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DIE NEUEN BÜRGER Familie Pincherle

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Heute ist die Via Veneto ein Zitat ihrer selbst. In den Schaukästen der Bars hängen Bilder aus La dolce vita, es gibt sogar eine Plakette mit einem Hinweis auf den berühmten Film. Außer ein paar Rombesuchern aus der Provinz, einer asiatischen Reisegruppe mit identischen Schirmmützen und ein paar Amerikanern, die im Café de Paris überteuerte Nudelgerichte zu sich nehmen, verläuft sich an einem kalten Wintertag kaum jemand hierher. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Via Veneto die beliebteste Flaniermeile von ganz Rom: Vor allem Familien aus dem aufsteigenden Bürgertum schritten den breiten Boulevard am Wochenende auf und ab. Er galt als fein, außerdem wohnte man in den nahe gelegenen, kürzlich erbauten Vierteln Salario, Parioli oder im Quartiere delle regioni, gleich hinter der Via Veneto. Nach der italienischen Einigung von 1861 gab es ein langes Hin und Her mit dem Vatikan, der Rom und Latium für sich reklamierte und unter der Schutzmacht Frankreichs stand. Als der Papst alle Vorschläge einer friedlichen Übereinkunft in den Wind schlug und sich nach dem Sieg Preußens über Frankreich 1870 die internationalen Kräfteverhältnisse geändert hatten, schickte die junge Nation im September ihre Truppen in den Kirchenstaat. Es war ein eher theatralischer Akt. Ohne auf Gegenwehr zu stoßen und unter der Anteilnahme einer internationalen Journalistentruppe schlugen die Soldaten am 20. September bei der Porta Pia eine Bresche in die Stadtmauer und eroberten Rom. In einem Plebiszit entschieden sich die Bürger für einen Anschluss an Italien. Im Juli 1871 verlegte man die Hauptstadt endgültig nach Rom, und König Viktor Emanuel II. hielt seinen feierlichen Einzug. Anschließend begann eine rege Bautätigkeit. Allerdings war Rom ja bereits seit Jahrhunderten die Hauptstadt eines unabhängigen Staates: des Kirchenstaates. Diesem päpstlichen Rom wollte man auch architektonisch etwas entgegensetzen. Für die römische Aristokratie, der die meisten Grundstücke gehörten und die durch verwandtschaftliche Beziehungen mit der Kurie verbandelt war, wurde es ein riesiges Geschäft. Statt Stadtplanung herrschte Spekulation. Ganze Gebiete wurden erschlossen, abgerissen, umgebaut. Die neuen, nach Turiner Vorbild angelegten rechtwinkeligen und eher eintönigen Straßenzüge in Prati und an der Piazza Indipendenza, der Corso Vittorio Emanuele II, die Via Cavour, die Via Merulana und die Via Nazionale wirkten »tröstlich« neben den düsteren, verwinkelten Gassen am Campo de’ Fiori, beschrieb es ein Zeitgenosse. Nicht nur das klotzige Ehrenmal, das bis heute weiß unter den dunkleren Kuppeln heraussticht, Sankt Peter optisch Konkurrenz machen sollte und wie die Geste einer Besatzungsmacht wirkt, wurde in Auftrag gegeben. Man brauchte Ministerien, Behörden, Kasernen, Mehrfamilien-Villen und Mietshäuser für das Regierungspersonal. Zwischen 1870 und 1895 stieg die Bevölkerung von 200000 auf 400000, und bis 1910 wuchs sie auf 539000 Einwohner an, was im Vergleich zu Berlin mit 2,07 Millionen Einwohnern oder London mit 4,5 Millionen immer noch wenig war. Die neue römische Mittelschicht bestand zu einem guten Teil aus Zugezogenen, zu denen auch die Eltern Alberto Moravias gehörten. Droschken bestimmten das Straßenbild, ein strenger Geruch von Pferdeäpfeln lag über der Stadt, Automobile existierten nur wenige, und kurz hinter der Villa Borghese oberhalb der Via Veneto wurde es ländlich. Viele der zweistöckigen Häuser, die villini genannt wurden, hatten kleine Gärten. Die Kinder spielten in Begleitung ihrer Gouvernanten nachmittags im Park der Villa Borghese, wo es auch eine Pferderennbahn gab. Das Zentrum war für die aufstrebende Klasse tabu: Man ging einfach nicht hin, weder auf die Piazza Navona noch zum Pantheon und schon gar nicht auf den Campo de’ Fiori. Dort waren die ärmeren Römer zu Hause, Handwerker vor allem, nur ein paar Adlige lebten noch in ihren Palästen in der Altstadt. Rund um die Via dei Giubbonari lag das jüdische Ghetto. San Lorenzo beim Güterbahnhof war ein Arbeiterviertel, genauso wie Testaccio beim Schlachthof.

Mit dem Bus passiert man am Ende der Via Veneto die römische Stadtmauer, die Mura aureliane. Dentro le mura ist bis heute eine gängige Bezeichnung, sogar für Taxifahrer, die sich ab der Mauergrenze an einen bestimmten Tarif halten müssen. Alberto Moravia verbrachte seine Kindheit fuori le mura, zuerst in der Via Sgambati 9 und dann in der Via Donizetti 6, wohin die Familie 1916 übersiedelte. Man bewohnte das Erdgeschoss und den ersten Stock in einem villino. Es gab Stilmöbel, schwere Vorhänge, dicke Teppiche, düstere Bilder aus dem 17. Jahrhundert mit mythologischen Sujets, Tafelaufsätze und Nippes von Lalique und Murano, für die Mutter einen Damensekretär aus Mahagoni, für den Vater eine Bibliothek aus Nussbaumregalen im Arbeitszimmer, wo auch sein Zeichentisch stand. Carlo Pincherle Moravia suchte für das gesamte Haus die Tapeten aus. Das Schlafzimmer der Eltern war im Jugendstil gehalten: die Spiegel, Schränke, das Bett und die Frisierkommode. Die Räume der Kinder waren funktional eingerichtet, mit weißen Holzmöbeln und Bettgestellen aus Messing. Im ersten Stock hatten sie ein Spielzimmer. In Rom sei auch das Mobiliar päpstlich gewesen, stellte Elena Croce fest, die Tochter des Philosophen Benedetto Croce, die 1915 zwar in Neapel geboren wurde, aber später nach Rom umzog und den Charakter der Hauptstadt scharfsinnig einfing. Zum Bürgertum in seiner Ausprägung als städtische Klasse gehörten, einer Aufschlüsselung des Dizionario del fascismo (2003) zufolge, damals lediglich fünf Prozent. Nach der Volkszählung von 1931 existierten bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 42 Millionen 209000 Grund- und Hauseigentümer, die von ihrem Besitz leben konnten, außerdem 590000 Unternehmer und 40000 Manager, während die Mittelschicht aus Ärzten, Apothekern, Anwälten, Notaren, Ingenieuren, Architekten, Professoren, Lehrern und Angestellten etwa 70000 Personen umfasste. Selbst wenn man das ländliche Bürgertum von insgesamt noch einmal 100000 hinzuzählt, ändert das nichts am Gesamtbild. Obwohl sich zwischen 1921 und 1935 die Zahl der Einschreibungen an den Universitäten auf 64944 verdreifachte, gab es 1936 nur 11135 Abschlüsse. In den zwanziger Jahren rekrutierte sich die Elite wie zu Beginn des Jahrhunderts aus sich selbst, die soziale Mobilität war gering, Söhne übernahmen die Berufe ihrer Väter. Natürlich gab es innerhalb des Bürgertums die verschiedensten Erscheinungsformen – von provinziell bis kosmopolitisch. Die faschistische Partei PNF, Partito nazionale fascista, bot neue Aufstiegschancen. Die zumindest zum Teil von liberalen Ideen geprägten großbürgerlichen und adligen Familien verloren unter Mussolini rapide an Einfluss, stattdessen gewannen Industrielle, Investoren und Manager der vom Faschismus favorisierten staatlichen Unternehmen an Gewicht. Diese neue Aristokratie übernahm die Kontrolle über die gesamte Wirtschaftspolitik, gleichzeitig versorgte Mussolini ihm gewogene Geschäftsinhaber mit politischen Ämtern.

Im Alltag der Familie Pincherle folgte man einem strengen Zeremoniell. Es galten die typischen bürgerlichen Formen der Jahrhundertwende: Die Kinder wurden vom Personal beaufsichtigt, die Eltern sah man bei den Mahlzeiten zu Tisch. Der Vater übte seinen Beruf mit Begeisterung aus, erwarb mehrere Häuser und konnte, als sein Baustil weniger gefragt war und er keine Aufträge mehr bekam, den Lebensunterhalt aus den Vermietungen der Immobilien bequem bestreiten. Alberto wuchs mit zwei älteren Schwestern und einem sieben Jahre jüngeren Bruder auf, aber zu den Geschwistern entwickelte sich keine engere Beziehung Seine Mutter sei eine typische Madame Bovary gewesen, meint Alberto Moravia im Gespräch mit Dacia Maraini, seiner langjährigen Weggefährtin. »Meine Mutter war eine große, elegante Dame. Oft nahm sie mich mit zu ihrer Schneiderin, setzte mich auf ein Sofa und befahl mir, auf sie zu warten. Ich verbrachte Stunden damit, ihr zuzuschauen. Sie trug riesige Hüte aus schwarzem Stroh mit Vögeln, Kirschen oder Blumen. In ihrer Garderobe tobte sie sich aus. Was das soziale Leben anging, hatte ihr mein Vater nicht gerade viel zu bieten. Manchmal denke ich, dass die Ehe meiner Eltern ein Fehler war. Sie hätte einen anderen Mann gebraucht, brillanter, mondäner, und nicht so einen cholerischen Bären wie meinen Vater. Mit ihm wurde sie noch mehr zur Bovary. Und mein Vater wurde einsamer.« Als Dacia Maraini ihn nach den Bindungen in seiner Familie fragt, reagiert Alberto Moravia eher harsch, allerdings war seine Position ab dem zehnten Lebensjahr eine besondere. Er bekam Knochentuberkulose an der Hüfte, musste den Schulbesuch abbrechen und lag über Jahre meist im Bett. Seiner Krankheit standen die Eltern hilflos gegenüber. Sie verließen sich auf das Urteil des behandelnden Orthopäden, obwohl es Alberto immer schlechter ging. Erst seine Tante Amelia Pincherle Rosselli aus Florenz, die Schwester des Vaters, Schriftstellerin und eine eindrucksvolle Erscheinung, erkannte 1924 die Lage und veranlasste die Verlegung ins Sanatorium Codivilla.

Seine Tante schildert Moravia farbiger als die Eltern, sie bestärkte den Neffen in seinen Interessen und schätzte seine literarischen Vorlieben. Es ist vermutlich ihr zu verdanken, dass Moravia im Schreiben eine sinnvolle Beschäftigung sah. Amelia Rosselli sei eine kleine Person mit einer sanften Ausstrahlung gewesen, erzählt er Dacia Maraini. »Aber mit einem starken Charakter. Sie heiratete den Komponisten Rosselli. Nach wenigen Jahren ließ er sie mit drei kleinen Kindern sitzen und brannte mit einer Tänzerin durch. Später kehrte er in ihre Nähe zurück und starb bei ihr in Florenz. Sie hat dann noch viele Jahre als Witwe gelebt und ihre Kinder allein großgezogen, Carlo, Nello und Aldo. Geld hatten sie kaum welches. Aber sie war eine energische Frau mit klaren moralischen Überzeugungen. Sozialistin, auf die altmodische Art. Ihre Söhne hat sie in der Tradition des Liberalismus des 19. Jahrhunderts erzogen.« Aldo fiel im Ersten Weltkrieg. Seine Brüder Carlo und Nello, Vordenker der sozialistischen Partei, besuchten ihren Cousin Alberto im Sanatorium. Sie wurden zu zentralen Figuren des italienischen Antifaschismus. Zum Exil in Paris gezwungen, zählten sie zu den Mitbegründern der Widerstandsgruppe Giustizia e libertà. Rechte Schlägertrupps ermordeten die Brüder 1937 in Bagnoles-de-l’Orne, vermutlich auf Anordnung des italienischen Geheimdienstes. Mitte der zwanziger Jahre befand sich Alberto durch seine schwere Krankheit jenseits der politischen Verhältnisse, die sich immer mehr zuspitzten. Den Marsch auf Rom 1922 hatte er als Fünfzehnjähriger beobachtet. Die Schwarzhemden auf der Piazza Barberini seien ihm wie tumbe Landbewohner erschienen, erinnert er sich. Doch für ihn folgte erst einmal die lange Phase im norditalienischen Sanatorium.

Rom, Träume

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