Читать книгу Und Frösche können fliegen - Maja Christ - Страница 10
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ОглавлениеIch wurde wach, weil mir jemand über die Haare strich. Erschrocken richtete ich mich auf, doch dann sah ich, dass es mein Vater war. »Hallo, Prinzessin.« Seit ich denken konnte, nannte mein Vater mich schon so. Er nahm mich in den Arm. Ich fühlte mich gleich geborgen in seinen Armen. Wie früher.
»Woher weißt du …?«
»Meli hat mich angerufen. Wie geht es dir?«
»Ach, Papa. Nicht gut.«
»Hey, das wird wieder. Der kriegt sich wieder ein.«
»Der muss sich nicht wieder einkriegen.«
»Was denn, so schlimm?«
»Papa, Sven hat ein Verhältnis mit der Freundin von Marcus«, klagte ich.
»Oh, das hat Meli mir nicht erzählt. Mit der Caro? Sven? Das ist ja ein Ding! Und was sagt Marcus dazu?« Mein Vater schniefte und suchte ein Taschentuch.
Ich zuckte mit den Schultern und reichte ihm eins von meinen. »Hier, ich habe genug. Wie geht es denn deiner Erkältung?«
»Och, der geht es gut«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber keine Sorge. Mir geht es auch schon wieder besser. Soll ich dir mal einen Tee machen? Oder einen Kaffee?«
»Danke, Papa. Kaffee wäre prima.«
»Dann schau ich mal, ob ich Elsa erwärmen kann, uns was Gutes zu tun.«
Elsa, das war die gute Seele unserer Flugschule: unsere Kaffeemaschine. Den Namen hatte ich ihr gegeben. Ich krabbelte aus dem Schlafsack und folgte meinem Vater in den Nachbarraum. Er werkelte noch an der Kaffeemaschine herum.
»Guck mal, da!«, rief er und zeigte auf einen kleinen Pappkarton, der auf dem Tisch stand. Am Vortag hatte er da noch nicht gestanden. Ich ging zum Tisch und schaute in den Karton, aber er war leer. Fragend sah ich meinen Vater an, der mit zwei Tassen duftendem Kaffee zum Tisch kam.
»Was meinst du?«, wollte ich wissen.
»Na, die Schachtel.«
»Die ist leer«, stellte ich fest.
»Ja«, brummte mein Vater. »Und deshalb ist da jetzt auch genügend Platz für deine Sorgen. Das ist eine Sorgenschachtel und du füllst die jetzt. Dann geht es dir besser.«
Nun musste ich doch schmunzeln.
»Ha, wusste ich doch, dass ich dich wieder zum Lächeln bringe. So, einmal schütteln und dann verschließen wir das Ding und stellen es hoch auf das Regal.«
Ich lachte, schüttelte mich und schloss schnell den Karton. »So?«
»Perfekt!«, grinste Rudi. »Besser?«
»Etwas …«
»Dann machst du das heute Abend nochmal und später einfach bei Bedarf.«
»Alles klar, Herr Doktor«, sagte ich und rieb mir den restlichen Schlaf aus den Augen. »Aber kommen die Sorgen dann nicht wieder raus?«
»Nein, nein, davon ernährt sich die alte Schachtel. In einer Stunde ist sie wieder leer.«
»Aha«, machte ich und stellte die Schachtel auf ein Regal. Mein Vater war wirklich etwas Besonderes. Kein Wunder, dass meine Mutter so viel mit ihm gelacht hatte, als sie noch lebte. »Papa, denkst du noch viel an Mama?«
Traurig nickte er. »Ja, oft. Und du ähnelst ihr immer mehr, Prinzessin.« Ich nahm ihn in den Arm und er drückte mich fest an sich.
»Willst du dich auch einmal schütteln?«, fragte ich. »Dann hole ich die Schachtel wieder runter.«
»Nein, nein, die hat gerade genug zu verdauen«, sagte er und lächelte schon wieder. »Apropos. Hast du schon einen Namen für sie?«
»Für die Schachtel?«
»Ja, natürlich. Du gibst doch hier immer allem irgendwelche sonderbaren Namen.«
Hm, ein Name für eine Sorgenschachtel? »Soscha«, sagte ich kurzerhand.
Mein Vater schmunzelte erneut. »Das passt«, nickte er. »Kommst du mit zu mir? Ich habe noch Kartoffelsuppe. Die hilft immer.«
Wollte ich mit meinem Vater kommen? Ich nickte. »Ja, Papa, ich komme mit. Wie könnte ich bei deiner Kartoffelsuppe Nein sagen? Danke.«
Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging nach nebenan ins Büro, um meine Sachen zu holen.
»Jetzt besser?«, fragte mein Vater, als er die leeren Suppenteller abräumte.
»Danke, Papa.« Ich lehnte mich zurück und streckte mich. Dank einer langen warmen Dusche und der Kartoffelsuppe war mir wieder warm geworden. Allerdings hatte ich Kopfschmerzen und im Hals kratzte es verdächtig. »Ich glaube, jetzt werde ich auch krank.«
»Ach, herrje. Und ich bin schuld!«, rief mein Vater.
»Nee, Papa, bist du nicht. Ich habe das halbe Wochenende in der Kälte im Hangar gewerkelt. Da habe ich mich verkühlt. Wenn jemand die Schuld dafür hat, dann höchstens Sven. Aber nicht mal der kann was dafür, dass ich nicht auf die Kälte geachtet habe.«
»Ach, Hanne. Leg dich doch aufs Sofa.«
Ich nickte, ging ins Wohnzimmer und kuschelte mich in die alte Wolldecke, die auf dem Sofa lag.
»Ich habe dir auch schon das Gästebett bezogen«, rief mein Vater aus der Küche. Mehr hörte ich nicht, denn ich schlief sofort ein.
***
Es ging mir schlecht. Nicht nur wegen Sven. Ich hatte Fieber, höllische Kopfschmerzen und Husten. Wäre ich allein gewesen, hätte ich die letzten Tage wahrscheinlich weder gegessen noch ausreichend getrunken. Aber mein Vater umsorgte mich wie zu den Zeiten, als ich noch ein Kind war. Und manchmal fühlte ich mich tatsächlich wieder wie ein Kind. Ich träumte sogar mehrmals von meiner Mutter. Von den Urlauben, die wir zusammen unternommen hatten. Wir waren so glücklich gewesen. Bis zu dem blöden Unfall. Eigentlich hatte ich gedacht, dieses Glück mit Sven teilen und eine eigene Familie mit ihm gründen zu können. Doch auch das hatte nicht geklappt. Als ich an ihn dachte, versetzte es mir sofort einen Stich ins Herz. Meli mochte recht haben – in der letzten Zeit war er oft an die Decke gegangen und hatte seine schlechte Laune an mir ausgelassen. Doch ich liebte ihn immer noch und es verletzte mich zutiefst, was passiert war. So drehten sich meine Gedanken im Kreis, bis mir ganz schwindlig wurde.
Das Telefon klingelte. Mein Vater war nicht da, also angelte ich mir den Hörer. »Frantz«, krächzte ich.
»Hanne.«
»Sven? Was willst du?« Ich wollte das Gespräch wegdrücken, doch Sven rief: »Bitte, Hanne, nur ganz kurz!«
»Was?«
»Ich wollte dir nur sagen, ich werde am Wochenende meine Sachen aus der Wohnung räumen. Ich habe kurzfristig etwas anderes gefunden.«
»Ähm«, machte ich. Na prima. Und jetzt? So weit hatte ich in den letzten Tagen noch gar nicht gedacht. Was sollte ich jetzt machen? Die Miete war für mich allein doch viel zu hoch. Außerdem lief der Mietvertrag auf Sven. »Und ich?«
»Na, wir können den Vertrag auf dich ändern. Das sollte kein Problem sein.«
»Sven, ich kann mir die Miete aber allein nicht leisten!«
»Hanne, ich wollte nicht, dass es so endet, aber …« Ich legte auf. Was jetzt? Sven hatte das verbockt, sollte er sich um die Wohnung kümmern. Ich kochte innerlich. Vorsichtig stand ich auf. Ich war noch ziemlich wacklig auf den Beinen, aber es ging mir besser. Körperlich jedenfalls. Das Fieber war weg und die Kopf- und Gliederschmerzen auch. Ich rief Meli an.
»Meli, ich brauche eure Hilfe.«
»Hallo, Hanne. Wie geht es dir überhaupt?«
»Geht so.«
»Wie können wir dir helfen?«
»Ich muss meine Sachen aus unserer Wohnung holen.«
»Hat er dich rausgeschmissen?« Meli brauste schon wieder auf.
»Nein, er will ausziehen und die Wohnung mir überlassen. Das kann ich mir aber nicht leisten.« Außerdem wollte ich ganz sicher nicht in unserer gemeinsamen Wohnung leben, in der mich jede Ecke an Sven erinnern würde. »Kannst du mir helfen?«
»Ja, natürlich. Und wohin willst du deine Sachen tun? Hast du schon eine neue Bleibe?«
»Nein, aber ich dachte, ich frage Kristian, ob am Flugplatz noch eine Ecke im Westhangar frei ist. Da könnte ich vielleicht die Sachen lagern. Viele Möbel sind ja nicht von mir.«
»Okay … Wann willst du ausziehen? Geht es dir besser?«
»Ein bisschen schwach. Habt ihr heute Abend Zeit?« Ich musste Sven unbedingt zuvorkommen.
»Was, so schnell?«, rief Meli. Eine Weile sagte sie nichts. Bevor ich fragen konnte, ob sie noch da wäre, fügte sie hinzu: »Ich frage Sami und melde mich gleich wieder. In Ordnung?«
»Danke, Meli.«
Ich legte auf, straffte die Schultern und ging in die Küche, um mir erst einmal einen Kaffee zu holen. In den letzten Tagen hatte ich nur Kamillentee getrunken. Der Kaffee war zwar schon kalt, aber er half mir. Langsam spürte ich, wie meine Energie wiederkam. Als Nächstes rief ich Kristian an, einen der Flugleiter vom Flugplatz. Er bestätigte mir, dass es für eine kurze Zeit kein Problem sein sollte, ein paar Kartons am Flugplatz abzustellen, solange sich der benötigte Platz in Grenzen hielt. Und er hatte sogar Zeit, mir am Abend beim Ausräumen zu helfen.
Als ich meine Jeans anzog, stellte ich fest, dass ich in den letzten Tagen wirklich nicht viel gegessen hatte. Jedenfalls rutschte die Hose und ich musste mir einen Gürtel von meinem Vater suchen.
Sven war glücklicherweise nicht da, als ich die Wohnung betrat. Seltsam, sie kam mir total fremd vor. Sie roch auch fremd. Dabei war ich doch nur wenige Tage nicht hier gewesen. Ich stellte die Umzugskartons in den Flur, die ich aus dem Keller geholt hatte. Dann ging ich durch die Räume und es versetzte mir einen Stich. Wie konnte das alles nur so schnell passiert sein? Es war doch gar nicht lange her, dass ich hier mit meinem Freund glücklich war und Zukunftspläne geschmiedet hatte. Meinem Ex-Freund. Der Kloß in meinem Hals drückte noch mehr, als ich ins Schlafzimmer ging. Das Bett war nicht gemacht. Dabei war Sven doch so ein Ordnungsfanatiker. Vielleicht hatte er gar nicht hier geschlafen, sondern in Nürnberg? Und Marcus? Was war mit dem? Der musste sich doch bestimmt genauso beschissen fühlen wie ich. Armer Kerl, dachte ich wieder.
Ich nahm meinen Trecking-Rucksack, der auf dem Schlafzimmerschrank lag und warf ihn aufs Bett. Dann holte ich Kleidungsstück für Kleidungsstück aus dem Schrank und aus den Schubladen. Es war schon von Vorteil, wenn man nicht viel Krempel besaß. Nach der Kleidung kamen die Bücher und meine CDs. Was sollte ich mit den CDs machen, die wir uns gemeinsam gekauft hatten? Ich legte sie auf den Wohnzimmertisch. Der blieb eh hier, denn Sven hatte ihn damals mit in die Beziehung gebracht, so wie die gesamte Wohnzimmereinrichtung. Sollte er entscheiden. Ich legte meine Sachen in einen Karton, ebenso meine Luftfahrtkarten und Ordner. Bald waren alle Kartons voll, obwohl ich noch nicht einmal in der Küche oder im Bad gewesen war. Anscheinend besaß ich doch mehr, als ich gedacht hatte.
Es klingelte. Meli und Sami waren gekommen. Die beiden begrüßten mich mit einer herzlichen Umarmung und sahen mich fragend an. »Hanne, du siehst furchtbar aus. Geht es dir wirklich besser?«
»Geht schon, danke«, entgegnete ich und versuchte mich an einem Lächeln.
»Wir haben unseren Wagen unten. Sollen wir schon was mit runternehmen?«, wollte Sami wissen. Er stiefelte bereits durch die Wohnung und prüfte das Gewicht der Kartons, die ich zusammengepackt hatte. Nach dem letzten Karton nickte er zufrieden. »Alles rückenfreundlich verpackt«, sagte er. »Sehr gut.«
»Hanne, das sieht hier voll traurig aus. Wie schaffst du das?«, fragte Meli mit einem Blick auf die Wände, von denen ich meine Bilder bereits abgehängt hatte.
Ich schluckte. »Geht schon. Aber ja, in mir drin sieht es nicht besser aus als hier. Leere Wände, ausgeräumte Regale … Das trifft es ziemlich gut.« Ich ging in die Küche. »Ich fürchte, dass ich doch mehr besitze, als ich dachte. Die Kartons reichen wohl nicht. Habt ihr noch welche?«
Meli schüttelte den Kopf. »Die hat damals alle mein Bruder mitgenommen. Ich habe höchstens Wäschekörbe. Aber ich könnte kurz zum Baumarkt fahren und welche besorgen. Soll ich?«
Ich zuckte nur mit den Schultern und machte eine Schublade nach der andern auf. »Was mache ich mit den Sachen, die wir uns gemeinsam gekauft haben?«
Meli wusste auch keinen Rat. »Irgendwie aufteilen?«
»Aber wie?« Ich ließ mich verzweifelt auf einem der Küchenstühle nieder. »Diese Schale ist noch von meiner Mutter. Die kommt auf jeden Fall mit. Und die Flieger-Tassen sind auch meine. Das da kann Sven behalten.« Ich zeigte auf ein Kaffeeservice und schüttelte mich. »Das haben wir mal zu Weihnachten von seinen Eltern bekommen. Schrecklich, was?«
Ich nahm noch ein paar Dinge aus den Schränken und stellte sie zusammen. Aus den Vorratsschränken holte ich mir nur meine Teevorräte und mein Lieblingsmüsli. Das mochte Sven sowieso nicht. Im Badezimmer sammelte ich meine Duschsachen und ein paar weitere Habseligkeiten ein und packte alles zusammen in den Wäschekorb, der im Bad stand. Inzwischen war auch Kristian gekommen. Er hatte noch ein paar Umzugskartons in seinem Keller gefunden und vorausschauenderweise mitgebracht.
»Fertig«, sagte ich irgendwann.
»Wie, das ist alles? Mehr ist nicht von dir?«, fragte Meli erstaunt.
»Mehr will ich nicht. Soll er sehen, was er mit dem Rest macht. Ist mir egal. Lass uns gehen. Sven wird sich schon melden, wenn ich etwas vergessen haben sollte.«
Ich blickte noch einmal zurück. Hatte ich wirklich alles, was mir wichtig war? Ich schlug mir an die Stirn, rief: »Ach, der Balkon!«, und sprintete noch einmal durch die Wohnung. Zurück kam ich mit einem alten Rattansessel, dazu passendem Tischchen und einem Blumenregal. »Von meiner Oma!«, erklärte ich. Kristian und Sami nahmen die restlichen Möbel in Empfang und brachten sie zum Auto.
Mir blieb nur noch, den Wohnungsschlüssel von meinem Schlüsselbund abzupfriemeln und endgültig auf die Flurkommode zu legen. Dann nickte ich Meli zu, schob sie aus der Wohnung und zog die Tür hinter mir ins Schloss.
»Fertig. Lass uns aufbrechen. Ich habe keine Lust, Sven doch noch zu begegnen.«