakulären Sommerkleid mit hochgekrempelten Ärmeln. Sylvia alias Anita Ekberg im Trevi-Brunnen gilt als Inbegriff italienischer Romantik – im Kontext des Films ist sie eine eher lächerliche Gestalt mit einem kindlichen Gemüt. Alles an ihr ist überzogen: ihr amerikanisches Gebaren, ihre Tänze, ihre Launen und nicht zuletzt ihre Figur mit dem ausladenden Busen. Sylvia wirkt, als sei sie eine Nummer zu groß für Italien, neben ihr sehen erwachsene Männer wie Schuljungen aus, eine Phantasie, der Fellini in vielen Filmen anhing. »Du bist einfach alles … you are everything. You are the first woman of the first day on the earth … You are Eve … You are mother, sister, du bist die Geliebte, das Weib … Du bist ein Engel … der Teufel … die Erde … das Zuhause … Home«, stammelt Marcello ihr beim Tanzen hingerissen ins Ohr, während Sylvia Arrivederci Roma trällert. Ihr kopfloser Verehrer scharwenzelt weiter um sie herum, wird mitten in der Nacht zum Milchholen für ein Kätzchen abkommandiert und immer wieder stehengelassen. Als Marcello sie schließlich im Morgengrauen vor dem Hotel Excelsior auf der Via Veneto abliefert, erwartet ihn schon Sylvias dauerbetrunkener Gatte und schlägt den Reporter zusammen, ohne dass er die begehrte Frau auch nur einmal richtig geküsst hätte. Flaiano und Fellini waren damals mittendrin und kannten alles: die Vergnügungslokale, die Salons der Intellektuellen und die gelangweilte Aristokratie.
»Die römische Dekadenz ist auch Gegenstand von Flaianos Theaterstück Ein Marsmensch in Rom«, erzählt Raffaele La Capria, der mit der Schauspielerin Ilaria Occhini verheiratet ist. Eine Frau von bewundernswerter Schönheit, wie ich mich mit einem Seitenblick auf die Familienfotos vergewissern kann. Sie stand bei der Uraufführung in Mailand mit Vittorio Gassman auf der Bühne. In dem Stück ist viel von den parasitären Römern die Rede, die sich durch nichts von ihrem Lebensstil abbringen lassen, auch nicht durch einen Marsmenschen. Am Anfang herrscht zwar große Aufregung um den ungewöhnlichen Besucher, er wird auf Partys und in Salons herumgezeigt, aber schon nach kurzer Zeit gehen alle wieder zur Tagesordnung über. »Leider war es ein totaler Reinfall und wurde ausgepfiffen. Die Mailänder haben alles für bare Münze genommen. Während sie in den Fabriken und Firmen für das Bruttosozialprodukt schuften, machen sich die Römer ein schlaues Leben. Das kritische Potenzial haben sie gar nicht wahrgenommen. Es gab Pfiffe, Buhrufe, Geschrei, wie seit Pirandello nicht mehr. Mir tat es für meine Frau sehr leid. Flaiano hat mit dem Aphorismus reagiert: ›Der Misserfolg ist mir zu Kopf gestiegen.‹«
La Capria etablierte sich im römischen Kulturleben. »Moravia war damals überall, so wie man heute überall auf Dacia Maraini trifft, egal bei welcher Veranstaltung«, meint er zu der Omnipräsenz des älteren Kollegen. »Aber ich verdanke ihm viel, er hat sich bei seinem Verleger Bompiani für die Veröffentlichung meines Romans eingesetzt, was ich erst lange nach seinem Tod erfuhr. Als wir Mitte der sechziger Jahre mit ihm und Dacia an der Amalfi-Küste Urlaub machten, wurde mir seine Emsigkeit allerdings zu viel. Mitten im August wachte ich morgens um neun von Schreibmaschinengeklapper auf. Ich fragte meine Frau: ›Was ist das?‹ ›Dacia und Alberto‹, antwortete sie mir, ›sie schreiben.‹ Das fand ich wirklich übertrieben, ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht arbeitete«, erinnert sich La Capria. Da waren ihm die weniger dienstbeflissenen Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und Goffredo Parise, die ebenfalls ins Café Rosati kamen, oft lieber. »Obwohl Gadda ein überaus korrekter Mann war. Er war ein großer Konservativer und hielt damit nicht hinterm Berg. Während alle so taten, als seien sie Kommunisten, stand er dazu, rechts zu sein. Er war nationalistisch, hielt viel von Dingen wie Vaterland, Fahne, allgemeine Ordnung. Er war ein herausragender Schriftsteller, Die grässliche Bescherung in der Via Merulana war schon erschienen. Goffredo provozierte ihn ständig, er nahm ihn zum Beispiel im Auto mit und fuhr absichtlich zu schnell, was Gadda entsetzlich fand. ›Du willst mich töten, das ist Mord‹, sagte er zu ihm, ›du hältst dich wohl für sehr modern‹, schimpfte er weiter. Goffredo war sehr schlitzohrig und machte mit Gadda seine Späße. Gadda sah aus wie ein tapsiger Elefant. Er hatte immer viele Ängste und Bedenken, die typischen Ängste eines Bürgers. Dass man ihn falsch verstehen könnte, dass man ihn ausraubte. Er war also sehr misstrauisch. Parise wusste genau, welchen Weg Gadda normalerweise von seiner Arbeitsstelle bei der RAI nach Hause ging. Und eines Tages malte er mit Kreide genau auf diesem Weg lauter Pfeile auf den Boden. Straße für Straße, Ecke für Ecke. Gadda war sehr beunruhigt und rief Parise an: ›Jemand verfolgt mich, auf meinem gesamten Nachhauseweg waren Pfeile eingezeichnet, dabei weiß niemand, wo ich für gewöhnlich langgehe.‹ Und Goffredo hat sich lange mit ihm über diesen Verfolger unterhalten. So etwas war typisch für ihn.« Wir amüsieren uns noch eine Weile über den Schabernack, den Parise mit seinem Freund trieb. Dann ist der Winternachmittag vorbei, und wir kehren zurück in das Rom von heute. Einen Abstecher ist die Via Veneto noch wert.
Gleichgültig im Salon. Alberto Moravia 1962 bei den Belloncis