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ABENDS IM CAFÉ Piazza del Popolo
ОглавлениеEs war Dacia Maraini, die Moravia 1986, vier Jahre vor seinem Tod, nach seinen ersten Erinnerungen befragte und nicht locker ließ, obwohl ihr früherer Mann möglichst wenig mit der Vergangenheit zu tun haben wollte. Er habe sich auch bei seinem eigenen Vater nie nach dessen Kindheit in Venedig und dem beruflichen Werdegang erkundigt. Das Gespräch wurde in der Familie Pincherle nicht gepflegt. »Er hat nichts erzählt, und ich war auch nicht neugierig, etwas über ihn zu erfahren. Ich erkundige mich nicht nach der Vergangenheit von Menschen. Mich interessiert nur ihr Charakter, also ihre Gegenwart«, wehrte Moravia auch das Bohren seiner langjährigen Lebensfreundin ab. Die Verfasserin etlicher Bestseller, Theaterautorin, Protagonistin des italienischen Feminismus ist bis heute sehr vital. Sie muss mehr wissen, auch über die Vergangenheit. Es geht zur Piazza del Popolo, die sich mit den Zwillingskirchen rechts und links wie ein Bühnenbild öffnet und einer der letzten städtebaulichen Geniestreiche des päpstlichen Roms war. In der Mitte steht ein ägyptischer Obelisk, ein Mitbringsel des Kaisers Augustus von seinen Feldzügen. Auch Hinrichtungen wurden hier zelebriert. Unter Papst Paul II. (1464–1471) entstand über die Via del Corso dann eine anderthalb Kilometer lange Achse, die von Santa Maria del Popolo, einer der ältesten Pfarrkirchen Roms, bis zu San Giovanni im Lateran geht und für Pferderennen genutzt wurde. Anderthalb Jahrtausende war die Porta del Popolo das zentrale Eingangstor der Stadt – der junge Weimarer Geheimrat Johann Wolfgang Goethe fiel 1786 auf dieser Piazza in seinen ersten Entzückensrausch. Dahinter liegt die Via Flaminia, benannt nach der alten Konsularstraße, die hier endete. Bis zur Wohnung Dacia Marainis ist es nicht weit.
Wenn Dacia Maraini die Tür öffnet, liegen sofort die siebziger Jahre in der Luft. Das hängt nicht nur mit ihrem knallblauen Lidschatten zusammen, den sie auch die ganzen achtziger und neunziger Jahre hindurch ungerührt trug und der inzwischen längst wieder modern ist. Es ist ihre unkomplizierte Art, die Selbstverständlichkeit, mit der sie mich in Empfang nimmt und ein Gespräch anknüpft. Dass ihre Mutter eine sizilianische Prinzessin war, scheint unwahrscheinlich, genauso wie die Tatsache, dass sie die fünfundsiebzig seit einer Weile überschritten hat. Sie verscheucht eine Katze vom Arbeitstisch in ihrer Dachwohnung, von deren Terrasse man den Petersdom sieht. An den Wänden hängen Erinnerungsstücke ihrer vielen Reisen, die sie mit Alberto Moravia und dem gemeinsamen Freund Pier Paolo Pasolini unternahm, afrikanische Masken, Marionetten aus Fernost. Es gibt überladene Bücherregale und mehrere Tische für ihre verschiedenen Aktivitäten. Ein Schwager klingelt, um sich eines wackligen Küchenschrankes anzunehmen, dann muss die Katze wieder eingefangen werden, schließlich trinken wir Tee. Sie war noch ein Kleinkind, als der Vater Fosco Maraini, ein Ethnologe, mit der Familie 1939 nach Japan übersiedelte. Nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten 1943 weigerte sich Fosco Maraini, auf die Republik von Salò zu schwören, weshalb man die Eltern mit ihren Kindern drei Jahre lang in ein Lager steckte, wo sie fast verhungert wären. Die Familie kehrte 1946 nach Italien zurück. »Ich kam Anfang der fünfziger Jahre von Florenz nach Rom. Es war damals vollkommen verschlafen, aber sehr, sehr schön«, erinnert sie sich. »Kein Verkehr, kaum Autos. Am Stadtrand ließen die Schäfer ihre Herden weiden, die fürchterliche Peripherie, die in den folgenden Jahren entstand, gab es noch nicht.« Wieder klingelt es, jetzt kommt der Hausmeister. Normalerweise sei bei ihr nicht so viel los, entschuldigt sie sich. Dacia Maraini hat einen strikten Tagesablauf, darin passte sie zu Moravia: Morgens schreibt sie, nach dem Mittagessen korrigiert sie oder widmet sich kleineren Projekten. Wenn sie an neuen Büchern arbeitet, zieht sie sich aufs Land zurück. Sie ist eine Bestseller-Autorin und in siebzehn Sprachen übersetzt, was ihr bis heute Reisen ins Ausland ermöglicht. Kaum ein internationales Literaturfestival kommt ohne sie aus. »Als Ende der fünfziger Jahre mein erster Roman fertig war, schlug der Verleger vor, ein bekannterer Schriftsteller solle ein Vorwort verfassen. Ich hatte einen Freund, der Alberto Moravia kannte, und so kam ich auf ihn. Auf diese Weise lernten wir uns kennen«, erinnert sie sich. Moravia war damals bereits vierundfünfzig Jahre alt und ein berühmter Mann. Er nahm sie gleich mit auf eine Reise nach Afrika. Dass ihm die blondköpfige, grünäugige junge Autorin mit der ungewöhnlichen Herkunft gefiel, kann man sich gut vorstellen. »Er war ein reizender Mensch, sehr sanft, obwohl alle dachten, er sei eher störrisch«, schildert Dacia Maraini Moravia. »Aber das war er gar nicht, er hatte diese wuchernden Augenbrauen, die ihm etwas Brüskes gaben. In Wirklichkeit war er sehr gesellig, ein blendender Unterhalter und ein großer Geschichtenerzähler. Ein extrem liebenswürdiger Mann.« Seine Autorität als Schriftsteller hat Dacia Maraini, so sehr sie Moravia schätzte, nicht gehemmt: Sie ging ihre eigenen Wege, schrieb im Schnitt alle drei Jahre einen neuen Roman, befasste sich mit weiblichen Schicksalen, dem historischen Sizilien und den Folgen des Faschismus. Knapp zwei Jahrzehnte lang reiste sie mit Alberto Moravia um die Welt und stand auch in Rom im Mittelpunkt des literarischen gesellschaftlichen Lebens. Wieder tauchen dieselben Namen auf.
Ähnlich wie La Capria schildert auch Dacia Maraini eine inspirierende Atmosphäre. Es war eine Phase des Übergangs, die Verhältnisse waren nicht zementiert. Der Krieg lag noch in der Luft, und die Resistenza war für alle Schriftsteller, die zwischen 1908 und 1925 geboren wurden, zu einer Wasserscheide geworden, ein umwälzender, oft auch biographischer Bruch. Jeder musste sich dazu verhalten, egal ob Partisan oder nicht. Moravia und Gadda kreisten in mehreren Büchern um ihr Versäumnis einer aktiven Teilnahme. Der Bürgerkrieg in Norditalien sei ein »Schnellkurs in Geschichte, Ethik und Ästhetik« gewesen, beschrieb es Franco Fortini. Für diejenigen, die im Widerstand ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, war es nur folgerichtig, sich jetzt für den gesellschaftlichen und politischen Umbau ihres Landes zu engagieren. Die Literatur schien ihnen ein geeignetes Mittel, um die Welt zu verändern. Welche großen Hoffnungen man hegte und wie eng Politik und Kultur zu Anfang miteinander verwoben waren, erzählt zum Beispiel Carlo Levi in seinem Roman Die Uhr (1950). Der Turiner Arzt, Maler und Schriftsteller, ebenfalls in Rom zu Hause und Verfasser des berühmten Buches Christus kam nur bis Eboli (1945), war einer der Protagonisten des Partito d’azione gewesen, jener Partei, die während der Resistenza eine große Rolle gespielt hatte, aber bei den ersten Gemeindewahlen im Frühjahr 1946 nur wenige Stimmen bekam. Die Uhr dreht sich um diese erste Erfahrung der Ernüchterung: Bereits im Winter 1945 zerfiel der Zusammenschluss aller antifaschistischen Parteien, die Linke wurde von den Konservativen an den Rand gedrängt, und die Wortführer des Partito d’azione zerstritten sich. Dennoch schien Italien damals veränderbar, trotz der christdemokratischen Regierung unter De Gasperi, die 1948 mit 48,5 Prozent der Stimmen über die »Volksfront« aus Sozialisten und Kommunisten, die nur 31 Prozent erreichten, haushoch siegte. Der Turiner Einaudi-Verlag richtete gleich nach dem Krieg eine Niederlassung in Rom ein, Bompiani zog nach, viele junge Leute kamen in die Hauptstadt, Zeitschriften wurden gegründet, das Kino bot vollkommen neue Arbeitsmöglichkeiten. Nie zuvor und nie danach waren so viele Schriftsteller mit Drehbüchern und Filmen befasst: Moravia, Mario Soldati, Ennio Flaiano, La Capria und bald auch Pier Paolo Pasolini. Es herrschte eine mitreißende Aufbruchsstimmung. Italo Calvino, genau wie Levi Einaudi-Autor, brachte es 1959 auf den Punkt: »Nach dem Krieg gab es in Italien eine literarische Explosion, die vor der künstlerischen auch eine körperliche, eine grundlegende kollektive Erfahrung war. Wir hatten den Krieg erlebt, und wir Jüngeren – die gerade noch rechtzeitig Partisanen geworden waren – fühlten uns nicht erdrückt, besiegt oder ›verbrannt‹, sondern als Gewinner, als exklusive Träger von etwas. Es war kein leichtfertiger Optimismus, im Gegenteil: Wir trugen das tragische Zeichen des Lebens in uns, einen tiefen Grimm, vielleicht auch eine Fähigkeit zur Verzweiflung, aber das Hauptgewicht legten wir immer auf eine kecke Fröhlichkeit. Viele Dinge wurden aus dieser kecken Fröhlichkeit geboren, sie war der Auslöser für meine frühen Erzählungen und meinen ersten Roman. Die Spannung, die uns der historische Moment vermittelt hatte, verlor sich rasch.« In den öffentlichen Diskussionen hielt die Bedeutung der Schriftsteller noch an; ihre Meinung hatte Gewicht und eine ethische Berechtigung. Stärker als je zuvor wurde das kollektive »Wir« als sinnstiftend erlebt.
»Es waren keine festen Vereinbarungen, doch jeder wusste, dass man in den Cafés und Restaurants an der Piazza del Popolo oder auf der Via Veneto immer jemandem über den Weg lief«, erzählt auch Dacia Maraini. »In der Bar Rosati zum Beispiel traf man Elsa Morante, Pasolini, Calvino, Bassani, Flaiano und Fellini, der in der Via Margutta wohnte, aber auch Luchino Visconti, den Maler Guttuso und andere bildende Künstler. Man aß gemeinsam, jeder bezahlte für sich. Es gab Diskussionen, die sich stundenlang hinzogen, manchmal stritten wir auch, aber es war wunderbar, weil man so ungezwungen zusammenkam. Das gibt es heute nicht mehr. Im Rosati sitzen nur noch Touristen herum und in unseren alten Restaurants auch.« Dacia Maraini erzählt von Weihnachtsabenden mit Moravia, zu denen auch Elsa Morante eingeladen wurde, von gemeinsamen Spielen, für die sie sehr viel übrig hatte. Ratespiele, bei denen man Schriftsteller oder Filme erriet. Morante sei im Zeichen des Löwen geboren und eine sehr extrovertierte Frau gewesen, ungeheuer selbstsicher. »Einmal hat man ihr einen wichtigen Literaturpreis verliehen, den sie nicht persönlich entgegennehmen konnte. Vorher sagte sie einem Journalisten: ›Ich bedanke mich bei allen, die für mich gestimmt haben, und denen, die gegen mich gestimmt haben, verzeihe ich.‹ Sie war sehr schlagfertig und einfallsreich.« Moravia habe ihr immer wieder von den Erfahrungen mit seiner Ex-Frau berichtet und von ihrer Manie, um jeden Preis die Wahrheit sagen zu wollen, selbst Freunden gegenüber, während er eine diplomatische Haltung vorzog. Trotz seiner Warnung habe sie einem befreundeten Dichter ins Gesicht gesagt, wie schrecklich seine Texte seien, und sich dann gewundert, dass der Mann beleidigt abzog. Auch Pier Paolo Pasolini gehörte zu den Besuchern im Rosati. Mit ihm und Alberto Moravia unternahm Dacia Maraini zahlreiche Reisen nach Afrika, Indien und Persien. »Pasolini war bei den gemeinsamen Treffen eher still und verschlossen. Ein Einzelgänger, kein großer Plauderer. Aber er kam immer und genoss die Gesellschaft seiner Freunde. Er hatte viel im Kopf und sprach nur, wenn es um ethische, politische oder ästhetische Fragen ging, da hatte er ganz bestimmte Ansichten. Sonst hörte er lieber zu. Pasolini hing wahnsinnig an seiner Mutter. Das war auffallend.« Dacia Maraini empfiehlt mir noch einige Spaziergänge zu den einschlägigen Orten von damals, dann kehrt sie zurück an den Schreibtisch. Auf dem Rückweg mache ich einen Schlenker zur Bar Rosati an der Piazza del Popolo. Beflissene Kellner mit langen Schürzen, ein herausgeputztes Interieur, ein paar Gäste. Es stimmt – nur Touristen.
Auch deutsche Künstler und Intellektuelle waren seit den fünfziger Jahren von der Atmosphäre Roms angezogen. Die Stadt bot, ähnlich wie für die amerikanischen Schauspieler, die richtige Mischung aus Geschichte und Gegenwart. Kein Vergleich mit den Verheerungen in Berlin, Köln oder München. Ingeborg Bachmann ließ sich 1956 an der Piazza della Quercia nieder, freundete sich mit Prinzessin Caetani an, einer Amerikanerin, die in den römischen Adel eingeheiratet hatte und die Zeitschrift Botteghe Oscure herausgab. Ihr Salon war ein intellektueller Umschlagplatz der Stadt. Die deutschen Besucher waren beeindruckt von der großen Selbstverständlichkeit, mit der sich die unterschiedlichsten Gruppen mischten. Sie trugen sicherlich zur Mythisierung bei, dennoch unterstreichen ihre Beobachtungen die Eigenarten der italienischen Kultur. Mitte der sechziger Jahre schilderte Alfred Andersch, der Italien aus der Kriegszeit und Gefangenschaft kannte – schließlich war er hier aus der Wehrmacht desertiert – die Besucher des Café Rosati. Er beobachtet, wie sich Alberto Moravia nähert, hager und kerzengerade. Der »demokratischste Schriftsteller Italiens« sehe aus »wie ein preußischer Offizier«, wundert er sich. »Er betritt das Rosati, alle Blicke wenden sich ihm zu, der Kommandeur ist eingetreten, aber nimmt von niemandem Notiz, sondern geht sofort auf Pier Paolo Pasolini zu, lässt sich an seinem Tisch nieder, entspannt sich im Gespräch mit dem jungen Bandenführer, den er wohl als seinen Lieblingsschüler betrachten muss, als den Dichter, in dem sein Geist und sein Stil gänzlich verwandelt Schule gemacht haben. Moravia ist streng, während Pasolini scharf ist, ein scharfer böser Junge mit einem kleinen braunen Gesicht hinter einer schwarzen Hornbrille, ein junger Uhu, ein nächtlicher Raubvogel, in allen Künsten des Erschreckens geübt. (…) Der wilde Pasolini ist alles Mögliche zwischen Anarchie, Liberalität und Kommunismus, aber Katholik, Christ oder auch nur Häretiker ist er nicht. Vor allem ist er Pasolini, der junge Mann aus den Slums, den borgate, doch auch er hält Überraschungen bereit, wenn er in der Buchhandlung Einaudi Gaddas Erkenntnis des Schmerzes vorstellt, nicht das ganze Buch, sondern nur einen einzigen Satz, der ihm Gelegenheit bietet, vollendetes ästhetisches Raffinement mit leiser Stimme auszuspielen. Fast deutsche Dichtungsinterpretation verband sich da mit römischer Intellektualität – es war ein Genuss, wenn auch schwer zu verstehen. Verstand ihn Carlo Emilio Gadda, der weißhaarig, groß und schwer dem Opfer beiwohnte, das man ihm zelebrierte? Ich nehme das Epitheton schwer sogleich zurück, denn Gaddas Schwere hat etwas Durchscheinendes, Geistiges, der große abgerundete Mann – nichts Eckiges ist an seinem Körper – strahlt einsame Heiterkeit und nüchterne Harmonie aus. Der frühere mailändische Ingenieur und Wahlrömer wird als der letzte und große Bürger der italienischen Literatur verehrt, wie ich an jenem Nachmittag vernahm. Eigensinnig und geistvoll wies Moravia nach, dass ein General bei Gadda ganz ohne Frage ein General sei; das General-Sein eines Generals werde von Gadda immer als Prämisse hingenommen, niemals infrage gestellt. Eine originelle These, die lebhaft beklatscht wurde. Mir scheint die Rechnung nicht völlig aufzugehen. Ohne Zweifel bietet Gadda als Mensch einen angenehmen bürgerlichen Anblick. Aber seine Sprache ist nicht bürgerlich, sie ist die Sprache eines Künstlers. Was er mit der Sprache treibt, das sind recht unbürgerliche Künste. Barock und konzentriert zugleich, treibt er seine Figuren mithilfe seiner Sprache – und mit ihr allein – aus dem Zustand heraus, der ihnen vorgegeben ist. Freilich ist er ein seltener Gast der literarischen Nachmittage in der Via Veneto, und man denkt sich ihn lieber auf Spaziergängen in den Gärten von Rom. – Doch schien es mir des Aufschreibens wert, wie sich in einem der letzten literarischen Paradiese dieser Erde die großen Kollegen ohne Neid voreinander verbeugen.«
Das stimmungsreiche Feuilleton sagt natürlich nicht nur etwas über Italien aus, sondern ebenso viel über Andersch und die deutschen Projektionen. Seine Schilderung ist von einer großen Sehnsucht durchdrungen, einer Sehnsucht nach anderen Umgangsformen, nach etwas südlich Ungezwungenem, aber auch nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der jeder seinen Platz hat und gleichzeitig Vielfalt herrscht. Besonders zu beeindrucken scheint ihn die Zugewandtheit und der tolerante Umgang mit den ästhetischen Vorstellungen des jeweils anderen. Andersch erkennt den sehr eigenen Charakter der Freundschaft von Moravia und Pasolini, die von großem Respekt getragen war. Er nennt Moravia einen »demokratischen« Schriftsteller, vermutlich weil er in seinen Römischen Erzählungen einfache Leute von der Straße porträtierte und hohe Auflagen erzielte. Großbürgerlicher und stärker der Jahrhundertwende verhaftet könnte der Werdegang eines Autors allerdings kaum sein: mit emblematischen Stationen im Sanatorium und der Initiation im Bordell. Aber früher als in der Bundesrepublik bekleidete der Schriftsteller in Italien ein öffentliches Amt. Moravia galt als Institution. Er war damals der Einzige unter seinen Kollegen, der Weltruhm erlangt hatte, Gaddas internationale Entdeckung stand noch bevor, Pasolinis Erfolg auf europäischer Ebene setzte gerade erst ein. Während Elsa Morante eine militante Subjektivität pflegte und unbeirrbar an ihren Romanen schrieb, trat Moravia stärker als Erzieher in Aktion. Er äußerte sich, schrieb Kritiken, hatte zu allem eine Meinung. An Pasolini bewundert Andersch dessen analytisches Vermögen, das offenkundig weniger abgekoppelt wirkte von sinnlichen Empfindungen, als er es von deutschen Intellektuellen kannte. Allerdings war Pasolini mitnichten Moravias Schüler, schon gar kein Bandenführer oder Slumbewohner. Der Kirche als Institution mag er skeptisch gegenübergestanden haben, was aber nichts an seiner Religiosität änderte – immer wieder treibt ihn die Suche nach Restbeständen des Heiligen um. Zum Ärger vieler Freunde – auch Dacia Maraini war empört – sprach er sich gegen Abtreibung und für traditionelle Familienstrukturen aus. Zwischen den italienischen Schriftstellern kam es häufig zu erbitterten Diskussionen, man ging streng miteinander ins Gericht, ohne zu brechen. Es war eine Generation, die unter den Faschisten Propaganda und Scharfmacherei erlebt hatte und großen Wert auf Ehrlichkeit legte.