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Lima, 14 Tage vorher

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Die frühen Morgenstunden waren ein sehr wichtiger Moment für Claudio. Gerade dann vermochte er am besten nachzudenken und Gedanken zu ordnen, die ihm noch im Schlaf gekommen waren.

Den Abend vorher hatte er mit seinem Freund Luis und einem befreundeten Mitarbeiter des Nationalen Instituts für Kulturangelegenheiten, kurz INC, verbracht.

Sein Verstand jedoch war an diesem Morgen irgendwie durcheinander. Er versuchte sich zu entspannen, spürte jedoch eine aufkommende Verkrampfung seiner Muskeln in Beinen und Rücken. Seine Faust ballte sich vor überschüssiger Energie, er brummte vor sich hin und rollte missmutig aus seinem Bett. Freude und Anspannung über ein neues Abenteuer begannen zunehmend zu verblassen. Es kostete ihn merkliche Mühe, in ein normales Leben zurückzukehren. Er fühlte eine innere Leere, die ihn einfach nicht mehr verlassen wollte. Er klammerte sich an den Glauben, dass seine Unzufriedenheit nicht von jenen Ereignissen abhing, auch wenn es noch so schwer war, sich selbst davon zu überzeugen.

Er wohnte in einer Seitenstraße unweit der Plaza Grau im historischen Stadtkern der peruanischen Hauptstadt Lima. Neben alteingesessenen Bars, Restaurants und Kaffeehäusern reihten sich hier im Stadtteil Barranco unzählige historische Bauwerke aneinander, die noch aus der Kolonialzeit der Spanier stammten. Für ihn war es nah genug bis zum eigentlichen Stadtzentrum von Lima aber auch wiederum weit genug davon entfernt, um nicht von der Hektik der brodelnden Metropole belästigt zu werden.

Rasch zog er sich an und kletterte nach unten um die Morgenzeitung von der Türstufe aufzuheben. Im zweiten Stockwerk befanden sich neben Roger Peters Schlafzimmer noch ein Gästezimmer, ein Bad und eine liebevoll von ihm zusammengestellte kleine Bibliothek. Den ersten Stock teilten sich die Küche und das geräumige Wohnzimmer mit einer schweren Couchgarnitur aus Leder, einem wuchtigen Esstisch mit acht passenden Stühlen, antiken Holzregalen und Schränken, einem Sekretär sowie einer auffälligen Standuhr.

Eine feine Auswahl präkolumbischer Keramiken aus allen nur denkbaren Gegenden Südamerikas bereicherten seine Vitrinen und Regale.

Während der etwas ungemütlicheren Wintermonate Juli bis September versprach ein gusseiserner Kaminofen eine angenehme Wärme. Für eine gemütliche Beleuchtung sorgten antike Lampen aus buntem Tiffanyglas mit Bleieinfassung.

Claudio vermied es zunehmend, mit dem PKW in das Stadtzentrum von Lima zu fahren. Für kleinere Einkäufe oder Ausfahrten in die nähere Umgebung vertraute er auf sein klassisches MG-B Cabrio aus den 60-er Jahren, dessen Motor nach wie vor, wie eine alte Singer Nähmaschine treu seinen Dienst leistete.

Der zusammengefaltete Klumpen auf dem Ledersofa war sein Kumpel Luis. Die automatische Kaffeemaschine auf der Rückseite seiner Küchenbar hatte bereits ein einigermaßen trinkbares Gebräu fertiggestellt, als sich Claudio an den Küchentisch setzte, um einen Blick in die Tageszeitung zu werfen.

Luis Schnarchen drang von dem Sofa aus dem Wohnzimmer zu ihm herüber. Sein tiefgezogener, rasselnder Atem hörte sich an wie das Grunzen eines größeren Tieres. Es folgte ein abruptes Stottern und dann war er wach, gähnte und streckte sich ausgiebig.Claudio grinste vor sich hin.

„Guten Morgen! Wie geht es dir am ersten Tag deines restlichen Lebens?“

„Meine Güte“, räusperte sich Luis. „Wie spät ist es denn?“

Claudio schaute auf seine Armbanduhr.

„Gleich halb acht.“

„Ach, noch so früh?

Claudio versuchte zu lächeln. Luis erhob sich von dem Sofa und trottete in Richtung Gästebadezimmer mit der kleinen Dusche in den hinteren Räumen des Erdgeschosses, während Claudio eine neue Tasse Kaffee aufsetzte, läutete das Telefon.

„Senor Guerrero?“, fragte eine unbekannte weibliche Stimme.

„Si, si! Hier ist Claudio Guerrero. Womit kann ich dienen?“

„Bitte warten Sie einen Moment. Direktor Gilberto Leon möchte Sie sprechen.“

Eine Musik ertönte. Die Dame hatte ihn in eine Warteschleife gesetzt, noch ehe er sie fragen konnte, ob er richtig gehörte hatte. Jedoch keine Minute später war Leon bereits in der Leitung.

„Hallo Ihr beiden, ich hoffe ich störe nicht.“

„N…nein, ganz und gar nicht“, antwortete Claudio verdutzt. Er hielt noch den Kaffeelöffel in der linken Hand.

Auch wenn er Senor Gilberto Leon nicht persönlich kannte, so war er doch sehr vertraut mit dem Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit beim INC, Reynaldo Garcia. Insgeheim verbannt sie eine gemeinsame Leidenschaft: ANTIQUE KULTUREN. Bereits öfters hatten sie zusammengehockt und Erfahrungen sowie Gedanken über prä-kolumbische Kulturen ausgetauscht. Und genau so ein Treffen hatte gestern Abend stattgefunden.

„Was kann ich für Sie tun, Senor Leon?“

„Immer direkt zum Geschäft kommend, das gefällt mir“, entgegnete Leon, als ob es Claudio gewesen wäre, der den Anruf getätigt hatte.

„Also gut, kommen wir gleich zur Sache. Ich hab da vielleicht eine Aufgabe für Sie. Etwas, das genau in Ihrem Interesse liegen dürfte. Mir ist da gerade ein großer Umschlag auf den Schreibtisch geflattert. Allerdings kann ich diese Angelegenheit unmöglich am Telefon besprechen.“

„Dann lassen Sie doch wenigstens raus, um was es geht!“ Claudio wollte es jetzt genauer wissen.

„Das geht leider nicht. Sagen wir, Sie kommen um drei Uhr in mein Büro, einverstanden?“

„Ich würde eher sagen, nein!“

Er war im Prinzip an einem Treffen mit Leon interessiert, wollte sich aber nicht gleich von Anfang an dessen Willen beugen.

„Gegenvorschlag. Was halten Sie von achtzehn Uhr in der Posada del Angel, bei Elias? Dann dürfen Sie mich gerne zu einem Glas Wein einladen, während wir uns unterhalten.“ Leon zögerte einen Moment, Luis zog eine Grimasse.

„Sehr gut, Senor“, sagte Leon ohne lange zu überlegen. „Sie scheinen ja zu wissen, was Sie wollen. Sagen wir also um sechs in der Posada del Angel. Claudio stimmte zu und legte den Hörer auf. Ratlos schaute er auf seinen Freund.

„Kannst Du dir einen Reim darauf machen Luis? Ich möchte wirklich wissen, was das nun zu bedeuten hat? Der große Direktor Leon bittet mich um eine Audienz.“

Luis hockte über seinem Kaffeebecher und dachte nach. Auch wenn es noch verdammt früh dafür schien.

„Mir scheint der gute Reynaldo hat da ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert“, sagte er schließlich.

„Du meinst das Gespräch von gestern Abend?“

Noch während er seine eigene Tasse leerte, bemerkte Claudio, dass die inneren Anspannungen aus den frühen Morgenstunden auf einmal verschwunden waren.


Das urgemütliche Lokal Posada del Angel existiert schon seit vielen Generationen und ist seit seiner Entstehung durch unzählige Umbau- und Restaurationsarbeiten stetig verändert worden. Sein aktueller Besitzer ist ein argentinischer Kunstsammler namens Elias. In der heutigen Gegenwart erinnern die Räumlichkeiten stark an eine Galerie, deren Wände mit antiken Ölgemälden, Masken und Fotografien geschmückt sind. Überall stehen antike Möbelstücke und Sitzgelegenheiten aus den unterschiedlichsten stilistischen Epochen herum.

Claudio setzte sich auf einen der Luis XIV Stühle an dem kleinen, runden Ecktisch mit den aufwendigen Einlegearbeiten und bestellte einen chilenischen Rotwein. Elias stand hinter der geräumigen Holzbar und winkte ihm zu. Dabei deutete er auf die Einganstür. Pünktlich wie die Maurer sah Claudio einen vornehm gekleideten Mann eintreten. Gilberto Leon.

Gewohnt selbstsicher passierte er die alte rote Telefonkabine aus England, welche Elias zu Dekorationszwecken aufgestellt hatte und ging auf das kleine Tischchen in der Ecke zu.

„Senor Guerrero, nehme ich an?“

Gilberto Leon lachte über seinen müden Scherz und streckte ihm eine Hand entgegen. Er war etwa Anfang fünfzig und komplett glatzköpfig. Sein Gesicht wurde von einer meiselartigen Nase dominiert, welche man bei jeder anderen Person als charakteristisch bezeichnet hätte. Bei ihm wirkte sie allerdings nur außergewöhnlich dick. Trotzdem besaß er ein weiches Kinn und abgerundete Wangen, was ihm eine offene und gemütliche Ausstrahlung verlieh. Jedoch als Claudio ihm die Hand schüttelte, bemerkte er die harten Augen hinter seiner in Gold gefassten Sonnenbrille.

„Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Senor Leon.“

„Bitte nennen Sie mich einfach Gilberto.“ Leon zeigte ein weiteres Lächeln und offenbarte dabei strahlend weiße Zähne!

Er bestellte für sich ein Gin-Tonic und machte zunächst auf Small-Talk. Anscheinend gefiel er sich in der Rolle des Spaßvogels und bemühte sich nach besten Kräften ihr Zusammensein in eine lockere Veranstaltung zu verwandeln.

„Wir wollen uns doch am besten gleich aneinander gewöhnen“, meinte er, ohne das Claudio überhaupt eine Ahnung davon hatte, was hier eigentlich gespielt wurde.

„Ich habe so ein Gefühl, dass wir für eine lange Zeit zusammenarbeiten werden“, fügte er noch hinzu und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Der hat vielleicht Nerven.

„Erzählen Sie mir bitte, was Sie über Paraiba wissen“, sagte er ohne jegliche Vorwarnung.

Claudio schluckte. Die Frage kam für ihn völlig überraschend. Aber er wollte sich keine Blöße geben.

„Um zu beginnen“, antwortete er. „Dabei handelt es sich um einen Bundesstaat im Nordosten Brasiliens. Die Hauptstadt ist Joao Pessoa.“ Leon nickte zustimmend.

„Sagt Ihnen der Name Pauso Alto etwas?“, fragte er weiter. Claudio dachte nach und konnte zunächst die Gründe für Leons merkwürdige Fragerei nicht verstehen.

„Liegt im Herzen von Paraiba und war Anfang der siebziger Jahre Schauplatz einer der aufwendigsten Expeditionen der brasilianischen Archäologie“, antwortete er wahrheitsgemäß. Und das war auch schon alles, was er über die besagte Gegend zu berichten wusste. Leon schien hoch erfreut zu sein.

„Das trifft genau den Kern“, sagte Leon anerkennend und nickte abermals mit seinem Kopf.

„Und dennoch lebten hier die frühesten Bewohner des amerikanischen Kontinents“, ließ er endlich die Katze aus dem Sack. „Der brasilianische Nordosten mit dem "Monument Valley", im "Sertão Central" von Ceará, steckt voller überraschender Entdeckungen und hält ein ganzes unterirdisches Netz von Höhlen, Seen, Canyons und riesengroßen Felsbrocken, wie zum Beispiel den "Pedra do Letreiro" bereit, auf dem man Inschriften und Zeichnungen von archäologischem Wert erkennen kann. In der Gegend um "Santana do Cariri" konzentrieren sich einige der wichtigsten Fundstätten der Welt für vorgeschichtliche Fossilien. Dort hat man Prähistorische Pflanzen und Dinosaurier entdeckt. Vergleichsweise fantastisch gut erhalten!“

Diese Informationen ließ Leon zunächst bewusst auf Claudio wirken. Fast im Zeitlupentempo hantierte er an einer ledernden Aktentasche. Zum Vorschein kam ein gelber Manila-Umschlag dem Leon einige Fotokopien entnahm und diese Claudio reichte.

„Angeblich sollen Phönizier und Kelten bereits Tausende Jahre vor Christus die „Neue Welt“ bereist haben.“

Claudios Blick fiel auf eine der Kopien, die eine Art von Steinplatte mit Schriften in einer für ihn fremden, antiken Sprache zeigte. Leon deutete auf eine Seite, die den Stempel des INC trug und in spanischer Sprache verfasst war.

„Lesen Sie das“, sagte er in bestimmendem Tonfall.

„Es handelt sich um eine übersetzte Abschrift des eingravierten Textes auf der Steinplatte.

Wir sind Söhne von Kanaan und kommen von Sidon, der Stadt des Königs. Der Handel hat uns bis zu diesem Land der Berge gebracht. Wir haben einen Jüngling geopfert, um den Unmut der Götter abzulenken, in dem 19. Jahr des Hiram, unseres mächtigen Königs. Wir begannen unsere Reise in Tyros und befuhren mit zehn Schiffen das Mittelmeer. Zwei Jahre lang haben wir auf dem Meer verbracht und ein Land umfahren, das Ham genannt wird. Dann wurden wir durch einen Sturm von unseren Gefährten getrennt, schließlich sind wir hier angekommen, vierzehn Männer und fünf Frauen, an einem Strand, den ich, Methuastart der Admiral, in Besitz genommen habe. Die Götter seien uns gnädig.

Jetzt war es wieder da. Claudio spürte die Veränderung in seiner Magengegend. Das Kribbeln, dem eine zunehmende Nervosität folgte. Er war wieder ganz der Alte.

„Ich hoffe, dass ich zunächst Ihr Interesse wecken konnte“, meinte Leon etwas scheinheilig und blickte auf Claudio, der sich wie das Opfer in einer Falle vorkam. „Den Rest gibt es morgen in meinem Büro! Ich muss jetzt los, denn ich habe noch ein paar wichtige Termine heute.“ Sprachs und verabschiedete sich schnell von Claudio, der verdutzt dem hinauseilenden Direktor des INC nachschaute.

Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Elias zündete in seinem Lokal Kerzen und Räucherstäbchen an. Ein Gitarrenduo spielte auf einer kleinen Bühne sanfte Boleroklänge. Es war Zeit, den Abend ausklingen zu lassen und sich auf den Heimweg zu begeben. Die Worte der Söhne von Kanaan rauschten ihm noch durch den Kopf, als er den Aufstieg zu seinem Schlafzimmer abbrach und sich auf dem gleichen Klappsofa zur Ruhe legte, wie sein Freund Luis am Abend vorher.


Das Institut für Kulturangelegenheiten INC beherbergte seine Büros in dem Gebäude des Museums de la Nation im Stadtteil San Borja. Vor dem Haupteingang traf er auf Reynaldo Garcia.

„Hallo Claudio, was führt dich denn zu dieser frühen Stunde hierher?“, begrüßte ihn der Chef der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit am folgenden Morgen ausgesprochen freundlich.

„Ich bin mit deinem Direktor verabredet. Könntest du mich bitte zu seinem Büro begleiten?“

„Nichts leichter als das“, grinste Reynaldo und blickte mit einer Mischung aus Häme und Neugier auf seinen Bekannten.

Gilberto Leon befand sich in prächtiger Stimmung. Als Claudio sein Büro betrat, war er gerade im Begriff exotische Fische in einem Süßwasseraquarium mit irgendwelchen Insekten zu füttern. Fasziniert betrachtete er, wie sich die bunte Schar auf ihre Mahlzeit stürzte. Leon deutete auf zwei mittelgroßen Piranhas und meinte: „Mit Insekten allein kann man diese beiden Prachtexemplare freilich nicht zufriedenstellen.“

Dann ging er zu einem alten Aktenschrank, griff nach ein paar Fotos und legte sie nebeneinander auf seinem breiten Schreibtisch aus. Ohne eine Erklärung abzugeben forderte er seinen Besucher auf, sich die Aufnahmen zunächst genauer anzuschauen.

„Mm…Die sehen aus, wie Luftaufnahmen oder Satellitenfotos“, argumentierte der nach einer längeren Weile des Betrachtens.

„Richtig“, freute sich Leon wie ein Schneekönig.

„Genauer gesagt handelt es sich um längst archivierte Luftaufnahmen der „Newmont Mining Gesellschaft. Entstanden sind sie beim Überfliegen der Yanacocha Goldmine in der Nähe von Cajamarca. Damals hatte man die Ausmaße der Mine von der Luft aus bestimmen wollen, da man nach weiteren Förderstellen suchte. Da die Fotos jedoch keine nennenswerten Ergebnisse hervorbrachten, beließ man es bei dem einen Versuch und sie verschwanden unbeachtet in den Akten der Minengesellschaft.“ Leon breitete weitere Aufnahmen vor den Augen von Roger Peters aus. Sie zeigten Details aus der Umgebung des Flusses Maranon bis hinüber in die Region von Chachapoyas. Claudio hatte noch nie solch detaillierte Darstellungen gesehen. Sie ähnelten Röntgenbildern, die einen tiefen Einblick in die Erdoberfläche erlaubten. Die einzelnen Erdschichten erschienen als Schatten in verschiedenen Grautönen und Hohlräume waren als weiße Linien dargestellt, von denen sich einige überlappten. Das Grundwasser erschien in Form von hellen, immer wieder kehrenden Kreisen.

„Als ich zum ersten Mal von diesen Aufnahmen hörte, habe ich mir die gleichen Fragen gestellt.“ Leon fiel es schwer seine Aufregung zu verbergen.

„Faszinierend!“, meinte Claudio, hatte aber keine Idee, wohin Leon mit seinen Ausführungen überhaupt zielen wollte. Und trotzdem. Er konnte sich nicht helfen. Das was er da vor sich sah, beeindruckte ihn schwer.

„Ich verstehe nur nicht, was ich damit zu tun habe“, fragte er den Direktor des INC.

„Lassen Sie mich Ihnen noch dies hier zeigen und dann sagen Sie mir einfach, was Sie davon halten.“

Leon zog ein weiteres Foto aus dem Aktenschrank und reichte es ihm. Claudio überflog die Aufnahme mit einem geübten Blick, doch er bemerkte zunächst keinen Unterschied zu den Aufnahmen, die er zuvor betrachtet hatte.

„Was Sie hier sehen können, ist – wie man glaubt – die unmittelbare Umgebung von Chachapoyas“, belehrte ihn Leon.

Claudio verstand und dann sah er sie selbst: Unzählige kreisrunde Strukturen und pyramidenartige Verformungen direkt unterhalb der Erdoberfläche. Gemäß dem Maßstab der Aufnahmen mussten sie mitten im tropischen Regenwald liegen.

Anstatt seiner Fantasie freien Lauf zu lassen, zwang sich Claudio dazu, die Aufnahmen immer wieder auf ein Neues zu begutachten. Aber die Wahrheit lag vor seinen Augen. Sein Herz raste und seine Handflächen schwitzten, als die Aufregung von ihm Besitz ergriff. Solch eine Entdeckung machte man vielleicht einmal im Leben und Leon servierte ihm alles auf einem goldenen Tablett. Begraben im Niemandsland von Chachapoyas lagen wahrscheinlich die gewaltigen Überreste einer legendären Hochkultur, die bereits vor Tausenden von Jahren aufgehört hatte zu existieren. Er hob seinen Blick und schaute Leon direkt in die Augen. Sein erstaunter Ausdruck bestätigte dessen Vermutung.

„Einige unserer Leute sind zu dem gleichen Ergebnis gekommen, wie Sie, Herr Guerrero. Und dies könnte sogar bedeuten, dass die Geschichte der Menschheit neu definiert werden muss. Wir wissen allerdings nicht in welcher Tiefe oder wo genau sich die seltsamen Konstruktionen befinden. Die Gegend um Chachapoyas ist unwegsam und so gut wie nicht erforscht. Wir beabsichtigen einen Mann an die Stätte zuschicken, der das Gebiet absteckt und daraufhin untersucht, ob dort irgendwelche Schätze im Verborgenen liegen.“

Claudio versuchte die entsprechenden Möglichkeiten zu analysieren. Die pragmatische Seite an ihm wusste, dass die Chance mehr ein Wunschdenken war, es könnte sich bei den Abbildungen auf den Fotos tatsächlich um antike, von Menschenhand erstellte Bauwerke handeln. Und falls es dort tatsächlich alte Steine gab, so musste das noch lange nicht bedeuten, dass dort auch etwas Wertvolles zu finden war. Auf der anderen Seite jedoch …

„Sie können nun sicher erraten, warum ich mit Ihnen sprechen wollte“, sagte Leon und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich muss Sie allerdings warnen. Das Beste, was wir anhand der Fotos anbieten können, ist ein Bereich von etwa fünfzig Quadratkilometer, den es abzusuchen gilt. Und das in einer der unfreundlichsten Gegenden von Peru. Sollte es dort allerdings tatsächliche antike Pyramiden oder Reste einer vorchristlichen Zivilisation geben, so bin ich voller Vertrauen, dass Sie darauf stoßen werden.“

Elisa, Leons langjährige Sekretärin, brachte den bereits ersehnten Aufmunterungskaffee. Leon erhob wieder das Wort.

„Ich sollte ebenfalls erwähnen, dass schwer zugängliche Dschungelgebiete gerne von Drogenschmugglern als Zufluchtsorte und Verstecke genutzt werden. Gerade vor ein paar Monaten ist es auf der Strecke nach Leimebamba zu Übergriffen gekommen.“ Wieder lächelte er.

„Ist das vielleicht ein Teil Ihrer Verkaufsstrategie?“, wollte Claudio von ihm wissen.

„Wenn ja, dann machen Sie etwas falsch.“

Eigentlich hätten ihn die beiden letzten Argumente von einer Zusage abhalten sollen. Stattdessen war sein Interesse aber noch weiter gewachsen. Er dachte an die Unterhaltung mit Luis, über die Notwendigkeit einer neuen Herausforderung in seinem Leben. Und nun legte ihm Leon einen solch grandiosen Bissen vor.

„Ist es nicht“, antwortete Leon mit einem entwaffnenden Lächeln. „Ich wollte Ihnen nur alles erzählen, was ich weiß. Ich möchte nicht, dass da etwaige kleine Geheimnisse zwischen uns entstehen. Diese Angelegenheit ist natürlich nicht ohne Risiko und ich möchte Sie vollkommen im Bilde wissen, ehe Sie eine Entscheidung treffen.“

Er kann ja so nett sein…

„Warum übergeben Sie die Unterlagen nicht einfach an ein Archäologenteam in Cajamarca?“, fragte Claudio und nippte an seiner Kaffeetasse.

„Eine gute Frage, die ich leicht beantworten kann. Die Aufnahmen existieren offiziell überhaupt nicht, verstehen Sie? Dazu haben wir nicht die leiseste Ahnung, was dort im Urwaldboden genau begraben sein könnte. Eine offizielle Suchaktion würde viel zu viel Staub aufwirbeln.“

Claudio schaute ihn verwundert an und wartete darauf, dass er weitersprach. Er vermutete noch ein weiteres Motiv im Hintergrund. Leon sagte ihm nicht die ganze Wahrheit.

„Die antike Stätte zu finden, wenn es sie überhaupt gibt, dürfte Monate in Anspruch nehmen. Das ist ein gewaltiger Brocken an Zeit, und meine wird für Sie nicht billig sein. Ich benötige eine Weile, um darüber nachzudenken. Wie wäre es, wenn ich Ihnen in ein oder zwei Wochen eine endgültige Antwort gebe?“

Seine innere Stimme meldete sich. Und egal wie interessant sich die Aufgabe auch anhörte, Claudio beschlich langsam ein ungutes Gefühl in dieser Angelegenheit. Unfähig, eine Entscheidung zu treffen, verschob er seine Zusage auf einen späteren Zeitpunkt und ließ einen zunehmend verstimmten Gilberto Leon alleine in dessen Büro zurück. Als er hinaus auf die Straße trat war vor dem Mueseum bereits die Hölle los. Die Touristen standen Schlange und begehrten Einlass. Die neugierigen Augenpaare, die ihn von der anderen Straßenseite her beobachteten, bemerkte er nicht.

„Ich glaube es war ein Flop“, sagte Abraham, ein orientalisch aussehender Hagerer mit langen, schwarzen Haaren, buschigen Augenbrauen und spitzem Ziegenbärtchen zu seinem Begleiter. Er scheint nicht darauf einzugehen.“

„Dem stimme ich zu“, sagte der andere. „Aber trotzdem bin ich überrascht, wie lange sich der Direktor mit ihm beschäftigt hat. Den beiden Vorgängern widmete er nur einen Bruchteil seiner Zeit. Sicher will er ihn unbedingt mit an Bord haben.“

„Und? Wie soll es nun weitergehen?“, fragte Abraham unentschlossen. Es ist doch offensichtlich, dass Claudio kein Interesse zeigt. Sollen wir abwarten, wer aus Leons Liste als nächster an die Reihe kommt?“

„Das wäre sicher unklug“, entgegnete sein Begleiter. Wir sollten nun selbst die Initiative ergreifen. Immerhin ist schon einiges aus unserem Budget ausgegeben worden und die eigentliche Operation hat noch nicht einmal begonnen. Wir müssen unsere Aktivitäten ausweiten, denn bleiben wir ohne Resultate wird man uns möglicherweise nach Israel zurückbeordern. Und dafür ist die ganze Mission wiederum viel zu wichtig. Ich denke, Guerrero ist genau der richtige Mann für uns. Leon ist mit seiner Rekrutierung vorerst gescheitert, also liegt es nun an uns, ihn mit einer anderen Taktik für unsere Interessen zu gewinnen.“

Abraham stammte aus einer Familie gläubiger Juden, die über Generationen hinweg im heiligen Land gelebt hatte. Ihre Residenz lag in unmittelbarer Nähe zur Klagemauer von Jerusalem. Seit der Gründung des Staates Israel waren seine Freundschaften und die nachbarlichen Beziehungen nach und nach an den geteilten Zugehörigkeiten zerbrochen. Auseinandergerissen zwischen Clan und Glauben. Und er stand jetzt vor dem Dilemma, nach einem geeigneten Heimatland für seine Gefolgsleute suchen zu müssen, wo sie ohne Furcht vor Pogromen und Antisemitismus für alle Zeiten in Frieden leben konnten. Zuerst hatte Abraham versucht, sich aus allem herauszuhalten. Dann hatte sich die Welle der Gewalt auch auf ihn übertragen. Seine geliebte Schwester befand sich bedauerlicherweise zu einem falschen Zeitpunkt an einem falschen Ort und wurde von der israelischen Sicherheitspolizei ermordet. Von da an hatte er sich verändert. Er trug jetzt ständig Waffen und war bereit zu kämpfen. Sein Vater hatte ihn auf dem Sterbebett in die Geheimnisse der Familie eingeweiht. Ein ägyptisches Totenbuch aus dem ersten Jahrtausend vor Christus sprach von dem Königreich des Osiris in einem fernen Land westlich des großen Meeres.

Wie besessen studierte Abraham die heiligen Schriften aus dem Nachlass seines Vaters, erfuhr von uralten Verbindungen zwischen dem Orient und der Neuen Welt. Ausgegrabene Embleme und Keramikgegenstände bei Cuzco lieferten Beweise für Besuche des Königs Sargon von Akkad und seinen Söhnen in den Jahren 1500 bis 1000 vor Christus in Peru. Meterhohe Inschriften auf schwer zugänglichen Felswänden im Amazonasgebiet trugen zweifellos die Merkmale ägyptischer Hieroglyphen. Überall hatten die frühen Seefahrer sichtbare Spuren hinterlassen, deren Alter zwischen vier- und fünftausend Jahre geschätzt wurde. Im vierten Jahrtausend vor Christus muss es dann zu einem Abbruch des Seeverkehrs zwischen den beiden Kontinenten gekommen sein, der dann erst wieder im 19. Jahr des Hiram, etwa 1000 vor Christus, von den Phöniziern aufgenommen wurde.

Wie es der Zufall wollte, konnte Abraham eines Tages ein für ihn so interessante Gespräch zwischen dem Direktor des INC Leon und seiner Sekretärin mitverfolgen. Er saß in einem Café und studierte die peruanischen Tageszeitung „El Comercio“, als er die Bruchstücke jener Unterhaltung hörte. Danach war ihm erst langsam klar geworden, was er da eigentlich mitbekommen hatte. Er zog die richtigen Schlüsse aus den vagen Angaben Leons bezüglich Luftaufnahmen und seltsamen, pyramidenartigen Konstruktionen im tropischen Regenwald von Chachapoyas.

Die Chroniken seiner Familie überlieferten schon seit Jahrhunderten Angaben über goldene Städte im Regenwald des Amazonas. Allerdings genauere Ortsangaben nannten sie nicht. Abraham war stets auf der Suche nach eindeutigen Beweisen für eine urzeitliche Kultur in Südamerika, die von seiner eigenen abstammte. Dafür hatte er sich eigens bei der San Marcos Universität in Lima eingeschrieben. Unmittelbar nach besagter Konversation hatte er den Direktor des INC nicht mehr aus den Augen gelassen und bei einer extremen Glaubensgemeinschaft in seinem Heimatland, einen größeren Geldbetrag angefordert um eine entsprechende Expedition in die Gegend von Chachapoyas durchführen zu können. Seine Angaben mussten ganz schön Staub aufgewirbelt haben, hatte man ihm zu guter Letzt auch noch einen kampferprobten Mann zur Seite gestellt.

Was jetzt noch fehlte, war ein Wagemutiger. Jemand der das Unternehmen in ihrem Sinne leiten konnte. Ein erfahrener Abenteurer wie Claudio Guerrero wäre genau der richtige für diese Aufgabe.

Trotz seines Verhaltens Leon gegenüber ließ ihm die Geschichte keine Ruhe. Zuhause setzte Claudio sich an seinen Schreibtisch und befragte das Internet zum Thema Chachapoyas. Dabei schaute er nach Westen, wo an einem frühen Abendhimmel die Farbe gerade von Hellblau zu einem satten, rot-gestreiften Gelb wechselte. Auch wenn die meisten solche Recherchierarbeiten als monoton bezeichnen würden, Er liebte sie. Eine bestimmte Information zu suchen, bedeutete für ihn unzählige neue Forschungsabenteuer, auch wenn man sich leicht in dem Informationswirrwarr verlieren konnte. Bereits erstellte Berichte über abgeschlossene Untersuchungen in der Umgebung von Chachapoyas führten zu nichts. Es gab keinerlei Hinweise auf Spuren urzeitlicher Kulturen. Aber Leons Luftaufnahmen suggerierten etwas anderes. Claudio konnte die Möglichkeit, dass Leon mit seinen Vermutungen richtig lag, einfach nicht von der Hand weisen. Er wunderte sich sogar selbst, wie sehr er sich wünschte, sie würden zutreffen. Noch niemals zuvor war er in Chachapoyas gewesen. Stets hatte er die lange Anreise gescheut. Bis nach Cajamarca hatte er es immerhin schon einmal geschafft. Und von dort aus waren es noch weitere zwanzig Stunden in einem wackligen, alten Reisebus bis zur Hauptstadt des Amazonas Departments.

Den Rest des Tages verbrachte er mit weiteren Untersuchungen und dem Downloaden von Artikeln und Informationen über Chachapoyas. Alles deutete nach wie vor darauf hin, dass Leon mit seinen Ansichten falsch lag. Trotzdem suchte er weiter nach Beweisen, die dessen Theorie stützen würden. Er konnte einfach das Gefühl nicht abschütteln, dass Gilberto Leon in bestimmten Punkten Recht hatte. Bereits am frühen Nachmittag sah er sich in seinem Entschluss bestätigt, eine Zustimmung und Zusammenarbeit mit ihm noch hinauszuzögern. Der Direktor war innerhalb des INC nicht unumstritten und es gab nicht wenige, die seine Ablösung forderten. Anscheinend spielte dabei das richtige Parteibuch eine wichtige Rolle. Ein entsprechendes Erfolgserlebnis käme für Leon genau zum richtigen Zeitpunkt und daher wären seine Motivationen für das Gelingen einer herausragenden Expedition eher von persönlichen, als von professionellen Motiven geleitet. Es war mehr als richtig, ihn zappeln zu lassen. Sich von jemandem einwickeln zu lassen, der sich bemühte, seine sinkende Karriere zu retten, war nun wirklich nicht Claudios Ding.

Gegen sieben Uhr loggte er sich aus seinem Computersystem aus. Seine Augen brannten vor Anstrengung und sein Magen verursachte eindeutige Geräusche. Er begab sich in die Küche und zog eine Plastikhülle mit einem gefrorenen Etwas aus dem Gefrierfach seines Kühlschrankes, stellte den Ofen auf die angegebene Temperatur und verfrachtete das Fertiggericht auf die mittlere Schiene des Metallrostes. Während sich dieses Etwas in eine Delikatesse verwandelte, schwang er sich die Spiraltreppe hinauf und gönnte sich ein ausgesprochen intensives Duschbad. Pünktlich auf die Minute war er zurück im Erdgeschoss, als der Signalgeber des Ofens anfing zu brummen. Er aß im Stehen und benutzte eine Plastikgabel anstelle einer der im Wohnzimmer eingelagerten Silberbestecke. Zum Schluss warf er die gepresste Aluminiumform in den Abfalleimer und verließ sein Haus für einen kurzen Spaziergang, hinüber zur Posada del Angel

Elias stand wie gewöhnlich hinter der wuchtigen Holzbar und hatte bereits eine Flasche chilenischen Rotwein geöffnet, als Claudio das Lokal betrat und sich schnell neben Luis auf einen der ledernen Barhocker pflanzte.

„Tut mir Leid, Luis – ich bin noch bei Recherchen am Computer hängen geblieben“, entschuldigte er sein verspätetes Eintreffen.

„Hat es dich wieder mal gepackt?“, versuchte Luis ihn aufzuziehen. Also blieb Claudio nichts anderes übrig als ihm die Geschichte von dem Treffen mit Gilberto Leon und seinen darauf folgenden Entdeckungen zu erzählen. Zum Schluss resümierte er die Fakten, die gegen eine prähistorische Besiedlung der Umgebung von Chachapoyas sprachen, doch davon wollte Luis nichts wissen.

„Ich kenne dich doch“, sagte er, nachdem er die Schilderungen aufmerksam verfolgt hatte.

„Du hättest das ganze Thema doch gar nicht erst zur Sprache gebracht, wenn du nicht selber daran glauben würdest, genau dort etwas zu finden, wo dieser Leon vermutet, dass es begraben liegt. Und nun erwartest du von mir, dass ich dir ausrede danach zu suchen!“

„Wie recht du hast, Luis. Ich glaube es ist am besten, ich spüle die ganze verrückte Idee zusammen mit diesem guten Wein hier hinunter. Solange, bis ich meinen Kopf wieder frei habe.“

Ungefähr eine halbe Stunde später tauchten die ersten Musiker mit ihren Instrumentenkoffern, Notenständern und nützlichen Utensilien auf. Elias bot seinen Gästen wie an jedem Abend ein ständig wechselndes Musikprogramm. Dann legte sich plötzlich ein faszinierender Ausdruck auf sein Gesicht, während er in die Richtung des Eingangs schaute. Claudio tat es ihm gleich. Er wollte sich vergewissern, wer da gerade eingetreten war. Eine Dame stand erhobenen Hauptes auf der Türschwelle. Und was für eine! Sie war groß gewachsen und trug einen auffälligen roten Hosenanzug. Dazu schwarze, hochhackige Pumps und eine passende Tasche mit kleinen, weißen Perlen. Über ihre mehr als ansehnlichen Schultern hing lässig eine schwarze Strickjacke. Sie war weder schwarz noch weiß, sondern besaß jene feine, exklusive Mischung aus beiden Rassen. Ihre Haut hatte Ähnlichkeit mit einem Milchkaffee.

„Oh ...“ Luis Mund wurde schlaff. „Mein lieber G ...“ Claudio war ebenfalls entzückt.

Die Dame lächelte angesichts solch geballter Aufmerksamkeit. Ohne zu zögern schlenderte sie über den frisch polierten Fußboden direkt auf Elias zu.

„Guten Abend, ich bin auf der Suche nach Herrn Guerrero.“ Ihr Akzent war nicht eindeutig zu bestimmen.

„Ich habe ihn nicht zu Hause angetroffen und man sagte mir, er würde sich hier des Öfteren aufhalten. Hat ihn jemand vielleicht heute schon gesehen?“

Luis sprang von seinem Barhocker und schüttelte die Hand der schönen Unbekannten.

„Sehr angenehm. Ich bin Claudio Guerrero“, stellte er sich ihr vor.

„Was kann ich für Sie tun, meine hübsche Dame?“

„Ah, wie gut, dass Sie hier sind. Ich bin Sharone Rosenbaum und komme von den „Jüngern Kanaans“ mit einem speziellen Auftrag zu Ihnen.“

Claudio diskutierte mit sich selbst, wie lange er das Schauspiel noch gutheißen sollte.

„Frau Rosenbaum“, unterbrach er die Konversation, „ich bin Claudio Guerrero. Das ist mein Freund Luis. Er leidet manchmal unter einer seltenen Art von Persönlichkeitsspaltung. Gerade, bevor Sie eintrafen, glaubte er, John Wayne zu sein. Darf er Ihnen ein Getränk bestellen?"

„Ja gern. Ein Weiswein wäre angenehm“, sagte sie.

Claudio folgte ihrem Wunsch und bestellte bei Elias noch ein weiteres Glas mit dem guten Chilenen.

„Sie wissen von Gilberto Leons Aufnahmen, nicht wahr?“, überraschte er sie mit einer Frage, die er bereits selbst beantwortet hatte.

„Natürlich. Nur, warum haben Sie nicht zugesagt?“ Sharone konterte mit einer Gegenfrage.

„Falls es eine Frage des Geldes ist? Ich nehme an, Ihre Unternehmungen sind nicht billig, aber es ist uns möglich, Sie für wenigstens zwei Monate zu bezahlen.“

Claudio horchte auf.

„Wenn Sie eine zweimonatige Suche meinen, so muss ich Sie leider enttäuschen. Leon sprach von fünfzig Quadratkilometern Suchfläche in unwegsamem Gelände. Diese müssen Meter für Meter untersucht werden. Wer auch immer in Ihrem Namen eine Expedition leiten mag, bitte erwarten Sie keine Resultate innerhalb weniger Monate.“

„Nicht? Nun, unsere Zeitvorstellung mag zwar etwas kurz gehalten sein, aber es ist unser Budget und wir sind der Meinung, dass diese Mission die Ausgaben rechtfertigt.“

Aber Warum zum Teufel nur zwei Monate?, fragte er sich.

„Wir werden die Sache überdenken. So oder so“, sagte Sharone mit einer unbestimmbaren Härte in ihrer Stimme.

„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.“

Sie stand auf und wollte sich verabschieden, doch Claudio fand, dass er sie so nicht gehen lassen konnte.

„Hören Sie zu, ich kann mich auch täuschen, aber vielleicht gibt es da wirklich etwas zu entdecken? Bloß was es auch sein sollte, die Suche danach wird eine verdammt lange Zeit in Anspruch nehmen.“

„Senor Guerrero, keiner von uns ist so naiv, wie Sie glauben. Natürlich wird es schwer werden, darüber sind wir uns alle im Klaren, aber das bedeutet nicht, dass wir es nicht versuchen sollten.“ Sie drückte ihre Strickjacke fest in ihre Armbeuge und verließ das Lokal.

„Glaubst du nicht, dass du ein wenig zu schroff zu ihr gewesen bist?“, meinte Luis, als sie die Posada verlassen hatte.

„Mm…, meinst du? Mich stören diese zwei Monate, die sie erwähnt hat“, sagte Claudio anstelle einer eindeutigen Antwort. Luis verstand nicht sofort um was es ging.

„Was willst du damit sagen?“

„Nun, ich verstehe ihre Eile nicht. Fast könnte man davon ausgehen, dass ihnen keine weiteren finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Für eine ausgiebigere Suche, meine ich. Da muss es noch um etwas anderes gehen! Gilberto Leon und diese Sharone verheimlichen mir etwas. Ich weiß nicht, was es ist, und bald bekümmert es mich auch nicht mehr. Ich glaube, ich bin fertig mit dieser Angelegenheit.“ Luis schenkte ihm einen ungläubigen Blick.

„Aber du wirst doch deine Untersuchungen trotzdem weiterführen?“

„Zumindest werde ich noch ein paar Reportagen lesen und dann sehen wir weiter“, entgegnete Claudio, genoss den letzten Schluck seines Rotweins und verließ die Posada del Angel.

Am nächsten Morgen hatte er sich bereits einen seiner teerartigen Kaffees gebraut, als er sich an die Tageszeitung erinnerte. Diese vermutete er, wie gewöhnlich, auf der Treppenstufe vor seiner Haustür vorzufinden. Da war sie auch, aber zu seiner Überraschung lag diesmal ein Päckchen dabei. Er verspürte einen kräftigen Adrenalinstoß und warf die Zeitung achtlos beiseite. Dann kehrte er zurück an seine Küchenbar und untersuchte vorsichtig das Packstück. Nichts tickte. Ein Absender war auch nicht zu erkennen, nur bei vorsichtigem Drücken konnte er im Inneren Teile einer Noppenfolie ertasten. Erleichtert riss er die aneinander geklebten Enden auseinander. Zuerst segelten ihm weiße Styroporschnipsel entgegen, dann offenbarte das Päckchen einen in Luftpolster und weichem Schaumstoff gehüllten Gegenstand. Dabei befand sich ein kleines Kärtchen mit den Worten: „Viele Grüße aus Chachapoyas“.

Claudio war mit einem Male hellwach. Er wickelte den Gegenstand aus seiner Umhüllung und hielt kurz darauf ein kleines, verkrustetes Gefäß in seiner Hand, das wie ein Krug oder Kelch ausschaute. Was ihn jedoch am meisten überraschte, war das ungewöhnliche Gewicht des verhältnismäßig kleinen Trinkgefäßes. Es war viel zu schwer für Terrakotta, aber seltsamerweise konnte er keinerlei Anzeichen einer Oxidation erkennen. Es musste sich jedoch um eine Art von Metall handeln. Ein Dekor mit Ornamenten in der Mitte schien aus gegossenen Palmetten zu bestehen. Vorsichtig begann er die äußere Verkrustung mit einer Drahtbürste zu bearbeiten. Dann war er sich sicher. Dieser Krug, oder was es auch immer war, bestand aus Bronze. Nun fiel ihm überhaupt nichts mehr ein. Wer schickte ihm so einen außergewöhnlichen Gegenstand und vor allem zu welchem Zweck? In Gedanken versunken versuchte er das Gefäß so gut wie möglich zu säubern. Dann besann er sich eines Besseren, erstellte einige detaillierte Aufnahmen mit seiner Digitalkamera und schickte das Ganze mit den Worten: „Ich bitte um baldige Überprüfung, Gruß, Claudio Guerrero“, an Gilberto Leon ins Direktorenbüro des INC.

Plötzlich verspürte er einen großen Durst auf Kaffee. Natürlich, sein vorher gemixtes Gebräu stand noch unverrichteter Dinge auf der Tischplatte und war inzwischen kalt geworden. Auf ein Neues setzte er die Kaffeemaschine in Gang und schwang sich an seinen Schreibtisch, um sich in den Computer einzuloggen. Während er die schwarze Brühe trank, benötigte er eine gute Stunde, um herauszufinden, was es war. Das Objekt war kein Trinkgefäß, sondern besaß alle Merkmale einer phönizisch-orientalischen Urne aus der Bronzezeit.

Sorgsam verglich er die kleinen Bandhenkel am Hals mit den Abbildungen von Museumsstücken, die er im Internet gefunden hatte. Bestenfalls konnte es sich sogar um ein Exemplar von keltischer Abstammung handeln.

Nun war er nicht mehr zu halten. Es war kurz nach drei, als er sich entschloss, den Auftrag von Gilberto Leon anzunehmen. Zusätzlich hegte er die Absicht, sich noch einmal ausführlich mit Sharone Rosenbaum zu unterhalten. Er war sich sicher, dass sich früher oder später ihre Wege kreuzen würden. Immerhin stand sie ja irgendwie in Verbindung mit dem Direktor des INC.

Und jetzt, da er den Entschluss gefasst hatte, war er wieder die Ruhe selbst. Nur so sorgfältig wie möglich, wollte er alles vorbereiten. Er besann sich der notwendigen Medikamente und Profilaxen, die er sich für die Reise in den tropischen Regenwald beschaffen musste. Am wichtigsten war die Gelbfieberimpfung, dann der Schutz gegen Typhus, Cholera und Tetanus, dazu eventuell noch Malariapillen. Vor allem aber wollte er einen eigenen Plan ausarbeiten und sowohl Leon als auch die schöne Sharone für seine Zwecke benutzen und nicht umgekehrt.

Gegen Abend erreichte ihn dann der erwartete Anruf des INC-Direktors, der ihm eigentlich nur das bestätigte, was er ohnehin aufgrund seiner Internetrecherchen schon vermutet hatte. Die Urne stammte tatsächlich aus der Bronzezeit. Eine endgültige Auskunft über Herkunft und Alter würde allerdings erst eine Radiokohlenstoffmessung geben können. Claudio versprach, das seltene Gefäß in den kommenden Tagen dem Museum de la Nation zur Verfügung zu stellen, damit man es dort würde eingehend untersuchen können. Wie die Urne allerdings ausgerechnet den Weg zu seiner Haustüre gefunden hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Wollte ihn hier jemand gezielt auf eine Fährte setzen? Die beigefügte Notiz mit dem Hinweis auf Chachapoyas verschwieg er bewusst gegenüber dem Direktor. Diesbezügliche Fragen von dessen Seite, ließ er einfach unbeantwortet. Stattdessen wechselte er geschickt das Thema – in der Absicht, die vielen, ungeklärten Punkte seines Auftrages bis in das kleinste Detail mit ihm durchzugehen. Außerdem war es mehr als an der Zeit, Luis in seine Pläne einzuweihen, denn für seinen Freund hatte er eine besondere Aufgabe vorgesehen.

Als Claudio das Gespräch beendet hatte, schauten sich Gilberto Leon und Sharone Rosenbaum gegenseitig an. Beide schienen die gleichen Gedanken zu haben. Wuchtige Ölgemälde zierten die Wände seines voluminösen Büros. Meist waren es Darstellungen ehemaliger Präsidenten Perus. Der antike Schreibtisch befand sich schon seit Generationen im Besitz seiner Familie. Auch der weiche Teppich aus Alpakawolle war von etwas dichterer Ausführung als gewöhnlich, und die passenden hohen Lehnsessel stammten angeblich noch von Augustin Gamarra einem der ersten Regierungschefs des Landes. Sharone saß in einem dieser bequemen Sessel.

„Also, was sagen Sie dazu?“, fragte sie und brach damit das Schweigen. Ihre Frage war an Gilberto Leon gerichtet.

„Ich weiß nicht, ob wir uns das Ganze überhaupt leisten können“, erwiderte der.

„Wenn ich alleine nur an die Ausrüstung denke, die wir für ein solch aufwendiges Unternehmen benötigen werden. Dazu fordert Herr Peters ein saftiges Handgeld für seine Dienste. Mit Verlaub, von solchen Dimensionen hatte ich vorher keine Vorstellung. Am besten wir sagen die ganze Sache ab.“

„Wenn Sie das tun, so werde ich umgehend veröffentlichen, wie Sie in den Besitz dieser einzigartigen Luftaufnahmen der „Newmont Mining Gesellschaft“ geraten sind“, wetterte die Mulatin dagegen.

„Das dürfte Sie den Kopf kosten und ein Ende Ihrer Karriere bedeuten. Einige Herrschaften warten nur darauf. Wir werden die notwendigen Gelder schon irgendwie aufbringen.“

Leon geriet mächtig ins Schwitzen. Besagte Aufnahmen von einem ehemaligen Mitarbeiter der „Newmont Mining Gesellschaft“ zu erwerben, hatte ihn fast seine ganzen Ersparnisse gekostet. Aber er hatte der Offerte einfach nicht widerstehen können. Also dann: Jetzt oder Nie, lautet die Divise.

„Ich pfeif auf Ihre persönlichen Probleme“, sagte Sharone giftig. Wir werden zusätzliches Kapital benötigen. Meine Ausgaben sind bereits beachtlich, aber hören Sie mich etwa klagen? Guerrero ist für die Aufgabe der beste Mann, den wir bekommen konnten. Wir müssen ihn unterstützen und das bedeutet nun einmal mehr Bargeld! Wir haben doch beide unsere Quellen. Ich werde bei der Glaubensgemeinschaft um eine Erhöhung des Etats vorsprechen.“

„Das Ganze gerät doch völlig außer Kontrolle“, beschwerte sich der Direktor.

„Nein, gerät es nicht! Noch haben wir alles unter Kontrolle“, versuchte ihn Sharone zu beruhigen.

„Hm, ich weiß nicht ...“ Leons Stimme schwächelte.

„Was wissen Sie nicht? Wir stehen vielleicht vor einer der wichtigsten Entdeckungen in der Geschichte dieses Landes und können beide mit einer entsprechenden Entlohnung rechnen, wenn wir nicht die Perspektive verlieren. Wir werden das Geld aufbringen, es ist unsere Pflicht.“

„Vermutlich haben Sie recht“, sagte Leon versöhnlich und nickte ganz langsam zustimmend. Mir gefällt nur ganz und gar nicht, dass Claudio auf einmal entschieden hat, die Leitung selbst zu übernehmen.“

„So? Aber genau deshalb war er doch unsere erste Wahl. Wir müssen nur klarstellen, dass er vorsichtig vorgeht.“

„Sie ängstigen mich wirklich, Sharone“, sagte Leon plötzlich und schaute ihr direkt in die Augen. Es kam ihm vor, als könne er durch die hübsche Schale bis tief in ihre Persönlichkeit hineinsehen, die sich dahinter verbarg.

Also gut, dachte er. Für Sie war er inkonsequent und ein Feigling. Allerdings ganz so leicht wollte er sich von ihr nicht dominieren lassen.


Die Oberfläche seines Schreibtisches lag unter Zentimetern von Papierstapeln begraben. Irgendwo in dem Durcheinander lagen die Teller, die er für Frühstück und Mittagessen benutzte. Seit seinem Entschluss, in die Suche einzusteigen, hatte er kaum noch geschlafen. Die enorme Menge an Kaffee hatte in wach gehalten, allerdings formte sich jetzt ein stechender Kopfschmerz direkt hinter seinen Augen. Wenn er nicht gerade vor seinem Computer hockte, sprach er am Telefon mit Gilberto Leon. Die entsprechende Telefonnummer kannte er bereits auswendig.

„Ja, Herr Guerrero, was ist es denn jetzt schon wieder?“ Leon war es leid seine ständigen Anrufe entgegennehmen zu müssen.

„Wie sieht es mit dem Infra-Rot-Detektor aus?“, wollte Claudio diesmal wissen. Wie nebenbei bemerkte er zusätzlich: „Ich habe bisher noch nicht mit Sharone Rosenbaum sprechen können. Wie kommen Sie beide mit der Zusammenstellung meiner Ausrüstung zurecht?“ Er beabsichtigte in Erfahrung zu bringen, wie konkret die Absprache zwischen den beiden ablief.

„Alles bestens“, fluchte Leon.

„Ich habe noch vorhin mit Sharone darüber gesprochen. Es wird keine Schwierigkeiten geben.“

Das war auch gut so, und das wenigste, was sie für ihn erledigen konnten. Im schlimmsten Fall würde er Tage benötigen, um von Chachapoyas aus in das unwegsame Urwaldgebiet eindringen zu können, und dann Wochen, vielleicht sogar Monate, um die auf den Fotos sichtbaren Überreste menschlicher Siedlungen zu lokalisieren. Wenigstens sollte es dabei nicht an der passenden Ausrüstung hapern, beziehungsweise am Fehlen lebenswichtiger Informationen, wenn er auf sich alleine gestellt den Dschungel des Amazonas durchstreifte. Er beendete das Telefongespräch und fügte zwei Satellitenfunktelefone zu seiner Wunschliste hinzu.

Während sein Laserdrucker unnachgiebig ausgedruckte Berichte, Tabellen und geologische Skizzen aus dem Internet in den Papierauffangbehälter beförderte, vernahm er vor seiner Haustüre das knatternde Geräusch eines Zweitaktmotors. Es gehörte zu Luis kleiner Honda-Gelände-Maschine.

In seiner viel zu großen Lederjacke und dem verwaschenen Sweater bildete sein Freund eine selten komische Figur! Dazu schnallte er sich gerade die Knieschoner ab, welche er sonst beim Volleyball zu tragen pflegte.

„Was ist denn hier los?“, begrüßte ihn Luis. Dann sah er sich ihn genauer an.

„Mensch Claudio, du hast auch schon mal besser ausgesehen!“

„Hör bloß auf Luis“, antwortete der gereizt. „Seit ich mich entschlossen habe nach Chachapoyas zu gehen, ist hier der Teufel los. Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll, und meine Kaffeemaschine leistet bereits Überstunden.“

„Na dann erzähl mir wenigstens, wie es zu deinem Stimmungswandel gekommen ist. So beschäftigt habe ich dich schon lange nicht mehr gesehen.“

„Setz dich irgendwo hin und schau dir das einmal an“, sagte Claudio, während er das aufgerissene Päckchen von der Chromabdeckung der alten Wurlitzer Jukebox nahm. Luis begutachtete eingehend das kleine Gefäß aus Bronze. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Furche.

„... und das hat einfach dagelegen, neben der Tageszeitung?“, fragte er ungläubig.

„Glaub es mir einfach Luis. Es ist genau so, wie ich es dir sage. Schau her, diese Abbildungen habe ich im Internet gefunden. Es sind Museumsstücke aus der Bronzezeit. Bemerkst du die Ähnlichkeiten mit meinem Gefäß hier? Es ist übrigens eine Urne. Leon will sie im Museum de la Nation genauer untersuchen lassen. Sicher hält sie noch einige Überraschungen für uns bereit. An ihrer Echtheit allerdings besteht keinerlei Zweifel.“

„Und so wie ich dich kenne, hast du dich natürlich sofort entschlossen, den Auftrag von Leon anzunehmen, nicht wahr?“

„Unter uns Luis, entschlossen habe ich mich schon in dem Moment, als ich die Luftaufnahmen zu sehen bekam, aber logischerweise wollte ich Leon gegenüber meine Begeisterung nicht sofort preisgeben. Immerhin ist er auf meine Bedingungen vollständig eingegangen. Allerdings vermute ich, dass er irgendwie mit dieser mysteriösen Sharone Rosenbaum zusammensteckt, auch wenn ich über ihre Identität noch nicht viel in Erfahrung bringen konnte. Hast du schon einmal etwas von einer religiösen Gruppe mit dem Namen „Die Jünger Kanaans“ gehört?“ „

Mensch Claudio! Ich hoffe nur, das sind keine radikalen Extremisten. Mit denen ist nicht zu spaßen.“

„Leider gibt das Internet darüber nicht viel her. Nun aber zu den Details Luis. Ich möchte natürlich, dass du mit an Bord bist. Dein Einverständnis vorausgesetzt, habe ich das bereits mit Leon geklärt. Er war sofort einverstanden. Zudem habe ich ihn mit einer Liste von Ausrüstungsgegenständen bombardiert, die er für mich beschaffen soll. Damit hat er erst einmal zu tun und irgendwie werden wir das Zeug schon gebrauchen können. Er soll am besten alles direkt nach Chachapoyas liefern. Oder was meinst Du dazu?“

Luis staunte Bauklötze.

„Nett, dass ich auch noch gefragt werde“, meinte er und kniff ein Auge zusammen. Du und deine Pläne…“

„Apopos! Ich hab mir überlegt, dass wir am besten zusammen losziehen und einen Flieger nach Pucallpa nehmen. Somit wären wir schon einmal im unteren Amazonasdelta. Dort allerdings werden sich unsere Wege wieder trennen. Du wirst alleine über Tarapoto nach Chachapoyas fahren und vor Ort die Ausrüstung von Leon in Empfang nehmen. Danach bleibt dir genügend Zeit, um die Lage in der Stadt zu erkunden und um dich ein wenig einzuleben, vielleicht Kontakte zu knüpfen und Erfahrungsberichte einzuholen.“

„OK, ich bin dabei. Das klingt nicht besonders schwierig“, entgegnete Luis ohne lange nachzudenken. „Meine Unterstützung ist dir sicher. Aber was ist mit dir, was genau hast Du vor?“

Claudio tat zunächst geheimnisvoll, doch dann setzte er ein vielversprechendes Lächeln auf und erklärte: „Ganz einfach! Ich werde einen Abstecher nach Brasilien machen. Genauer gesagt in den Bundesstaat Paraiba.“ Er freute sich wie ein kleines Kind, als er Luis verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte.

„Du willst…?“

„In der Tat, schau einmal her, ich habe schon alles vorbereitet!“ Über den mit diversen Papieren vollgestopften Schreibtisch legte er eine große Landkarte von Südamerika. Darauf hatte er seine geplante Reiseroute bereits eingezeichnet. Von Pucallpa aus wollte er über die Grenze nach Cruzeiro do Sul in Brasilien gehen und dann mit einer Linienmaschine der Fluggesellschaft TAM direkt in die Hauptstadt von Paraiba Joao Pessoa fliegen. Dort würde sich dann schon irgendwie eine Möglichkeit zur Weiterreise nach Quixeramobin, seinem eigentlichen Ziel, finden lassen. Insgeheim hoffte er, dass von den mehr als tausend Kilogramm vor Ort gefundener Keramik, den mehreren Hundert Urnen, rätselhaften Steinfiguren und dem farbigen Schmuck aus Porzellan noch etwas zu sehen war. Vielleicht gelänge es ihm sogar weitere Einzelheiten über jene rätselhafte Steinplatte mit der phönizischen Inschrift in Erfahrung zu bringen, auch wenn Sprachspezialisten bereits den kompletten Text übersetzen konnten. Das jedenfalls hatten die von Leon vorgelegten Fotokopien eindeutig bewiesen. Immerhin handelte es sich dabei um die wichtigsten Anzeichen europäisch-orientalischer Anwesenheit auf dem amerikanischen Kontinent, gut tausend Jahre vor der Geburt Christi. Und vielleicht würde der eigentliche Fundort dieser Steinplatte noch weitere Auskünfte geben können.

Luis dachte darüber nach. Claudios Plan war wieder einmal typisch für ihn. Auch wenn es ihn überraschte, jedenfalls hörte er sich plausibel und gut durchdacht an. „Weiß Leon schon von deiner Absicht zuerst nach Brasilien zu reisen?“

„Ach, woher denn?“ Claudio zog eine Grimasse. „Genauso wenig wie sich der Direktor in seine Karten blicken lässt, halte ich es für notwendig, ihn in meine eigenen Pläne einzuweihen. Wie wir vorgehen, ist einzig und alleine unsere Sache. Ich habe Leon keine Wunder versprochen und mein Auftrag lautet lediglich, in dem Urwaldgebiet von Chachapoyas nach etwas zu suchen, was er glaubt, in diesen Luftaufnahmen der Minengesellschaft erkannt zu haben. Allen Bedenken von Sharone zum Trotz, wir werden ganz ohne Zeitlimit arbeiten und selbst bestimmen, wo und wann wir mit der Suche beginnen. Die einzige Auflage lautet, möglichst kein größeres Aufsehen zu erregen, und das hätten wir ja in jedem Fall vermieden, nicht wahr? Sobald ich hier einigermaßen aufgeräumt habe, werde ich mich um die Flugtickets kümmern. Bist du so gut und bringst mir die antike Urne noch zum Museum de la Nation? San Borja liegt doch auf deiner Strecke. Nur, sei vorsichtig mit dem antiken Stück. Am besten du transportierst es auf deinem Rücken. Gut verpackt und in einem Rucksack. Ich möchte vor unserer Abreise noch das Ergebnis der C-14 Analyse vorliegen haben. Lass uns den Rest morgen Abend bei Elias besprechen. Ich muss noch diese Papiere hier durcharbeiten und dann versuche ich einmal frühzeitig zu Bett gehen.“

Mit diesen Worten entließ er seinen Freund in die aufkommende Abenddämmerung. Danach saß er wieder über seinem nicht enden wollenden Papierberg und vernahm, wie sich ein wohl bekanntes Knattergeräusch langsam von seinem Haus entfernte.

DER MYTHOS

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