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Sven schlief und schlief. Irgendwann stand ich auf, kochte Tee und kuschelte mich mit meiner Tasse aufs Sofa. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne schien fröhlich durch das Fenster. Ich überlegte. Sven würde noch eine Weile schlafen. Dann könnte ich genauso gut zum Flugplatz fahren und eine kleine Runde fliegen. Mein Mofa stand zwar noch neben dem Hangar, aber ich würde einfach Svens Auto nehmen. Weil es in der letzten Zeit so stürmisch gewesen war, war es eine Weile her, dass ich in der Luft gewesen war. Und eben hatten die Sonnenstrahlen, die meine Nase getroffen hatten, sofort wieder dieses Kribbeln ausgelöst. Es kam immer, wenn ich dringend in die Luft musste. Außerdem sollte es in wenigen Tagen schon wieder vorbei sein mit dem schönen Wetter.

Ich nahm mir meine Luftfahrtkarte, die griffbereit auf dem Sofatisch lag und entfaltete sie ein Stück. Vielleicht sollte ich sie nachher in ihre Schublade zu den anderen Karten räumen. Ein bisschen mehr Ordnung schadete wirklich nicht. Mit dem Zeigefinger fuhr ich langsam über die Karte, obwohl ich die Gegend über Franken in- und auswendig kannte. Wohin könnte ich fliegen? Mit einem Flugzeug war die »große, weite Welt« viel näher. In weniger als vier Stunden war man auf Rügen. Mit dem Auto brauchte man doppelt so lang – wenn es keinen Verkehr gab. Das Meer … Sobald das Wetter etwas stabiler war, musste ich mit Sven unbedingt mal wieder ans Meer fliegen. Ich geriet ins Träumen.

Die Leidenschaft für die Fliegerei hatten meine Eltern mir vererbt. In der Luft konnte ich schon immer alle Sorgen vergessen. Wenn ich flog, war ich glücklich und fühlte mich frei. Es war mir egal, ob ich mit einem Segelflugzeug unter den Wolken »herumturnte« und sie besang, mir neue Aufwinde zu bescheren oder ob ich in einem Motorflugzeug saß. Mit dem konnte ich auch über die Wolken steigen – dorthin, wo die Sonne immer scheint, egal, wie grau und verregnet es am Boden ist.

Glücklicherweise war es nicht grau und verregnet und auch nicht mehr so windig wie am Vortag. Der Windsack, der hinter der Landebahn am Waldrand angebracht war, hing fast etwas verschlafen nach unten. Doch auch wenn die Sonne heute vom Himmel schien, war die Luft kalt. Mein Atem dampfte, während ich die Hallentore aufschob und unser Ultraleichtflugzeug aus der kleinen Halle zog. Sie lag direkt neben dem Vorbereitungsraum und dem Büro unserer Flugschule und beherbergte neben unseren Flugzeugen noch zwei Privatflugzeuge. Der Erlanger Flugplatz war ein kleiner Sportflugplatz mit einem kleinen Tower, einem Restaurant und drei Hallen. Der alte Hangar, in dem ich meinen Doppeldecker restaurierte, lag etwas abseits auf der anderen Seite des Platzes.

Außer unserem Flugleiter Kristian und mir hatten sich an diesem Morgen nur ein paar Krähen auf den kleinen Flugplatz verirrt. Sie liefen neben der asphaltierten Landebahn über die Wiese und krakeelten.

Das kleine Ultraleichtflugzeug sträubte sich zunächst, als ich den Motor starten wollte. Ihm war wohl auch noch kalt. »Komm, du schaffst das«, sagte ich leise, rieb meine Hände aneinander, zog noch einmal am Choke und gab etwas mehr Gas. Endlich brummte der Motor auf. »Na, bitte«, freute ich mich.

Ich überprüfte die einzelnen Anzeigen und drückte dann auf den Funkknopf. »Guten Morgen, Kristian, die Delta-Mike-India-Mike-India und ich wollen ganz dringend in die Luft kommen«, sagte ich etwas flapsiger als sonst.

»Na, Hanne«, antwortete unser Flugleiter fröhlich. »Dann will ich euch daran nicht hindern. Die Piste Null-Neun ist offen.«

»Alles klar, Null-Neun«, wiederholte ich.

Nachdem ich auf die Piste gerollt war, gab ich Vollgas, zog etwas am Steuerknüppel und erhob mich im Nu in die Luft. Dieser Moment war immer etwas ganz Besonderes. Egal, wie viele hundert Stunden ich bereits geflogen war, wie oft ich in meinem Leben schon ein Flugzeug gestartet hatte – dieses besondere Gefühl begleitete mich. Alles andere, was am Boden passierte, war sofort egal. Auch Svens schlechte Laune. Es gab nur noch den Himmel und die Wolken um mich herum. Die Erde unter mir wurde immer kleiner und alle Probleme, die dort unten sein konnten, ebenso.

Zunächst flog ich an der nördlichen Waldkante des Tennenloher Forst entlang Richtung Eckental, weg von der Kontrollzone des Nürnberger Flughafens. Die Laubbäume waren noch kahl. Nicht mehr lange und es würde sich immer mehr frisches Grün zwischen das Braun des Winters mischen. Darauf freute ich mich bereits. Die Wolken waren an diesem Morgen nicht besonders hoch. Ich kurvte einmal um ein besonders hübsches Zuckerwatte-Exemplar herum. Bald stieg ich über die Wolken, die wie Wattebausche vereinzelt in der Luft hingen und es wurde empfindlich kalt im Cockpit. Ich stellte die Heizung an, die sofort warme Luft in dem kleinen Zwei-Mann-Cockpit verteilte. Einmal quer über die Fränkische Schweiz ging es weiter Richtung Oberpfalz, dann zurück über Ebermannstadt und den Flugplatz Burg Feuerstein. Hier war eine große Flugschule, an der ich schon einige Lehrgänge gemacht hatte, Streckenflug, Kunstflug und solche Dinge. Ab Ostern hatte ich mich für zwei Wochen als Schlepppilot einteilen lassen, um die Segelflugzeuge an den Himmel zu bringen. Ein anstrengender Job, wenn viel los war, aber ich freute mich riesig darauf. Über Funk grüßte ich den Feuersteiner Flugleiter, dann nahm ich Kurs auf das Walberla und flog zurück nach Erlangen.

Als ich zu Hause ankam, fühlte ich mich pudelwohl. In der Wohnung war es still und ich lugte ins Schlafzimmer. Sven schlief immer noch tief und fest. Meinen Zettel mit der Nachricht, dass ich zum Flugplatz gefahren war, hatte er gar nicht gesehen. Die unerwartete Freizeit nutzte ich, um ein wenig aufzuräumen.

Dann setzte ich mich an die Unterlagen, die mein Vater mir am Vortag gegeben hatte. Doch mit jeder neuen Rechnung, die ich in die Hand nahm, wurde ich nervöser. Seit letztem Jahr hatten wir in der Flugschule zwar drei Maschinen zur Verfügung, aber es waren nur wenige neue Flugschüler dazugekommen. Und jetzt im Winter war natürlich noch weniger los. Dann waren Fixkosten das Schlimmste. Die Versicherungen, die Instandhaltungskosten für die Flugzeuge, die Pacht für die Halle, all das konnte so eine kleine Flugschule auffressen.

Bei unserer Cessna war bald eine Motorgrundüberholung fällig und auch bei unserem Ultraleichtflugzeug, einer C42, standen Wartungsarbeiten an. Eine weitere C42 gehörte Werner, einem unserer Fluglehrer. Auch bei Werners Maschine mussten wir uns an den Kosten beteiligen. Dafür konnten wir die Maschine für die Flugschule benutzen – so war der Deal. Ich kam aus dem Stöhnen gar nicht mehr heraus und die Entspannung des vormittäglichen Fluges verflog im wahrsten Sinne des Wortes. Wie sollten wir das alles bezahlen? Und wieso hatte mein Vater mir nicht früher schon erzählt, wie schlimm es um die Finanzen stand? Ach, Papa, dachte ich. Leidenschaft für die Fliegerei reichte nicht, um eine Flugschule am Laufen zu halten.

Um nicht weiteren Grübeleien zu verfallen, beschloss ich, eine Pause zu machen und nach Sven zu schauen. Der schlief schon viel zu lange. Das würde, wenn er dann wach war, seine Laune nicht gerade heben. Und zu meinem Vater musste ich auch noch. Ich schob die Papiere beiseite, stand auf und ging ins Schlafzimmer.

»Hallo, Schatz. Was macht dein Kopf? Besser?«, fragte ich leise und strich Sven sanft über den Kopf.

»Hmgrpf …«, machte er.

Ich kuschelte mich an meinen Freund. Er roch noch immer nach Alkohol. »Du, Schatz, ich muss gleich zu meinem Vater. Kaffee ist in der Küche.«

Langsam wurde Sven wach. »Wie, zu deinem Vater?«, brummte er. »Ich dachte, du willst erst am Nachmittag zu ihm.«

Ich schlang die Arme um Sven. »Ja, genau. Guck mal auf deine Uhr. Es ist gleich drei.«

»Hanne!«, maulte Sven. »Warum hast du mich denn nicht früher geweckt?«

»Habe ich ja versucht. Mehrfach. Dann habe ich erst einmal aufgegeben … Du, die Finanzen der Flugschule sind viel schlimmer, als ich dachte. Willst du vielleicht mitkommen?«

»Nee, danke«, brummte Sven. »Das letzte, wofür ich jetzt einen Kopf habe, sind irgendwelche Finanzen deines Vaters. Oh Mann, hast du eine Kopfschmerztablette für mich?«

Sven war noch nicht ganz wach und hatte Kopfschmerzen. Na prima. Meinen bissigen Kommentar schluckte ich hinunter. Stattdessen küsste ich ihn auf die Stirn und flüsterte: »Neben der Wasserflasche auf deinem Nachttisch.« Dann krabbelte ich aus dem Bett. »Bis nachher, Sven. Ich komme nicht so spät.«

»Hmgrmf«, machte Sven erneut.

Wenn Sven Kopfschmerzen hatte, war nicht mit ihm zu spaßen. Das war noch schlimmer als Hunger. Ich ging leise aus dem Zimmer und zog mir Jacke und Stiefel an. Mit den Papieren der Flugschule, meinem alten Laptop und gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Weg zum Bus, um zu meinem Vater zu fahren.

»Papa, warum hast du mir nicht gesagt, wie schlimm es um die Flugschule steht?«, fragte ich eine halbe Stunde später aufgebracht. Ich saß bei meinem Vater auf dem Sofa und ging die einzelnen Abrechnungen mit ihm durch.

»Hm«, machte Rudi und strich sich mit den Fingern durch den Bart. »Hmja. Du hast doch deine eigenen Sorgen.«

»Ach, Papa! So ein Blödsinn! Ich hätte schon viel früher was unternommen, wenn du mir etwas gesagt hättest.« Mein Vater sah mich traurig an. Als ich seinen Blick sah, nahm ich ihn in den Arm. »Entschuldige, Papa. Ich will doch nur nicht, dass wir die Flugschule aufgeben müssen.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er sagte: »Du hast ja recht. Aber du hast selbst so viel um die Ohren, Hanne. Da sollst du nicht so viel für deinen alten Vater machen!«

»Dann überschreibst du mir einfach die Hälfte der Flugschule. Dann mache ich es nicht mehr für dich, sondern für mich«, sagte ich scherzhaft und fügte hinzu: »Und außerdem helfe ich dir doch gerne.«

»Hanne, solange die Flugschule sich finanziell nicht trägt, überschreibe ich dir gar nichts. Das letzte, was du von mir erben sollst, sind Schulden«, brummte mein Vater. Ich wollte etwas entgegnen, aber er setzte sich aufrechter, sah mich direkt an und fragte neugierig: »Woran hast du denn gedacht?«

Ich brauchte einen Moment, ehe ich den Themenwechsel verstand. »Na ja«, sagte ich. »Wir brauchen dringend mehr Flugschüler und mehr Gäste.«

»Ja, natürlich. Aber schwierig, jetzt im Winter. Im Frühjahr wird es sicher wieder besser.«

»Papa, das dachtest du letztes Jahr auch. Doch wir hatten längst nicht genügend Flugschüler. Und erst recht nicht genügend Leute, die Gastflüge gebucht haben. Und jetzt kriegen wir noch weniger Geld durch Charter rein. Wenn das so weitergeht, müssen wir die Lima-Echo oder die Mike-India verkaufen.«

Mein Vater nickte traurig.

»Wir müssen was machen, um bekannter zu werden«, fuhr ich fort. »Zuerst müssen wir die Webseite der Flugschule auf Vordermann bringen.« Ehrlich gesagt hätten wir das schon längst machen müssen, nur hatte mir bisher die Zeit gefehlt. Und ich hatte die finanzielle Schieflage wirklich unterschätzt. »So jedenfalls findet uns niemand. Das ist ganz wichtig, dass wir eine gute Internetpräsenz haben, Papa. Vielleicht können wir auch was in den sozialen Medien machen. Auf Facebook oder Instagram.«

Mein Vater runzelte die Stirn. Soziale Medien waren nicht seine Welt. »Hanne, wenn du das sagst, dann machen wir das. Aber du weißt, dass ich mich da nicht auskenne.«

»Vielleicht kann Sven mal schauen. Oder Marcus. Die kennen sich bestimmt mit so etwas aus.«

Und so diskutierten wir noch eine ganze Weile, gingen die Rechnungen durch und überlegten, was wir machen könnten. Für den nächsten Sonntagnachmittag setzten wir eine Art »Brainstorming« mit Werner und Marcus an. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht gemeinsam hinbekämen. Schließlich hatten die anderen Fluglehrer auch ein Interesse daran, dass sie weiter schulen konnten – auch, wenn sie das in ihrer Freizeit machten.

Als ich auf den Gehweg trat, schwirrte mir der Kopf vor lauter Finanzen. Ich schnupperte in die Abendluft. Es roch nach Frühling. Von meinem Vater zum Flugplatz war es nicht weit und ich beschloss, mein Mofa zu holen.

Und Frösche können fliegen

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